Magd, Metz' oder Mörderin - Ulinka Rublack - E-Book

Magd, Metz' oder Mörderin E-Book

Ulinka Rublack

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Beschreibung

Erzählt wird die Geschichte von Frauen, die in den Gerichtsakten des 16. und 17. Jahrhunderts auftauchen – nicht etwa als Hexen, sondern als Kindsmörderinnen, Ehebrecherinnen oder gerissene Beutelschneiderinnen. Ulinka Rublack malt ein plastisches und farbiges Bild von der Lebenswirklichkeit »gewöhnlicher« Leute in einer Zeit, die durch die Reformation und den Dreißigjährigen Krieg geprägt war, und verbindet damit höchst spannend Kriminalitäts- und Alltagsgeschichte. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ulinka Rublack

Magd, Metz' oder Mörderin

Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten

FISCHER E-Books

Inhalt

1. Einleitung2. Anzeige und Inquisition: Der Weg vor GerichtAnzeigeverhalten, außergerichtliche Konfliktlösungen und moralische NormenKein Polizeistaat: Die obrigkeitliche VerbrechensverfolgungStrafgerechtigkeit3. Prozeß, Urteil und StrafeWeibliche Blödigkeit oder die Gerissenheit alter Füchsinnen: UrteilsprozesseGeld und Fürsprecher: Das Aushandeln von StrafenDas Ende des Vergebens und die Bürokratisierung der BegnadigungNarrenhäuslein, Galgen, Bettelkinder: Strafen und StraffolgenDie Strafen der Frauen4. Not macht erfinderisch: Eigentumsdelikte»Arme Gemeinschaften«: Der Diebstahl von NaturressourcenHoffart und Eigensinn der diebischen MagdVon der Kunst, sich durchzuschlagen: Betrug, Diebstahl und Hehlerei durch AnsässigeDie Jagd nach Säckeln und grossen Coups: Professionelle DiebinnenVerfolgung vor dem Zeitalter des Zuchthauses5. »Ein fast wildes, barbarisches Leben«: Unzucht, früher Beischlaf und HurereiFleischesverbrechen: Gesetze und StrafpraxisSexualität und EhreDomestizierung und Gewalt6. »Ein anderes Städtlein, ein anderes Mädlein«: KindsmordWar Mord gleich Mord?»Mütterlichkeit«Schwangerschaft oder Fäulnis?Das Drama der DeutungenUmkämpfte StrafenTradition und Dissenz7. Warten auf Gottes Hilfe: EhekonflikteWie Katz und Maus: Eheleute im Streit»Denn wer da steht, der siehe zu, dass er nicht falle«: Bigamie und EhebruchMäusegift und Honigmehl: Der GattenmordGeordnete Verhältnisse?8. Eine Geschichte – ihre Geschichte (Herstory)?AnhangMaterial und RaumAbkürzungsverzeichnisGlossarAbbildungsnachweisDanksagungAuswahlbibliographie

1. Einleitung

Matthäus Merians Topographien haben eine der bleibendsten Vorstellungen deutscher Städte des 17. Jahrhunderts geschaffen. Noch heute schaut man die Stiche mit Vergnügen und Staunen an. Die Aufsicht auf Memmingen zeigt beispielsweise die Umgrenzung, Größe, Tore, Märkte und Gassen sowie die wichtigsten Gebäude der oberschwäbischen Stadt. Die Natur in dieser Stadt ist eine kultivierte, nicht zum Nutzen bestimmte: Den einzig sichtbaren Garten finden wir nahe der Frauenkirche (B), und er ist geometrisch angelegt; es gibt mehrere Baumgruppen sowie einzelne Laubbäume auf kleinen Rasenstücken. Der in die Stadt führende Bach ist schmal und droht nicht mit Fluten. Er verläuft im Halbbogen durch die Stadt und wird den Papiermachern, Färbern, Gerbern und anderen Handwerkern gedient haben. Die Stadt ist leer. Man sieht weder Menschen noch Tiere (und dabei ist jeder dieser Orte voller Schweine, Pferde, Ziegen, Kühe und Federvieh). Auch außerhalb der so wohl befestigten Mauern, die Zeitgenossen die Stärke der Stadt zeigten, auf den gestrichelt angedeuteten Wegen, bewegt sich niemand; überdies ist das Umland weiß gelassen, unausgefüllt. Nichts verweist auf die Nutzung des Bodens. Ebensowenig blicken wir auf die Spuren der Bauern, Ausbürger, Händler und Fahrenden, sondern auf kirchliche und kommunale Gebäude, vor allem aber Bürgerhäuser. Diese gleichen sich überwiegend in ihrer Größe und zeigen sich in der Seitenansicht langgezogen, also geräumig. Unter diese mittelgroßen Häuser mischen sich überall größere Gebäude. Wollte man aufgrund des Stiches mutmaßen, wo in Memmingen die Reichen und die Armen wohnten, fiele dies schwer. Noch wahrscheinlicher ist jedoch, daß einem bei der Betrachtung des Merianschen Stichs die Frage nach arm und reich, nach Macht und Konflikten in der Stadt gar nicht erst in den Sinn kommt. Auch deshalb ist der Blick auf die Stiche vergnüglich, machen sich die gerahmten Städteansichten als Wohnzimmerschmuck gut. Sie bestätigen ein Bild von der Geschichte als Schaukasten übersehbarer Ordnungen und begrenzter, menschlich geschaffener und bewältigter Welten.

Wie gestaltete sich das städtische Leben? Ein Beispiel: Im Juli des Jahres 1608 kam es in Memmingen zu einer Auseinandersetzung. Den Bierwirten wurde im Rathaus die neue Bierordnung verlesen. Alle mußten eidlich beschwören, ihr zu folgen. Unter den Versammelten war Anna, die Frau des Bierwirts Michel Müller, die jeder Lange Anna nannte. Zusammen mit drei Männern verließ sie wütend die Ratsstube. Man sollte euch allen die Hand abschlagen, schnaubte sie, ihr seid dort drinnen gestanden wie die Ölgötzen. Es geht genauso zu wie im Gericht, keiner darf ein Wort reden. Einer der Bierwirte fragte zurück, was ihr denn an der Ordnung unrecht gewesen sei. Außerdem habe man sowieso gehorsam zu sein, wenn die »Herren« etwas wollten. Du, Lange Anna, warf er ihr vor, »bist immer gescheiter als andere Leute«. Er spottete, »meine Herren werden bald den Rat mit Weibern besetzen müssen«. Bald wurde Anna wegen »unbescheidener Reden« verhaftet, und man verhörte Zeugen.[1]

Memmingen in Matthäus Merians Topographia Sveviae

Diese Arbeit befaßt sich mit Konflikten von Frauen in frühneuzeitlichen Gemeinschaften und der Rolle des Rechts in ihnen. Sie basiert auf der Lektüre tausender Fälle, in denen man zwischen 1500–1700 Frauen vor südwestdeutschen Gerichten begegnet, insbesondere als Angeklagte in Kriminalprozessen. Untersucht wurden vor allem Fälle im protestantischen Württemberg, dem größten Territorium des Südwestens, in drei protestantischen Reichsstädten, Memmingen, Esslingen und Schwäbisch Hall, und im katholischen Konstanz.[2] So wie im Fall der Langen Anna verdeutlichen die in Gerichtsquellen registrierten Rechtsüberschreitungen Historikern häufig erst zeitgenössische Normen. Vor allem zeigen sie die spezifischen Kontexte auf, in denen Normen geltend gemacht wurden und ihre Wirkung entfalteten. Gleichzeitig verzeichnen sie mögliche Handlungsräume innerhalb bestehender Ordnungsgefüge im Moment ihrer Bedrohung. Die Dynamik sozialer Beziehungen und die Konflikthaftigkeit von Herrschaft während der Frühen Neuzeit werden sichtbar. Die »Geschichten«, die in diesen Quellen aufgehoben, angedeutet und abgebrochen sind, bereichern zudem unsere Vorstellungskraft von den Welten, in denen sich frühneuzeitliche Menschen bewegten, ihren materiellen Welten und Gefühlswelten. Sie faszinieren, weil sie uns seltene Einblicke in das Lachen, den Ärger, Protest und die Phantasien dieser Männer, Frauen und Kinder geben, obwohl ihre Worte durch die Verhörsituation, die Angst vor Tortur und Strafen und den protokollierenden Gerichtsschreiber geprägt sind. Das Erzählen als Methode sucht aber vor allem nach einer einfühlenden Annäherung an die Dimensionen vergangener Menschlichkeit.[3] So wird zudem ein Verstehen der Handlungslogiken und Lebenswelten frühneuzeitlicher Menschen sowie die Beschreibung von Herrschaftspraxen möglich. Ein auf der Ebene alltagsweltlicher Erfahrungen ansetzender historischer Verstehensprozeß ist notwendig, um diese Gesellschaft und ihren Wandel komplex zu erfassen.

Ein übergreifendes Thema der Untersuchung sind frühneuzeitliche Ordnungsvorstellungen und ihr Einfluß auf die Gerichts- und Strafpraxis. Seit dem späten 15. Jahrhundert versuchten Obrigkeiten verstärkt, die gesamte Bevölkerung auf einen sehr begrenzten moralischen Verhaltenskodex zu verpflichten. Die Werte entsprachen ihrem christlichen Verständnis. Besonders wichtig waren die Verbote des Fluchens und Schwörens, des Luxus, der Spielerei, der Entheiligung der Sonn- und Feiertage sowie sexuell leichtfertigen Verhaltens. Obrigkeiten versuchten vermehrt, die Bestrafung von Vergehen gegen solche und ähnliche Verbote von kirchlichen Gerichten zu übernehmen. Frieden und Wohlstand schienen nur sicher, wenn Bürger die zehn Gebote beachteten, als gute Nachbarn und uneigennützig zusammenlebten. Sonst drohten Krieg, Hunger und Seuchen. Dieser erstarkte Moralismus war in den Städten besonders verdichtet und wirkte in die reformatorischen Bewegungen hinein. Protestanten verlangten die Versittlichung des Lebens und weitreichende Reformen, beispielsweise die Abschaffung des Priesterzölibats und der Konvente, das Verbot jeglicher Prostitution und die Stärkung der Institutionen der Ehe und des christlichen Haushalts.[4] Wo immer sich reformatorische Bewegungen durchsetzten, stießen sie politisches Handeln in diese Richtung an. Als Territorialherren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihre Herrschaft über Land und Leute zu festigen suchten, expandierten Sittenmandate überall.[5] Sie verbanden sich mit dem obrigkeitlichen Interesse an almosenunabhängigen Haushalten. Obrigkeiten versuchten vor allem verfrühte, der Lust anstatt der Vernunft geschuldete Heiraten zu unterbinden sowie Trinken, Feste, Geschenke und Kleiderluxus. Dies sollte die häusliche Wirtschaft stärken und den zur Kriegsführung und Unterhaltung des Hofs dringend benötigten Steuerfluß. Dieses Interesse verband Landesväter aller Konfessionen, und ihre politischen Maßnahmen glichen sich dementsprechend.

Der wohl regierte Haushalt war damit Garant gesellschaftlicher Ordnung. An seiner Spitze stand der Hausvater. Seine Pflicht war, im Haus für Frieden, Schutz, Nahrung und weise Zucht zu sorgen – so wie der Fürst im Land. Frauen, Kinder und das Gesinde schuldeten ihm Gehorsam. Obrigkeiten schritten im Interesse der Wahrung dieser Ordnung gegen das schlechte Hausregiment ein. Eine Ehefrau konnte beispielsweise ihren verschwenderischen oder gewalttätigen Mann anklagen, weil er sie nicht nährte und schützte. Verlangte sie aber eine Trennung, sahen Obrigkeiten dies in aller Regel als Infragestellung einer gesellschaftlichen Ordnung an, die auf der Herrschaft des Mannes über die Frau beruhte. Ebenso konnte eine Magd ihren Meister verklagen, wenn er ihr Lohn vorenthielt. Jeder verstand, daß geizige Meister das Gesinde zu Diebstahl verführten. Doch eine Entscheidung, künftig eigenständig zu arbeiten, erregte Mißfallen. Das Ideal des ganzen Hauses bekräftigte damit eine auf wechselseitigen Verpflichtungen beruhende, hierarchische Ordnung, deren Funktionieren jedoch zunehmend der obrigkeitlichen Kontrolle unterlag.[6]

Zudem wuchs die obrigkeitliche Abneigung gegen jene, die sich außerhalb dieses Idealgefüges bewegten. Prostituierte und Bettler bekamen dies als erste zu spüren.[7] Letztere sah man immer weniger als vom Schicksal gebeutelte Menschen, sondern als faul und unredlich, als eine gesellschaftliche Last. Am Ende des 16. Jahrhunderts zwang man junge, bettelnde und vagierende Männer in Württemberg zur öffentlichen Arbeit oder verbannte sie auf die Venedig verlassenden Galeeren.[8] Mobilität war der größte Feind eines auf stabile Haushalte gründenden Gesellschaftsbilds. Freie, mobile Arbeit wurde beispielsweise mit sexueller Freizügigkeit verbunden. Eine merkantile Verordnung über den Handel ins Ausland von 1645 bemängelte deshalb, daß von Feilträgern und Kremplern

»allerhand Sünden und Laster verübt werden, indem selbige, ohne Underschied, Männern, Weibern, Witwen und ledigen Burschen, hier und dort in Kammern, Stuben, Stallungen … zusammen schlupfen, in Worten und Werken ärgerlich leben, und in einem fast wilden barbarischen Wesen aufwachsen, und mit großer Verachtung des Gottesdienstes dahin gehen«.[9]

Genauso sah man die Ordnung des Hauses bedroht, wenn das Gesinde eigenmächtig entschied, wann und wie häufig es weiterziehen wollte und damit eine hohe Arbeitsmarktnachfrage schuf. So lösten sich Bindungen und Verbindlichkeiten auf. Insbesondere Mägde wurden zunehmend als »Feinde im eigenen Haus« dargestellt: unzuverlässig, faul, geschwätzig, eitel und diebisch.[10] Schlimmer noch lebte eine wachsende Anzahl unabhängig arbeitender Spinnerinnen, Näherinnen, Wäscherinnen und Ammen ohne Mann oder Meister und damit, so schien es, außerhalb jeglicher Kontrolle.

Ängste über den sozialen Wandel und die Unterhöhlung der Ständegesellschaft vertieften sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Krisen im späten 16. und 17. Jahrhundert. Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) vermehrte die Anzahl der Waisen und weiblich geführter Haushalte; er ließ viele Untertanen während des Kriegs verarmen, verteuerte die Arbeitskraft des Gesindes und brachte nach dem Krieg große Beweglichkeit in ländliche Besitzverhältnisse.[11] Die Reaktion vieler Obrigkeiten war, illegitime Beziehungen rigoros zu ahnden und die Verfolgung lediger Mütter ebenso wie die des Kindsmords zu intensivieren.

Die wachsende Entschlossenheit, hart mit Strafen durchzugreifen, resultierte auch aus dem im späten 16. Jahrhundert gewonnenen Eindruck, daß die bisherigen Maßnahmen, Gesetze und Ermahnungen bei der Bevölkerung kaum zu Verhaltensbesserungen geführt hatten. Die einflußreichsten politischen Denker betonten nun die Bedeutung der Beständigkeit als Leitprinzip der Herrschaftsausübung, des konsequenten Vorgehens gegen Ungehorsam und Unordnung. Dies verstärkte die Legitimation staatlicher Eingriffe in das Leben der Bürger im Sinne des »Gemeinwohls«. Nach dem Dreißigjährigen Krieg blieb die Suche nach Ordnung. Sie schien die durch Universitäten wie Jesuitenkollegien, protestantische Gymnasien wie Ritterakademien verbreitete neostoizistische Lehre der prudentia civilis oder politica zu verkörpern. Sie

»betonte den Gehorsam und die Disziplin als Voraussetzung einer geordneten Herrschaft, und sie schuf die geistigen Voraussetzungen für die in Stadt und Land notwendigen institutionellen Reformen im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Wandel der Zeit. Sie lehrte die Meisterung der Affekte zur Bewältigung des individuellen Lebens wie zur widerstandslosen politischen Unterordnung.«[12]

Korporative Gesellschaftsauffassungen verloren nicht nur in bezug auf die Hausgemeinschaft an Bedeutung, sondern auch hinsichtlich der Vorstellungen über gemeinnützige Wirtschaftsweisen.[13] »Tatkraft und rationale Härte«[14] sowie ein in der Praxis zunehmend von seinem »religiösen und sittlichen Grunde« gelöster Disziplinbegriff, soziale Abgrenzung und eine beständige Politik der Sozialregulierung waren wichtige Elemente, die die Anschauung hochgebildeter [sic!] Eliten über ihre Aufgaben im Leben veränderten und durch ihre Ämter auf die Kultur zurückwirkten.[15] Natürliche Körperausdrücke und Bedürfnisse sollten »zivilisiert« werden. Mehr und mehr schien sich damit auch die Kluft zwischen den Ständen zu erweitern, so daß Bauern im Amt Freudenstadt, die 1689 weder richtig schießen, marschieren oder Befehlen folgen konnten, als man sie zur Verteidigung ihrer Dörfer vor den Franzosen ausschickte, bei herzoglichen Beamten Verzweiflungsausbrüche hervorriefen. Sie waren »unbündige Leut«.[16] Der Philosoph Leibniz definierte 1688 mit eben jener Verächtlichkeit der Eliten, was den »gemeinen Mann« von jenen trenne, die »Prometheus aus edlerem Leim geschaffen« habe: »Wenn man nun mich fragen will, was eigentlich der gemeine Man sei«, sinnierte er,

»so weiß ich ihn nicht anders zu beschreiben, als daß er diejenigen begreiffe, deren Gemüt mit nichts anderem als Gedanken ihrer Nahrung eingenommen, die sich niemahls höher schwingen und so wenig sich einbilden können, was die Begierde zu wissen oder die Gemüts Lust für ein Ding sey, als ein Taubstummer von einem herrlichen Konzert zu urteilen vermag. Diese Leute … leben in der Welt in den Tag hinein und gehen ihren Schritt fort wie das Vieh, … sie denken nicht weiter als sie sehen.«

Von diesem »dummen Volk« stachen nach Leibniz’ Erfahrung allein jene ab, die sich für Geschichten und Reiseberichte interessierten, dann und wann ein Buch lasen und begierig Gelehrten lauschten (…). Je mehr dieser Leute im Volk waren, desto »zivilisierter« die Nation. Diese Menschen tobten weder gegen die Obrigkeit, noch folgten sie des »Pöbels Gemütsbewegungen«. Sie ließen sich gerne Weisungen von Vorgesetzten erteilen.[17] Dies erinnert an den Bierwirt am Anfang der Einleitung, für den eben dieser Gehorsam gegenüber »seinen Herren« selbstverständlich war. Soziale Spannungen sah man demnach als Ausdruck der Unbündigkeit gemeiner Leute, ihres Begehrens nach mehr, als ihnen zustand, und ihrer Unfähigkeit, die Beschränkung ihrer eigenen Handlungsfähigkeit zu erkennen.

Die eigentliche »Natur« des Menschen wurde also oft als roh beschrieben, selbstbezogen und von Lust getrieben. Die neue Suche nach einer Kontrolle dieser Natur machte deshalb vor allem jene zur Projektionsfläche für Phantasien des Anderen, die am wenigsten kultiviert und kultivierbar erschienen, also etwa Bauern, »Wilde« und Frauen. Zivilisierte Mannbarkeit wurde mit den positiven Qualitäten der Vernunft und Selbstkontrolle verbunden. Der »weiblichen Natur« schrieb man dagegen schon lange moralische Schwäche, Zügellosigkeit, Wankelmut, Dummheit und maßlose sexuelle Begierde zu. Der Faktor, der Frauen zudem besonders bedrohlich machte, war ihre Fähigkeit, Männer zu verführen und die mit der Disziplin einhergehenden Sehnsüchte nach Entgrenzung zu wecken. Rechtsgutachten über angeklagte Frauen zitierten also beispielsweise nicht nur das Sprichwort »lange Kleider, kurzer Verstand«, sondern das ebenso knappe »ohne Huren keine Buben«. Die beste Ausrede von Männern, die wegen Unzucht oder innerfamiliärem sexuellem Mißbrauch beklagt waren, lautete, sie seien verführt worden oder nur einer von vielen Liebhabern der Frau. Es erschien Richtern und Medizinern unvorstellbar, daß eine Frau vergewaltigt werden konnte.[18] Auch in Inzestfällen kamen sie deshalb nur mit Mühe auf die Idee, die angeklagten Frauen könnten Mißbrauchsopfer sein. Frauen wurden ebenso hart bestraft wie die sie mißbrauchenden Männer.[19] Die Strafen »unzüchtiger« Frauen, oft die Enthauptung oder Verbannung, sollten allen Frauen ein Beispiel sein. Die wachsende Bedeutung der sexuellen Moral verstärkte den Druck auf Frauen, sich respektierlich zu verhalten, zunächst als keusche und »eingezogene« Tochter und später als gute Hausmutter. Dies erforderte, die verderbte Seite der ihnen zugeschriebenen Natur zu überwinden; und so erstaunt es wenig, daß Frauen am vehementesten mit der Anschuldigung »Hure« um ihre Ehrbarkeit fochten.

In bezug auf Anklage- und Verurteilungsprozesse waren die Erfahrungen von Männern und Frauen demzufolge oft unterschiedlich. Frauen wurden für bestimmte Delikte häufiger als Männer angezeigt und ihre Verantwortlichkeit als Täterin anders eingeschätzt.[20] Die Hexerei ist hierfür ein klassisches und inzwischen gut erforschtes Beispiel. Deshalb befaßt sich diese Studie ausdrücklich mit den anderen Delikten, für die Frauen – insgesamt weitaus häufiger – vor Gericht standen: Diebstahl und Betrug, »Fleischesverbrechen«, Ehestreitigkeiten und Kindsmord. Sie sprechen meist von anderen sozialen Konflikten als von denen der Hexen und Hexenmacher und ergänzen unser Bild von dem Einfluß frühneuzeitlicher wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Veränderungen auf Geschlechterbeziehungen – sowohl unter Frauen als auch zwischen Männern und Frauen. Zudem lassen sich spezifischere Fragen nach der rechtlichen Position von Frauen und der gesellschaftlichen Wirkung rechtlicher Verfahren stellen. Wie zum Beispiel beeinflußte das Bild der Frau als begierig und unbeständig ihre Stellung in Rechtsverfahren wegen sexueller Verfehlungen, die nach der Reformation immer mehr zunahmen? Welches Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit reproduzierten Gesetze und Prozesse? Wie prägte das Recht also die Konstruktion und Erfahrung von Geschlecht?[21]

Im Hinblick auf das frühneuzeitliche Strafsystem hat die jüngere Forschung nachgewiesen, daß Bürger die Verbrechensverfolgung und rechtlichen Urteilsprozesse maßgeblich beeinflußten.[22] Das Bild einer auf Tortur, grausamer, vorhersehbarer Strafen, Hinrichtungen und Schandstrafen beruhenden Justiz ist überzeichnet. Es dient lediglich zur kulturellen Absicherung eines modernen, scheinbar besseren Rechtsverständnisses. Die frühneuzeitliche Justiz basierte auf einer komplexen Balance von Gnade und Härte. Der Ruf einer Person als unverbesserlich oder reuig und sozial wieder integrierbar hatte damals wie heute einen großen Einfluß auf das Urteil. Ermahnungen, Geldstrafen und Gefängnisstrafen machten das Gros der Strafen aus; sie ließen sich überdies vor und nach dem Urteil aushandeln. Wer durch Familie, Nachbarn oder Arbeitgeber unterstützt wurde, erreichte durch Fürbitten meist Strafmilderung. Diese Ergebnisse bestätigen, daß Macht als alltäglich gegenüber Subjekten ausgeübte Praxis zu untersuchen ist – Polizeiordnungen genügen schlichtweg nicht, um Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu machen. Sie weisen auf die relative Schwäche frühneuzeitlicher Bürokratien bei der Durchsetzung der Moralpolitik hin und zeigen die Komplexität frühneuzeitlicher Herrschaftsweisen auf. Zudem ist zu betonen, daß es deshalb schwerfällt, lineare Entwicklungen hin zu disziplinierteren, »moderneren« Lebensweisen auszumachen. Eher sind Diskontinuitäten in der Formulierung und Durchsetzung von Mandaten hervorzuheben, Phasen des intensiven Versuchs, in bestimmten Gebieten ein Verbrechen zu verfolgen, dessen Verfolgung anderswo jedoch versiegte, so daß Wandel nie homogen und gleichförmig war. Nur Lokalstudien können darstellen, wie sich Herrschaft durch Verwaltung in den Ämtern der Territorien ausnahm, wie Untertanen sozialen und institutionellen Wandel erfuhren und auf ihn reagierten.[23] Denn als Subjekte waren sie ihm nicht passiv unterworfen, sondern verstärkten, veränderten oder vereitelten seine Wirkung. Für den spezifischen Untersuchungsgegenstand dieses Buches bedeutet dies, daß beispielsweise genau danach zu fragen ist, welche Frauen aufgrund ihrer sozialen Situation leicht »Labellingprozessen« ausgesetzt waren und wie das örtliche »Geschwätz« wirkte.

Insgesamt bewegt sich diese Untersuchung damit auf verschiedenen Ebenen: Sie erklärt zunächst, wie eine Frau beispielsweise wegen Kindsmord vor Gericht kam und wie Delikte bestraft wurden. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Einfluß von Bürgern auf die Verfolgungs- und Strafpraxis. Zudem werden die Lebensstrategien und Spielräume von Frauen verschiedener Schichten in unterschiedlichen sozialen Situationen dargestellt. Politische und konfessionelle Entwicklungen, die Einschätzungen der Bedrohlichkeit von Gesetzesüberschreitungen beeinflußten, werden diskutiert und die Ängste über sozialen Wandel, von denen sie zeugen. Schließlich werden die Ergebnisse dieser Studie auf die Frage nach den Wirkungen des Paradigmas, Weiblichkeit verkörpere Begehren, bezogen. Seit dem 18. Jahrhundert verkehrte es sich in sein Gegenteil. Von nun an wurde Weiblichkeit zunehmend mit sexueller Passivität und einer positiven Sanftheit des »Gemüts« verbunden. Dieser Wandlungsprozeß läßt sich nur durch ein Verständnis des vorausgegangenen Konstrukts gefährlicher Weiblichkeit nachvollziehen sowie seiner gerichtlichen und alltäglichen Bedeutung.

2. Anzeige und Inquisition: Der Weg vor Gericht

Einzentrales Paradox der frühneuzeitlichen Politik bestand darin, daß moralpolizeiliche Ansprüche stetig wuchsen, aber nicht entsprechend in Präventivmaßnahmen und Polizeikräfte investiert wurde. Diese Situation machte Obrigkeiten stark von der Kooperation der Bevölkerung bei der Deliktverfolgung abhängig. Um genauer zu verstehen, wer in der frühen Neuzeit wie vor Gericht gelangte, behandelt dieses Kapitel deshalb drei Fragen: Welcher Dynamik folgte das Gerede, wann erschien der Bevölkerung der Gang vor Gericht sinnvoll, und unter welchen Bedingungen operierte die obrigkeitliche Strafverfolgung?

Als Hauptquelle zur Rekonstruktion des Geredes dient ein recht einzigartiges Memminger Verhörprotokoll aus dem Jahr 1561. Der frühere Stadtschreiber Georg Meurer erwirkte die umfassende Befragung. Er hatte sein Amt 25 Jahre innegehabt und eine politisch einflußreiche Stellung besessen, bis er 1549 aus undurchsichtigen Gründen abgesetzt wurde.[24] Nun, zwölf Jahre später, hatte jemand das Gerücht in die Welt gesetzt, seine Tochter sei durch einen Heidelberger Studenten geschwängert worden. Die Familie habe sie zur heimlichen Niederkunft nach Speyer geschickt, um die Unzucht zu vertuschen und der Schande zu entgehen. Meurer wollte wissen, wer dies zuerst gesagt habe. Über 50 Memminger mußten angeben, wo und in wessen Beisein sie die Nachricht gehört oder weitererzählt hatten. Diese Quelle macht gleichzeitig deutlich, welche Mittel ein einflußreicher Mann wie Meurer in der Hand hatte, um Angriffe auf seine Ehre abzuwehren und dem Gerede den Status eines Gerüchts zu verleihen. Die Befragten äußerten sich deshalb vielleicht auch vorsichtiger über ihre Gespräche; gleichwohl läßt sich ein insgesamt plausibel erscheinendes Bild über die Dynamik des Geredes gewinnen. In unserem zweiten Fall begegnen wir einer für Kindsmordfälle typischen Ausgangskonstellation: Die vermeintliche Täterin war sozial schutzlos, und ihr wachsender Bauch diente als sichtbarer Beweis der geplanten Tat. Das Gerede verbreitete den Verdacht, die Tat bestätigte lediglich, was inzwischen als sicher galt. Dementsprechend schnell folgte die Verhaftung. In einem dritten Beispiel wird in der Beschäftigung mit einer ehebrüchigen Konstanzer Adeligen noch einmal das Milieu gewechselt. Der Fall zeigt, durch welche Überschreitungen (in extremen Fällen) selbst hochgestellte Frauen kurzzeitig ins Gefängnis wandern konnten und inwiefern das Gerede hieran beteiligt war.

›Eine Schwängerung in Memmingen‹

Im Winter 1561 gab es in Memmingen zwei Ereignisse, an die sich alle Verhörten erinnerten. Zum einen an die Hochzeit der Stadtamtmannstochter Lehlin mit dem Stadtamtmannssohn Besserer, und zum anderen an den Wegritt der vermutlich schwangeren Tochter des früheren Stadtschreibers. Memmingen war eine kleine oberschwäbische Reichsstadt, die ungefähr 5000 Einwohner zählte. Während des 15. Jahrhunderts hatte sie eine zentrale Stellung im Fernhandel mit Italien und der Schweiz besessen. Handelsfamilien wie die Besserer und Lehlin zogen zu und festigten bald ihren Einfluß im Textilhandel und in der Politik.[25] Wie ein Kontrapunkt zu der ehrbaren Hochzeit, mit der sich die führenden Geschlechter in der nun angebrochenen Zeit des ökonomischen Niedergangs noch einmal enger zu verbinden suchten, war die Nachricht von der Schwangerschaft Madlena Meurers aufgetaucht. Sie hatte je nach Alter und Stand verschiedene Bedeutungen. Die Oberschicht sah die Selbstdeklassierung einer der ihr zugehörigen Familien. Für Bürgerfamilien machte sie die durch den Verlust der Jungfrauenschaft drohende Schande überdeutlich. Die ledigen Frauen sahen, daß eine angeblich »ehrbare« Tochter eine der wichtigsten Leitlinien übertreten hatte, die auch für ihr Leben maßgeblich war. Die Schande einer vorehelichen Schwangerschaft hielt sich in Grenzen, wenn der Kindsvater in die sofortige Heirat einwilligte. Madlenas Fall war gravierender. Denn es handelte sich um eine verheimlichte Schwangerschaft, bei der nur die wenigsten wußten, wer überhaupt als Kindsvater in Betracht kam.

Diese Tatsache und der Wegritt der Stadtschreibertochter machten die Leute stutzig. Folgende vier Aspekte des Geredes über die verheimlichte Schwangerschaft werden untersucht: An welchen Orten wurde davon erzählt und wie, wer erteilte Redeverbote oder verfügte über Zusatzinformationen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen?

›Gesprächsorte‹

Als die Witwe Dorothea Meier »Geschäfte halber« bei ihrer Schwägerin war, erzählte diese ihr, man sage, die Tochter des alten Stadtschreibers sei schwanger. Meier solle unbedingt mit ihrer eigenen Tochter darüber reden. Diese solle sich »behutsam halten, daß ihr kein Schmach begegne«. Die Witwe Meier tat genau dies: Sie erzählte ihrer Tochter Dorothea den Fall als warnendes Beispiel. Sie verbot ihr, mit irgend jemand sonst darüber zu reden. Aber dafür war die Nachricht viel zu aufregend. Dorothea stürzte wenig später in das Haus des Stadtamtmanns Lehlin. Dort nähte eine Ansammlung junger Frauen im Hinterstüblein für die Hochzeit der Katharina. Durch ihre Stiche am Hochzeitskleid und das Einsticken des Monogramms der Braut in die sorgfältig gesammelte Wäsche nahmen die ledigen Frauen am rituellen Übergang einer Jungfrau zur Ehefrau teil. Und natürlich ebenso an der Aufregung um eine feine, ehrbare Hochzeit. Alles fand unter Aufsicht der jüngeren Schwester der Braut statt. Ihr und der Köchin berichtete Dorothea die Neuigkeit von der schwangeren Jungfrau zuerst. Schnurstracks trug die Schwester der Braut die Nachricht in das Hinterstüblein. Auch anderen erzählte sie es, bis ihr Vater davon erfuhr und es verbot.

Daß man die Neuigkeit einer Ansammlung von Frauen erzählte, war ungewöhnlich. Meistens redete man zu zweit im Vertrauen darüber und gab die Information nur an ein oder zwei Leute weiter. Der arbeitslose Augsburger Vetter der Witwe Stein, der zeitweise bei ihr wohnte, hatte in der Stube einer Frau von der verheimlichten Schwangerschaft gehört. Er erzählte es seiner Kusine weiter und diese es nur noch der Magd des Pfefferlin. Doch auch so zog das Gerede seine Kreise. Als die Pfefferlinsche Magd mit der Näherin Anna Bugg auf eine alte Wäscherin wartete, begannen sie, über zwei andere schwangere Jungfrauen zu reden. Dann sagte die Magd: »Ich weiß von einer Feisten, die geht auch mit einem Kind.« Bei dem Jungfrauenhof des Lonser habe die Madlena das »Häß (Kleid) weit vorne aufgesperrt« gehabt. Alle Jungfrauen hätten mit dem Finger auf sie gezeigt. Die Näherin hörte ein zweites Mal von der Schwängerung, als sie zum Stoffschneiden in eine Schneiderwerkstatt kam. Näherinnen gingen in vielen Häusern ein und aus und waren deshalb Informationsträgerinnen. Dies konnte einträglich sein. Als Anna bei der Frau Doktor Bartholome nähte, versprach diese ihr einen halben Laib Brot Belohnung, wenn sie etwas über den Fall in Erfahrung brächte. Dieses besondere Interesse rührte vermutlich daher, daß die Frau Doktor in der Oberschicht vor allem mit höhergestellten Junkerinnen zusammenkam. Sank der Rang der Meurers, stieg ihrer.

Die häufigsten Gesprächsorte waren die Stube, die Gasse, unter den Fensterläden vor dem Haus, wo unter vier Augen oder en famille über Madlena gesprochen wurde. In der Familie wurden Neuigkeiten sofort berichtet, aber auch das galt nicht ausnahmslos.[26] Die Apotheke des Junkers Albanus Wolfhart, die sein Vater im Jahr 1500 eröffnet hatte, war ein weiterer Gesprächsort. Hier bedienten Albanus’ ledige Tochter und ein Apothekergeselle. Neben Pülverchen und Pillen wurden unter den in guten Häusern dienenden Köchinnen und Mägden Neuigkeiten ausgeteilt. Männer sprachen in Wirtshäusern und während sie Geschäften nachgingen in der Stadt. Die Oberschichtsfrauen wußten genau, daß sich das »Schwätzen« nach außen hin nicht ziemte. Also taten sie dies ausschließlich in Innenräumen, etwa bei privaten Treffen in ihren Häusern. Vor allem aber redeten sie in der Kirche, beziehungsweise, wie sie beim Verhör hastig hinzufügten, beim Herausgehen, auf den Kirchstufen oder eigentlich erst auf dem Kirchhof. Die Vorsicht der Oberschichten, »schwätzerisch« zu wirken, belegt auch, daß der Bruder einer Junkerin ihr die Nachricht bei einer Einladung nur ins Ohr flüsterte! Vermögende Frauen hörten zu Hause sofort mit dem Tratsch auf, wenn eine Magd das Zimmer betrat. Bei anderen Schichten war das Privatheitsempfinden etwas anders: Mägde und Gesellen im Hintergrund störten bei Handwerkern nicht,[27] ebensowenig Kinder und Verwandte. Doch ein angefangenes Zweiergespräch galt als vertraulich und wurde beim Hinzukommen einer weiteren Person abgebrochen.

›Gesprächskonventionen‹

Ältere Frauen spannen vor allem zu zweit. Dabei redete man, wie zum Beispiel die Frau des alten Kellerers mit Frau Buff, »von allerlei, und sonderlich Kreuz und Leid« oder »Not und Leid«, wie die Buff bestätigte. Buff wußte durch ihre Mutter von der Sache, die Kellerersfrau durch ihre Köchin. Letztere brachte irgendwann die Rede sehr indirekt auf Madlena. »Man habe jetzt auch etwas von der alten Stadtschreiberstochter gehört, was ihr treulich leid sei«, sagte sie. Beide wollten sich darüber verständigen, daß sie Bescheid wußten. Frau Buff antwortete also nur, sie habe davon gehört. Es sei auch ihr leid. Gespräche begannen mit dem Verweis auf das Gerede selbst: »Man sage«, es sei so. Das Gerede war von Anfang an eine anonyme Instanz.[28] Dies schützte jeden vor der Anschuldigung, ein Gerücht in die Welt gesetzt zu haben. Zudem steuerte man indirekt auf den Gegenstand zu, um dem Gesprächspartner keine Unterhaltung darüber aufzuzwingen. Weil diese Annäherung gefehlt hatte, sagte die Hebamme aus, eine Frau habe »unaufgefordert« angefangen, davon zu reden. Sie brachte dann auch ihre Zweifel an, »es sei vielleicht nicht wahr«. Ein vorausgeschickter Satz konnte andererseits deutlich machen, daß es nicht um das »gehässige« Geschwätz über eine Person ging, sondern man den Fall als Zeichen eines allgemeinen Moralverfalls sah: »Es geht übel zu«, sagte Ludwig Stebenhabers Frau in der Kirche zu ihrer Schwester, man sage, Madlena sei schwanger. Es war eine Zeit der Teuerungen und wirtschaftlicher Not. Die im Vorjahr erlassene Zuchtordnung mahnte, diese Strafe Gottes durch ein weniger sündenreiches Leben abzuwenden.[29] Und doch bemitleideten viele Frauen Madlena, anstatt sie moralisch zu verurteilen.

Zuerst dienten die beiden anderen schwangeren Jungfrauen in der Stadt als Aufhänger für Gespräche. Als Madlena dann aus Memmingen verschwunden war, fingen die Gespräche der Oberschichtfrauen wie beiläufig mit dem unverfänglichen Satz an, »ach, daß die Madlena so bald weg (gegangen) ist«. Hieran ließen sich Vermutungen anschließen, zum Beispiel die der Frau Doktor Bartholome, die sagte, Madlena habe vielleicht aus Not weggemußt. Aber darüber hinaus wurde über die möglichen Hintergründe des Wegritts nicht spekuliert. Der Austausch über den Fall beschränkte sich grundsätzlich auf die Verständigung über das beidseitige Wissen von der Nachricht. Neugier wurde negativ sanktioniert. Frontal fragte eine Gürtlerstochter beim Weinholen eine Magd, »ob es wahr sei«, doch diese antwortete knapp, sie habe es auch gehört. Der Gürtler verbot seiner Tochter dann darüber zu reden, kaum wollte sie beim Essen davon anfangen. Ein Redeverbot erfuhr auch die Köchin der Wolfharts, so daß die beiden Mägde im Haus auch unwissend blieben. Ebenso verbot die Brengerin ihren Töchtern, es weiterzusagen, nachdem sie ihnen davon warnend erzählt hatte. Das unbedachte Herausschwätzen junger, lediger Frauen wurde zu unterbinden versucht, da sie Grund zur Mißgunst hatten.

Das zeigt sich auch an der Art, in der die Autorität der Informationsquellen überprüft wurde, bevor sich das Gerede überall ausgebreitet hatte. Der Möglichkeit, einem bloßen Gerücht aufzusitzen, war man sich bewußt. »Woher sie es wisse«, fragte Lienhart Dochtermanns Frau, als ihr die ledige Tochter Peter Knopfs über Madlena erzählte. Als diese nur eine andere ledige Tochter angab, befahl sie ihr zu schweigen. Denn die Maurerin, eine verheiratete Frau, hatte ihrerseits gesagt, es könne nicht sein. Vermeintlichen Gerüchten wurde so ein schnelles Ende gemacht. Seriöser erschien der Menzlerin die Information der Zieglerinnentochter, da sie es von ihrer Mutter wußte und die es wiederum aus dem Lehlinschen Haushalt. Auch die Oberschichtsfrauen mußten die Glaubwürdigkeit ihrer Informantinnen bezeugen. Eine Junkerin sagte zu ihren Freundinnen, »es habe ihr ein Mensch glaubhaftig gesagt, …«. Frau Doktor Bartholome versuchte es so: »Man sage, und sonderlich hätte eine Frau aus der Kemptnergasse, die bei ihr ein und aus gehe gesagt, …« Die Frau des Apothekers Wolfhart wußte dagegen, eine »vornehme Person« habe es gesagt. Sie widerrufe es auch nur, falls Madlena von Hebammen untersucht werde und diese etwas anderes feststellten. Das machte die Oberschichtfrauen skeptischer.

›Beweise‹

Beurteilungen des Vorfalles kamen von Leuten mit vermeintlichem Wissen aus erster oder zweiter Hand, von Personen, die selbst gesehen und nicht nur gehört hatten. Denn dem Augenschein wurde bedeutend mehr Wahrheitsgehalt zugeschrieben als dem Hörensagen. Die einzig erfundene Beobachtung war die über den Jungfrauenhof, bei dem man angeblich mit Fingern auf die schwangere Madlena im kaum geschnürten Kleid gezeigt hatte. Sonst gab es zunächst Gegenbeweise. Otmar Bregenzer war mit Madlena und ihrer Familie vor kurzem nach Speyer geritten. Von einer Schwangerschaft hatte er nicht das geringste bemerkt. Eine Frau hatte noch vor 14 Tagen mit Madlena auf dem Markt Äpfel gekauft und gewogen. Da sei ihr nichts aufgefallen. Anna Bienger befand, auf der Hochzeit der Dietmännin sei »die Sachen um die Madlena, wie ein Jungfrauen gestanden«. Die Junkerin Brenger warf Frau Doktor Bartholome anfangs glattweg vor, ihre Informantin habe gelogen. Sie selber sei letzte Woche mit Madlena bei einer Einladung am gleichen Tisch gewesen. Da habe sie, wie eine Jungfrau, keinen Fisch gegessen.[30]

Doch bald häuften sich verdächtige Indizien. Junker Brengers Frau war skeptischer geworden, als sie hörte, in dem Haus des alten Stadtschreibers habe es großen Lärm und ein Stimmengewirr gegeben, aus dem sich heraushören ließ, daß der Doktor Berman und ihr Vater Madlenas Wegritt wollten, ihre Mutter aber nicht. Der winterliche Wegritt mit dem Doktor war allemal wundersam. Die Frau des Junkers Lynsen sah die beiden davonreiten. Später fragte sie Madlenas Mutter auf der Gasse, warum sie ihre Tochter im Winter von sich lasse. Diese entgegnete, sie sehe es auch nicht gerne, aber ihr Mann und der Doktor hätten es so gewollt. Dann trafen Meldungen von der angeblichen Niederkunft ein (obwohl, Brengers Frau zufolge, inzwischen auch etliche Leute meinten, sie habe das Kind schon vor dem Wegritt gehabt). Die Magd des Stadtamtmanns Besserer hatte von einer Wäscherin gehört, Madlena liege in Augsburg im Kindbett. Ein Junker erhielt durch seine Kindermagd eine scheinbar zuverlässige Information. Ihre Schwester diente bei Doktor Berman in Speyer und hatte die Niederkunft gesehen. Durch Verwandte, Bekannte und Handelspartner waren die Informationsnetze der Memminger weit gespannt. Lehlins Schwiegersohn sagte bei einer Zeche, sogar in München habe man sich schon von der Geburt erzählt.

Alles in allem war diesen Spekulationen durch den seltsam anmutenden Wegritt viel Nahrung gegeben worden, und daß der Stadtschreiber die Befragung anordnete, räumte sie auch nicht aus. Die Oberschicht erwartete eine offene Erklärung des Sachverhalts und war indigniert über die sich hinziehenden Verhöre. »Ach Gott, wann ist es nur aus«, bekannte Albanus Wolfharts Frau, bei der Heimkehr ihrer Mägde von dem Verhör gesagt zu haben. Keine Informationen waren vom Gesinde der Meurers aus dem Haus gedrungen. Genauso hatte der Stadtschreiber Madlena unter Kontrolle, die selber völlig unsichtbar blieb. Auch das Verhör schaffte keine Klarheit. Es war unmöglich, irgend jemanden herauszufinden, der das Gerücht eindeutig in die Welt gesetzt hatte.[31]

›Resümee‹

Die Verheimlichung von Information nährte das Gerede. Ordnung beruhte darauf, daß einem engeren oder weiteren Kreis an Menschen alle Informationen zugänglich waren, die über die Ehre einer Person bestimmten. Denn Ehre war zwar einerseits je nach Stand, Geschlecht und Alter festgelegt, wurde aber andererseits mit redlichem Alltagsverhalten verbunden und aufgrund moralischer Qualitäten zugeschrieben. Redlichkeit bewies man vor allem durch eine integere Selbstdarstellung und den fairen Umgang mit Besitz. Wenn Meurer also die Entjungferung seiner noch unverheirateten Tochter vertuschte, war dies unredlich: Er verdeckte »unehrbares« Verhalten, wollte sie demzufolge weiterhin als Jungfrau verheiraten und eine entsprechende Mitgift fordern. Das Gerede entschied so, vor allem innerhalb der eigenen Schicht, neu über das Ansehen einer Person und Familie und damit über Heiratschancen und Vertrauen. Die Männer der Oberschicht, die am ungeniertesten zugaben, oft über Madlenas Fall gesprochen zu haben, suchten Klarheit über die Redlichkeit der Stadtschreiberfamilie, weil dies ihr Handeln mit Meurer direkt betraf. Für die frommen Frauen der Oberschicht war der Fall ein bedauernswertes Zeichen für den Niedergang der Moral und die stete Bedrohung »ehrbarer« Jungfrauenschaft. Die zweite Gruppe, die der Fall direkt anging, waren die jungen, ledigen Frauen. Für sie geriet etwas an dem sie korsettierenden Wertesystem der Keuschheit ins Wanken, wenn jemand aus der Oberschicht den aufgegebenen Widerstand gegen die Versuchung kaschieren konnte. Die ledigen Frauen waren deshalb die einzigen, die unkontrolliert über Madlena erzählen mußten, dies deshalb aber häufig verboten bekamen.

Insgesamt zeigt sich, daß es, von den ledigen Frauen abgesehen, kaum geschlechtsspezifische Unterschiede beim Gerede gab.[32] Interaktionsregeln leiteten sich vom Stand und dem Vertrautheitsgrad der Redenden ab. Niemand erging sich im Geschwätz. Man tauschte kurz die Information aus oder in der zweiten Phase, als deutlich war, daß die meisten davon wußten, die Tatsache des Mitwissens. Die Interaktionen zielten nicht auf eine explizite Verurteilung. Das Gerede registrierte einen Fall möglicher Delinquenz sowie die Veränderung von Statuspositionen. Bis es eindeutige Beweise gab, blieb man wachsam und wartete ab.

›Kindsmord in Urach‹

Als 1630 in Urach Maria Späth verdächtigt wurde, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen und einen Kindsmord zu planen, war ihre Lage wesentlich ungünstiger als die der Memmingerin. Als Magd war sie täglich zum Markt unterwegs, holte Wasser, arbeitete im Feld, sammelte Holz, schnitt Gras, saß sonntags auf den hinteren Kirchbänken. Jeder sah, daß ihr Bauch kugelrund wurde. Maria war noch fremd in dem ca. 2000 Einwohner zählenden Urach, kam aus Laichingen und diente bei ihrer verwitweten Tante. Marias Vater, ein Pfarrer, war vor kurzem gestorben. Kein männliches Familienmitglied sorgte für Schutz. Maria war über 30 und noch ledig. Viele deuteten ihre wechselseitigen Besuche mit einem Laichinger Weber als eindeutiges Zeichen einer Liebschaft. Und sie befragten sie direkt über den wachsenden Bauch. Maria erklärte, sie leide unter Wassersucht. Über ein Vierteljahr hinweg mehrten sich die Vermutungen. Eine Frau mutmaßte zu einer Nachbarin der Späths, in diesem Haus sei etwas nicht in Ordnung. Aber die Wahrheit werde ja einmal herauskriechen. Die Frau des Bürgermeisters sagte Maria frei heraus, sie sei schwanger. Man verpaßte ihr den Spitznamen »dicke Maria«. Trotzdem versuchte Maria sich, so gut es ging, zu wehren. Als eine junge Frau am Haus vorbeiging und sie »frech« fragte, ob es wahr sei, daß der Weber sie geschwängert habe, schalt Maria sie eine Närrin. Auch in Laichingen, einem von ca. 1200 Menschen bewohnten Weberort an der Handelsstraße zwischen Urach und Ulm, wußten inzwischen alle von der vermeintlichen Schwangerschaft. Darüber beklagte Maria sich gegenüber einer jungen Laichinger Ehefrau, schob die Schürze zur Seite und forderte sie auf, ihren Bauch zu betasten. Doch die Frau war noch nicht schwanger gewesen und wußte nicht, wie hart oder weich sich so ein Bauch anfühlen sollte.

Die Verheimlichung hatte einen klaren Grund: Maria sollte erst nach dem Tod der Tante die große Erbschaft ihres Vaters bekommen. Vermutlich hatte sie Angst, das Geld durch die voreheliche Schwangerschaft oder eine Heirat mit dem Weber zu verlieren. Der Mord an dem ungewollten Kind sollte ihre Ehre und Zukunft wahren. Nach der Niederkunft ging es Maria aber dann so schlecht, daß die Tante alle Nachbarinnen zu der Bettlägrigen rief. Die Hebamme und »geschworenen Weiber« untersuchten Maria und wollten sie zu einem Geständnis zwingen. Maria beharrte darauf, krank zu sein. Doch zwei Tage später wurde der tote Säugling hinter einer Scheune ausgegraben.

Es war kaum vorstellbar, daß eine ledige, schwangere Frau am Ort bleiben, dort tagtäglich mit einem großen Bauch herumlaufen und die Geburt erfolgreich verheimlichen konnte. Maria wußte aber keinen Ausweg: Ihr Wegzug hätte das Mißtrauen der Tante erregt. Wenn eine Familie bewußt hinter der Verheimlichung einer Schwangerschaft stand, brachte sie die Frau, wie in Madlenas Fall, oft zur Geburt weg, meist zu Verwandten. Wenn sie wiederkam und dies nur einmal vorkam, wurde hierüber im Ort »wissend« geschwiegen. An Marias Fall erstaunt zunächst, daß die Leute trotz der eindeutigen Indizien bis zur Geburt abgewartet hatten. Keiner alarmierte vorher den Amtmann, dessen Haus am Marktplatz lag. Er konnte deshalb auch erst in letzter Minute die Besichtigung durch die Hebamme anordnen. Erschwerend kam sogar hinzu, daß manche die Tante für »ein böses Weib« hielten. Eine der Nachbarinnen war ihr gegenüber besonders feindlich eingestellt. Sie kam ungebeten zu den Frauen dazu, die um das Bett Marias standen, suchte mit einem Licht nach einem Gewächs und gab später aus, sie habe die Geburt gesehen. Doch dem Amtmann sagte sie nichts.

Zwischen einem Verdacht, dem Gerede und einer Anzeige bestanden deutliche Grenzen. Eine Schwangerschaft provozierte das Gerede auf besondere Weise, da für jeden sichtbar war, daß eine Frau monatlich dicker und runder wurde. Viele der Frauen, die einen Kindsmord planten und als Mägde oder Tagelöhnerinnen ohnehin mobil waren, zogen deshalb in den letzten Schwangerschaftsmonaten weg. In dem neuen Ort kannte man sie dann nur als dick. Mißtrauen erregte oft erst der plötzlich »verlorene« Bauch.[33] Auch andere Delikte, wie Unzucht und Inzest, kamen fast ausschließlich durch die Schwangerschaft einer ledigen Frau vor Gericht: Dieser sichtbare Beweis machte das Ableugnen einer unehelichen Beziehung unmöglich. Die Gemeinde wollte geklärt wissen, wer als Vater galt, das Kind nähren und beerben sollte. Das Gerede versuchte hier also Ordnung in »örtliche Besitz- und Machtgefüge« zu bringen.[34] Wie Ulrike Gleixner zeigt, wurde deshalb je nach Stand und Arbeitssituation der Kindseltern verschieden über uneheliche Schwangerschaften geredet und mit ihnen verfahren: Zunächst versuchte man den Kindsvater herauszukriegen, ihn zu einer Heirat oder zumindest dem Eingeständnis der Vaterschaft zu bewegen. Erst wenn dies unmöglich schien, war die gerichtliche Klärung notwendig. Besaß der Kindsvater jedoch einen sehr viel höheren Stand als die Frau und Macht im Dorf, wurde geschwiegen.[35] War der Kindsvater mobil, ein inzwischen verschwundener Geselle, Knecht oder Soldat, blieb die Frau als Problem. Im südwestdeutschen Raum wurden uneheliche Kinder als ungebührliche Belastung der Armenkassen angesehen. Eine unverbürgerte Frau mit einem unehelichen Kind wurde deshalb ausgewiesen – sie hatte keinen Anspruch auf Almosen. Dies war klar, und von daher gab es auch nicht viel zu reden. Auch ihr Ehrverlust war weniger brisant und das Gerede dadurch begrenzter. Nur wenn, wie bei dieser Gruppe naheliegend, die Frau ihre Schwangerschaft zu verheimlichen schien, galt es einen Kindsmord vorzubeugen. Männer und Frauen warnten die Verdachtsperson vor den Folgen des Kindsmords. Aber anders als es das württembergische Kindsmordreskript von 1658 verlangte, meldete man sie selten dem Amtmann, der sie dann notfalls bis zur Geburt inhaftieren sollte. Das Beharren der Schwangeren auf einer anderen Wirklichkeit hatte Kraft. Und doch sagte eine 70jährige Frau zu Maria Späth, nachdem sie kurzerhand an ihre Brüste gegriffen und diese für weich befunden hatte, man werde ihr bestimmt den Kopf abhauen. Und genauso kam es: Maria wurde enthauptet. Ganz Urach sah ihren Tod.

›Ehebruch in Konstanz‹

Dreißig Jahre später wurde in Konstanz die adelige Maria Anna Barbara Atzenholtz des wiederholten Ehebruchs verdächtigt. Sie sollte eine Affäre mit dem Sohn eines Ratsmitglieds haben, einem Junker und Baumeister.[36] Dessen Mutter hatte schließlich Anzeige erstattet, woraufhin Junker Atzenholtz die immense Summe von 6000 Gulden von ihr forderte und versicherte, die Atzenholtzens wollten »lieber all unser Hab und Gut, ja das Leben selber« verlieren als einen »solchen Schandflecken« tragen. Nicht zuletzt solche drohenden Verleumdungs- und Entschädigungsklagen machten Bürger zu zurückhaltenden Anzeigern. Doch hier schienen die Indizien für sich zu sprechen. Im Gegensatz zu den Meurers in Memmingen bewohnten die Atzenholtzens trotz ihres Standes kein Haus, das Privatheit garantierte. Besonders das Treiben im Gartenhäuslein war von einem Hinterhaus aus überblickbar. »Böser Leute neidhafte Ohren« wurden durch die dichte Bauweise gespitzt, die Zungen zum »Geschwätzwerk« geschärft. Wenn Atzenholtz über das Feld ritt, sah man den vermeintlichen Liebhaber zweimal täglich durch die Hintertür ins Haus gehen und dies über Wochen. Im Gartenhaus speiste, trank und scherzte das Paar. Eine im Hinterhaus wohnende Spitzenwirkerin berichtete, das Barbele, die Feilträgerin, habe gehört, wie der Sohn seine Mutter eine Hure gescholten habe. Die Viehmagd erzählte den Hinterhausbewohnerinnen obendrein, wenn der Liebhaber komme, »sei nichts als auftragen, essen und trinken, von Pasteten und anderem, die Frau verkaufe den neuen Wein und lasse den alten in das Haus und in das Gartenstüblein holen«.

Vor allem das frühere und jetzige Gesinde sowie andere Mägde und die Feilträgerin waren als Zeugen nützlich.[37] Die Treuepflicht erlegte dem Gesinde normalerweise Schweigen auf, doch natürlich erzählten sie Feilträgerinnen oder Viehmägden, die nur die Küche betreten durften, was in der Stube vor sich ging. Feilträgerinnen waren wie Näherinnen an keine Schweigepflicht gebunden, mußten sich aber trotzdem vorsehen, durch Geschwätzigkeit keine Kunden zu verprellen. Deshalb redeten sie vor allem in derselben sozialen Schicht, von der aus sowieso keine Anzeige gegen Bessergestellte gewagt werden konnte.

Bei einer vermeintlich ehebrüchigen verheirateten Frau war eine Schwangerschaft kein Indiz. Also mußten Beobachtungen von Treffen genügen. Und so berichtete die Köchin, sie habe nachts oft Fisch, Braten und Spargel in die Glut stellen müssen und Trauben auf den Tisch. (Dieser Überfluß verärgerte sie vor allem, weil das ihr zugestandene Essen dürftig war.) Direkte Hinweise auf einen Ehebruch hatte nur eine Magd gesehen. Sie hatte das Paar im Bett gefunden, mit ihren »Gesichter(n) zueinander wie zwei Eheleute«. Eine andere Magd, die im vergangenen Jahr bei den Atzenholtzens gedient hatte, wußte weiteres zu berichten. Jedesmal, wenn der Liebhaber gekommen sei, seien nicht nur unverzüglich die Kinder aus der Stube »ausputzt«, sondern auch der beste Wein und allerhand Konfekt geholt worden. Das Bett sei mit zwei Hauptkissen auf das »Beste und Köstlichste« gerichtet worden und am Morgen ganz »verwalet« (zerknittert) gewesen. Auch mit schönen Bändern verschlossene Briefe hatte die Magd dem Liebhaber zugetragen. Richtig beunruhigend war aber das unheimliche Verhalten der Atzenholtzerin. Sie schalt ihren Mann öffentlich einen »alten Teufel«, bei dem liegen zu müssen eine Schande sei. Solche Äußerungen waren »ärgerlich«. Wurde ihr dies vorgehalten, wehrte sich Barbara mit dem blasphemischen Ausruf, es seien Fürsten und »andere Personen viel höheren Standes in der Hölle«, noch dazu viele mit einer weniger zähen Haut, als sie sie besitze. Wenn diese Höllenqualen erleiden könnten, sei sie allemal dazu imstande. Solche Äußerungen schockierten! Ihrer Magd hatte Barbara außerdem einmal ein Pulver gegen das Altwerden gezeigt. Dies erklärte vermutlich ihre Attraktivität für einen jüngeren Mann.

Das Finale folgte bei Barbaras Festnahme. Nun sah die ganze Nachbarschaft, wie ungebührlich sie sich benahm. Das Ratsdekret über ihre Vorladung vor Gericht und die sofortige Inhaftierung warf sie unbesehen aus dem Fenster. Der Stadtknecht wollte sie festnehmen, doch sie ergriff wütend ein Messer. Nur ein Aufgebot der Stadtwehr konnte sie abführen; ein seltener Tumult in der Nachbarschaft. Eine Nacht und einen halben Tag blieb Barbara inhaftiert; dann bewirkten die von ihrem Mann in Bewegung gesetzten Fürbitten von Junkern, anderen hohen Herrn und dem Dompropst ihre Freilassung. Doch der Spott in der Stadt und Nachbarschaft war so groß, daß die Atzenholtzerin sich erst nachts nach Hause schlich. Sie appellierte jedoch an den Rat, das Gerede als ein richtiges »Weibergeschwätz« und eine »Gassenmähr« abzutun – und scheiterte.[38]

›Die Logik des Geredes‹

Je offener abweichendes Verhalten vertreten wurde, desto leichter kam es zu Gerede, das den Angriff auf die Normen verurteilte und Ordnung wiederherstellen wollte. Das Gerede sorgte für eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine Atmosphäre der Vorverurteilung. Es wurde über sehr lange Zeiträume warnend weitergetragen. Das Gerede bestand in dieser ersten Phase vor allem aus dem Austausch des Wissens über den Verdacht und drückte Argwohn über verheimlichte Abweichungen aus. In dieser Phase konnten auch Vorbehalte gegenüber dem Verdacht geäußert werden. Insofern ist es also richtig, Gerede als Meinungsbildungs- und nicht nur als Verurteilungsprozeß zu beschreiben.[39] Nur Informationen aus erster Hand spezifizierten das Gerede in einer zweiten Phase. Eine gerichtliche Anzeige folgte dem Gerede aber in der Regel nur, wenn zu Verdachtsmomenten »substantielle Elemente«, also scheinbar eindeutige Beweise, hinzukamen.[40] Erst wenn diese Beweise existierten und sie auf eine Tat hinwiesen, die die Gemeinschaft deutlich verurteilte, wandelte sich das Gerede zum »Geschrei«, das die Obrigkeit nun nicht überhören konnte und sollte.[41] Denn das »Geschrei« war seit dem Mittelalter eine übliche »Rechts-und Klageform« bei Kapitalverbrechen.[42]

Das Gerede war somit ein kollektiver Informationsprozeß, der die Wahrscheinlichkeit des abweichenden Verhaltens einer Person auslotete. Es war weit davon entfernt, unkontrolliert zu sein und seine eigenen Wahrheiten zu schaffen. Es gab Regeln dafür, wer wie mit wem redete, die vor allem durch den Stand, den Arbeitskontext und die Art der Beziehung der Redenden definiert waren. Geschlecht schien kaum für Unterschiede zu sorgen, obwohl auffällig ist, daß außer in der Familie und Verwandtschaft anscheinend nach Geschlechtern getrennt geredet wurde. Das boshafte, schnatterhafte »Weibergeschwätz« war ein Negativstereotyp.[43] Es versinnbildlichte die unkontrollierte und damit sozial unverständige Rede. Ihr versuchten alle Interaktionsregeln entgegenzuwirken.[44]

Wie wahrscheinlich ein Verdacht letztendlich schien, hing von einer Reihe weiterer Faktoren ab. Wichtig war nicht nur der Ruf der Person selbst, sondern genauso derer, mit denen sie verwandtschaftlich oder freundschaftlich in Verbindung gebracht wurde. Bei Frauen wirkte sich das Fehlen eines schützenden männlichen Familienmitglieds negativ aus. Leute, die von außen kamen und nicht verbürgert waren oder feste Beziehungsnetze geknüpft hatten, konnten – wenn die Beweise gegen sie sprachen – auf wenig Unterstützung hoffen. Bürger waren dagegen meist erst in Gefahr, angezeigt zu werden, wenn sie von schweren Verbrechen nicht abzuhalten waren oder verschiedene »Konfliktpotentiale« auf sich vereinigten, das heißt auf Almosen angewiesen waren oder im Überfluß lebten und zudem unzüchtig, blasphemisch, für ihr Alter untypisch, kaum integriert oder sonst abweichend erschienen.[45] Das Gerede bildet damit nur bedingt die moralisch fundierte Toleranz oder Intoleranz in frühneuzeitlichen Gemeinschaften ab. Gerade aufgrund der räumlichen und sozialen Nähe benötigt diese Gesellschaft das Gerede ebenso wie die Regel, daß man seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten steckte. Eben diese Dialektik von Nähe und Distanz, Wissen und Schweigen verstand die Obrigkeit nicht, wenn sie meinte, aus der Nähe und dem Wissen entsprängen Denunziationen und Moral.

Anzeigeverhalten, außergerichtliche Konfliktlösungen und moralische Normen

Anzeige und Verurteilung stellten also nicht den Horizont des Geredes dar. Überhaupt war der Gang vor Gericht in bezug auf die meisten Delikte nicht der erste, sondern der letzte Gedanke von Opfern und Zeugen.[46] Gerichte wurden von den wenigsten um des abstrakten Erhalts der moralischen Ordnung willen eingeschaltet. Prozeßakten zeigen deshalb die Spitze eines Eisbergs vorhandener Devianz und Delinquenz.[47] Das gängige Anklagemotiv war die Betroffenheit durch einen Tatbestand, der sich außergerichtlich nicht mehr regeln ließ.[48] Entweder waren Vermittlungsversuche durch die Familie, Nachbarn und Freunde gescheitert, oder sie waren unmöglich, der Täter marginalisiert oder fremd.

›Diebstahl‹

Die beste Möglichkeit, die Breite des außergerichtlichen Umgangs mit Delikten zu erfassen, bietet sich beim Diebstahl.[49] Wenn eine Diebin in flagranti ertappt wurde, wurde es gemeinhin als am einfachsten angesehen, ihr das Diebesgut abzunehmen und sie zur Strafe zu schlagen. Agnes Knab wurde 1571 zweimal von den sie einholenden Mägden alles Diebesgut abgenommen und dann laufen gelassen.[50] Frauen trugen keine Waffen, so daß bei der Konfrontation keine Körperverletzung zu erwarten war. Ließ sich eine Diebin festhalten, wurden Schläge ausgeteilt. Sie sollten von einer Wiederholungstat abschrecken. Eine Memmingerin, die von einem Weber Garn gestohlen hatte, wurde beispielsweise so verprügelt, daß sie Jahre später bekannte, »sie sollte es ihr Lebtag nit vergessen«.[51] Manchmal reichte schon ein Diebstahlsverdacht, um auf vermeintliche Diebe loszuschlagen. Eine Hanfkrämerin auf dem Konstanzer St. Konradsmarkt war beispielsweise 1675 durch ein großes Gedränge in Alarmbereitschaft, denn ihr Angebot an Hanf hatte sie nur auf einem Stuhl ausliegen. Kaum kam ihr eine Webersfrau verdächtig vor, schlug sie ihr mit Hanf auf den Kopf und zerrte ihren Hut ab, ohne ihrem Protest zuzuhören.[52] Es war zeitaufwendig, eine Diebin festzunehmen, sie zum örtlichen Bürgermeister oder Amtmann zu bringen, anzuzeigen und ihren Diebstahl zu beweisen. Bei umherziehenden Diebinnen nutzten obrigkeitliche Strafen zudem kaum. Ihnen drohte gewöhnlich nur ein kurzer Gefängnisaufenthalt, eine Schandstrafe und unter Umständen die Verbannung. Letztere kümmerte sie wenig, weil sie ohnehin weiterzogen und andernorts unerkannt blieben. Schand- und Verbannungsstrafen waren also nur bei den wenigen ansässigen Diebinnen wirkungsvoll.

Wenn kein konkreter Tatverdacht bestand, half das Alarmieren der Obrigkeit ebenfalls kaum weiter. Gefahndet wurde nur nach Diebesbanden. Also mußten Opfer ihre eigene Verfolgungstour planen. Da »Kleindiebstähle« in einer Mangelgesellschaft keine Bagatelle waren, zeigten Bestohlene auch eine erstaunliche Einsatzbereitschaft. Als ein Nürtinger Wirt, dem ein Paar braune Strümpfe abhanden gekommen war, hörte, daß eine Frau dieses am nächsten Tag auf dem Tailfinger Markt verkauft habe, machte er sich dorthin auf und stellte die Diebin.[53] Andere gingen gleich zum nächsten Markt und suchten nach dem Diebesgut. Das Cannstatter Schulmeisterehepaar erwischte so 1696 eine Diebin, die bei ihnen »Weiberkleidung« gestohlen hatte und nun auf dem Zuffenhausener Markt verkaufte.[54] Durch die genaue Kenntnis der wenigen Gegenstände, die man besaß, der tausendmal geflickten, gestopften und umgearbeiteten Kleidung, zerbeulten Kupfernäpfe und angestoßenen Krüge, hoffte man auf lange Zeit hin, verlorenes Gut irgendwann wiederzuentdecken. Diebesgut zirkulierte in der Gebrauchtwaren-Ökonomie ständig. Dadurch kam es zu aberwitzigen Situationen: 1698 bekam eine Konstanzerin ein religiöses Kleinod zum Kauf angeboten, das ihre eigene Schwester der Heiligen Mutter von St. Joß gestiftet hatte.[55]

Auch von Siebdrehen oder Diebessegen versprach man sich mehr Hilfe als von Stadtknechten.[56] Segen wurden auf kleinen Zetteln oder mündlich über Generationen weitergegeben. Wahrsager wurden befragt. All dies ahndeten protestantische Obrigkeiten drakonisch. Als der Haller Obrigkeit beispielsweise 1676 zu Ohren kam, daß eine Hebamme wegen eines verlorenen Stück Tuchs zu einem Wahrsager nach Elpershofen gegangen war, sperrte man sie einige Stunden ein und entließ sie von ihrem Amt, weil ein solches »abergläubisches Regiment einer geschworenen Hebamme gar nicht gebühre«.[57] Zwei Monate später verbannte man eine verheiratete Frau, da ein umherziehender Wahrsager aus »Spiegel und Glas« den Verbleib eines Gegenstandes zu ersehen versucht hatte.[58] Diesen Gegenstand vermißte die Frau seit Jahren. Auch dies belegt, daß man Dinge nicht so leicht verloren gab. Man sehnte sie herbei und tat für ihr Wiedererlangen viel, obwohl dies natürlich vom Wert der Gegenstände und der inzwischen vergangenen Zeit abhing. Die meisten Bemühungen waren vermutlich umsonst, denn Diebe waren gewitzt und schnell über alle Berge.

Allein der Diebstahl durch das Gesinde im Haus war besser aufzuspüren. Lebensmitteldiebstahl fiel je nach der Größe der Vorräte mehr oder weniger schnell auf, zudem verzehrte das hungrige Gesinde Brot und Wurst sofort und vertrank den Wein flugs mit Freunden. Entwendete Gegenstände ließen sich leichter entdecken. Sie verschwanden meist in den Truhen der Mägde, um das Heiratsgut aufzubessern. Also sahen Meisterinnen zuerst dort nach. Eine Konstanzer Spenglersfrau tat dies 1696, nachdem ihr wiederholt Geld fehlte. Ihre Magd, eine Taglöhnerstochter aus dem Schwarzwald, schien treu. Doch in den Tiefen der Truhe fanden sich Spitzen und Silberzeug, die sie von der Hälfte des gestohlenen Geldes gekauft hatte.[59] Eine Magd, die teure Gegenstände kaufte, mußte damit rechnen, von Händlern gefragt zu werden, woher sie das Geld habe.[60] Im 17. Jahrhundert wurden Stimmen lauter, die mahnten, man solle die diebischen Mägde als abschreckendes Beispiel für andere öffentlich anprangern. Trotzdem folgten diesem Ruf nur wenige. Auch die ersten Gesetze gegen den Hausdiebstahl wurden erst im 18. Jahrhundert erlassen.[61] Solange der Diebstahl sich im üblichen Rahmen des »Abtrags« von Nahrungsmitteln, Kleidung oder kleineren Wertgegenständen hielt, zogen Meister für gewöhnlich entweder eine Pauschalsumme vom Lohn ab, schlugen die Magd oder entließen sie zusätzlich.[62] Maria Isler wurde 1679 »mit Streichen bezahlt«, als ihr Konstanzer Meister sie beim Diebstahl mehrerer Strumpfpaare ertappte,[63] eine Neckaremser Magd 1680 von ihrem Meister »übel gestossen und geschlagen«.[64] Und so stahlen manche Mägde immer wieder: Ursula Geiger bekannte 1697 in Konstanz, bei ihrem vorigen Meister 9 Gulden gestohlen zu haben und entlassen worden zu sein. Dann diente sie bei einer Kanzleiverwaltersfrau. Wenn diese in die Stadt ging, brach Ursula in den Keller ein, »so mit einem schlechten Schlüsselein verschlossen gewesen und mit einer Gabel leicht aufzutun gewesen«. Wein »versoff« sie »mit ihrer Nebenmagd«, Fleisch und Brot schmeckten gut dazu. Als die Meisterin einen gestohlenen Schurz entdeckte, zog sie Ursula einen Gulden vom Lohn ab und entließ sie. Erst ihr nächster Meister, ein Rotgerber, zeigte sie wegen eines Gelddiebstahls an.[65] Der Abzug vermeintlichen Abtragsgelds vom Lidlohn war Routine und führte auch zu Auseinandersetzungen. So klagte eine ehemalige Bäckersmagd in Hall, ihr seien wegen »eines begangenen geringen Exzesses«, der sich als Apfeldiebstahl entpuppte, drei Gulden am Lidlohn abgezogen worden.[66] Die Tochter eines Haller Kornmessers klagte mit der Unterstützung ihrer Mutter gegen den Gelblinger Pfarrer, der überhaupt jeder Magd rundweg einen Gulden für etwaige Diebstähle vom Lohn abzog![67]

›Ehe, Sexualität und Moral‹

Bei Delikten wie Diebstahl oder etwa Brandstiftung waren Opfer also aus »manifester Betroffenheit« an der außergerichtlichen oder gerichtlichen Verfolgung interessiert. Noch seltener als schon in diesen Fällen wurde kriminelles oder abweichendes Verhalten angezeigt, das die moralische Ordnung bedrohte, aber kein direktes, außenstehendes Opfer forderte.

Dies wurde Obrigkeiten im 16. Jahrhundert schmerzlich bewußt. Die Reformation verstärkte die – seit der Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts vor allem in den Städten aufgekommene – Forderung nach einer »Versittlichung« des alltäglichen Lebens: Fluchen, Spielen und unzüchtige Ausschweifungen etwa wurden nicht länger als unausrottbarer Teil der sündigen menschlichen Seele angesehen. Allein ein Gott gefälliges Leben aller, so schien es, konnte die krisenhaften Zeiten abwenden, Frieden und Wohlstand sichern. Lasterhaftigkeit zu disziplinieren und Gottes Zorn zum Schutz der Gemeinschaft abzuwenden war zur Aufgabe der weltlichen Obrigkeit geworden. Wie aber ließen sich Städte in »rechte Tempel Gottes« verwandeln (so wünschten es sich die Reformatoren in oberschwäbischen Reichsstädten)? Und gar erst ganze Territorien? Schon die spätmittelalterliche Erfahrung lehrte, daß eine Flut von Mandaten gegen Laster aller Art nicht genügte; die Verbote mußten umgesetzt, Schuldige bestraft werden. In einigen Reichsstädten wurde deshalb nach der Reformation das Amt der »Zuchtherren« eingerichtet, die wöchentlich über die Lasterhaften richteten. Doch hier wie in den Territorien war das Grundproblem, die Schuldigen auszumachen. In Konstanz stellte man »Angeber« an, die Mitbürger denunzieren sollten. Sie waren jedoch unbeliebt und immer wieder Gewalttätigkeiten und Beschimpfungen ausgesetzt. Ab 1531 sollten deshalb alle Bürger im Rotationsprinzip diese Aufgabe erfüllen. Doch dem verordneten Denunzieren widmeten sich nur wenige gern und mit Eifer. Fluchen und Schwören waren beispielsweise so in die Sprache eingewoben, daß jeder permanent hätte jeden anzeigen müssen. Und Mehrheitsmeinung war, daß nur jene den Frieden bedrohten, die unablässig, böswillig und unversöhnlich gegen andere fluchten.[68] Selbst Ratsmitglieder, so stellte sich bald heraus, mieden das Zuchtherrenamt. Auch ihnen ging das Versittlichungsprojekt zu weit und war nicht einsehbar, wieso jeder Rausch bestraft werden mußte. Nur in akuten Krisenzeiten verstärkte sich ihre Angst vor Gottes Zorn und damit der Glaube an die notwendige Härte des obrigkeitlichen Strafregiments. In Konstanz erlosch so insgesamt der Elan des ersten Reformationsjahrzehnts unter der Führung der charismatischen Reformatoren Blarer und Zwick bald. Zahlen dokumentieren dies: 1532 brachten 94 Angeber noch 344 Delikte an, die geahndet wurden. 1547 – ein Jahr vor dem Ende der Reformation – war die Zahl bei 100 Angebern auf 172 Fälle gesunken.[69] Nach der Gegenreformation wurde von 1554 bis 1556 und im Jahr 1571 erfolglos versucht, das Zuchtgericht wiederzubeleben.[70]

Auch in Württemberg mußten die Erwartungen an die Versittlichung der Bürger zurückgeschraubt werden, wenngleich das Ziel blieb. 1559 verordnete zunächst die »Politische Zensur-und Rügordnung«, beim jährlichen Vogtgericht zwölf geheime »Rüger« oder Angeber festzulegen. Da ihre Identität aber kaum geheimzuhalten war und Sanktionen der Mitbürger folgten, entfiel diese Bestimmung schon 1567 in der Landesordnung.[71] Nun sollten die Amtsträger, Gerichts- und Ratspersonen, »auch alle und jede der Städt und Flecken Diener, als Büttel, Weinzieher, Wächter, Torwarte, Feldtschützen« Delikte anzeigen. Erst 1642, auf der Höhe des Dreißigjährigen Krieges, der als Strafe Gottes erfahren wurde, pochte man mit pietistischer Strenge wieder auf die allgemeine Denunziationspflicht.[72] Wer Fluchen und Schwören nicht anzeigte, machte sich mitschuldig und strafbar. Erklärend schrieb das entsprechende Reskript, man solle das Anzeigen nicht als ehrenrührig verstehen, dies sei

»keines wegs der gemeinen Einbildung nach, an Ehren verkleinerlich, sondern vielmehr ein Anzeig christlichen löblichen Eifers, zur Erhaltung der Ehre Gottes, und seinen Nächsten vom ewigen Verderben zu erretten«.[73]

Um sicherzugehen, daß die Überwachung klappte, sollten Amtmänner zusätzlich geheime Informanten bestellen, »welche aller Orten und Enden, so viel wie möglich, fleißig und genaue Aufmerksamkeit haben, und Erkundigungen einziehen«. Ihre Belohnung betrug ein Drittel des Strafgelds – und die Strafen wurden gleichzeitig erhöht, was den Widerstand der Bevölkerung allenfalls schürte.[74] Mit diesem Reskript wurden auch Kirchenkonvente eingeführt. Einmal wöchentlich sollten Pfarrer, Amtmann und Ratsabgeordnete in den Amtsstädten nun lasterhafte Untertanen ermahnen oder strafen. Richter und Anbringer hatten wiederum mit dem Widerstand der Bevölkerung zu rechnen; in Herrenberg war 1666 kaum jemand mehr zu diesen Aufgaben bereit, nachdem zwei Anbringern die Fenster eingeworfen und das Feld abgemäht worden waren.[75] Die geistliche Obrigkeit war in die Rolle der dem Staat assistierenden Sittenpolizei gedrängt. Die württembergische Kirchenzucht war deshalb, so Martin Brecht 1967, »von Anfang an eine Tragödie«, und die Tragödie, wie Eberhard Naujocks 1958 formulierte, Zeichen »eine(r) Reaktion der Bevölkerung gegen überspannte Forderungen«.[76] Das obrigkeitlich-pietistische Normensystem blieb der Bevölkerung mit anderen Worten mehrheitlich fremd. Anzeigen wurden schlichtweg nicht als positive und integrative Tat für die Gemeinschaft betrachtet,[77] sondern als Anliegen weniger Individuen, die Eigennutz und Mißgunst motivierte. Auch die Kirchenzucht paßte sich also tunlichst dem gemeindlichen Wertekonsens an: Sie ermahnte und strafte die »Richtigen«.

Dies heißt keineswegs, daß Gemeinden bestimmte Verhaltensweisen nicht sanktionierten. Außergerichtliche Reaktionen auf abweichendes und kriminelles Verhalten umfaßten eine ganze Reihe von Verhaltensmustern, die wir im obrigkeitlichen Justizsystem wiederfinden. Da war zum einen das Ermahnen von Tätern, die Aufforderung zur Besserung, die Drohung und das Verlangen von Reuebezeugungen. Wo dies nicht half oder möglich war, konnten Rügebräuche für die öffentliche Schande einer Person sorgen und eine Verhaltensänderung erreichen; in einer nicht ritualisierten Weise taten dies alle Arten von Spott.[78] Kinder, Frauen, das Gesinde und andere sozial Untergebene wurden für ihre Taten oft geschlagen, wobei leichtere Schläge auf die Demütigung abzielten, Prügel aber bei wiederholten oder schwereren Delikten eingesetzt wurde und beispielsweise Diebe gleichzeitig für immer von einem Ort vertreiben sollte. Dorfgemeinschaften konnten auch marginalisierte ansässige Personen vertreiben, Meister das Gesinde aus dem Haushalt ausstoßen. Es gab also eine dem gerichtlichen Vorgehen analoge Abstufung von Ermahnung, milderen Strafen und einem Besserungsdruck, mehr oder minder öffentlichen Schand- und Körperstrafen sowie schließlich den impliziten oder expliziten Ausschluß von Gemeinschaftsbezügen. Zu Gefängnis-und Todesstrafen gab es dagegen keine verbreiteten analogen Praktiken. Hinter diesen Strafmechanismen steckte die inzwischen bekannte Einstellung: Nicht abstrakte moralische Gesetze waren für die Verurteilung von Menschen ausschlaggebend, sondern der manifeste Schaden der Betroffenen und deutliche Verstöße gegen das friedliche Zusammenleben.