Macht und Fortschritt - Daron Acemoglu - E-Book

Macht und Fortschritt E-Book

Daron Acemoglu

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Beschreibung

Fortschritt – Eine 1000-jährige Illusion Die verbesserte Landwirtschaft im Mittelalter, später die industrielle Revolution und heute die künstliche Intelligenz – im Laufe der Geschichte wurde der technologische Wandel stets als Haupttriebkraft für das Gemeinwohl angesehen. Doch die Fortschrittsgewinne fallen nur wenigen zu, und die Technologie ist von den Zielen und Obsessionen der Mächtigen geprägt. Sie verhilft ihnen zu noch mehr Reichtum, sozialem Ansehen und Einfluss. Die zwei MIT-Professoren und Bestsellerautoren Daron Acemoglu (»Warum Nationen scheitern«) und Simon Johnson stellen das konventionelle Verständnis von technologischem Fortschritt auf den Kopf, Volkswirtschaften funktionieren anders als wir gemeinhin denken. Sie enthüllen, wer die Fortschrittsgewinner und wer die -verlierer sind, in einem Werk, das unseren Blick auf die Welt und unser Verständnis von ihr grundlegend verändert. Wie kann echter Fortschritt, wie kann gerechtere Innovation gelingen? Acemoglu und Johnson haben die Antworten. »Eine Synthese aus Geschichte und Analyse, verbunden mit konkreten Ideen, wie die Zukunft verbessert werden kann.« Jaron Lanier »Dieses wichtige Buch ist ein notwendiges Gegenmittel gegen die giftige Rhetorik der technologischen Unvermeidbarkeit.« Shoshana Zuboff »Pflichtlektüre für alle, denen das Schicksal der Demokratie im digitalen Zeitalter am Herzen liegt.« Michael J. Sandel »Lesen Sie, genießen Sie, und entscheiden Sie dann über Ihren Lebensstil!« Jared Diamond

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Cover for EPUB

Daron Acemoglu und Simon Johnson

MACHT UND FORTSCHRITT

Unser 1000-jähriges Ringen um Technologie und Wohlstand

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer und Thorsten Schmidt

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

<b>Fortschritt – Eine 1000-jährige Illusion</b>Die verbesserte Landwirtschaft im Mittelalter, später die industrielle Revolution und heute die künstliche Intelligenz – im Laufe der Geschichte wurde der technologische Wandel stets als Haupttriebkraft für das Gemeinwohl angesehen. Doch die Fortschrittsgewinne fallen nur wenigen zu, und die Technologie ist von den Zielen und Obsessionen der Mächtigen geprägt. Sie verhilft ihnen zu noch mehr Reichtum, sozialem Ansehen und Einfluss.Wie kann echter Fortschritt, wie kann gerechtere Innovation gelingen? Daron Acemoglu und Simon Johnson haben die Antworten.<b>»Eine Synthese aus Geschichte und Analyse, verbunden mit konkreten Ideen, wie die Zukunft verbessert werden kann.«</b> Jaron Lanier<b>»Dieses wichtige Buch ist ein notwendiges Gegenmittel gegen die giftige Rhetorik der technologischen Unvermeidbarkeit.«</b> Shoshana Zuboff<b>»Pflichtlektüre für alle, denen das Schicksal der Demokratie im digitalen Zeitalter am Herzen liegt.«</b> Michael J. Sandel<b>»Lesen Sie, genießen Sie, und entscheiden Sie dann über Ihren Lebensstil!«</b> Jared Diamond

Vita

Daron Acemoglu ist Institutsprofessor für Wirtschaftswissenschaften am MIT. Seit fünfundzwanzig Jahren erforscht er die historischen Ursprünge von Wohlstand und Armut sowie die Auswirkungen neuer Technologien auf Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Ungleichheit. Er ist Autor (mit James Robinson) des internationalen Bestsellers Warum Nationen scheitern (dt. 2014).

Simon Johnson ist Ronald-A.-Kurtz-Professor für Unternehmertum an der Sloan School des MIT, wo er auch Leiter der Gruppe für globale Wirtschaft und Management ist. Als ehemaliger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds beschäftigt er sich seit dreißig Jahren mit globalen Wirtschaftskrisen.

Für Aras, Arda und Asu, für eine bessere Zukunft

– Daron

Für Lucie, Celia und Mary, immer

– Simon

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

VORWORT — WAS IST FORTSCHRITT?

Kapitel 1

Kontrolle über die Technologie

Die Sogwirkung des Fortschritts

Automatisierungsblues

Warum es wichtig ist, dass die Arbeitskräfte Macht haben

Eingeschränkter Optimismus

Die Entdeckung des neuen Feuers

Der Plan für das restliche Buch

Kapitel 2

Kanalvision

Wir müssen in den Orient gehen

Die große Utopie

Lesseps hat eine Vision

Kleine Leute kaufen kleine Anteile

Man kann eigentlich nicht sagen, dass sie Zwangsarbeiter sind

Einfallsreiche Franzosen

Oh, wie schön ist Panama

Der Neid der glücklichen Götter wird geweckt

Tod auf dem Chagres

Panama à l’Américaine

Die Vision als Falle

Kapitel 3

Die Macht zu überzeugen

Erschießt euren Kaiser, wenn ihr den Schneid dazu habt!

Wall Street obenauf

Die Macht von Ideen

Der Markt ist nicht fair

Agenda-Setting

Die Agenda der Banker

Ideen und Interessen

Wenn die Spielregeln Menschen benachteiligen

Eine Frage der Institutionen

Die Macht zu überzeugen korrumpiert absolut

Technologische Weichenstellungen

Was hat Demokratie damit zu tun?

Vision ist Macht, Macht ist Vision

Kapitel 4

Das Elend kultivieren

Eine Ständegesellschaft

Die Sogwirkung bleibt aus

Synergie zwischen Zwang und Überzeugungskraft

Eine malthusianische Bevölkerungsfalle

Die landwirtschaftliche Erbsünde

Das Leid mit den Körnern

Ein Pyramidenspiel

Eine Art der Modernisierung

Zerstörerische Entkörnung

Eine technologische Ernte des Leids

Die gesellschaftliche Unausgewogenheit der Modernisierung

Kapitel 5

Eine Revolution der mittleren Sorte

Eulen aus Athen

Wissenschaft in den Startlöchern

Warum Großbritannien?

Eine Nation von Emporkömmlingen

Die Auflösung

Neu ist nicht gleichbedeutend mit inklusiv

Kapitel 6

Opfer des Fortschritts

Weniger Lohn für mehr Arbeit

Das Leiden der Maschinenstürmer

Das Tor zur Hölle in der wirklichen Welt

Wo die Whigs im Irrtum waren

Der Fortschritt und seine Maschinen

Geschenke vom anderen Ufer des Atlantiks

Die Ära des Machtausgleichs

Armut für den Rest

Stellen wir uns der Unausgewogenheit der technologischen Entwicklung

Kapitel 7

Der umstrittene Pfad

Die Elektrifizierung des Wachstums

Neue Aufgaben von neuen Ingenieuren

Auf dem Fahrersitz

Eine unvollständige neue Vision

Skandinavische Entscheidungen

Ziele des New Deal

Glorreiche Jahre

Konflikte um Automatisierung und Löhne

Beseitigung materieller Not

Die Grenzen des sozialen Fortschritts

Kapitel 8

Digitaler Schaden

Rückgängig gemacht

Was ist geschehen?

Das Unbehagen im liberalen Establishment

Was für General Motors gut ist …

Auf der richtigen Seite und an der Seite der Aktionäre

Groß ist schön

Ein aussichtsloses Unterfangen

Eine schmerzhafte Umstrukturierung

Auch diesmal hatten wir eine Wahl

Ein digitales Utopia

Nicht in der Produktivitätsstatistik

Auf dem Weg in die Dystopie

Kapitel 9

Künstliches Ringen

KI-Traumwelten

Der Nachahmungsirrtum

Euphorie und überwiegend Ernüchterung

Der unterschätzte Mensch

Die Illusion der Künstlichen Allgemeinen Intelligenz

Das moderne Panoptikum

Ungenutzte Chancen

Maschinennützlichkeit in der Praxis

Die Mutter aller ungeeigneten Technologien

Wiedergeburt der Zweiklassengesellschaft

Kapitel 10

Die Demokratie zerbricht

Ein Zensursystem als politische Waffe

Eine schönere neue Welt

Von Prometheus zu Pegasus

Überwachung und Ausrichtung der technologischen Entwicklung

Soziale Netzwerke und Büroklammern

Die Desinformationsmaschine

Das Geschäft mit der Werbung

Ein sozial bankrottes Netzwerk

Die antidemokratische Wende

Beim Radio war es genauso, nur ganz anders

Digitale Entscheidungen

In dem Moment, da wir die Demokratie am meisten brauchen, wird sie ausgehöhlt

Kapitel 11

Die Neuausrichtung der Technologie

Die Neuausrichtung des technologischen Wandels

Umgestaltung der digitalen Technologien

Der Aufbau von Gegenkräften

Maßnahmen zur Neuausrichtung der technologischen Entwicklung

Weitere nützliche Maßnahmen

Die Zukunft der Technologie ist nicht entschieden

BIBLIOGRAFISCHER ESSAY — ALLGEMEINE QUELLEN UND HINTERGRUND

LITERATUR

ANMERKUNGEN

Kontrolle über die Technologie

Kanalvision

Die Macht zu überzeugen

Das Elend kultivieren

Eine Revolution der mittleren Sorte

Opfer des Fortschritts

Der umstrittene Pfad

Digitaler Schaden

Künstliches Ringen

Die Demokratie zerbricht

Die Neuausrichtung der Technologie

BILDNACHWEIS

DANKSAGUNGEN

Wenn wir das Potenzial der Maschinen in einer Fabrik mit der Bewertung der Menschen kombinieren, auf der unser gegenwärtiges Fabriksystem beruht, steht uns eine industrielle Revolution von uneingeschränkter Grausamkeit bevor. Wenn wir diese Zeit unbeschadet überstehen wollen, müssen wir bereit sein, uns nicht an modischen Ideologien, sondern an Fakten zu orientieren.

– Norbert Wiener, 19491

VORWORT

WAS IST FORTSCHRITT?

Jeden Tag hören wir von Managern, Journalisten, Politikern und sogar von einigen unserer Kollegen am MIT, dass wir uns dank beispielloser technologischer Fortschritte unaufhaltsam auf eine bessere Welt zubewegen. Hier ist das neue Smartphone. Da haben wir das neueste Elektroauto. Willkommen in den sozialen Netzwerken der nächsten Generation. Und möglicherweise werden wir dank der Fortschritte in der Forschung schon bald in der Lage sein, den Krebs zu besiegen, die Erderwärmung rückgängig zu machen und sogar die Armut zu überwinden.

Natürlich müssen noch Probleme gelöst werden, darunter Ungleichheit, Umweltverschmutzung und Extremismus in aller Welt. Aber dies sind die Schmerzen, die mit der Geburt einer neuen Welt einhergehen. In jedem Fall sind die Kräfte der Technologie unaufhaltsam, sagt man uns. Selbst wenn wir wollten, könnten wir ihr Fortschreiten nicht stoppen – und es wäre nicht ratsam, es zu versuchen. Wir ändern besser uns selbst, zum Beispiel, indem wir in den Erwerb von Fähigkeiten investieren, die in Zukunft gebraucht werden. Wenn wir auf hartnäckige Probleme stoßen, werden talentierte Unternehmer und Wissenschaftler Lösungen dafür finden: fähigere Roboter, künstliche Intelligenz, die sich mit dem menschlichen Verstand messen kann, und alle anderen bahnbrechenden Neuerungen, die nötig sind.

Den Menschen ist klar, dass wahrscheinlich nicht alle Versprechen von Bill Gates, Elon Musk oder Steve Jobs eingelöst werden. Aber die Welt hat ihren technologischen Optimismus verinnerlicht. Wir alle sollten uns überall unentwegt um Innovation bemühen, herausfinden, was funktioniert, und die Mängel später beheben.

Das hat die Menschheit schon viele Male erlebt. Ein schönes Beispiel finden wir im Jahr 1791, als der Sozialreformer Jeremy Bentham sein »Panoptikum« vorstellte, einen Entwurf für eine Gefängnisanlage. In einem kreisrunden Gebäude mit ausreichender Beleuchtung, erklärte Bentham, könnten im Zentrum der Anlage postierte Wachen den Eindruck erwecken, alle Häftlinge in jedem Augenblick im Auge zu haben, ohne selbst beobachtet werden zu können. Darin sah Bentham ein sehr effizientes (kostengünstiges) Design, um die Häftlinge zu regelkonformem Verhalten anzuhalten.

Die Idee weckte das Interesse der britischen Regierung, aber da keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestellt wurden, wurde die von Bentham entworfene Version des Panoptikums nie gebaut. Dennoch regte es die Phantasie moderner Theoretiker an. Für den französischen Philosophen Michel Foucault war das Panoptikum ein Symbol der unterdrückerischen Überwachung, auf der die Industriegesellschaften seiner Meinung nach beruhten. In George Orwells Roman 1984 dient das Prinzip des Panoptikums als allgegenwärtiges Mittel zur sozialen Kontrolle. In dem Marvel-Film Guardians of the Galaxy erweist sich das Panoptikum als Fehlkonstruktion, die einen Gefängnisausbruch ermöglicht.

Bevor das Panoptikum als Design für ein Gefängnis vorgeschlagen wurde, war es eine Fabrik. Die Idee stammte von Jeremy Benthams Bruder Samuel, der als Schiffbauingenieur für Fürst Grigori Potemkin in Russland arbeitete. Samuel wollte eine kleine Gruppe von Aufsehern in die Lage versetzen, eine möglichst große Zahl von Arbeitern kontrollieren zu können. Jeremy wendete das Prinzip auf verschiedenste Organisationen an. Einem Freund gegenüber erklärte er: »Sie werden überrascht sein, wie hilfreich diese einfache und scheinbar naheliegende Erfindung für den Betrieb von Schulen, Manufakturen, Gefängnissen und sogar Krankenhäusern sein wird.«2

Es ist leicht nachvollziehbar, warum das Panoptikum – für jene, die das Sagen hatten – so attraktiv war, und seine Vorteile entgingen Benthams Zeitgenossen nicht. Eine bessere Überwachung führte zu größerer Regelkonformität, und man konnte sich vorstellen, dass dies im Interesse der Gesellschaft war. Jeremy Bentham war ein Philanthrop, der die soziale Effizienz erhöhen und allen Mitgliedern der Gesellschaft ein glücklicheres Leben ermöglichen wollte – was er unter einem glücklichen Leben verstand. Bentham wird heute als Begründer des Utilitarismus betrachtet, dessen Ziel es ist, das Wohlergehen der Gesamtheit der Mitglieder einer Gesellschaft zu erhöhen. Wenn einige Menschen sehr davon profitieren würden, dass andere ein bisschen ausgepresst wurden, so lohnte es sich, diese Verbesserung in Erwägung zu ziehen.

Das Panoptikum diente jedoch nicht nur der Effizienz oder dem Gemeinwohl. Die Überwachung in den Fabriken verfolgte auch das Ziel, die Arbeiter dazu zu bewegen, härter zu arbeiten, ohne dass sie durch höhere Löhne zu einem größeren Einsatz motiviert werden mussten.

Das Fabriksystem breitete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Großbritannien aus. Die Arbeitgeber beeilten sich nicht, das Panopktikum zu installieren, aber viele von ihnen organisierten die Arbeit entsprechend Benthams allgemeiner Methode. Die Textilerzeuger zerlegten die zuvor von sachkundigen Webern ausgeführten Tätigkeiten in mehrere Produktionsschritte, und wichtige davon wurden noch dazu von neuen Maschinen übernommen. Die Fabrikeigentümer übertrugen einfache, repetitive Arbeitsschritte ungelernten Arbeitern, darunter Frauen und Kindern: Beispielsweise bediente eine Arbeitskraft wieder und wieder einen einzigen Hebel, und das 14 Stunden am Tag. Und diese Arbeitskräfte wurden streng beaufsichtigt, damit sie nicht die Produktion bremsten. Die Löhne waren niedrig.

Die Arbeiter beklagten sich über die harten Arbeitsbedingungen und die zermürbenden Tätigkeiten. Das Schlimmste waren für viele Menschen die Regeln, die sie in den Fabriken befolgen mussten. Ein Weber erklärte im Jahr 1834: »Kein Mann möchte an einem Maschinenwebstuhl arbeiten (…). Das Geratter und der Lärm treiben manche Männer fast in den Wahnsinn; und dann müssen sie sich einer Disziplin unterwerfen, der sich ein Mann, der von Hand webt, nie unterordnen kann.«3 Die neuen Maschinen machten aus den Arbeitern bloße Rädchen im Getriebe. Ein anderer Weber sagte im April 1835 vor einem Parlamentsausschuss: »Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass sie, wenn sie Maschinen erfinden, um die Handarbeit zu ersetzen, Jungen aus Eisen finden müssen, um sie zu bedienen.«4

In Jeremy Benthams Augen konnte kein Zweifel daran bestehen, dass technologische Fortschritte die Funktionsweise von Schulen, Fabriken, Gefängnissen und Krankenhäusern verbessern würden und dass dies zum Vorteil aller wäre. Mit seiner blumigen Ausdrucksweise, seiner förmlichen Kleidung und seinem komischen Hut würde Bentham im modernen Silicon Valley befremdlich wirken, aber seine Denkweise ist bemerkenswerterweise heute durchaus in Mode. Neue Technologien, heißt es, erweitern die menschlichen Fähigkeiten und können, sofern sie in der gesamten Wirtschaft eingesetzt werden, Effizienz und Produktivität erheblich erhöhen. Und früher oder später wird die Gesellschaft einen Weg finden, um die Erträge der erhöhten Produktivität so zu verteilen, dass praktisch alle Menschen davon profitieren werden.

Auch Adam Smith, Vater der modernen Volkswirtschaftslehre, könnte im Aufsichtsrat einer Wagniskapitalfirma sitzen oder für Forbes schreiben. Er war überzeugt, dass bessere Maschinen fast automatisch zu höheren Löhnen führen würden:

Dieser Fortschritt schlägt sich in besseren Maschinen, größerer Geschicklichkeit und, noch weiterreichend, in einer erhöhten Arbeitsteilung nieder, was dazu führt, daß viel weniger Arbeit erforderlich wird, um irgendein Werkstück anzufertigen. Obgleich der Reallohn infolge des Aufschwungs in einem Lande beträchtlich steigen dürfte, wird doch gleichzeitig der geringere Arbeitsaufwand in der Regel selbst den höchstmöglichen Preisanstieg weit mehr als ausgleichen.5

Widerstand ist zwecklos. Edmund Burke, ein Zeitgenosse von Bentham und Smith, bezeichnete die Gesetze des Handels als »Gesetze der Natur und folglich Gottes«.6

Wie können wir uns dem göttlichen Gesetz widersetzen? Wie können wir uns dem unaufhaltsamen Fortschritt der Technologie widersetzen? Und warum sollten wir das überhaupt tun?

Allem Optimismus zum Trotz finden sich in den letzten tausend Jahren der Menschheitsgeschichte zahlreiche Beispiele für neue Erfindungen, die keineswegs breiten Wohlstand brachten: Eine Reihe technologischer Verbesserungen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landwirtschaft, darunter bessere Pflüge, eine verbesserte Fruchtfolge, der verstärkte Einsatz von Pferden und deutlich leistungsfähigere Mühlen hatten für die Bauern, die fast 90 Prozent der Bevölkerung stellten, praktisch keinen Vorteil.

Die Fortschritte im europäischen Schiffbau ab dem Spätmittelalter ermöglichten den Handel auf den Ozeanen und machten einige Europäer sehr reich. Aber die verbesserten Schiffe transportierten auch Millionen versklavte Menschen aus Afrika in die Neue Welt und ermöglichten den Aufbau von Unterdrückungssystemen, die Generationen Bestand hatten und ein furchtbares Erbe hinterließen, unter dem wir noch heute leiden.

Die Textilfabriken, die in der Frühzeit der britischen Industriellen Revolution in Großbritannien entstanden, machten einige wenige Menschen reich, während die Einkommen der Arbeiter fast ein Jahrhundert lang stagnierten. Vielmehr stieg die Arbeitszeit und die Bedingungen waren sowohl in den Fabriken als auch in den übervölkerten Städten furchtbar.

Die Baumwollentkörnungsmaschine war eine revolutionäre Neuerung, welche die Produktivität des Baumwollanbaus deutlich erhöhte und die Vereinigten Staaten in den größten Baumwollexporteur der Welt verwandelte. Doch diese Erfindung intensivierte auch das rücksichtslose Systems der Ausbeutung von Sklaven, da sie die Ausbreitung der Baumwollplantagen im Süden der Vereinigten Staaten ermöglichte.

Am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der deutsche Chemiker Fritz Haber künstliche Düngemittel, welche die landwirtschaftlichen Erträge erheblich erhöhten. Später nutzten Haber und andere Wissenschaftler dieselben Erkenntnisse für die Entwicklung chemischer Waffen, die im Ersten Weltkrieg Hunderttausende Menschen töteten und verstümmelten.

Wie wir in der zweiten Hälfte dieses Buchs sehen werden, haben spektakuläre Fortschritte in der Computertechnologie in den letzten Jahrzehnten eine kleine Gruppe von Unternehmensgründern und Wirtschaftsmagnaten reich gemacht, während die meisten Amerikaner ohne Hochschulabschluss zurückgefallen sind und vielfach eine Verringerung ihres Realeinkommens hinnehmen mussten.

Einige Leser werden an diesem Punkt möglicherweise einwenden: Haben wir am Ende nicht alle gewaltigen Nutzen aus der Industrialisierung gezogen? Geht es uns dank der Fortschritte in der Nahrungsmittelproduktion und bei den Dienstleistungen nicht sehr viel besser als früheren Generationen, die sich für Hungerlöhne abrackerten und oft in Armut starben?

Es stimmt, wir leben sehr viel besser als unsere Vorfahren. In den westlichen Ländern genießen heute selbst die Armen einen sehr viel höheren Lebensstandard als vor drei Jahrhunderten, und wir leben gesünder, länger und mit Annehmlichkeiten, von denen die Menschen noch vor wenigen Hundert Jahren nicht zu träumen gewagt hätten. Und es stimmt, dass der wissenschaftliche und technologische Fortschritt einen großen Anteil an dieser Entwicklung gehabt hat und auch in Zukunft die Grundlage von Neuerungen sein muss, von denen die gesamte Gesellschaft profitiert. Aber der breit gestreute Wohlstand der Vergangenheit war nicht das Resultat eines automatischen gesellschaftlichen Ertrags technologischer Fortschritte. Vielmehr entstand breiter Wohlstand nur dann, wenn die technologische Entwicklung so ausgerichtet wurde, dass sie nicht primär einer kleinen Elite zugutekam, und wenn sich die Gesellschaft zur Verteilung der Erträge entschloss. Wir profitieren vor allem deshalb vom Fortschritt, weil frühere Generationen den Fortschritt in den Dienst breiter Gesellschaftsgruppen stellten. Der radikale Autor John Thelwall erklärte am Ende des 18. Jahrhunderts, dass es den Arbeitern in dem Moment, als sie sich in Fabriken und Städten konzentrierten, leichter fiel, gemeinsame Interessen zu formulieren und eine gleichmäßigere Teilhabe an den Erträgen des Wirtschaftswachstums zu fordern:

Tatsache ist, dass Monopole und die abscheuliche Häufung des Kapitals in wenigen Händen, wie alle nicht unausweichlich tödlichen Krankheiten, in ihrer eigenen Enormität die Saat des Heilmittels in sich tragen. Der Mensch ist von Natur aus gesellig und kommunikativ – voller Stolz stellt er das geringe Wissen zur Schau, das er besitzt, und wenn sich eine Gelegenheit bietet, vergrößert er begierig seinen Wissensvorrat. Alles, was die Menschen zusammenbringt, fördert daher, obwohl es einige Laster hervorbringen kann, die Verbreitung von Wissen und letzten Endes die menschliche Freiheit. So ist jede große Werkstatt und Manufaktur eine Art von politischer Gesellschaft, die kein Parlamentsbeschluss zum Schweigen bringen und kein Richter zerstreuen kann.7

Der Wettbewerb um Wählerstimmen, der Aufstieg der Gewerkschaften und die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmerrechte änderten im 19. Jahrhundert, wie in Großbritannien die Produktion organisiert und die Löhne festgesetzt wurden. Gemeinsam mit einer Welle von Neuerungen in den Vereinigten Staaten lenkten diese Prozesse auch die technologische Entwicklung in eine andere Richtung: Sie wurde eingesetzt, um die Produktivität der Arbeitskräfte zu erhöhen, anstatt lediglich die menschlichen Tätigkeiten Maschinen zu übertragen oder nach neuen Möglichkeiten zur Beaufsichtigung der Arbeitskräfte zu suchen. Im folgenden Jahrhundert breitete sich diese Technologie erst in Westeuropa und dann in der ganzen Welt aus.

Den meisten Menschen auf der Erde geht es heute besser als ihren Vorfahren, weil sich in den frühen Industriegesellschaften Bürger und Arbeiter zusammenschlossen, um die von der Elite bestimmten Entscheidungen über Technologie und Arbeitsbedingungen anzufechten und eine gleichmäßigere Aufteilung der Erträge technischer Verbesserungen zu erzwingen.

Dasselbe müssen wir auch heute tun.

Die gute Nachricht ist, dass uns mittlerweile wunderbare Werkzeuge zur Verfügung stehen, beispielsweise die Magnetresonanztomografie (MRT), mRNA-Impfstoffe, Industrieroboter, das Internet, Computer mit gewaltiger Rechenleistung und riesige Mengen an Daten zu Dingen, die wir früher nicht messen konnten. Diese Neuerungen können wir nutzen, um reale Probleme zu lösen – allerdings nur, wenn diese faszinierenden Möglichkeiten in den Dienst der Menschen gestellt werden.

Doch gegenwärtig gehen wir in eine andere Richtung.

Trotz der historischen Lehren wird die öffentliche Diskussion heute von einem Narrativ bestimmt, das auffällige Ähnlichkeit mit jenem hat, das vor 250 Jahren in Großbritannien vorherrschte. Heute sind die blinde Fortschrittsgläubigkeit und die elitäre Einstellung zur Technologie noch ausgeprägter als zur Zeit von Jeremy Bentham, Adam Smith und Edmund Burke. Wie wir in Kapitel 1 sehen werden, verschließen die Personen, die für die Weichenstellung verantwortlich sind, einmal mehr die Augen vor dem Leid, das im Namen des Fortschritts verursacht wird.

Wir haben dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, dass der Fortschritt kein Selbstläufer ist. Der heutige »Fortschritt« macht einmal mehr eine kleine Gruppe von Unternehmern und Investoren reich, während die meisten Menschen entmündigt werden und kaum von der Entwicklung profitieren.

Eine neue technologische Vision, welche die Interessen größerer Bevölkerungsgruppen berücksichtigt, kann sich nur durchsetzen, wenn sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ändern. Wie im 19. Jahrhundert müssen Gegenargumente in den öffentlichen Diskurs eingeführt werden, und wir brauchen Organisationen, die die gängige Meinung anfechten. Heute dürfte es noch schwieriger als im 19. Jahrhundert in Großbritannien und den Vereinigten Staaten sein, die dominierende Vision zu Fall zu bringen und einer kleinen Elite die Kontrolle über die Richtung der technologischen Entwicklung zu entziehen. Aber es führt kein Weg daran vorbei.

Kapitel 1Kontrolle über die Technologie1

Denn der Mensch hat durch den Sündenfall seinen Stand der Unschuld und seine Herrschaft über die Geschöpfe verloren; aber beides lässt sich schon in diesem Leben einigermaßen wiederherstellen; das Eine durch die Religion und den Glauben, das Andere durch die Künste und Wissenschaften.

– Francis Bacon, Novum Organum, 16202

Stattdessen sah ich eine wirkliche Aristokratie, die mit einer vervollkommneten Wissenschaft bewaffnet war und das Industriesystem von heute zu einem logischen Schluß ausarbeitete. Ihr Triumph war nicht nur ein Triumph über die Natur gewesen, sondern ein Triumph über die Natur der Mitmenschen.

– H. G. Wells, Die Zeitmaschine, 18953

Seit Time im Jahr 1927 erstmals den »Mann des Jahres« kürte (seltener war es eine »Frau des Jahres«), hat das Magazin fast immer eine einzelne Person ausgewählt, normalerweise einen Protagonisten der Weltpolitik oder einen amerikanischen Wirtschaftsmagnaten. Aber im Jahr 1960 entschied es sich, eine Gruppe brillanter amerikanischer Wissenschaftler zu ehren. Fünfzehn Männer (leider keine Frau) wurden für herausragende Leistungen auf verschiedenen Gebieten ausgezeichnet. Die Time-Redaktion war zu der Überzeugung gelangt, dass Wissenschaft und Technologie endgültig triumphiert hatten.

Das Wort Technologie stammt von den griechischen Wörtern téchnē (»Kunst, Handwerk«) und lógos (»Wissenschaft«) ab und bezeichnet das systematische Studium einer Technik. Technologie ist nicht einfach die Anwendung neuer Methoden auf die Erzeugung materieller Güter. Sie umfasst alles, was wir tun, um unsere Umwelt zu gestalten und die Produktion von Gütern zu organisieren. Sie dient dazu, das gemeinsame Wissen der Menschen anzuwenden, um Ernährung und Gesundheit zu verbessern und das Leben angenehmer machen. Sie kann jedoch auch für Zwecke wie Überwachung, Krieg oder sogar Völkermord genutzt werden.

Time ehrte die Wissenschaftler im Jahr 1960, weil neue praktische Anwendungen des Wissens, das mit atemberaubender Geschwindigkeit gewachsen war, das Leben der Menschen vollkommen verändert hatten. Und das Potenzial für weitere Fortschritte schien unbegrenzt.

Dies war ein später Triumph für den englischen Philosophen Francis Bacon. In seiner 1620 veröffentlichten Schrift Novum Organum hatte Bacon erklärt, die Erkenntnisse der Wissenschaft würden den Menschen in die Lage versetzen, die Natur zu kontrollieren. Jahrhundertelang klang Bacons These angesichts des Kampfes der Menschheit mit Naturkatastrophen, Epidemien und verbreiteter Armut nach Wunschdenken. Doch im Jahr 1960 wirkte seine Vision nicht länger realitätsfern. Die Redaktion von Time stellte fest: »In den 340 Jahren, die seit Novum Organum vergangen sind, hat die Wissenschaft größere Fortschritte gemacht als in den 5000 Jahren davor.«4

Präsident Kennedy drückte es im Jahr 1963 in einer Rede vor der National Academy of Science so aus: »Ich kann mir keinen Zeitraum in der langen Geschichte der Menschheit vorstellen, in dem die wissenschaftliche Erkundung spannender und lohnender gewesen sein könnte als heute. Hinter jeder Tür, die wir öffnen, sehen wir weitere zehn Türen, von deren Existenz wir nie zu träumen gewagt hätten, und wir dringen immer weiter vor.«5 Viele Menschen in den Vereinigten Staaten und Westeuropa lebten mittlerweile im Überfluss, und die kommenden Entwicklungen gaben nicht nur diesen Ländern, sondern der ganzen Welt große Hoffnung.

Die Zuversicht beruhte auf realen Erfolgen. In den Industrieländern war die Produktivität in den vorangegangenen Jahrzehnten so deutlich gestiegen, dass amerikanische, deutsche oder japanische Arbeitskräfte mittlerweile sehr viel mehr produzierten als zwanzig Jahre früher. Breite Bevölkerungsgruppen konnten sich neue Konsumgüter wie Autos, Kühlschränke, Fernsehgeräte und Telefone leisten. Zuvor tödliche Krankheiten wie Tuberkulose, Lungenentzündung und Typhus waren mit Antibiotika gezähmt worden. Die Amerikaner hatten von Atomreaktoren angetriebene U-Boote gebaut und schickten sich an, zum Mond zu fliegen. All das war von bahnbrechender Technologie ermöglicht worden.

Vielen war durchaus bewusst, dass diese Fortschritte nicht nur das Leben angenehmer machen, sondern auch neue Übel mit sich bringen konnten. Die Vorstellung, die Maschinen könnten sich gegen den Menschen erheben, war spätestens seit Mary Shelleys Frankenstein nicht mehr aus der Science-Fiction-Literatur wegzudenken. Eher unterschwellige, fast alltägliche Bedrohungen waren die zunehmende Umweltverschmutzung und Zerstörung von natürlichen Lebensräumen infolge der industriellen Produktion, und dasselbe galt für die Gefahr eines Atomkriegs – der ein Ergebnis der erstaunlichen Fortschritte in der angewandten Physik war. Dennoch betrachtete eine Generation, die darauf vertraute, dass die Technologie alle Probleme lösen würde, die Bürde des Wissens nicht als untragbar. Die Menschheit schien klug genug, um den Einsatz ihres Wissens zu beherrschen, und wenn die Innovation gesellschaftliche Kosten verursachte, bestand die Lösung darin, weitere nützliche Dinge zu erfinden.

Es gab die Sorge, dass »technologische Arbeitslosigkeit« drohte, ein Begriff, den der Ökonom John Maynard Keynes im Jahr 1930 prägte, um die Gefahr zu beschreiben, dass neue Produktionsmethoden den Bedarf an menschlichen Arbeitskräften verringern und zu Massenarbeitslosigkeit beitragen könnten. Keynes sah, dass die Fertigungstechnik in der Industrie weiter rasch verbessert werden würden, aber er erklärte: »Hiermit ist die Arbeitslosigkeit gemeint, die entsteht, weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendungen für Arbeit zu finden.«6

Keynes war nicht der Erste, der diese Sorge äußerte. David Ricardo, ein weiterer Gründervater der modernen Volkswirtschaftslehre, war anfangs optimistisch und überzeugt, die Technologie werde den Lebensstandard der Arbeiter stetig erhöhen. Im Jahr 1819 erklärte er vor dem britischen Unterhaus, dass »Maschinen die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht verringern«.7 Aber für die 1821 erschienene dritte Auflage seiner bahnbrechenden Arbeit Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung ergänzte Ricardo ein neues Kapitel »Über Maschinerie«, in dem er schrieb: »Ich bin umso mehr verpflichtet, meine Meinung zu dieser Frage darzulegen, da diese durch weitere Überlegungen einen beträchtlichen Wandel erfahren hat.«8 Wie er im selben Jahr in einem persönlichen Brief erklärte: »Könnten die Maschinen alle Arbeiten verrichten, die heute von Arbeitern geleistet werden, so gäbe es keine Nachfrage nach Arbeitskräften.«9

Aber die Bedenken von Ricardo und Keynes wirkten sich nicht nachhaltig auf die öffentliche Meinung aus. Ganz im Gegenteil: Als in den achtziger Jahren der Siegeszug des Computers und der digitalen Werkzeuge begann, wuchs die allgemeine Zuversicht. Am Ende des 20. Jahrhunderts schienen sich unbegrenzte Möglichkeiten für wirtschaftliche und soziale Fortschritte zu eröffnen. Bill Gates sprach vielen in der Tech-Branche aus der Seele, als er erklärte: »Die [digitalen] Technologien, mit denen wir es hier zu tun haben, schließen in Wahrheit sämtliche Kommunikationstechnologien ein, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, darunter Rundfunk und Zeitungen. All diese Dinge werden durch etwas sehr viel Attraktiveres ersetzt werden.«10

Es mochte sich nicht immer alles wie erhofft entwickeln, aber Steve Jobs, einer der Gründer von Apple, fasste den Zeitgeist auf einer Konferenz im Jahr 2007 mit einer Aussage zusammen, die berühmt werden sollte: »Machen wir uns daran, die Zukunft zu erfinden, anstatt uns Sorgen über die Vergangenheit zu machen.«11

In Wahrheit waren die erwartungsfrohe Einschätzung von Time und die allgemeine Zuversicht angesichts der technologischen Entwicklung nicht nur übertrieben, sondern unvereinbar mit der Erfahrung der meisten Menschen in den Vereinigten Staaten nach 1980.

In den sechziger Jahren waren nur 6 Prozent der männlichen Amerikaner in der Altersgruppe zwischen 25 und 54 Jahren nicht auf dem Arbeitsmarkt, das heißt, sie waren Langzeitarbeitslose oder nicht auf Arbeitssuche. Heute beträgt dieser Anteil etwa 12 Prozent, was vor allem daran liegt, dass es Männern ohne Hochschulabschluss zunehmend schwerfällt, eine gut bezahlte Arbeit zu finden.

In der Vergangenheit hatten amerikanische Arbeitskräfte sowohl mit als auch ohne Hochschulausbildung Zugang zu »guten Jobs«, die nicht nur angemessen bezahlt wurden, sondern auch Arbeitsplatzsicherheit und Karrierechancen boten. Heute gibt es für Arbeitskräfte ohne Hochschulabschluss kaum noch solche Jobs. Dieser Wandel hat die wirtschaftlichen Aussichten von Millionen Amerikanern beeinträchtigt.

Eine besonders einschneidende Veränderung auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt im letzten halben Jahrhundert betrifft die Lohnstruktur. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Wirtschaft rasch, was der gesamten Gesellschaft zugutekam. Arbeitskräfte aus allen Gesellschaftsgruppen und mit unterschiedlichsten Kenntnissen kamen in den Genuss rasch steigender Realeinkommen (das heißt inflationsbereinigter Einkommen). Das hat sich geändert. Die allgegenwärtigen digitalen Technologien haben Unternehmer, Manager und einige Unternehmer reich gemacht, aber die Reallöhne der meisten Arbeitnehmer sind kaum gestiegen. Arbeitskräfte ohne Hochschulbildung haben seit 1980 im Durchschnitt einen Rückgang ihres Realeinkommens hinnehmen müssen, und sogar die Einkommen von Beschäftigten mit Hochschulabschluss sind kaum gestiegen, wenn sie keine Graduiertenausbildung vorzuweisen haben.

Die neuen Technologien haben noch sehr viel größeren Anteil an der Zunahme der Ungleichheit. Infolge des Verschwindens guter Arbeitsplätze, die den meisten Arbeitskräften offenstanden, und des rasanten Anstiegs der Einkommen der wenigen, die als Informatiker, Ingenieure und Finanzexperten ausgebildet wurden, sind wir auf dem Weg zu einer Zweiklassengesellschaft, in der die Arbeitskräfte und die wenigen Personen, welche die Produktionsmittel kontrollieren und gesellschaftliche Anerkennung genießen, getrennt voneinander leben. Die Kluft zwischen beiden Gruppen wächst unablässig. Das sah der englische Schriftsteller H. G. Wells in Die Zeitmaschine voraus: Sein Roman ist eine Dystopie, in der die Technologie die Menschen so gründlich voneinander getrennt hat, dass sie sich zu zwei separaten Spezies entwickelt haben.

Das Problem ist nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Aufgrund eines besseren Schutzes von Arbeitskräften im Niedriglohnsektor, dank Tarifverträgen und akzeptablen Mindestlöhnen sind die Einkommen von gering qualifizierten Arbeitnehmern in Skandinavien, Frankreich oder Kanada nicht so deutlich gesunken wie in den Vereinigten Staaten. Dennoch hat die Ungleichheit auch in diesen Ländern zugenommen, und auch dort gibt es kaum noch gute Jobs für Arbeitskräfte ohne Hochschulabschluss.

Mittlerweile ist klar, dass wir die Bedenken von Ricardo und Keynes nicht ignorieren dürfen. Eine »technologische Arbeitslosigkeit« von katastrophalen Ausmaßen ist ausgeblieben, und in den fünfziger und sechziger Jahren profitierten die Arbeitnehmer genauso vom Anstieg der Produktivität wie Unternehmer und Firmeninhaber. Aber mittlerweile sieht das Bild ganz anders aus: Die Ungleichheit nimmt rapide zu, und viele Lohnempfänger bleiben infolge des technologischen Fortschritts auf der Strecke.

Tatsächlich zeigen die Geschichte der letzten tausend Jahre und aktuelle Fakten deutlich: Neue Technologien bringen nicht automatisch allgemeinen Wohlstand mit sich. Ob die breite Bevölkerung Anteil an Wohlstandszuwächsen hat, hängt vielmehr von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen ab.

In diesem Buch untersuchen wir die Natur dieser Entscheidungen, die historischen und gegenwärtigen Belege für den Zusammenhang zwischen Technologie, Einkommen und Ungleichheit sowie die Frage, wie wir die Innovation nutzen können, um den Wohlstand aller Menschen zu erhöhen. Um das Fundament für diese Untersuchung zu legen, stellen wir in diesem Kapitel drei grundlegende Fragen:

Wovon hängt es ab, ob neue Maschinen und Produktionsmethoden die Einkommen erhöhen?

Was wäre nötig, um die Technologie für den Aufbau einer besseren Zukunft zu nutzen?

Warum lenken die gegenwärtigen Überlegungen von Unternehmern und Visionären in der Techbranche die Welt in eine andere, besorgniserregende Richtung, insbesondere was die neue Begeisterung für die künstliche Intelligenz betrifft?

Die Sogwirkung des Fortschritts

Die Hoffnung, der technologische Fortschritt werde allen Menschen zugutekommen, beruht auf der weit verbreiteten Vorstellung, dass Produktivitätszuwächse eine »Sogwirkung« ausüben. Demnach erhöhen neue Maschinen und Produktionsmethoden nicht nur die Produktivität, sondern auch die Einkommen. Der technologische Fortschritt übt einen Sog aus, der die Einkommen nicht nur von Unternehmern und Kapitaleigentümern, sondern von allen Menschen nach oben zieht.

Die Ökonomen wissen seit Langem, dass die Nachfrage nach verschiedenen Tätigkeiten und damit nach verschiedenen Arten von Arbeitskräften unterschiedlich schnell wachsen kann, was zur Folge hat, dass Innovation die Ungleichheit erhöhen kann. Dennoch wird gemeinhin angenommen, dass eine Weiterentwicklung der Technologie den allgemeinen Wohlstand erhöhen wird, weil alle Menschen in gewissem Maß davon profitieren werden. Es wird davon ausgegangen, dass niemand vollkommen den Anschluss an die Technologie verliert, und vor allem wird sie niemanden ärmer machen. Um der zunehmenden Ungleichheit zu begegnen und den gemeinsamen Wohlstand zu festigen, müssen die Arbeitskräfte nach herkömmlicher Einschätzung einen Weg finden, um sich die Kenntnisse anzueignen, die benötigt werden, um mit neuen Technologien arbeiten zu können. Erik Brynjolfsson, ein anerkannter Technologieexperte, fasst es prägnant zusammen: »Was können wir tun, um Wohlstand für alle zu schaffen? Die Antwort ist nicht, die technologische Entwicklung zu bremsen. Anstatt gegen die Maschine zu kämpfen, müssen wir an der Seite der Maschine kämpfen. Das ist unsere große Herausforderung.«12

Die Theorie hinter der Sogwirkung der Produktivität ist einfach: Wenn Unternehmen produktiver werden, können sie mehr produzieren. Dafür brauchen sie mehr Arbeitskräfte, weshalb sie neue Mitarbeiter einstellen. Und wenn das viele Unternehmen gleichzeitig tun, treiben sie kollektiv die Löhne und Gehälter in die Höhe.

Tatsächlich geschieht das – allerdings nicht immer. Ein Beispiel für einen Fall, in dem es funktionierte, war die amerikanische Automobilproduktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu jener Zeit zählte die Autoindustrie zu den dynamischsten Wirtschaftszweigen. Die Ford Motor Company und dann auch General Motors führten neue elektrische Maschinen ein, bauten effizientere Fabriken und brachten bessere Automodelle auf den Markt. Ihre Produktivität stieg rasant, und dasselbe galt für die Beschäftigtenzahl: Sie stieg von wenigen Tausend im Jahr 1899, als gerade einmal 2500 Autos gebaut wurden, auf mehr als 400 000 Arbeiter in den zwanziger Jahren. Im Jahr 1929 verkauften Ford und General Motors jeweils rund 1,5 Millionen Autos.13 Die beispiellose Ausweitung der Automobilproduktion zog die Löhne in der gesamten amerikanischen Wirtschaft in die Höhe, und davon profitierten auch Arbeitskräfte, die kaum eine formale Ausbildung vorzuweisen hatten.

Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts wuchs die Produktivität auch in anderen Branchen rasch, und die Reallöhne folgten. Bemerkenswert ist, dass die Einkommen von Hochschulabsolventen in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der siebziger Jahre beinahe im Gleichschritt mit den Löhnen von Arbeitskräften stiegen, die lediglich die Sekundarschule besucht hatten.

Leider lässt sich das, was dann geschah, nicht mit der Behauptung vereinbaren, die Sogwirkung sei so etwas wie ein Naturgesetz. Wie Produktivitätszugewinne verteilt werden, hängt von der Art der technologischen Veränderung und von den Regeln, Normen und Erwartungen in der Beziehung zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten ab. Um zu verstehen, wie das funktioniert, müssen wir uns die beiden Vorgänge ansehen, die das Produktivitätswachstum mit dem Lohnanstieg koppeln. Zunächst erhöht ein Anstieg der Produktivität die Nachfrage nach Arbeitskräften, da die Unternehmen im Streben nach höheren Gewinnen mehr Arbeitskräfte einstellen, um die Produktion ausweiten zu können. Sodann müssen die Arbeitgeber aufgrund der erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften höhere Löhne anbieten, um Mitarbeiter anzulocken und an das Unternehmen zu binden. Doch wie wir in den folgenden Abschnitten erklären werden, gibt es leider keine Garantie dafür, dass dies geschehen wird.

Automatisierungsblues

Entgegen einer verbreiteten Vorstellung führt ein Anstieg der Produktivität nicht zwangsläufig zu einer höheren Nachfrage nach Arbeitskräften. Normalerweise wird die Produktivität als durchschnittliche Produktion pro Arbeitskraft definiert: als Gesamtproduktion dividiert durch die Gesamtbeschäftigung. Die Hoffnung ist natürlich, dass mit steigender Produktivität pro Beschäftigtem auch die Bereitschaft der Unternehmen zunehmen wird, neue Mitarbeiter einzustellen.

Aber eine höhere durchschnittliche Produktionsmenge pro Beschäftigtem gibt den Arbeitgebern noch keinen Anreiz, mehr Leute einzustellen. Den Unternehmen ist etwas anderes wichtig: die Grenzproduktivität, das heißt der zusätzliche Beitrag, den ein weiterer Mitarbeiter leisten wird, indem er die Produktionsmenge erhöht oder mehr Kunden betreut. Das Konzept der Grenzproduktivität unterscheidet sich von dem der Produktionsmenge oder der Einnahmen pro Arbeitskraft: Die Produktionsmenge pro Arbeitskraft kann steigen, während die Grenzproduktivität konstant bleibt oder sogar sinkt.

Den Unterschied zwischen Produktionsmenge pro Arbeitskraft und Grenzproduktivität können wir anhand der folgenden Prognose veranschaulichen: »Die Fabrik der Zukunft wird nur zwei Beschäftigte haben: einen Mann und einen Hund. Der Mann ist dafür da, den Hund zu füttern. Der Hund ist dafür da, den Mann daran zu hindern, die Maschinen anzurühren.«14 Diese Fantasiefabrik könnte sehr viel produzieren, weshalb die durchschnittliche Produktivität – ihre Produktion geteilt durch die eine (menschliche) Arbeitskraft – sehr hoch wäre. Doch die Grenzproduktivität dieser Person ist verschwindend gering: Ihre Aufgabe ist es, den Hund zu füttern, was bedeutet, dass man sowohl auf den Hund als auch auf den Menschen verzichten könnte, ohne dass die Produktionsmenge erheblich sinken würde. Verbesserte Maschinen könnten die Menge, die mit dieser einen Arbeitskraft produziert wird, weiter erhöhen, aber wir dürfen annehmen, dass die Fabrikleitung keine Eile hätte, zusätzliche Arbeitskräfte und Hunde einzustellen oder den Lohn ihres einsamen Beschäftigten zu erhöhen.

Dies ist ein extremes Beispiel, aber es erklärt eine wichtige Tatsache. Wenn ein Autobauer bessere Modelle auf den Markt bringt – wie es Ford und General Motors in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts taten –, wächst die Nachfrage nach den Autos dieses Herstellers, und sowohl die Einnahmen pro Beschäftigtem als auch die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte steigen. Schließlich braucht das Unternehmen mehr Arbeitskräfte wie Schweißer und Lackierer, um die zusätzliche Nachfrage befriedigen zu können, und es wird diesen Arbeitskräften höhere Löhne zahlen, wenn das nötig ist, um sie an das Unternehmen zu binden. Doch was geschieht, wenn derselbe Autobauer Industrieroboter installiert? Roboter können die meisten Schweiß- und Lackierarbeiten übernehmen, und ihr Einsatz kostet weniger als Produktionsmethoden, für die eine größere Zahl von Arbeitskräften benötigt wird. Die Folge ist, dass die durchschnittliche Produktivität des Unternehmens deutlich steigt – doch es braucht weniger menschliche Schweißer und Lackierer.

Das ist ein allgemeines Problem. Viele neue Technologien, darunter Industrieroboter, erweitern die Zahl der Funktionen, die von Maschinen und Algorithmen erfüllt werden können, und verdrängen die mit diesen Tätigkeiten betrauten Arbeitskräfte. Die Automatisierung erhöht also die durchschnittliche Produktivität, während sie die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte tatsächlich verringern kann.

Die Automatisierung bereitete Keynes Sorgen, und sie war kein neues Phänomen mehr, als er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit beschäftigte. Viele legendäre Neuerungen, die während der Industriellen Revolution in der britischen Textilbranche eingeführt wurden, dienten dazu, Fachkräfte durch neue Spinn- und Webmaschinen zu ersetzen.

Was für die Automatisierung gilt, gilt für viele Aspekte der Globalisierung. Bahnbrechende neue Kommunikationswerkzeuge und Neuerungen in der Transportlogistik haben in den letzten Jahren eine massive Umsiedlung von Produktionsfunktionen wie Montage und Kundendienst an weit entfernte Standorte ermöglicht, wo die Arbeitskosten geringer sind. Die Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer hat es Unternehmen wie Apple ermöglicht, ihre Kosten zu verringern und ihre Gewinne deutlich zu erhöhen. Ihre Produkte bestehen aus Teilen, die in vielen verschiedenen Ländern gefertigt und fast ausschließlich in Asien zusammengebaut werden. Gleichzeitig hat dieser Prozess in den Industrieländern Arbeitsplätze vernichtet und keine wesentliche Sogwirkung erzeugt.

Automatisierung und Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer haben Produktivität und Gewinne der Unternehmen deutlich erhöht, ohne jedoch den allgemeinen Wohlstand in den entwickelten Ländern zu heben. Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen und Produktionsschritte in Niedriglohnländer zu verlagern sind nicht die einzigen Optionen zur Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz. Wie wir in den Kapiteln 5 bis 9 sehen werden, hat die Geschichte ein ums andere Mal gezeigt, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, um die Produktionsmenge pro Arbeitskraft zu vergrößern. Einige Innovationen erhöhen die Beiträge der Arbeitskräfte zur Produktion beträchtlich, ohne dass eine Automatisierung oder Verlagerung der Arbeit nötig wäre. Beispielsweise steigert neue Software, die Automechaniker in ihrer Tätigkeit unterstützt und eine präzisere Arbeit ermöglicht, die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte. Das unterscheidet sich grundlegend von der Installation von Industrierobotern mit dem Ziel, Menschen zu ersetzen.

Um die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte anzuheben, müssen vor allem neue Tätigkeiten entwickelt werden. In der von Henry Ford vorangetriebenen umwälzenden Umstrukturierung der Automobilindustrie, die im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begann, wurden zahlreiche Fertigungsschritte automatisiert. Gemeinsam mit den neuen Methoden der Massenproduktion und der Entwicklung von Fertigungsstraßen wurden zahlreiche neue Tätigkeiten in Design, Technik, Maschinenbedienung und Verwaltung eingeführt, was die Arbeitskräftenachfrage in der Industrie deutlich erhöhte (mehr dazu in Kapitel 7). Wenn neue Maschinen neue Einsatzgebiete für menschliche Arbeitskräfte schaffen, können diese zusätzliche Beiträge zur Produktion leisten, womit ihre Grenzproduktivität steigt.

Neue Tätigkeiten waren nicht nur für die Entstehung der amerikanischen Automobilproduktion unverzichtbar, sondern auch für das Beschäftigungs- und Einkommenswachstum in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Viele der Berufe, die in den letzten Jahrzehnten besonders schnell gewachsen sind – MRT-Techniker, Netzwerkingenieure, Bediener computergestützter Maschinen, Softwareprogrammierer, IT-Sicherheitsexperten und Datenanalysten –, existierten vor achtzig Jahren nicht. Sogar Arbeitskräfte in Berufen, die es schon seit Langem gibt, beispielsweise Bankangestellte, Professoren oder Buchhalter, gehen heute einer Vielzahl von Tätigkeiten nach, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch nicht existierten, darunter all jene, in denen Computer und moderne Kommunikationsausrüstung eingesetzt werden. In fast allen diesen Fällen sind infolge technologischer Fortschritte neue Tätigkeiten entstanden, die das Beschäftigungswachstum antreiben. Diese neuen Tätigkeiten tragen wesentlich zum Produktivitätswachstum bei, da sie die Einführung neuer Produkte und eine effizientere Reorganisation des Produktionsprozesses erlauben.

Die Entstehung neuer Tätigkeiten hat großen Anteil daran, dass sich die schlimmsten Befürchtungen von Ricardo und Keynes nicht bewahrheitet haben. Im 20. Jahrhundert schritt die Automatisierung schnell voran, ohne die Nachfrage nach Arbeitskräften zu verringern. Der Grund dafür war, dass sie von anderen Verbesserungen und von einer Reorganisation der Produktion begleitet wurde, die neue Tätigkeiten und Aufgaben für die Arbeitskräfte schufen.

Die Automatisierung in einem Industriezweig kann auch die Beschäftigung in diesem Bereich oder in der Gesamtwirtschaft erhöhen, sofern sie die Kosten senkt oder die Produktivität ausreichend erhöht. In diesem Fall können neue Arbeitsplätze entstehen, sei es, weil in derselben Industrie nicht automatisierte Tätigkeiten eingeführt werden oder weil die Aktivität in verbundenen Industrien zunimmt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg infolge des raschen Wachstums der Automobilproduktion die Nachfrage nach zahlreichen nicht automatisierten technischen und Bürotätigkeiten. Ebenso wichtig ist, dass der Produktionsanstieg in den Automobilwerken in diesen Jahrzehnten das Wachstum der Erdöl-, Stahl- und chemischen Industrie anregte (man denke nur an Benzin, Autokarosserien und Reifen). Die Massenproduktion von Autos revolutionierte außerdem die Möglichkeiten in Güter- und Personenbeförderung und führte damit angesichts der sich wandelnden Geografie der Städte zum Wachstum neuer Tätigkeiten in Einzelhandel, Unterhaltung und Dienstleistungen.

Hingegen werden nur wenige neue Arbeitsplätze entstehen, wenn die Produktivitätszuwächse infolge der Automatisierung gering sind – dies bezeichnen wir in Kapitel 9 als »So-lala-Automatisierung«. Beispielsweise erhöhen Selbstbedienungskassen in Supermärkten die Produktivität nur geringfügig, weil sie die Arbeit – das Einscannen der Artikel – lediglich von den Angestellten auf die Kunden verlagern. Wenn Selbstbedienungskassen eingeführt werden, sinkt die Zahl der Kassierer, aber das führt nicht zu einer Produktivitätserhöhung, die in anderen Bereichen die Schaffung neuer Arbeitsplätze anregen würde. Die Lebensmittel werden nicht billiger, die Lebensmittelproduktion steigt nicht, und das Leben der Kunden ändert sich nicht.

Ebenso unerfreulich für die Arbeitskräfte ist es, wenn neue Technologien in erster Linie der Überwachung dienen, wie es Jeremy Bentham in seinem Panoptikum vorsah. Eine bessere Überwachung der Beschäftigten kann die Produktivität geringfügig erhöhen, aber ihre vorrangige Funktion besteht darin, die Arbeitskräfte zu größerer Anstrengung anzutreiben und manchmal auch ihre Löhne zu senken, wie wir in den Kapiteln 9 und 10 sehen werden.

So-lala-Automatisierung und Überwachung der Arbeiter erzeugen keinen Produktivitätssog. Der Effekt ist auch bei Technologien, die durchaus nennenswerte Produktivitätszugewinne ermöglichen, eher schwach, wenn sich Eingriffe in erster Linie auf die Automatisierung konzentrieren und Arbeitskräfte verdrängen. Industrieroboter, die bereits die moderne Fertigung revolutioniert haben, haben für die Arbeitskräfte nur geringen oder überhaupt keinen Nutzen, wenn sie nicht mit anderen Technologien einhergehen, die neue Tätigkeiten und Chancen für menschliche Arbeitskräfte erzeugen. In einigen Fällen – ein Beispiel ist das industrielle Kerngebiet der amerikanischen Wirtschaft im Mittleren Westen – hat die rasche Einführung von Robotern stattdessen zu Massenentlassungen und einem anhaltenden regionalen Niedergang geführt.

All das verdeutlicht das vielleicht wichtigste Merkmal der Technologie: die Wahlmöglichkeit. Oft gibt es ungezählte mögliche Wege, um unser kollektives Wissen zur Verbesserung der Produktion zu nutzen, und noch mehr mögliche Richtungen, in die Neuerungen gelenkt werden können. Wollen wir digitale Werkzeuge für die Überwachung nutzen? Für die Automatisierung? Oder um die Arbeitskräfte in die Lage zu versetzen, neuen produktiven Tätigkeiten nachzugehen? Und auf welche zukünftigen Fortschritte werden wir uns konzentrieren?

Wenn die Sogwirkung von Produktivitätszuwächsen wenig ausgeprägt ist und autonome Korrekturmechanismen fehlen, die dafür sorgen könnten, dass der Ertrag von Produktivitätsgewinnen verteilt wird, haben diese Entscheidungen größere Tragweite – und jene, die sie fällen, erlangen sowohl wirtschaftlich als auch politisch größere Macht.

Der erste Schritt in der Kausalkette des Produktivitätssogs hängt also von spezifischen Entscheidungen ab: Die Akteure müssen die vorhandenen Technologien einsetzen und neue entwickeln, um die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte zu erhöhen, anstatt lediglich die Arbeit zu automatisieren und Arbeitskräfte überflüssig zu machen oder die Überwachung zu verstärken.

Warum es wichtig ist, dass die Arbeitskräfte Macht haben

Leider genügt selbst ein Anstieg der Grenzproduktivität der Arbeitskräfte nicht, um dafür zu sorgen, dass Produktivitätszuwächse dank der Sogwirkung die Arbeitseinkommen und den Lebensstandard aller Beschäftigten anheben. Rufen wir uns den zweiten Schritt in der Kausalkette in Erinnerung: Eine steigende Nachfrage nach Arbeitskräften bewegt die Unternehmen dazu, höhere Löhne zu zahlen. Aber das geschieht nicht zwangsläufig. Dafür gibt es drei Gründe.

Der erste ist eine vom Zwang geprägte Beziehung zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten. Die längste Zeit in der Menschheitsgeschichte waren die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft unfrei: Sie waren Sklaven oder anderen Formen der Zwangsarbeit unterworfen. Wenn der Sklavenhalter eine höhere Arbeitsleistung aus seinen Sklaven herausholen will, muss er ihnen keinen höheren Lohn bezahlen: Er kann einfach die Zwangsmaßnahmen verstärken, um sie zu größerer Anstrengung zu bewegen und die Produktionsmenge zu erhöhen. Unter solchen Bedingungen haben selbst die Produktivitätszugewinne dank revolutionärer Neuerungen wie der Baumwollentkörnungsmaschine im Süden der Vereinigten Staaten nicht zwangsläufig zur Folge, dass alle Beteiligten profitieren. Selbst wenn die Landarbeiter keine Sklaven waren, konnte die Einführung neuer Technologien unter Bedingungen der Unterdrückung den Zwang erhöhen und zu einer weiteren Verarmung der Bauern führen, wie wir in Kapitel 4 sehen werden.

Zweitens wird selbst ein Arbeitgeber, der keinen offenen Zwang ausübt, möglicherweise infolge von Produktionszuwächsen keine höheren Löhne zahlen, wenn er nicht mit Konkurrenz konfrontiert ist. In vielen frühen Agrargesellschaften waren die Bauern gesetzlich an den Boden gebunden und konnten nicht anderswo nach einer Beschäftigung suchen. In Großbritannien war es Arbeitskräften noch im 18. Jahrhundert verboten, den Arbeitsplatz zu wechseln; versuchten sie, eine bessere Arbeit zu finden, wurden sie oft ins Gefängnis gesteckt. Wenn die einzige Option außerhalb des gegenwärtigen Beschäftigungsverhältnisses das Gefängnis ist, haben die Arbeitgeber normalerweise keine Veranlassung, eine großzügige Bezahlung anzubieten.

In der Geschichte finden wir zahlreiche Belege für diesen Zusammenhang. Im mittelalterlichen Europa erhöhten Windmühlen, eine verbesserte Fruchtfolge und der zunehmende Einsatz von Pferden die Produktivität in der Landwirtschaft erheblich. Doch der Lebensstandard der meisten Bauern stieg nicht oder nur geringfügig. Die zusätzlichen Erträge flossen stattdessen einer kleinen Elite zu und lösten einen massiven Bauboom aus, der die Errichtung monumentaler Kathedralen in ganz Europa ermöglichte. Als im 18. Jahrhundert in Großbritannien Industriemaschinen eingeführt wurden und Fabriken entstanden, stiegen die Löhne anfangs nicht; in vielen Fällen sank der Lebensstandard der Arbeiter und die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich. Gleichzeitig erlangten die Fabrikbesitzer fabelhaften Reichtum.

Drittens hängt die Einkommensentwicklung oft nicht von den unpersönlichen Marktkräften ab. Vielmehr werden die Löhne zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt. In der heutigen Welt ist dies besonders bedeutsam. Ein modernes Unternehmen kann dank einer starken Marktposition, aufgrund von Größenvorteilen oder einer technologischen Führungsrolle oft beträchtliche Gewinne erzielen. Als die Ford Motor Company Anfang des 20. Jahrhunderts neue Fertigungstechniken für die Massenproduktion einführte und begann, hochwertige und billige Autos zu bauen, erzielte das Unternehmen gewaltige Gewinne. Der Firmengründer Henry Ford wurde zu einem der reichsten Unternehmer seiner Zeit. Die Ökonomen bezeichnen solche Riesenprofite als »ökonomische Renten« (oder einfach »Renten«), was bedeutet, dass sie über die normale Kapitalrendite hinausgehen, die Aktionäre angesichts der mit der Investition verbundenen Risiken erwarten würden. Sobald ökonomische Renten anfallen, werden die Arbeitslöhne nicht mehr einfach von den äußeren Marktkräften bestimmt, sondern auch vom potenziellen »Rent Sharing«, das heißt von der Fähigkeit der Beschäftigten, sich einen Teil dieser Gewinne zu sichern.

Eine Quelle von ökonomischen Renten ist die Marktmacht. In den meisten Ländern gibt es eine begrenzte Zahl von Profisportklubs, und der Marktzutritt wird normalerweise durch die Kapitalerfordernisse beschränkt. In den fünfziger und sechziger Jahren war Baseball in den Vereinigten Staaten ein rentables Geschäft, aber die Spieler erhielten keine hohen Gehälter, selbst als Fernseheinnahmen zu fließen begannen. Das änderte sich Ende der sechziger Jahre, als es den Spielern gelang, ihre Verhandlungsposition zu verbessern. Die Eigentümer der Baseballteams verdienen auch heute noch gut, aber sie müssen einen sehr viel größeren Teil ihrer ökonomischen Renten an die Sportler abgeben.

Manche Arbeitgeber teilen ihre ökonomischen Renten mit den Beschäftigten, um sich deren Wohlwollen zu sichern und sie zu größeren Anstrengungen zu motivieren; andere werden durch die geltenden gesellschaftlichen Normen dazu bewegt. Henry Ford führte am 5. Januar 1914 einen Mindestlohn von 5 Dollar am Tag ein, um den Absentismus zu verringern, seine Arbeiter an das Unternehmen zu binden und das Risiko von Streiks zu verringern. Seitdem gehen viele Arbeitgeber ähnlich vor, insbesondere, wenn es schwierig ist, Arbeitskräfte zu finden und zu halten, oder wenn der Erfolg des Unternehmens von der Motivation der Belegschaft abhängt.

Ricardo und Keynes mochten sich in Einzelheiten täuschen, aber sie erkannten richtig, dass Produktivitätszugewinne nicht zwangsläufig und automatisch zu einer breiten Verteilung des Wohlstands führen. Dazu kommt es nur, wenn neue Technologien die Grenzproduktivität der Arbeitskräfte erhöhen und die Gewinne zwischen Unternehmen und Beschäftigten aufgeteilt werden.

Aber vor allem hängen die Ergebnisse von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entscheidungen ab. Neue Fertigungstechniken und Maschinen sind nicht zwangsläufig ein Segen. Es ist möglich, dass sie ausschließlich in den Dienst von Automatisierung und Überwachung gestellt werden, um die Arbeitskosten zu senken. Oder sie können neue Tätigkeiten hervorbringen und die Position der Arbeitnehmer stärken. Sie können geteilten Wohlstand oder extreme Ungleichheit hervorbringen, je nachdem, wie sie eingesetzt werden und welchen Zielen die Innovationsbemühungen dienen.

Im Prinzip sollte die Gesellschaft diese Entscheidungen kollektiv fällen. In der Praxis werden sie von Unternehmern, Managern, Visionären und manchmal Politikern gefällt. Von diesen Entscheidungen häng es ab, wer vom technologischen Fortschritt profitiert und wer darunter leidet.

Eingeschränkter Optimismus

Die Ungleichheit hat dramatisch zugenommen, viele Arbeitskräfte sind auf der Strecke geblieben, und die Sogwirkung von Produktivitätszuwächsen ist in den letzten Jahrzehnten ausgeblieben. Trotzdem gibt es Grund zur Hoffnung. Das Wissen der Menschheit ist gewaltig gewachsen, und es gibt beträchtlichen Spielraum, um aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen allgemeinen Wohlstand zu schaffen – sofern wir den Fortschritt in eine andere Richtung lenken.

Jene, die überzeugt sind, der technologische Fortschritt biete Grund für Optimismus, haben in einem Punkt recht: Die digitalen Technologien haben bereits den wissenschaftlichen Prozess revolutioniert. Mittlerweile haben wir auf Tastendruck Zugang zum gesamten Wissen der Menschheit. Wissenschaftler können auf faszinierende Messinstrumente zugreifen, darunter das Rasterkraftmikroskope und der Magnetresonanztomograf. Die Computer können mittlerweile gewaltige Datenmengen auf eine Art und Weise verarbeiten, die noch vor dreißig Jahren unvorstellbar schien.

Die wissenschaftliche Forschung ist kumulativ: Forscher bauen auf der Arbeit ihrer Kollegen auf. Früher war die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse ein langwieriger Prozess. Im 17. Jahrhundert informierten Gelehrte wie Galileo Galilei, Johannes Kepler, Isaac Newton, Gottfried Wilhelm Leibniz und Robert Hooke ihre Kollegen in Briefen über ihre Entdeckungen, und diese Mitteilungen brauchten Wochen oder sogar Monate, um ihren Empfänger zu erreichen. Nikolaus Kopernikus entwickelte das heliozentrische System, in dem die Erde um die Sonne kreist, im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Im Jahr 1514 stellte Kopernikus seine Theorie fertig, aber sein einflussreichstes Werk, Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären, erschien erst im Jahr 1543. Es dauerte fast ein Jahrhundert, bis Kepler und Galilei die Arbeit von Kopernikus fortsetzten, und dann vergingen mehr als zwei Jahrhunderte, bis die Erkenntnisse dieser Forscher allgemein anerkannt wurden.15

Heute reisen wissenschaftliche Entdeckungen mit Lichtgeschwindigkeit um den Erdball, vor allem, wenn das dringend nötig ist. Die Entwicklung von Impfstoffen zieht sich normalerweise über Jahre hin, aber Anfang des Jahres 2020 brauchte Moderna nach der Sequenzierung des Genoms des Virus SARS-CoV-2 dafür lediglich 42 Tage. Der gesamte Prozess von Entwicklung, Tests und Zulassung dauerte weniger als ein Jahr, und das Ergebnis war ein bemerkenswert sicherer und wirksamer Schutz vor der schweren Erkrankung, die COVID auslöste.16 Die Hindernisse für die Weitergabe von Ideen und die Verbreitung technischer Kenntnisse waren nie so niedrig wie heute, und die kumulative Macht der Wissenschaft war nie größer.

Aber um aufbauend auf diesen Fortschritten das Leben von Milliarden Menschen in aller Welt verbessern zu können, müssen wir der technologischen Entwicklung eine andere Richtung geben. Zunächst müssen wir den blinden Technologieoptimismus unserer Tage hinterfragen, und anschließend müssen wir neue Wege zur Nutzung von Wissenschaft und Innovation finden.

Die gute und zugleich schlechte Nachricht lautet, dass die Nutzung von Wissen und Wissenschaft von der vorherrschenden Vision abhängt – davon, welche Vorstellung wir davon haben, wie wir Wissen in Methoden und technische Verfahren umwandeln können, die der Lösung spezifischer Probleme dienen. Unsere Vision wirkt sich auf unsere Entscheidungen aus, weil sie unsere Bestrebungen prägt. Von unserer Vision hängt es ab, welche Mittel wir einsetzen, um unsere Ziele zu erreichen, welche Optionen wir in Betracht ziehen und welche wir außer Acht lassen und wie wir Kosten und Nutzen unseres Vorgehens einschätzen. Es geht darum, welche Vorstellung wir von Technologien und ihren Segnungen sowie von möglichen schädlichen Wirkungen haben.

Die schlechte Nachricht ist, dass die Vision mächtiger Personen selbst unter den günstigsten Bedingungen einen unverhältnismäßig großen Einfluss darauf hat, was wir mit den vorhandenen Werkzeugen tun und in welche Richtung wir die Innovation lenken. Wie sich Technologien auswirken, hängt von den Interessen und Überzeugungen dieser Personen ab, während die übrige Gesellschaft die oft kostspieligen Konsequenzen tragen muss. Die gute Nachricht ist, dass sich Entscheidungen und Visionen ändern können.

Eine gemeinsame Vision der Innovatoren ist unverzichtbar, um Wissen anzuhäufen, und wirkt sich entscheidend darauf aus, wie wir Technologien einsetzen. Nehmen wir beispielsweise die Dampfmaschine, die zuerst die europäische und dann die Weltwirtschaft veränderte. Eine Reihe rasch aufeinanderfolgender Neuerungen ab dem 18. Jahrhundert entsprang einem gemeinsamen Verständnis des zu lösenden Problems: Wie konnte man Wärmeenergie nutzen, um mechanische Arbeit zu verrichten? Thomas Newcomen baute um das Jahr 1712 die erste Dampfmaschine, die breite Verwendung fand. Ein halbes Jahrhundert später verbesserten James Watt und sein Geschäftspartner Matthew Boulton Newcomens Design, indem sie durch die Trennung des Kondensators vom Zylinder den Wirkungsgrad der Maschine deutlich erhöhten. Diese Dampfmaschine war kommerziell sehr viel erfolgreicher.

Die gemeinsame Perspektive tritt in dem zutage, was diese Neuerer anstrebten und wie sie es zu erreichen versuchten: Sie wollten den Dampf nutzen, um einen Kolben in einem Zylinder hin und her zu bewegen und Antriebskraft zu erzeugen, und anschließend die Effizienz dieser Maschine erhöhen, damit sie in vielen verschiedenen Bereichen eingesetzt werden konnte. Die gemeinsame Vision versetzte sie nicht nur in die Lage, voneinander zu lernen, sondern sorgte auch dafür, dass sie das Problem ähnlich in Angriff nahmen. Sie konzentrierten sich in erster Linie auf das, was als atmosphärische Dampfmaschine bezeichnet wird: Durch das Wechselspiel von steigendendem Druck (durch heißen Dampf) und Druckabfall (Kondensation des Dampfs) im Zylinder wird der Kolben bewegt. Sie waren sich auch darin einig, andere Möglichkeiten auszuschließen, etwa die Hochdruck-Dampfmaschine, die Jacob Leupold im Jahr 1720 erstmals beschrieben hatte. Die Hochdruck-Dampfmaschine widersprach dem wissenschaftlichen Konsens des 18. Jahrhunderts, setzte sich im 19. Jahrhundert jedoch durch.17

Aufgrund ihrer gemeinsamen Vision waren die frühen Neuerer hoch motiviert und ließen sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie hielten nicht inne, um über die möglichen Kosten der Neuerungen nachzudenken – beispielsweise über die Auswirkungen auf Kinder, die unter schwersten Bedingungen im Kohlebergbau arbeiten mussten, als Dampfmaschinen eine bessere Drainage der Schächte ermöglichten.

Was für die Dampfmaschine gilt, gilt für alle anderen Technologien: Sie existieren nie unabhängig von einer Vision. Wir suchen nach Wegen, um Probleme zu lösen, mit denen wir konfrontiert sind (das gehört zur Vision). Wir stellen uns vor, welche Werkzeuge uns dabei helfen könnten (ebenfalls Vision). Aus den zahlreichen Möglichkeiten, die uns offenstehen, wählen wir eine Handvoll aus (ein weiterer Aspekt der Vision). Dann probieren wir alternative Zugänge aus und machen uns ausgehend von den Erkenntnissen daran, zu experimentieren und Neuerungen einzuführen. Dieser Prozess ist mit Rückschlägen, Kosten und mit einiger Sicherheit auch mit unbeabsichtigten Folgen verbunden, darunter möglicherweise menschliches Leid. Ob wir uns dadurch bremsen lassen oder vielleicht sogar zu der Überzeugung gelangen, dass wir unseren Traum aufgeben müssen, ist ein weiterer Bestandteil der Vision.

Aber wovon hängt es ab, welche technologische Vision sich durchsetzt? Es stimmt, dass wir entscheiden müssen, wie wir unser kollektives Wissen am besten nutzen können, aber es geht nicht nur um technische Faktoren oder um die Frage, was unter rein technischen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Die Entscheidung ist im Grunde eine Machtfrage – von der Fähigkeit, andere zu überzeugen, wie wir in Kapitel 3 sehen werden –, denn welche Personen profitieren, hängt davon ab, welche Wahl getroffen wird. Verschiedene Entscheidungen kommen verschiedenen Personen zugute. Wer größere Macht hat, wird eher in der Lage sein, andere von seiner Vorstellung zu überzeugen, und diese wird in den meisten Fällen seinen Interessen entsprechen. Und wer es schafft, seine Vorstellungen in eine von anderen mitgetragene Vision zu verwandeln, vergrößert seine Macht und festigt seine gesellschaftliche Position.

Lassen wir uns nicht von den gewaltigen technologischen Errungenschaften der Menschheit täuschen. Gemeinsame Visionen können sich leicht in eine Falle verwandeln. Unternehmen nehmen Investitionen vor, die nach Einschätzung ihres Managements ihre Erträge erhöhen werden. Wenn ein Unternehmen beispielsweise in neue Computer investiert, bedeutet dies zwangsläufig, dass mit diesen Geräten höhere Einnahmen erzielt werden können, welche die Anschaffungskosten der Computer übersteigen werden. Aber in einer Welt, in der unser Handeln von gemeinsamen Visionen gelenkt wird, gibt es keine Garantie dafür, dass der Nutzen die Kosten übersteigen wird. Wenn alle Welt zu der Überzeugung gelangt, dass KI-Technologie gebraucht wird, werden die Unternehmen in künstliche Intelligenz investieren, selbst wenn es andere Möglichkeiten zur Organisation der Produktion gibt, die möglicherweise größeren Nutzen erbrächten. Wenn die meisten Forscher an einer bestimmten Methode zur Erhöhung der Intelligenz von Maschinen arbeiten, werden andere vertrauensvoll oder sogar blind ihrem Beispiel folgen.

Diese Probleme haben noch gravierendere Auswirkungen, wenn wir es mit »Allzwecktechnologien« wie Elektrizität oder Computern zu tun haben. Solche Technologien stellen eine Plattform dar, auf der unzählige Anwendungen entwickelt werden können, die für viele Branchen und Personengruppen nützlich sein, aber manchmal auch Kosten verursachen können. Diese Plattformen ermöglichen viele verschiedene Entwicklungspfade.

Beispielsweise war die Elektrizität nicht nur eine billigere Energiequelle, sondern sie ebnete auch den Weg für neue Produkte wie Radios, Haushaltsgeräte, Kinos und Fernsehgeräte. Sie brachte die Einführung neuer elektrischer Maschinen mit sich. Sie ermöglichte eine grundlegende Neuorganisation von Fabriken, die besser beleuchtet waren und eigene Stromquellen für einzelne Maschinen besaßen, und führte zur Entstehung neuer technischer und Präzisionstätigkeiten. Die von der Elektrizität ermöglichten Fortschritte in der Fertigungstechnik erhöhten die Nachfrage nach Rohstoffen und anderen Industrieinputs wie Chemikalien und fossilen Brennstoffen sowie nach Einzelhandels- und Transportdienstleistungen. Es wurden auch neuartige Produkte eingeführt, darunter neu entwickelte Kunststoffe, Farben, Metalle und Fahrzeuge, die anschließend in anderen Industrien eingesetzt wurden. Gleichzeitig ebnete die Elektrizität den Weg für eine sehr viel intensivere Umweltverschmutzung durch die Industrieproduktion.

Allzwecktechnologien können auf ganz unterschiedliche Art entwickelt werden, aber wenn eine gemeinsame Vision einmal ein bestimmtes Ziel vorgegeben hat, wird es schwierig, von der vorgegebenen Richtung abzuweichen und andere Wege einzuschlagen, die größeren gesellschaftlichen Nutzen haben könnten. Die große Mehrheit der Menschen, auf die sich die Entscheidungen auswirken werden, wird nicht nach ihrer Meinung gefragt. Die Folge ist, dass die Ausrichtung des Fortschritts gesellschaftlich unausgewogen ist – mächtige Entscheidungsträger, die ihrer Vision Geltung verschaffen können, haben großen Einfluss auf die Richtung, während jene, die keine Stimme haben, benachteiligt werden.

Man nehme die Entscheidung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), ein »Sozialkreditsystem« einzuführen, in dem Daten über Personen, Unternehmen und Regierungsbehörden gesammelt werden, um ihre »Zuverlässigkeit« und ihre Bereitschaft, sich an die Vorgaben der Partei zu halten, beurteilen zu können. Dieses im Jahr 2009 auf lokaler Ebene eingeführte Überwachungssystem dient dazu, Menschen und Unternehmen, deren Meinungsäußerungen (zum Beispiel in sozialen Netzwerken) von der Parteilinie abweichen, auf eine schwarze Liste zu setzen und ihre Bürgerrechte einzuschränken. Gefällt wurde diese Entscheidung, die sich auf das Leben von 1,4 Milliarden Menschen auswirkt, von einer kleinen Gruppe von Parteiführern. Jene, deren Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Bildungschancen, Aussichten auf eine Tätigkeit im Staatsdienst, Reisefreiheit und sogar Ansprüche auf staatliche Leistungen und Wohnung von ihrer Bewertung im Sozialkreditsystem abhängen, wurden nicht gefragt, was sie von diesem System hielten.18

Solche Dinge geschehen nicht nur in Diktaturen. Im Jahr 2018 kündigte Mark Zuckerberg, der Gründer und Geschäftsführer (CEO) von Facebook, die Absicht des Unternehmens an, seinen Algorithmus zu ändern, um den Nutzern »sinnvolle soziale Interaktionen« zu ermöglichen.19 In der Praxis bedeutete das, dass der Algorithmus der Plattform Posts anderer Nutzer – darunter insbesondere Familienmitglieder und Freunde – Vorrang vor Mitteilungen von Nachrichtenmedien und etablierten Marken einräumen würde. Der Zweck der Änderung bestand darin, die Leute zu mehr Beteiligung zu bewegen, weil Facebook festgestellt hatte, dass die Nutzer eher Posts von Personen aus ihrem persönlichen Umkreis öffneten. Doch das wichtigste Ergebnis dieser Veränderung war, dass die politische Polarisierung zunahm und mehr Falschinformationen in Umlauf gebracht wurden, da sich Lügen und irreführende Posts rasch auf dem sozialen Netzwerk verbreiteten. Die Änderung wirkte sich nicht nur auf die fast 2,5 Milliarden Nutzer der Plattform aus: Auch Milliarden Menschen, die Facebook nicht nutzten, waren indirekt von den politischen Auswirkungen der Desinformation betroffen. Die Entscheidung wurde von Zuckerberg, seiner Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg und einigen leitenden Ingenieuren und Managern gefällt. Die Facebook-Nutzer und die Bürger der betroffenen Demokratien wurden nicht konsultiert.

Was gab den Anstoß zu den Entscheidungen der chinesischen Parteiführung und des Facebook-Managements? Sie wurden nicht von der Natur von Wissenschaft und Technologie vorgegeben. Auch waren sie nicht der naheliegende nächste Schritt in einem unaufhaltsamen Ablauf des Fortschritts. In beiden Fällen sehen wir, dass die Interessen bestimmter Gruppen – in dem einen Fall der Wunsch, abweichende Meinungen zu unterdrücken, in dem anderen das Bestreben, die Werbeeinnahmen zu erhöhen – schädliche Auswirkungen hatten. Wesentlichen Einfluss auf diese Entscheidungen hatte die Vorstellung der führenden Personen davon, wie die Gemeinschaft organisiert werden und was Vorrang haben sollte. Aber noch wichtiger war, dass hier Technologie eingesetzt wurde, um Kontrolle auszuüben: Kontrolle über die politischen Ansichten der Bevölkerung im Fall Chinas und über die Daten und die sozialen Aktivitäten der Nutzer im Fall Facebooks.