Wer den Kürzeren zieht - Mel Wallis de Vries - E-Book

Wer den Kürzeren zieht E-Book

Mel Wallis de Vries

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Beschreibung

Wenn nur noch das Überleben zählt - was bist du bereit zu tun?

Anne verbringt zusammen mit Freunden ein Wochenende in einer einsamen Hütte im Wald. Doch was entspannt startet, wird bald zum puren Horror. Zuerst nimmt Anne einen seltsamen Schatten wahr. Kurz darauf hören die Freunde einen Schrei im Wald. Schließlich bekommen alle dieselbe anonyme Instagram-Nachricht: Geh nicht raus, wenn du am Leben bleiben willst. Und als dann ein fremder Junge blutüberströmt bei ihnen auftaucht, glauben sie nicht mehr an einen schlechten Witz. Wer oder was steckt bloß dahinter? Einer von ihnen muss das Haus verlassen und herausfinden, was wirklich vor sich geht. Doch die Warnung war eindeutig ...

Können Anne und die anderen dem Wahnsinn lebend entkommen?

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Wer den Kürzeren zieht

I

Stunden: 0

Stunden: 1

Video 1

Stunden: 2

Video 2

Stunden: 6

Stunden: 7

Stunden: 8

Video 3

Stunden: 11

Stunden: 21

Video 4

Stunden: 22

Stunden: 26

II

Stunden: 27

Stunden: 28

Video 5

Stunden: 30

Stunden: 31

Stunden: 35

Video 6

Stunden: 36

Stunden: 45

III

Video 7

Stunden: 48

Stunden: 49

Stunden: 52

Stunden: 70

Video 8

Stunden: 81

IV

Stunden: 83

V

Stunden: 101

Video 9

Stunden: 118

Stunden: 124

Stunden: 126

Stunden: 127

Video 10

Video 11

Video 12

Nachwort

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Mel Wallis de Vries

Wer den Kürzeren zieht

Übersetzung aus dem Niederländischen von Verena Kiefer

»When people make judgments, they close all the possibility around them.«

Jeff Koons

Okay, vielleicht ist es ja ganz nett, mit einer Frage anzufangen. Betrachte es ruhig als Spiel: Hast du schon mal ...?

Hast du schon mal eine Spinne unter einem Glas gefangen? Und dann mithilfe eines Zeitraffer-Videos beobachtet, was danach passierte? Erst merkt die Spinne nichts. Sie sitzt ein wenig blöd herum und starrt vor sich hin. Nach einer Weile bekommt sie Hunger und macht sich auf die Suche. Sie klettert an den glatten gläsernen Wänden hoch, läuft immer dieselbe Runde, kann aber den Ausgang in die Welt auf der anderen Seite des Glases nicht finden. Je mehr sie sich anstrengt, desto hoffnungsloser wird sie. Schließlich stirbt die Spinne immer innerhalb von ein oder höchstens zwei Tagen. Und weißt du, warum? Nicht, weil sie nichts zu fressen hat, denn eine Spinne kann wochenlang ohne Beute überleben. Sondern, weil die Spinne selbst nicht mehr daran glaubt, dass es besser wird. Sie gibt auf. Faszinierend, nicht wahr?

Und jetzt stell dir mal vor, du bist diese Spinne.

Ich erinnere mich nicht mehr so genau, wann es uns wirklich klar wurde. Erst lachten wir noch darüber. Entschuldige mal, was ist das denn für eine bekloppte Nachricht? Das ist doch ein dummer Scherz, komm schon! Wir wollten es alle nicht glauben. Konnten es nicht glauben.

Ich schätze, erst als Vincent kam, nahmen wir es ernst.

Ich stand am Fenster und sah ihn als Erste. Seine Jacke war offen und sein Hoodie dunkelrot vor Blut. Er stolperte an der Sitzkuhle vorbei, durch den Sand auf die Haustür zu. Mit den Fäusten hämmerte er gegen das Holz. Und dann brach er zusammen und blieb wie ein angeschossenes Tier liegen.

Es hätte mich nicht gewundert, wenn er tot gewesen wäre.

„Wir müssen ihm helfen!“, rief Lizzy.

Daniel fuhr sie an, wir sollten keine übereilten Entscheidungen treffen. Schließlich hätten wir ja keine Ahnung, wer der Kerl war und woher er kam.

Doch Lizzy hörte nicht auf ihn und rannte zur Haustür.

„Bist du verrückt geworden?“, rief Daniel noch, doch sie hatte den Jungen schon unter den Achseln gepackt.

Wir trugen ihn ins Haus und legten ihn vorsichtig aufs Sofa. Ich weiß noch, dass ich dachte: Sollten wir nicht lieber erst einen Müllsack auf die Couch legen? Aber ansonsten schien sich niemand wegen eventueller Blutflecke auf den Polstern Gedanken zu machen.

„Alle Abstand halten!“, rief Daniel.

Wir taten, was er sagte.

Nach einigen Minuten ächzte der Junge auf dem Sofa und murmelte etwas Unverständliches.

„Kannst du das noch mal wiederholen?“, fragte Daniel.

„Etwas ...“, flüsterte er. „Draußen ...“

Und dann wurde es still.

Man könnte sagen, dass unsere Geschichte genau in diesem Moment begann. Oder endete.

I

Stunden: 0

Ich habe eine Schwäche für Züge. Diese warme, schaukelnde Welt aus gelblichem Neonlicht voller Menschen, die du nicht kennst, von denen du dir jedoch ein Bild machen kannst: durch die Kleidung, die sie tragen, die Gespräche, die sie führen, und die Art von Brötchen, die sie am Kiosk gekauft haben. Stell dir mal vor, der Zug würde jetzt entgleisen – dann wärst du auf diese Gruppe unbekannter Menschen angewiesen. Wer würde eine führende Rolle einnehmen, wer würde vor Angst durchdrehen, wer eigene Entscheidungen treffen? Ich stelle mir immer vor, ich würde dann versuchen, möglichst viele Menschen zu retten, auch wenn das vielleicht mein eigenes Leben in Gefahr bringen würde. Während so einer Zugfahrt kann ich endlos herumfantasieren.

Und dann gibt es noch die Welt auf der anderen Seite des Fensters, wo Autos, Bäume und Häuser verschwommen vorbeiflitzen. Verrückterweise sieht man fast nie Menschen. Und doch weiß man, dass sie da sein müssen. Jeder Mensch in diesem Zug hat jemanden in dieser anderen Welt, diese Leute können nicht plötzlich verschwunden sein. Doch es fühlt sich wie ein Paralleluniversum an. Etwas, das es nicht gibt, wenn man im Zug sitzt.

Nur in einem einzigen Moment begegnen sich diese Welten: wenn der Zug an einem Gleis hält und sich die Türen kurz öffnen.

»Anne!«

»Hä, was?« Ich schaue erschrocken auf und drehe den Deckel auf meine Wasserflasche.

»Träumst du?« Maxime zieht eine Augenbraue hoch. »Guck mal auf dein Handy. Ich habe etwas für dich entdeckt.«

»Oh, sorry«, murmele ich und sehe, dass ich jede Menge Nachrichten von Maxime bekommen habe.

Ähem, Anne? 😊

Anne!

Anne!

Anne!

Wenn du jetzt nicht reagierst, lösche ich dich. 😀

Ich muss grinsen und tippe zurück:

Himmel, gehst du dir nicht manchmal selbst auf die Nerven? 😛

Nein 😘

Guck mal links von dir, drei Sitze weiter am Fenster.

Ich drehe den Kopf. Ein Junge mit blonden Haaren und AirPods schaut nach draußen.

Wow, der hat echt was! 😤

Ich würde mich ranschmeißen.

Aber du hast einen Freund.

Nichts ist für die Ewigkeit ... 😊

Max!

Ein Mädchen setzt sich neben ihn. 😃

Fuck!

Sie nimmt seine Hand ...

Warum suchst du immer die falschen Jungs für mich aus? 😭

Uppps. 😇♥♥♥

Mit einem Grinsen legt Maxime ihr Handy neben sich. »Noch fünf Minuten, dann sind wir in Eindhoven.«

»Hast du eine Adresse?«

»Nein, meine Mutter hat auch schon gemeckert. Aber ich weiß, wie wir hinkommen. Wir müssen die Buslinie 18 nach Riethoven nehmen und dann ein kleines Stück nach Walik laufen. Schon sind wir da.«

»Klingt großartig.«

»Jetzt hör doch mal auf mit diesen sarkastischen Bemerkungen, es wird bestimmt super.« Aus Maximes Blick kann ich nicht herauslesen, ob sie wirklich verärgert ist oder nicht. Sie pustet eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht, und die Sommersprossen auf ihrer Nase bewegen sich, als sie eine Grimasse zieht. Ich kenne sie schon lange, deswegen weiß ich auch, dass sie in einem fort an Kleinigkeiten herumkritisieren kann, weil sie immer denkt, sie hätte recht.

Ich sitze sowieso nur hier, weil Maxime mich mehr oder weniger dazu genötigt hat. Sie hat mich in einer Pause in der Schule überredet. »Das wird toll. Du musst einfach mit, sonst hockst du die ganzen Ferien über allein mit deinen Eltern zu Hause und grübelst in deinem Zimmer vor dich hin. Und ohne dich erlaubt meine Mutter es mir nicht.«

Das war also der eigentliche Grund, schoss mir durch den Kopf.

Wenn ich auf etwas keine Lust hatte, dann auf eine Diskussion mit Maxime in einer überfüllten Aula. Ich wollte nicht, dass sie Dinge herausposaunen würde, die keiner hören sollte. In den vergangenen Monaten hatte ich versucht, möglichst unsichtbar zu sein und nicht aufzufallen. Um alles zu vergessen ... Damit Maxime mit der Drängelei aufhörte, habe ich also gesagt, ich würde mitfahren.

Ich rutsche tiefer in meinen Sitz. »Wann kommt der Rest?«

»Oh, die sind schon da. Lizzy ist heute Morgen schon früh mit ihrem Cousin und dem anderen Jungen von Utrecht losgefahren. Sie sind inzwischen ...«

Maximes Handy piepst, und sie ist sofort abgelenkt.

»Warte kurz«, murmelt sie. Ihre Daumen fliegen nur so über das Display. »Ich muss Mick schnell etwas zurückschicken. Sonst merkt er was.«

»Was? Wovon redest du?«

Sie tut so, als würde sie mich nicht hören.

Bevor ich weiterfragen kann, wird durchgesagt: »Der nächste Halt ist Eindhoven, die Endstation dieses Zuges. Bitte denken Sie beim Aussteigen an Ihre persönlichen Gegenstände.«

Es ist, als würden plötzlich alle aufwachen. Leute stehen auf, nehmen ihr Gepäck und bewegen sich zum Waggonende. Die Durchsage des Schaffners geht im Stimmengewirr unter.

Auch Maxime steht auf. Sie steckt ihr Handy in die Jackentasche und schenkt mir ein schiefes Lächeln. Wir reden später weiter, sagt es mir.

Hm, na dann, denke ich.

Ich trinke noch einen Schluck Wasser und stopfe die fast leere Flasche in meinen Rucksack zurück. Mit unserem Gepäck zwängen wir uns durch den schmalen Gang nach vorn. Der Zug kommt mit einem Ruck zum Stillstand. Während sich die Türen aufschieben, starre ich zögerlich hinaus. Plötzlich bin ich so müde. Ich will das alles gar nicht. Ich will zurück.

Maxime versteht es nicht und zieht mich am Jackenärmel nach draußen.

»Hallo, was machst du denn da? Du blockierst den Ausstieg.« Kopfschüttelnd schaut sie mich an.

»Ich, äh ... Ich dachte, ich hätte mein Handy im Zug liegen lassen«, denke ich mir aus. »Aber zum Glück habe ich es hier.« Ich klopfe auf meine Jackentasche.

»Schön, dann gehen wir jetzt zum Busbahnhof.« Maxime gestikuliert in Richtung Rolltreppe. »Und hörst du jetzt mal auf, so mürrisch zu gucken?«

»Sei nicht so gemein.«

»Es ist die Wahrheit.« Sie streckt mir die Zunge heraus und geht los.

Ich folge ihr eilig. Unten bahnen wir uns einen Weg durch die Massen in der Bahnhofshalle. Maxime erzählt, dass sie für den Abend eingekauft habe, für ein Nudelgericht mit Feta, das wirklich superlecker und kinderleicht zu machen sei. Und dass die anderen auch etwas zu essen oder trinken mitbrächten, aber wir die Einkäufe für die kommenden Tage noch erledigen müssten und uns die Kosten dann teilen würden.

Ich höre nur mit halbem Ohr zu und beobachte die vorbeihastenden Menschen. Ich weiß, dass ich sie nie mehr sehen werde. Trotzdem ertappe ich mich dabei, dass ich noch immer hoffe, sie irgendwo zwischen all den unbekannten Gesichtern auf der Straße zu entdecken. Oder dass sie neben meinem Bett steht, wenn ich morgens aus einem Traum erwache, in dem sie nie weggewesen ist.

»Tada, hier ist unsere Limousine«, unterbricht Maximes Stimme meine Gedanken. »Groß, blau und mit allem Komfort versehen.« Sie sieht mich feixend an, während sie auf die Buslinie 18 zeigt.

Ich lächele sie an, weil ich weiß, dass Maxime das von mir erwartet. »Äh, wow«, sage ich heiser. »Was hast du mit den übrigen Passagieren gemacht? Da ist ja gar keiner drin.«

»Riethoven ist ein ausgesprochen exklusives Ziel, das nur für wenige Menschen erreichbar ist. Man muss dafür auserkoren werden.«

Eine ältere Frau mit grauen Haaren und jeder Menge Einkaufstüten von Action geht an uns vorbei und steigt in den Bus.

Ich fange an zu kichern. »Hm-m. Sehr exklusiv, ehrlich.«

Wir kriegen uns nicht mehr ein vor Lachen.

Für einen Moment ist es wie früher: das Gefühl, dass alles schön ist, sogar die allerkleinsten, nichtssagenden Dinge, Hauptsache, man ist zusammen.

Maxime fährt sich mit einer Hand durch die Haare. »Komm, der Bus kann jeden Moment losfahren.« Sie dreht sich zu den geöffneten Türen. »Ich habe Lizzy versprochen, rechtzeitig da zu sein.«

Langsam steige ich hinter Maxime in den Bus. Noch eine halbe Stunde, dann sind wir da. Eine Unterrichtsstunde dauert länger. Die Halbzeit von einem Hockeyspiel auch. Dreißig Minuten sind im Nu vorbei.

Die Bustüren schließen sich hinter mir.

Und manchmal kann es auch in einer Sekunde vorbei sein.

Stunden: 1

Unser Bus verschwindet am Horizont. Seufzend schwinge ich meinen Rucksack über die Schulter und schaue mich um. Ein paar Häuser, ein Kirchturm und eine verlassene Sitzbank. Wir sind wirklich in einem Kaff gelandet.

»Juchhu«, sage ich. »Und jetzt?«

Maxime angelt ihr Handy aus der Jackentasche. »Lizzy hat mir eine Nachricht geschickt, wie wir dorthin kommen. Moment ... Wir müssen zu dieser Kreuzung und dann nach links.«

WALIK 2 KILOMETER, zeigt uns ein blauer Wanderwegweiser an.

»Lass uns bloß schnell losgehen«, sage ich. »Ich glaube, es fängt gleich an zu regnen.«

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu und schaue hoch. Es ist erst Mitte Oktober, doch der Himmel ist so grau und düster, dass es genauso gut Ende November sein könnte. Manchmal ist es, als hätte Isa die Sonne mitgenommen ...

Wir biegen links ab. Mit ihren braunen Backsteinfassaden und sorgfältig gemähten Rasenstücken ähneln sich alle Häuser, an denen wir vorbeikommen. Weit und breit ist kein Mensch.

Zum Spaß sage ich, die Dorfbewohner seien wahrscheinlich geflüchtet, als sie uns sahen.

»Vielleicht liegen sie ja alle tot in ihren Häusern«, sagt Maxime. »Wer weiß.«

»Zombie Village.« Ich muss lachen. Aber trotzdem ist es irgendwie seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, jemals an einem Ort gewesen zu sein, der so ausgestorben wirkte.

Das Dorf endet abrupt, und eine schmale Straße führt zwischen Bäumen hindurch weiter. Es fängt an zu nieseln.

Maxime zieht sich ihre Kapuze über den Kopf. »Total schön hier, findest du nicht?« Sie dreht sich begeistert einmal im Kreis.

Es ist nicht leicht zu sehen, was sie sieht. Ich jedenfalls sehe nur traurige Bäume, nassen Asphalt und hin und wieder erhasche ich einen Blick auf ein Haus hinter einer hohen Hecke.

»Hast du heute Morgen vielleicht ein paar Pillen eingeworfen?«, frage ich. »Du tickst wirklich nicht mehr ganz richtig.«

»Danke.« Sie grinst und fasst mich am Arm. »Komm, wir gehen weiter.«

Wir marschieren über den glänzenden Asphalt. Manchmal fährt ein Auto vorbei, und wir springen zur Seite, um nicht angefahren zu werden. Die Bäume am Straßenrand drängen sich immer näher zusammen und verdichten sich ein Stück weiter zu einem Wald.

»Ich glaube, den Weg da hinten müssen wir nehmen«, murmelt Maxime. Sie späht voraus, wo sich ein sandiger Pfad in den Wald hineinschlängelt, und dann auf ihr Handy. Sie dreht das Display, als ob es dadurch deutlicher würde. »Ja, der ist es.«

Vielleicht liegt es am Regen, vielleicht daran, dass mir kalt ist und ich müde bin. Aber ich habe das Gefühl, wir sollten lieber umkehren und nach Hause fahren.

»Bist du dir sicher? Das sieht nicht aus wie ein normaler Weg. Und ich sehe auch kein Hinweisschild.«

»Das ist ein Naturhäuschen, du Schlaukopf.« Sie biegt in den Pfad ein. »Meinst du wirklich, die legen eine Autobahn mitten durch den Wald?«

Ich stoße einen Seufzer aus und folge ihr. Die beiden ausgefahrenen Reifenspuren sind von Unkraut überwuchert.

Schweigend gehen wir tiefer in den klatschnassen Wald. Zarter Nebel hängt über dem Boden, als würden die Regentropfen dort sofort verdunsten.

»Wow«, sagt Maxime plötzlich. »Was ist das?« Sie zeigt auf einen Strauch.

Ich habe keinen blassen Schimmer, was sie meint. Neben dem Strauch liegt ein Haufen abgefallener Blätter und Ästchen. Aber als ich genauer hinschaue, wird mir klar, dass sich ein Tier darunter verbirgt. Nur der schwarze Schwanz lugt unter den Blättern heraus, wie eine gefährliche Schlange.

»Lebt das Ding noch?«, frage ich entsetzt.

»Keine Ahnung.« Maxime geht näher ran. Vorsichtig tippt sie den Hubbel mit dem Fuß an. Blätter rutschen zur Seite, und schwarzes Fell kommt zum Vorschein. »Verdammt, das ist eine tote Katze.«

Erneut stupst sie gegen den leblosen Körper, wodurch er ein Stück zur Seite rollt. Wo sich der Kopf befinden sollte, ist ein blutiger Halsstumpf. Die Blätter rund um den Kadaver sind fast schwarz von dem getrockneten Blut.

Mir dreht sich der Magen um. Ich atme tief ein und aus.

»Puh, das ist wirklich scheußlich«, sagt Maxime. »Irgendein Tier wird ihr den Kopf abgerissen haben.«

Ich starre auf die Katze. »Welches Tier denn? Gibt es hier Wölfe?«

»Mensch, ist das wichtig, welches Tier es getan hat?« Sie seufzt. »Vielleicht war es ja ein Hund.«

»Warum sollte ein Hund so etwas tun?«, frage ich weiter. »Das ist schon ziemlich seltsam.«

Maxime zuckt mit den Schultern. »Es gibt noch mehr seltsame Dinge auf dieser Welt.«

Dem kann ich nicht widersprechen.

»Ruhe in Frieden, auch ohne Kopf«, sagt Maxime mit einem kleinen Lachen.

Sie dreht sich um und geht zum Weg zurück. »Kommst du? Ich habe allmählich genug von diesem Waldspaziergang.«

»Ja«, murmele ich mit einem letzten Blick auf die Katze. Es fühlt sich ein wenig respektlos an, sie so hier liegen zu lassen. Ich bücke mich und werfe vorsichtig ein paar kleine Zweige über ihren Körper. Die schwarzen Härchen des Fells wehen sachte im Wind.

In ein paar Wochen wird fast nichts mehr übrig sein.

Für immer verschwunden in einer unendlichen Leere. Ohne Laute, Gefühle oder Erinnerungen.

Der Tod ist nichts, auf das man sich freuen kann.

Ich höre, dass ich einen Ton von mir gebe, als würde etwas in meiner Kehle zerspringen.

»Anne!«, ruft Maxime.

Ich schlucke mühsam. »Ich komm ja schon«, murmele ich und gehe zu ihr.

Maxime starrt auf ihr Handydisplay. »Wir müssen dort nach links. In fünf Minuten sind wir da.«

Ich folge ihr. Der Pfad schlängelt sich immer weiter in den Wald hinein. Ich schaue mich um, aber da ist nichts zu sehen. Nur Bäume. Und es ist totenstill. Ich höre nicht mal ein Vogelzwitschern. Nach ungefähr zehn Minuten frage ich keuchend: »Wie lange müssen wir noch laufen?«

»Nur noch fünf Minuten.«

»Das hast du eben auch schon gesagt.«

»Ich meinte zehn.«

Ich seufze tief. »Ja, ja«, sage ich zu ihr. Und danach: »Erzähl mir doch noch mal, wer alles kommt. Ich habe es wieder vergessen.«

»An!« Sie stöhnt. »Okay, wenn's sein muss. Lizzy wohnte früher neben uns. Sie hat mich gefragt, ob ich mitwill. Du wirst sie großartig finden!«

Das bezweifele ich. Ich verstehe nicht, warum Maxime plötzlich so begeistert von ihr spricht: Maximes Umzug ist Jahre her, und danach hat sie Lizzy kaum noch gesehen. Aber in den letzten Wochen redet sie nur noch von Lizzy. Es ist so lieb, dass Lizzy an sie gedacht hat für diesen Urlaub. Man kann so gut mit ihr lachen. Und ihr Kleidungsstil ist so genial, nicht so standardmäßig wie bei den Leuten an unserer Schule. Oh, und nein, natürlich macht es nichts, dass Maxime unsere Verabredung letzte Woche vergessen hat, weil sie wieder mit Lizzy am Facetimen war!

»Hallo, hörst du noch zu?«, unterbricht Maxime meine Gedanken.

»Ja, klar. Lizzy wohnte früher in eurer Nachbarschaft, und ich werde sie sehr nett finden.« Ich lächele, als wäre alles in Ordnung.

»Hm, okay«, sagt sie, als würde sie meiner Antwort nicht so richtig trauen. »Daniel ist Lizzys Cousin. Nicht ihr echter, weil sie als Baby adoptiert wurde, aber du weißt, was ich meine. Daniel hat das Ferienhäuschen gemietet. Und der andere Typ wiederum, Sami, glaube ich, ist ein Freund von Daniel. Und mit uns beiden sind wir zu fünft.«

»Wie findet Mick es eigentlich, dass du mit anderen Jungs in einem Ferienhaus bist?«, frage ich.

»Prima«, sagt sie. Und nach einem leichten Zögern fügt sie hinzu: »Weil er es nicht weiß.«

»Was, warum nicht?«

»Warum wohl?«, schnauzt Maxime, aber ganz so selbstsicher klingt sie nicht mehr. »Wir sind doch nur eine Woche weg. Er muss nicht alles wissen.«

»Was hast du ihm denn vorhin im Zug geschrieben?«

»Dass ... Dass ich jetzt in den Herbstferien bei dir übernachte. Und dass ich schlecht erreichbar bin, weil wir viel unternehmen.«