Mademoiselle singt den Blues - Patricia Kaas - E-Book

Mademoiselle singt den Blues E-Book

Patricia Kaas

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Beschreibung

Die Autobiografie der französischen Sängerin Patricia Kaas: zutiefst bewegend, ehrlich und spannend erzählt

Patricia Kaas erzählt bewegend von ihrem kometenhaften Aufstieg von der lothringischen Bergarbeitertochter zur international erfolgreichsten französischen Sängerin unserer Zeit. Ihre volle, dunkle Stimme erregt Aufsehen, wenn sie als Kind in Bierzelten singt. Die ehrgeizige, deutsche Mutter meldet sie bei Gesangswettbewerben an. Mit 13 Jahren tritt die Kaas bereits regelmäßig in einem Saarbrücker Nachtclub auf, wo sie entdeckt wird. Damit beginnt eine internationale Karriere mit vielen goldenen Alben und Welttourneen. Doch der Ruhm hat auch Schattenseiten: Das ständige Herumreisen lässt keine feste Partnerschaft zu, und die Liebe der Fans wird zum Albtraum, als ein Stalker bis in ihre Wohnung vordringt. Offen erzählt sie, welche Nöte, Selbstzweifel und Schicksalsschläge ihr glamouröses Leben überschatten, aber auch von dem Halt, den ihr Freunde wie Alain Delon, Jeremy Irons und ihre Familie geben.

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Seitenzahl: 270

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Patricia Kaas

MADEMOISELLE SINGT DEN BLUES

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »L’ombre de ma voix« bei Flammarion, Paris.

Für Irmgard, Joseph, Raymond, Robert, Bruno, Dany,Egon, Carine und Patricia … die Familie Kaas.

Inhaltsverzeichnis

MADEMOISELLE SINGT DEN BLUESWidmung1 - Kohleherd2 - Kohlezeichnung »Glück auf!«Copyright

Saint-Rémy-de-Provence, 16. Mai 2010

DER ERSTE TROPFEN ist heute Morgen gegen neun Uhr gefallen. Als ich aufstand. Und seither schüttet es.

Heute ist ein Jahrestag. Das weiß ich, ohne in den Kalender schauen zu müssen. Wie jedes Jahr habe ich auch heute eine Kerze angezündet, sie flackert im feuchten Luftzug. Es ist der 16. Mai, und ich bin zum einundzwanzigsten Mal in Trauer. Das Wetter hat sich darauf eingestimmt.

Es war schwül in den letzten Tagen. Ich war schlapp, konnte mich zu nichts aufraffen. Hatte das Gefühl, keine Energie zu haben, von einer langen Tournee ausgelaugt zu sein. Kabaret hat mich erschöpft, glaube ich. Ich hatte einfach Lust, nichts zu tun. Nichts zu denken. Dem Garten zuzuschauen, wie er in diesem Frühling erwacht, sanft zu träumen, ohne Ziel, ohne Unruhe.

Doch jetzt löst sich meine Schlaffheit im Regen auf. Ich sehe, wie er auf meinen alten rostigen Liegestuhl prasselt, die Terrassenplatten aufhellt, über das Schmiedeeisen der Tische spült. Die Kraft kehrt zurück. Wie vor einundzwanzig Jahren. »Ich will, dass du groß wirst«, sagte sie zu mir. Und so bin ich ihretwegen unablässig gewachsen. Auch wenn ich schließlich anstieß. Als wäre ich eingesperrt, oder als wäre die Decke zu niedrig.

Ein Künstlerleben … Das erträumte sie sich für mich. Rampenlicht, Bühnenhitze, hysterische Fans. Begegnungen mit den Sternen und den Lichtgestalten, den Stars und Präsidenten. Und Reisen nach Russland, Asien oder Deutschland.

Ein Künstlerleben … Ich habe es gehabt, ich habe es noch und bedaure es nicht. Doch wenn ich daran denke, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Als hätte ich geträumt.

Mit Abstand betrachtet, habe ich über meine Verhältnisse gelebt. Unfähig zur Wirklichkeit. Außer auf der Bühne. Bei alledem habe ich Patricia vergessen. Ich habe viel gesungen, viel geliebt, viel geweint. Aber nicht gesprochen. Es ist nicht meine Art, große Worte zu machen. Wenn ich mich erinnern will, habe ich nur Bilder. Ehrliche. Hier die Original-Tonspur meines Lebens. Der Kommentar dazu, die Stimme aus dem Off. Die Plattenrückseite, die Sie nie gehört haben.

1

Kohleherd

Der köstliche Geruch dringt bis ins Wohnzimmer. So mächtig, so verlockend, dass ich ihn geradezu wie einen nach Kakao duftenden Nebel vor mir auftauchen sehe. Und ich folge der Duftspur wie der Bär in den Comics, wenn er Kuchen erschnüffelt hat, der auf dem Fensterbrett abkühlt. Der kostbare Geruch meiner Kindheit. Im Backofen glänzt die Schokolade auf den Plätzchen, die wir nachher genüsslich knabbern werden. Doch »nachher« ist zu weit weg für meine Naschsucht. Auf diese Plätzchen warte ich das ganze Jahr.

Heute Abend ist Weihnachtsabend, und Maman ist heftig in der Küche beschäftigt, sie richtet an, schneidet, rührt und glasiert. Die Duftwolken aus den Töpfen auf dem Feuer vermischen sich. Und obwohl ich ihren Inhalt kenne, entdecke ich ihn jedes Mal neu. Ich bin ohnehin zu klein, um in die Töpfe zu schauen, also ist es meine Nase, die ganz unschuldig tut. Ich lungere neugierig in der Küche herum und schnüffle wie ein Mäuschen, welche Köstlichkeiten meine Fee zusammenbraut. Papas Leibgericht: Schnecken in grüner Knoblauchsoße. Dann eine Gemüsebouillon, die vor sich hin köchelt und fröhlich kleine Blasen platzen lässt, und der Braten, der auf seinem Bett aus Zwiebeln, Tomaten und Kräutern thront und darauf wartet, dass er in den Ofen kommt. Er findet als Herzstück des Weihnachtsmahls einhellige Zustimmung, während Kaninchen oder Truthahn von einigen unter uns Kindern verschmäht werden. Es ist gar nicht so einfach, sich mit so vielen Geschwistern auf ein Menü zu einigen. Wir sind sieben, wie die Zwerge, die Glorreichen, die Weltwunder, die Leben der Katze, die Wochentage, die Kristallkugeln … An der Spitze fünf Jungen, gefolgt von zwei Mädchen. Heute sind wir alle da, auch die, die schon aus dem Haus sind, die Großen, Robert, Raymond und Bruno, die ihre Frauen mitgebracht haben. Ich liebe es, wenn das Haus voll ist, wenn wir vollständig versammelt sind, wenn das Wohnzimmer fast platzt vor Bewegung und Lachen, wenn die vom Alkohol erhitzten Stimmen lauter dröhnen. Ich liebe es zu raten, wer kommt, wenn es an der Tür klingelt. Ich liebe diesen einen Abend währenden begeisterten Überschwang, die funkelnden Augen, Mamans Lächeln, Papas gerötetes Gesicht. Es ist herrlich, rund und sanft wie Schaum oder wie das Sinken einer Schneeflocke.

Die Gerüche des Festmahls, die lärmende Freude und meine Familie, mein Clan. Ich schaue sie an, ich bin stolz auf meine Brüder und meine Schwester. Robert, der mit Papa, dem er ähnelt, ein Gespräch unter Männern führt, Egon, der mit Carine herumalbert, Raymond und Bruno, die Maman helfen, und Dany, der sich damit vergnügt, meine aschblonden Zöpfe hochzuziehen. Die sechs haben die gleichen blauen Augen, bei manchen ist das Blau ein wenig heller. Ich bin der kleine Nachzügler. Ich bin acht Jahre alt. Meine Schwester ist zwölf, danach sind alle deutlich älter als ich. Ich bin lange nach der Serie von Brüdern gekommen. Maman wollte eigentlich ein Mädchen. Aber sie bekam fünf Jungs. Und da sie es schade fand, keine Tochter zu haben, erweiterte sie die Familie mit Carine auf acht Köpfe. Damit sollte es gut sein, aber dann kam ich, unverhofft, eine Zufallsschwangerschaft. Als Kind des Frühlings, des wiedererwachenden Begehrens, kam ich am 5. Dezember zur Welt. Sieben Kinder, eine wahre Sippe, ein Kollektiv. Voller Harmonie, nicht nur an Weihnachtsabenden.

Für Maman ist das natürlich alles andere als erholsam. Zumal sie ihre Rolle als Mutter einer kinderreichen Familie sehr ernst nimmt. Sie gibt uns zu essen, wäscht uns, liebt uns zärtlich, hört uns zu, pflegt uns, erzieht uns. Sie ist da. Wenn wir es brauchen, ist sie eine zärtliche Mutter, aber sie kann auch streng sein, wenn wir Kinder sie dazu zwingen. Sie ist imstande, uns morgens den Schulbesuch zu erlassen, wenn sie spürt, dass wir zu müde oder zu lustlos sind, aber sie kann auch überaus wütend werden, wenn sie unser Verhalten missbilligt. Maman hat Prinzipien: Man darf nicht lügen, man muss gerecht sein, muss Respekt haben … Sonst schreit sie. Wir fürchten ihre Zornausbrüche, denn sie sind laut und grell. Ihre Stimme klettert in die Höhe, wenn sie die Ruhe verliert, und kann so schrill werden, dass wir uns die Ohren zuhalten müssen. Wir versuchen, es ihr recht zu machen, auch, weil uns durchaus klar ist, wie hart sie arbeiten muss, um uns aufzuziehen. Mit geringen Mitteln und dem sehr bescheidenen Bergarbeiterlohn meines Vaters.

Maman ist hübsch heute Abend, sie trägt eine leicht glänzende weiße Bluse und einen schwarzen Rock, der ihre schlanken Beine gut zur Wirkung bringt. Sie hat ihre Schürze anbehalten, damit sie sich keinen Fleck macht, wenn sie nachher den Braten aufschneidet. Carine und ich haben uns im Badezimmer schön gemacht, bevor die anderen kamen. Meine Schwester meckerte, weil sie, der verhinderte Junge, sich wie ein Mädchen anziehen musste, mit Kleid und allem. Ich hingegen war entzückt! Ich habe Maman sogar gebeten, mir ein bisschen Rouge auf die Wangen zu machen. Nagellack allerdings darf ich erst benutzen, wenn ich aufgehört habe, an den Nägeln zu kauen. Carine schimpft, sie findet ihr ärmelloses grünes Cordkleid mit dem weißen Unterziehpullover unbequem. Und wenn sie ihre Füße ansieht, kommen ihr fast die Tränen. Sie hasst ihre schwarzen Lackschuhe, die anscheinend zu klein sind, ganz so, als wären sie im Schrank geschrumpft. Ich bin auch sehr hübsch. Normalerweise verbiete ich Maman, sich um meine Haare zu kümmern. Als sie es das letzte Mal getan hat, wollte ich nicht zur Schule gehen, aus Angst, man würde mich hänseln. Wirklich, als Friseurin ist sie nicht sehr begabt, doch sie will es nicht einsehen. Es macht ihr ungeheuren Spaß, uns die Haare auf Lockenwickler zu drehen und uns stundenlang damit herumlaufen zu lassen. Wenn meine Schwester und ich dann in den Spiegel schauen, sehen wir aus wie dumme kleine Lämmchen. Heute Abend habe ich sie ausnahmsweise gebeten, mir Zöpfe zu flechten. Dabei nehme ich in Kauf, dass sie unterschiedlich dick werden und nicht gleich hoch sitzen, aber das ist mir schnuppe. Ich habe nämlich bemerkt, dass es an den Menschen sowieso nichts gibt, was symmetrisch wäre. Warum also sollten es dann meine Zöpfe sein?

Meine Schwester kapituliert schließlich, und zehn Minuten später hat sie schon vergessen, dass ihre Schuhe kneifen und ihr Unterpullöverchen aus Acryl kratzig ist.

Bis Egon, der aus allem einen Witz macht, sie wieder daran erinnert. Er fragt sie im Dialekt des Grenzlands: »Wie sisch en du aus?«

Meine Schwester läuft sofort rot an und würde aufbrausen, wenn nicht Maman genau in diesem Augenblick das Signal gäbe, auf das wir alle seit Stunden warten. Kommt zum Essen! Das Wort »Essen« stellt schlagartig Einigkeit her, und die dampfende Suppenschüssel mitten auf dem Tisch bringt uns zum Schweigen. Zumindest, bis alle den ersten Teller gefüllt bekommen haben. Nach einigen weihevollen Sekunden, in denen wir sie probieren, als äßen wir zum ersten Mal Mamans Suppe, regen sich die Münder wieder, die Gläser werden gefüllt, und der natürliche Radau der Familie Kaas setzt wieder ein. Schon bald sind die typischen Geräusche eines Festessens nicht mehr zu hören. Das Besteckgeklapper geht in den tiefen Stimmen unter, die von allen Seiten des Tisches zu hören sind.

Heute Abend wird der Kohleherd viel zu tun haben. Er wird noch lange für uns glühen: Das Weihnachtsessen dauert Stunden, und wir machen uns ein Vergnügen daraus, die Festlichkeit in die Länge zu ziehen. Wir haben es nicht eilig damit, wieder auseinanderzugehen. Eigentlich nämlich ist dies das Geschenk, andere gibt es nicht. Wir sind viel zu viele, als dass wir füreinander richtige Geschenke kaufen könnten. Stattdessen schenken wir uns irgendwelche Kleinigkeiten, und vor allem gleichen wir es aus, indem wir das Abendessen doppelt genießen, wir versorgen uns mit Wärme und Liebe, die sind solider als jeder Gegenstand. Ein Geschenk, das hält.

Ich vermisse den Weihnachtsmann aus dem Lied mit seinen Tausenden von Geschenken nicht, denn ich habe meinen eigenen, persönlichen, und der wenigstens lässt seine Arbeit nicht elf Monate im Jahr ruhen. Er heißt Monsieur Moretti. Er arbeitet nicht nur als Nachtwächter in einer Spielzeugfabrik, er betreibt auch eine Kneipe in Creutzwald, in der er kleine Konzerte und Gesangswettbewerbe veranstaltet. Bei ihm habe ich zum ersten Mal öffentlich gesungen. Vor einer Woche hat er mir eine nagelneue Puppe geschenkt, das neueste Modell. Ich bin ganz versessen auf sie. Sie ist wirklich etwas Besonderes: Wenn ich ihren Arm bewege, macht sie mit dem Mund Blasen. Aber ich mag auch immer noch die, die er mir vorher geschenkt hat, eine Puppe, die schwimmt, wenn man sie aufzieht.

Auch dieses Jahr zergeht der Braten auf der Zunge. »Hmmmh!«, kommentieren Papa und Egon ihn begeistert, während die anderen nicken. Bei diesem Essen sind wir zutiefst miteinander verbunden. Durch die Blutsbande und zugleich durch die Freude, die wir teilen. Maman hat die Schürze abgebunden, um endlich länger als zehn Minuten am Tisch zu sitzen. In der Küche sind keine Töpfe mehr zu überwachen, und sie kann die in Butter gebräunten kleinen Kartoffeln probieren, bevor wir alles weggegessen haben.

Raymond, der schweigsamste meiner Brüder, der uns seinen ausgeprägten Sinn für Humor selten zeigt, hat seinen Teller bereits leer gegessen und spielt mit dem Wachs der roten Kerze. Robert hat seinen Teller mit einem Stück Brot makellos sauber gewischt, er möchte noch mehr. Dany kann nicht anders, er muss immer den Tisch abräumen; er ist schon wieder von seinem Stuhl aufgestanden. Er liebt das Fest, aber nicht die Unordnung, die es mit sich bringt. Er ist so gewissenhaft, dass er in der Schule gut mitarbeitet. Er wird studieren, wir sind alle beeindruckt von seinen überdurchschnittlichen Noten und den Lobeshymnen seiner Lehrer. Carine, er und ich teilen uns ein Zimmer, und er versucht immer, seine Ordnungswut auf uns zu übertragen. Mit Erfolg. Bruno sitzt gemütlich zurückgelehnt auf seinem Stuhl, entspannt, mit ruhigem Gesicht, satt und zufrieden. Wenigstens heute Abend scheint er nicht dazu aufgelegt zu sein, uns Moralpredigten zu halten und uns unsere Dummheiten vorzuwerfen. Denn Carine und ich kriegen normalerweise immer ziemlich viel ab. Schlechte Schulnoten, kleine Dummheiten, wegen jeder Verfehlung werden wir von Bruno abgekanzelt. Wir fürchten ihn, denn er ist nicht so nachsichtig wie ein Vater oder eine Mutter. Weihnachten bedeutet Waffenstillstand, also hören wir heute Abend keine Vorwürfe.

Die Fensterscheiben sind weiß beschlagen und die Kerzenhalter rot von Wachs. Die Farbe der Kugeln am Weihnachtsbaum scheint stärker zu leuchten. Jetzt ist der Zeitpunkt für die Plätzchen gekommen. Maman trägt die große Schüssel mit einem Zauberberg von Schokoladensternen herein. Das Rezept stammt von ihrer Mutter. Es ist ein traditionelles Weihnachtsrezept, das über die Grenze gekommen ist. Sie ist Deutsche, aber hier, im Département Moselle, gibt es keine echte Trennungslinie: Die Franzosen mischen sich häufig unter die Deutschen. In dieser Gegend gibt es in allen Generationen viele gemischte Paare.

Meine Eltern zum Beispiel haben sich auf einem Ball kennengelernt. Ich stelle mir meinen eleganten Vater vor, wie er meine Mutter um einen Walzer bittet, von dem er weiß, dass er nie aufhören sollte. Und danach ein Küsschen, das ich mir schon nicht mehr so leicht vorstellen kann. Sie küssen sich nie, wenn ich dabei bin, und sprechen nie wie Verliebte. Ich weiß nicht, wie das ist. Hier in Stiring-Wendel, der Grenzstadt, in der ich lebe, brauche ich nur meiner Mutter zuzuhören und den Hals ein wenig zu recken, und schon bin ich in Deutschland. Auf der Landkarte trennen uns fünfzig Meter. Im Leben trennt uns nichts.

Inzwischen ist es spät. Mir mit meinen acht Jahren sind die Lider schwer geworden. Das Blinken der bunten Girlande hat eine hypnotisierende Wirkung. Ich habe mich auf dem Sofa in die Wärme des Abends gekuschelt. Ich gebe mir alle Mühe, nicht seine letzten Momente zu verpassen, wenn meine Brüder gleich in der Diele den Mantel anziehen und gehen und Maman die letzten Gläser in die Küche trägt. Noch nippen Papa und meine Brüder an ihren Digestifs. An Maman geschmiegt, die sich mit Bruno unterhält, lasse ich mich von den Stimmen ringsum in den Schlaf wiegen.

Morgen ist keine Schule, das ist schon mal gut. Im Allgemeinen gehe ich nicht besonders gern hin, und wenn es morgens sehr kalt ist, wird diese Pflicht zu einer echten Last. Temperaturen unter null, bei denen mir die Nase einfriert, noch bevor ich draußen bin, kommen häufig vor. Wenn Schnee dazukommt, kann ich mir wenigstens sagen, dass ich mit den anderen Spaß haben werde, dass wir Schneemänner bauen und uns Schneeballschlachten liefern können. Der weiße Schnee erhellt das eisig-strenge Grau der Fassade des Schulgebäudes, das einem Kloster ähnelt. Auf dem Schulhof müssen sich die Mädchen auf der einen und die Jungen auf der anderen Seite aufstellen. Die Regeln sind strikt, unsere Spiele machen sie erträglicher.

Nach der Schule ist es noch schöner, denn dann kann ich mit dem Schlitten fahren, auf dem ich wegen meines Federgewichts gar nicht so leicht in Fahrt komme. Aber ich finde es herrlich, über den Schnee zu gleiten. Kalt ist mir nicht, weil mich Maman vorher mit Zeitungspapier polstert. Jedes Mal wickelt sie mich in mehrere Schichten, die meinen Anorak ein wenig anschwellen lassen, mich aber vor dem Frost schützen. Ich bin in den unschuldigen Schlaf der Kinder gesunken und träume … Von dem Abend, den wir gerade verbracht haben, von der Schule, den Schokoladensternen und von Joe Dassin, der von der Bühne herunter verkündet: »Ich singe jetzt ›L’Amérique‹, gemeinsam mit einem kleinen Mädchen, das ich Ihnen vorstellen möchte. Hier ist sie, sie heißt Patricia Kaas.«

2

Kohlezeichnung »Glück auf!«

Wie Watte liegt Stille über der Stadt. Die letzten schwachen Lichtflecken hinter den Fensterscheiben sind verloschen. Nur der gelbliche Schein der Straßenlaternen in der Rue du Général-Leclerc schimmert noch herüber. Unsere Straße ist menschenleer und ihre weiße Decke schmutzig von all den Fußspuren. Die Leute sind nach Hause gegangen, beschwipst, mit vollem Bauch und froh darüber, dass sie am nächsten Tag genau wie ihre Kinder freihaben werden. Sie haben sich dieses Ausruhen verdient, die Leute aus Stiring-Wendel und den Nachbarorten. Alle, denn sie haben einen strapaziösen Beruf. Ob Stahl oder Kohle, ob in der Fabrik oder im Bergwerk, sie stecken all ihre Kraft in ihre Städte, deren Luft geschwärzt ist von einem Jahrhundert Industrie. Und außerdem läuft es gar nicht gut … Gestern noch waren sie die Zukunft des 19. Jahrhunderts, heute sind sie die Vergangenheit des 20. Das Lothringer Becken, das den Fortschritt gebären sollte … Nach der Euphorie die Depression. Wenn sich die Leute in meiner Gegenwart unterhalten, höre ich oft Wörter wie »Krise«, »Niedergang«, »Ende«, »nichts«. Mir schwant, dass sich hinter dem Lächeln, das hier in der Gegend freigebig verschenkt wird, Sorgen drängen. Und außerdem habe ich ja Papa vor Augen, den Beweis dafür, dass nicht alles so schön und leicht ist wie am Weihnachtsabend.

Normalerweise arbeitet Papa. Um zwei Uhr morgens schuftet er in der Grube. Mein Vater Joseph Kaas ist Bergarbeiter, une gueule noire, ein Schwarzgesicht. Er tritt seine Arbeit manchmal zu einer Zeit an, zu der es unten im Bergwerk genauso hell ist wie draußen. Nämlich stockdunkel. Vielleicht hat er so den Eindruck, dass er die Nächte nicht abwechselnd über Tage und unter Tage verbringt. Wenn er frühmorgens heimkommt  – wir stehen gerade auf  –, trägt er auf seinem Gesicht noch die Spuren der Nacht, als hätte er mit ihr gerungen, sie umarmt und schwarze Spuren auf den Lippen zurückbehalten. Danach kann er sich noch so heftig mit Seife und Bürste bearbeiten, immer bleiben die Schatten seiner nächtlichen Arbeit an ihm haften. Das dunkle Schwarz des Bergwerks, das das Blau seiner Augen durchscheinend macht. Er ist erschöpft, das sieht man auch an der Art, wie er sich in den Sessel fallen lässt. Mir ist sehr bewusst, dass er einen harten Beruf hat, einen Männerberuf, einen äußerst gefährlichen Beruf, der dem des Soldaten ähnelt. Jeden Tag muss man bereit sein zu sterben, jede Schlacht muss gewonnen werden, auch auf die Gefahr hin, den Krieg zu verlieren, man muss als Sieger aus einem dunklen Nahkampf hervorgehen. Man darf sich nicht davor fürchten, tief hinabzusteigen in die rauen Adern dieser anthrazitfarbenen Erde, auf der ich unter einem grauen Himmel heranwachse.

Jeden Tag geht Papa hin und kämpft gegen die schwitzenden Wände, um ihnen unser täglich Brot abzutrotzen, mit einer Heidenangst im Bauch läuft er durch ein dunkles Labyrinth und erstickt fast in den winzigen, finsteren Gängen. Papa riskiert schlimmstenfalls den Tod und bestenfalls die Invalidität. Unfälle kommen vor, und in unserer Familie ist man nicht überheblich, wir wissen, dass es nicht nur den anderen passiert. Außerdem sind wir nicht taub, wir hören die Sirenen, die das Trommelfell und das Herz der Bergmannsfrauen zerreißen. Sie ist tückisch, ihre geliebte Zeche. Man hört sie nicht kommen mit ihren Schlagwetterexplosionen und Verschüttungen. Sie macht es ganz plötzlich und hinterlässt keine Indizien. Sie verschlingt, überschwemmt, zerbricht, sie schlägt blind zu, arglistig. Wenn sie nicht binnen einer Minute zerstört, dann verwüstet sie ganz allmählich, von innen, mit ihrem giftigen Schweiß, den fettigen Ausdünstungen, die sich in der Lunge festsaugen. Den Alarm hört man hin und wieder. Papas Husten hingegen ist das Normale, das Alltägliche. Ich höre ihn morgens aus der Küche wie aus einer Höhle. Er schüttelt meinen Vater, löst Geröll in seiner Kehle, schnürt ihm die Luft ab. Mich weckt er, mich befördert er abrupt aus der Welt der Träume in die richtige Welt; er klingt wie ein Ruf zur Ordnung. Ich muss aufstehen, meine gefütterten Stiefel anziehen, mich in die Kälte stürzen und im eisigen Wind auf den Schulbus warten.

Papa beklagt sich nicht. Er hegt eine tiefe Liebe zu diesem Beruf, der ihn tötet. Er steht dazu, hält ihn hoch, als wäre er eine militärische Auszeichnung oder die verwelkte Blume einer alten Liebe, die den jungen Mann, der er nicht mehr ist, immer noch erbeben lässt. Seine Liebe zur Zeche ist instinktiv und elementar. Die Kameradschaft und Solidarität unter den befreundeten Bergleuten, die Männerwelt, die körperliche Anstrengung, das Bewusstsein und die Befriedigung darüber, jeden Tag Berge zu versetzen. Vielleicht geht es auch um die Poesie des Untergangs … Einen vom Aussterben bedrohten Beruf auszuüben, den er vielleicht bis zum Letzten zu verteidigen gedenkt. Papa sagt es, er verkündet es, er ist Bergmann, wie man Held ist. Niemand wird ihn dazu bringen, sich für seinen Beruf oder für sich selbst zu schämen. Seine bescheidenen Verhältnisse sind ihm nicht peinlich. Er hat seine Familie immer ernähren können. Mag sein, dass er nicht genug Geld hat, um mit ihr in die Ferien zu fahren, aber er stammt aus einer Zeit, in der die meisten sich nicht einmal satt essen konnten.

Papa ist 1927 zur Welt gekommen und hat den Krieg erlebt. In Stiring-Wendel gab es ein »Stalag«, und Tausende lothringischer Arbeiter waren gezwungen, ihre ganze Kraft oder das, was an Kraft noch übrig war, in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengung zu stellen. Sie nannten sich Malgrénous, weil sie es wider Willen taten. Hier ist es immer dasselbe: Anscheinend hatten wir nie die Wahl. Also findet man sich mit seinem Schicksal ab, man arrangiert sich damit und ist schließlich stolz darauf. Sobald man Papa von jemand Berühmtem oder Wichtigem erzählt, sagt er: »Na und? Ich habe siebenundzwanzig Jahre Bergwerk auf dem Buckel, und vorher war ich Eisenbahner!« Kein Bedauern, kein Komplex, so ist mein Vater.

In unserem Viertel sind alle wie wir, alle haben einen Bergmann zum Vater. Die Arbeitersiedlung Habsterdick gehört der Compagnie des houillères du bassin de Lorraine, der lothringischen Steinkohlegesellschaft, die dort ihre Beschäftigten unterbringt. An den zu einem rechtwinkligen Gitter angeordneten Straßen reihen sich die absolut gleichen Häuser des sozialen Wohnungsbaus aneinander. Niemand ist neidisch auf den anderen, alle sind gleich gut untergebracht. In quadratischen weißen Häusern, die je Fassade und Etage zwei Fenster und eine Fenstertür haben. In jedem Haus leben zwei Familien, eine unten, eine oben. Vor jedem Haus ein Vorgarten und zwischen den einzelnen Blocks der Siedlung kleine Bereiche mit Spielplätzen. Manchmal gehe ich nach der Schule mit den Nachbarskindern Régine oder Jean-Luc dorthin, auf die Rutschbahn. Die Atmosphäre im Viertel ist eher fröhlich, weil sich alle kennen und bei der Arbeit und auch sonst häufig treffen. Die Mütter helfen sich untereinander, die Kinder wachsen gemeinsam im Schatten der Fabrikschlote auf, und die Männer arbeiten Seite an Seite in den unterirdischen Stollen. Das verbindet.

Auch die harten Lebensbedingungen verbinden. Die Leute hier leiden unter den gleichen Problemen und der gleichen Armut. Der verhangene Himmel, das raue Klima, das leere Portemonnaie am Monatsende, die Unfälle, die Krankheiten, die durch die Arbeit in der Grube und in der Fabrik verringerte Lebenserwartung. Also wird zum Ausgleich möglichst oft gefeiert. Und außerdem trinkt man einen. Vor allem die Männer greifen gern zum Glas und lassen es kaum aus der Hand. Jeder Vorwand ist recht.

Und Papa ist beim Trinken immer dabei. Seine Jovialität und seine harte Arbeit sind gute Gründe, sich einen Rausch zu gönnen. Er liebt Feiern, Musik und Tanz. Wenn er eine Tanzfläche sieht, kann er sich nicht bremsen, dann läuft er zur Hochform auf. Er tanzt nach alter Art, Tänze wie Walzer und Tango, die man lernen muss und die er meiner Schwester und mir beigebracht hat.

Agil und elegant, ist er der König der Tanzfläche. Er weiß Hut und Anzug zu tragen und hat diesen Schick der Schauspieler aus den Fünfzigern à la Clark Gable. Vom Winde verweht. Wenn mein Vater nicht eine Nachbarin in einen wilden Tanz zieht, dann redet er mit diesem oder jenem und vergisst dabei nie, sich die Kehle zu befeuchten. Durch all das fröhliche Anstoßen und die vielen Gespräche ist er beliebt geworden. Und tatsächlich ist Papa jemand, den man mag. Schon seine etwas rote Nase und der traurige Augenausdruck verleihen ihm die Ausstrahlung eines fröhlichen Clowns. Und die dicken Backen und seine Zahnlosigkeit lassen ihn witzig wirken wie eine Comicfigur. Sein Spitzname ist Seppy. Er soll eigentlich ein Gebiss tragen, aber das lässt er lieber in der Tasche. Wenn man ihn daran erinnert und sagt: »Du solltest es tragen, das wäre einfacher«, dann antwortet er unweigerlich: »Ach, all dieser Kram!«

Kino, Bücher, Ausstellungen, Shopping   – das sind in unserer Welt außerirdische Vergnügungen. Daran sind wir nicht gewöhnt, so etwas steht uns nicht offen. Wir haben einen Fernseher, und das ist schon toll. Zusammen mit Maman verfolgen wir begeistert alle Sendungen von Maritie und Gilbert Carpentier und auch die deutschen Programme. Wir schwärmen von Dalidas Kleidern und machen uns über Julio Iglesias‘ Akzent lustig. Papa hingegen sieht Fußball, oder ich sollte vielmehr sagen: Er spielt ihn. Denn wenn abends ein Spiel übertragen wird, ist er nicht mehr er selbst. Man hört ihn bis nach Saarbrücken auf der anderen Seite der Grenze, wenn er brüllt: »Nun mach schon, du Idiot, lauf!« Dann zittern die Fensterscheiben. Er wechselt geradezu auf das Spielfeld, und man bringt ihn nur mit Mühe auf die Zuschauertribüne zurück. Papa gehört zu den Enthusiasten.

Maman erscheint im Vergleich dazu sehr reserviert. Ausgehen, Exzesse, fremde Leute, das ist nichts für sie. Sie bleibt lieber im Familienkreis, da fühlt sie sich wohl. Ihre Zurückhaltung steht im Kontrast zu Papas Überschwang. Ihr Hobby sind die deutschen Illustrierten, in denen das Leben der Stars und der gekrönten Häupter bis ins letzte Detail geschildert wird. Über Papas Arbeitgeber hat sie ein günstiges Abonnement, sie kann unter mehreren Zeitschriften auswählen und sich im Verlauf des Abonnements sogar noch einmal umentscheiden. Sie liest die Blätter langsam, damit sie länger etwas davon hat, mindestens bis die nächsten kommen. Meine Mutter hat ohnehin wenig freie Zeit, es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als sie langsam zu lesen, denn oft kann sie sie nicht zur Hand nehmen. Häufiger als Zeitschriften hat sie einen Besen, Lappen oder Wäschestapel in der Hand. Im Haus gibt es immer etwas zu tun, selbst jetzt, wo die Großen ausgezogen sind. Außerdem passt sie auf, dass alles tadellos ist, aufgeräumt und sauber. Alles im Haus ist blitzblank. Als erwarte sie Besuch von einem ihrer Idole, beispielsweise von Grace Kelly, der perfekten Kreuzung von Hochadel und Hollywood, diesen beiden Welten, deren Entwicklungen Maman aufmerksam verfolgt. Übrigens hat ebendiese blonde Schönheit in Monaco meine Mutter zu meinem Vornamen inspiriert. Grace Kelly wird in den deutschen Illustrierten »Grazia Patrizia« genannt.

Die Bücher der Edition Elke Heidenreich erscheinen im C. Bertelsmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.

1. Auflage

© der deutschen Erstausgabe 2012

by Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH © der Originalausgabe 2011 by Flammarion, Paris Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-09196-5

www.edition-elke-heidenreich.de

www.randomhouse.de

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