Der Astronom und die Hexe - Ulinka Rublack - E-Book

Der Astronom und die Hexe E-Book

Ulinka Rublack

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Beschreibung

»Ulinka Rublack erzählt filmreif. Beim Lesen meint man, die Stimmen der Hauptfiguren sprechen zu hören.« Elisabeth von Thadden, Die Zeit Deutschland, 1615. Die Mutter des berühmten Astronomen Johannes Kepler wird als Hexe angeklagt. Vor der faszinierenden Kulisse einer Welt im Wandel zwischen Magie und moderner Wissenschaft beschreibt Rublack gleichermaßen fesselnd und bewegend, wie der Vorwurf der Hexerei Familien entzweit. »Rublack zeichnet in prägnanten Exkursen das Sittenbild einer Gesellschaft, die an der Schwelle zu einer vernunftgeleiteten, aufgeklärten Epoche steht.« Anja Leuschner, ZEIT Wissen

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Seitenzahl: 513

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Ulinka Rublack

Der Astronom und die Hexe

Johannes Kepler und seine Zeit

Aus dem Englischen übersetzt von Hainer Kober

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Astronomer and the Witch. Johannes Kepler’s Fight for his Mother« im Verlag Oxford University Press, Oxford

© 2015 by Ulinka Rublack

Für die deutsche Ausgabe

© 2018, 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © akg-images / Science Source

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98243-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11507-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Zeitleiste

Anmerkung zu den Daten

Liste der Abbildungen

Liste der Abkürzungen

Karten

Prolog

Einleitung

Katharinas Leben

Lutherisches Hofleben

Das Jahr der Hexen

Keplers Strategien

Eine Familie reagiert

Seelenbewegungen und Astrologie

Der Prozess nimmt seinen Lauf

Hexen im Land

Katharinas Verhaftung

10 

Keplers Rückkehr

11 

Die Verteidigung

12 

Das Ende des Prozesses

13 

Keplers Traum

Epilog

Endnoten

Zur weiteren Lektüre und Betrachtung empfohlen

Danksagung

Register

Für Francisco

Zeitleiste

mit den wichtigsten Lebensdaten und Veröffentlichungen von Johannes Kepler

1571

Johannes Kepler wird am 27. Dezember in Weil der Stadt geboren; seine Eltern sind Heinrich Kepler und Katharina Kepler, geborene Guldenmann

1575

Die Familie Kepler zieht in das nahe gelegene Leonberg, in das lutherische Herzogtum Württemberg

1578

Johannes Kepler kommt in die örtliche Lateinschule

1579

Die Familie zieht nach Ellmendingen in Baden

1583

Johannes Kepler kehrt nach Leonberg zurück und besteht das Landesexamen in Stuttgart

1584

Johannes tritt in die niedere Klosterschule Adelberg ein

1586

Johannes kommt an die höhere Klosterschule Maulbronn

1589

Johannes schreibt sich an der Universität Tübingen ein

1590

Sein Vater Heinrich stirbt

1591

Er legt das Magister-Examen ab und bleibt in Tübingen, um Theologie zu studieren

Graz

1594

Kepler beginnt, an der protestantischen Stiftsschule in Graz die Söhne Adliger in Mathematik zu unterrichten

1596

Kepler veröffentlicht sein erstes Buch – Mysterium cosmographicum (Das Weltgeheimnis)

1597

Er heiratet die Lutheranerin Barbara Müller

1600

Johannes und Barbara werden gezwungen, Graz im Oktober zu verlassen

Prag

1600

Johannes Kepler arbeitet mit Tycho Brahe zusammen

1601

Apologia Tychonis contra Ursum

1601

Tycho stirbt, und Rudolf II. ernennt Kepler zum kaiserlichen Mathematiker

1602

Geburt der Tochter Susanna

1604

Veröffentlichung der Abhandlung über Optik

1606

Veröffentlichung von De stella nova (»Vom neuen Stern«)

1607

Geburt des Sohns Ludwig

1609

Johannes Kepler reist nach Württemberg, veröffentlicht die Astronomia nova (»Neue Astronomie«) und beendet eine Abhandlung über Astrologie, Tertius interveniens

1610

Er antwortet auf Galileis Entdeckungen in seiner Dissertatio cum nuncio sidereo (»Unterredung mit dem Sternenboten«)

1611

Barbara Müller stirbt; Veröffentlichung von Dioptrice (»Dioptrik«)

1612

Rudolf II. stirbt

Linz

1612

Wegen der Gegenreformation muss Johannes Kepler Prag mit seinen Kindern verlassen. Er erhält eine neue Stellung als Mathematiker der Oberösterreichischen Stände in Linz

1613

Er heiratet seine zweite Frau Susanna Reuttinger

1615

Katharina Kepler wird wegen Hexerei angeklagt

1617

Johannes Kepler reist nach Württemberg, um seiner Mutter zu helfen

1617–​1630

Ephemerides novae

1618

Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs; Kepler beginnt, sein Lehrbuch Epitome astronomiae copernicanae zu veröffentlichen

1619

Veröffentlichung seines Hauptwerks Weltharmonik (Harmonice mundi)

1620

Johannes Kepler reist nach Württemberg, um seine Mutter zu verteidigen

Anmerkung zu den Daten

Der gregorianische Kalender wurde in den katholischen deutschen Ländern 1582 eingeführt, nachdem Papst Gregor VIII. seine Bulle Inter gravissimas veröffentlicht hatte; das hatte zur Folge, dass zehn Tage sofort gestrichen wurden und entsprechend einem exakten Zeitplan in den folgenden Jahrhunderten weitere Tage entfielen. Allerdings hielten sich die meisten protestantischen Territorien, unter ihnen auch Württemberg, weiterhin an den julianischen Kalender. Folglich gab es eine Diskrepanz von mehr als zehn Tagen zwischen protestantischen und katholischen Gebieten.

Liste der Abbildungen

Abb. 1

Johannes Kepler, Porträt, in: Jean Jacques Boissard, Bibliotheca chalcographica, 1650–​1654, nach einem Stich von Jacob van der Heyden aus dem Jahr 1620

Abb. 2

Albrecht Dürer, frühe Darstellung einer alternden Hexe, die rückwärts auf einer Ziege reitet und schlechtes Wetter macht, Radierung, ca. 1500

Abb. 3

Aus Birnenholz geschnitzte Statue einer sinnenden Frau, Süddeutschland, 1520–​1525

Abb. 4

Holzschnitt aus Keplers Lehrbuch Epitome

Abb. 5

Holzschnitt, der eine Ernte in Württemberg zeigt, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 6

Rekonstruktion Leonbergs im späten 16. und im 17. Jahrhundert

Abb. 7

Marktplatz in Leonberg mit dem Rathaus rechts im Bild (ca. 1480) und dem 1566 verzierten Brunnen

Abb. 8

Epitaph für den wohlhabenden Leonberger Bürger Sebastian Dreher

Abb. 9

Leonberger Haus, ähnlich demjenigen, in dem Katharina Kepler mit ihrem alten Vater und ihren Kindern gelebt haben dürfte

Abb. 10

Großer Saal im Neuen Lusthaus in Stuttgart, Radierung, 1619

Abb. 11

Das Württemberger Wunderbad in Bad Boll, ca. 1644

Abb. 12

Früheste Darstellung des Heilbads und des Friedrichsgartens in Boll, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 13

In Boll ausgegrabene Fossilien, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 14

Das Interesse an der Beobachtung der Natur und ihrer von Gott geschaffenen Vielfalt erstreckte sich nun auch auf Insekten, Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 15

Petasites (Pestwurz), dargestellt von Leonhart Fuchs in seiner De historia stirpium, Holzschnitt, 1542

Abb. 16

Sibylla von Anhalt, Herzogin von Württemberg, Öl auf Leinwand

Abb. 17

Herzogin Sibyllas Garten in seiner gegenwärtigen Gestalt

Abb. 18

Kurfürst Friedrich von der Pfalz und Elisabeth Stuart als junges Paar, Stich von Renold Elstrack, 1613–​1614

Abb. 19

Das Haus des königlichen Vogts in Leonberg, wo Katharina zum ersten Mal mit der Anschuldigung konfrontiert wurde, sie sei eine Hexe

Abb. 20

Das Wappen des Vogts von Einhorn

Abb. 21

Johannes Kepler, Modell eines Trinkbechers mit Zapfhähnen, die Verbindungen zur Sonne in der Mitte aufweisen

Abb. 22

Johannes Kepler, Modell eines heliozentrischen Universums

Abb. 23

Darstellung des Tübinger Astronomieprofessors und wichtigsten frühen Förderers von Johannes Kepler, Michael Mästlin, im Alter von fünfundvierzig Jahren, 1596

Abb. 24

Tobias Stimmer, Astronomische Uhr im Straßburger Münster nach der Renovierung durch Conrad Dasypodius, Stimmer und andere, 1571–​1574, Holzschnitt, 1574

Abb. 25

Johannes Kepler, Holzschnitt aus Astronomia nova zur Entfernungsberechnung

Abb. 26

Seite aus Heinrich Schickhardts Inventar

Abb. 27

Babyrassel aus vergoldetem Silber, mit Wolfszahn zur Abwehr von Krankheiten, Süddeutschland, 17. Jahrhundert

Abb. 28

Üppig koloriertes Flugblatt über den Kometen von 1618

Abb. 29

Johannes Kepler, Titelseite der Weltharmonik, deren vierter Teil sich auch mit psychologischen Fragen beschäftigt

Abb. 30

Johannes Kepler, Weltharmonik, Ausschnitt aus der Passage über seine Mutter als Urheberin der Wirren in Leonberg

Abb. 31

Darstellung eines nächtlichen Hexensabbats an einem wüsten Ort, der von ganzen »Rotten« neuer Hexen besucht wird, Broadside, ca. 1630

Abb. 32

Friedrich, Kurfürst von der Pfalz, als König von Böhmen, mit Prag im Hintergrund, Kupferstich von Matthäus Merian, ca. 1620

Abb. 33

Holzschnitt in: Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612

Abb. 34

Johannes Kepler auf einem Porträt, das 1620 für Bernegger angefertigt wurde

Abb. 35

Michael Mästlin als alter Mann auf einem Bild für die Galerie Tübinger Professoren, 1619

Abb. 36

Wilhelm Schickard, Keplers Freund und Mitarbeiter während des Prozesses

Abb. 37

Der Jurist Christoph Besold, porträtiert von seinem Freund Wilhelm Schickard, 1618

Abb. 38

Seite aus Keplers abschließender Verteidigungsschrift für seine Mutter mit seinen Randbemerkungen

Abb. 39

Seite aus Keplers Der Traum, mit Fußnoten

Abb. 40

Brunnenfigur der Katharina Kepler in Eltingen

Abb. 41

Rudolf Sirigatti, Büste seiner Mutter Cassandra, mit der Widmung: »Rudolfo, den ich gebar, schuf dies als Zeichen seiner Liebe«, Marmor, 1578

Liste der Abkürzungen

Caspar und von Dyck

Max Caspar, Walther von Dyck (Hg.), Johannes Kepler in seinen Briefen, München 1930, 2 Bde.

Frisch, Opera

Christian Frisch (Hg.), Joannis Kepleri astronomi opera omnia, Frankfurt am Main/Erlangen 1858–​1871.

HStASt

Hauptstaatsarchiv Stuttgart

KGW

Johannes Kepler, Gesammelte Werke, hg. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1937–2017.

Pfeilsticker, Dienerbuch

Walther Pfeilsticker, Neues württembergisches Dienerbuch, Stuttgart 1957–​1974.

StAL

Stadtarchiv Leonberg

UAT

Universitätsarchiv Tübingen

WLB

Württembergische Landesbibliothek

Karten

Prolog

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Welt von Johannes Kepler (1571–​1630), einem der berühmtesten Astronomen, der je gelebt hat. Kepler verteidigte das kopernikanische Weltbild, dem zufolge sich die Planeten um die Sonne drehen. Er entdeckte, dass sie diese in Ellipsen umrunden, und stellte die drei Gesetze der Planetenbewegung auf. Um diese Leistungen zu würdigen, hat man einen Planeten, eine NASA-Mission und ein Weltraumteleskop nach ihm benannt. New York hat seine Kepler Avenue, Rom die Via Giovanni Keplero und Paris die Rue Kepler. Johannes Keplers erstaunlich weit gespanntes Werk liegt in fünfundzwanzig großformatigen Bänden vor und umfasst bahnbrechende Forschungsarbeiten zur Optik und Mathematik sowie Schriften über Astrologie und Religion. Eine Oper, die (1)Philip Glass komponiert hat, entführt Menschen rund um den Globus in die Gedankenwelt eines Mannes, der alles daransetzte, Glauben und Vernunft miteinander zu versöhnen. Mehrere Romane beschäftigen sich mit Kepler, doch eine der faszinierendsten Episoden in der Biografie dieses Mannes wartet noch auf eine angemessene Untersuchung und zeigt uns den Astronomen und seine Zeit in einem neuen Licht.

◇ ◇ ◇

Am 29. Dezember 1615 treffen wir Johannes Kepler in der oberösterreichischen Stadt Linz an, in der er mit seiner Familie lebte. Er war gerade vierundvierzig geworden und bereitete sich auf die Neujahrsfeierlichkeiten vor, eine wichtige Zeit im Jahr, in der Gönner und Freunde mit Grüßen und Geschenken bedacht wurden. Plötzlich klopfte ein Bote an die Tür und übergab ihm einen Brief, der drei Monate zuvor abgeschickt worden war. Als Kepler die Handschrift seiner Schwester erkannte, entfaltete der hoch angesehene Mathematiker der großen Habsburger Kaiser rasch das verschlissene Papier. Die Nachricht hätte kaum schlimmer sein können: Seine betagte Mutter war der Hexerei angeklagt worden und hatte die Ankläger augenblicklich wegen Verleumdung angezeigt. Darüber hinaus war der württembergische Vogt an der Anklage beteiligt und die Fraktion gegen Katharina Kepler entsprechend stark. All dies hatte sich bereits im August ereignet. Johannes Kepler war außer sich, weil seine Geschwister ihn nicht sofort benachrichtigt hatten, und vermutete, dass das noch nicht das Ende jener Geschichte war (Abbildung 1).

Schließlich fanden sich vierundzwanzig Zeugen aus dem Städtchen Leonberg, die gegen Katharina Kepler aussagten, einschließlich des örtlichen Lehrers, der ein Schulkamerad ihres prominenten Sohns gewesen war. Er beklagte sich, die des Lesens und Schreibens unkundige Witwe habe ihn ständig mit dem Wunsch belästigt, er möge ihr die Briefe vorlesen, die Johannes aus Prag geschickt hatte (wo der Mathematiker damals in Diensten von Kaiser (1)Rudolf II. stand). Sie sei auch mittels Zauberei durch geschlossene Türen gegangen und habe ihn aufgefordert, für sie einen Brief an Johannes zu schreiben. An einem Tag hatte Katharina den Lehrer angeblich auf der Straße angehalten, obwohl er auf dem Weg in die Kirche war. »Ihr habt so viel für mich getan, und ich habe einen sehr guten Wein in meinem Keller. Kommt und trinkt einen Schluck«, bat ihn die alte Frau. Er habe an dem Getränk nur genippt, aber sofort Schmerzen in seinen Oberschenkeln verspürt. Schon bald habe sich der Schmerz so weit ausgebreitet, dass er beim Gehen zwei Stöcke habe zur Hilfe nehmen müssen. Schließlich sei er gelähmt gewesen.

Die Ermittlungen, die zu einem Strafprozess gegen Katharina führten, beschäftigten Johannes Kepler sechs Jahre lang. Er stand zu dieser Zeit auf der Höhe seiner beruflichen Laufbahn. In der bahnbrechenden Arbeit, die Kepler damals zur Veröffentlichung vorbereitete, der Weltharmonik, präsentierte der Autor sich selbstbewusst als der ideale Interpret des Universums. Er behauptete, Gott habe sechstausend Jahre lang auf einen »geeigneten Betrachter« gewartet, der seine göttlichen Baupläne vollständig verstehe. Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung der Weltharmonik wurde Katharina in den frühen Morgenstunden des 7. August 1620 von ihrer Tochter geweckt. Der herzogliche Vogt und seine Männer seien gekommen, um sie in Gewahrsam zu nehmen; sie solle sich rasch verstecken. Als man sie fand, lag die dreiundsiebzigjährige Frau nackt unter ihrem Bettzeug in einer großen Truhe. Auf des Herzogs Befehl wurde Katharina ins Gefängnis gebracht.

Abbildung 1: Johannes Kepler, Porträt, in: Jean Jacques Boissard, Bibliotheca chalcographica, 1650–​1654, nach einem Kupferstich von Jacob van der Heyden aus dem Jahr 1620. © Cambridge University Library.

Im selben Jahr übernahm der kaiserliche Mathematiker offiziell die Verteidigung seiner Mutter vor Gericht. Kepler unterbrach sein gesamtes Leben in Linz, verstaute seine Bücher, Papiere und Instrumente in Kisten, zog mit seiner Familie nach Süddeutschland und verbrachte dort fast ein Jahr mit dem Versuch, seine Mutter aus dem Gefängnis zu holen. Doch selbst seine engsten Freunde rechneten nicht damit, dass er Katharina vor dem Scheiterhaufen bewahren würde.[1]

◇ ◇ ◇

Ihr Pessimismus war gerechtfertigt. Katharina Kepler wurde zu einer Zeit angeklagt, in der die Menschen große Angst vor Hexen hatten und die Frauen, die als solche galten, oft erbarmungslos verfolgt wurden. Mit Zahlen ist es bekanntlich schwierig, aber selbst die verlässlichsten Schätzungen sind schockierend. Zwischen 1500 und 1700 wurden in ganz Europa ungefähr dreiundsiebzigtausend Männer und Frauen wegen Hexerei angeklagt und vierzigtausend bis fünfzigtausend von ihnen hingerichtet. Innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschland wurden von 1560 bis zum Ende der Hexenverfolgung etwa zweiundzwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Menschen hingerichtet – fünfundsiebzig Prozent der Angeklagten waren Frauen. 1631 schrieb der Jesuit (1)Friedrich Spee, ein früher Kritiker der Hexenverfolgungen, anonym: »In Deutschland werden mehr Hexen vermutet als andernorts, überall brennen die Scheiterhaufen.«[2]

Katharina Kepler, eine Witwe, die zwar weder lesen noch schreiben konnte, aber nicht arm war und seit vielen Jahren in ihrer lutherischen Gemeinde lebte, wurde eine der vielen Tausend Deutsch sprechenden Frauen, die am Ende ihres Lebens einen solchen Prozess über sich ergehen lassen mussten. Vehement bestritt sie, Gifttränke zusammengebraut zu haben, die Freunden und Nachbarn tödliche Krankheiten bringen sollten. Wie andere, die in den Strudel solcher nachbarschaftlichen Anschuldigungen gerieten, sahen sich auch die Keplers plötzlich in ein Familiendrama verstrickt, das sie auf sich nehmen mussten, um ihre Mutter zu retten.

Als die Anklage gegen seine Mutter erhoben wurde, machte sich Johannes Kepler keine Illusionen darüber, wie prekär seine eigene Lage war. Viele seiner Ideen standen im Widerspruch zu den zentralen Auffassungen seiner Zeit, einer Ära erbitterter religiöser Gegensätze. Die Protestanten waren in zwei große Lager gespalten: Das eine hing der Lehre des deutschen Reformators (1)Martin Luther an, das andere folgte den Auffassungen des Franzosen (1)Johannes Calvin. Gelegentlich verabscheuten sie sich gegenseitig genauso heftig, wie sie Katholiken hassen konnten, und stellten Glaubenssätze auf, die jeder, der unter dem Dach der jeweiligen Kirche geboren wurde, strikt befolgen musste. Katharina hatte Johannes als Lutheraner erzogen. Doch als Jugendlicher hatte er mit einer der schwierigsten Glaubensvorstellungen gerungen – der Auffassung, dass Christus allgegenwärtig und beim Abendmahl, wenn die Gläubigen Brot und Wein empfingen, wahrhaftig anwesend sei. Als Erwachsener weigerte er sich aus diesem Grund lange, die Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche – die Konkordienformel von 1577 – zu unterzeichnen. Daher galt Kepler vielfach als Anhänger der Calvinisten. Heutzutage sind den meisten Christen solche doktrinären Auseinandersetzungen herzlich egal, doch die Theologen in Keplers Heimat Württemberg warnten den Mathematiker, die Grenzen seines Berufs nicht zu überschreiten und die Finger von allen religiösen Spekulationen zu lassen. Dieser vermeintliche Dissens war der Grund, warum ihm seine Alma Mater, die Universität Tübingen, nie eine Stellung anbot.

Als Kaiser (2)Rudolf II. im Januar 1612 starb, engten sich Keplers berufliche Möglichkeiten weiter ein. Rudolf hatte an seinem Hof eine ungewöhnlich heterodoxe und tolerante Atmosphäre intellektueller Betätigung geschaffen. (1)Matthias, der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, beließ Kepler auf seinem Posten, sodass dieser die Umlaufbahnen der Himmelskörper weiterhin anhand seiner Beobachtungen berechnen konnte. Gleichzeitig aber betrieb Matthias in den Habsburger Ländern die kriegerische Durchsetzung des Katholizismus. Dadurch wurde es für Kepler unmöglich, als Protestant in Prag zu leben.

Dank der Unterstützung einiger adliger Gönner konnte Kepler ab 1612 an einer winzigen Schule in der lutherischen Enklave Linz, der oberösterreichischen Landeshauptstadt, unterrichten. Im Rahmen einer zusätzlichen Tätigkeit als »Landschaftsmathematiker« reiste er in den Bergen und Dörfern umher, um eine Karte der Region anzufertigen. Das tat aber seinem internationalen Ruf keinen Abbruch; 1616 wurde ihm sogar eine Stellung an der Universität Bologna angeboten. Aber wie sollte er die annehmen? Er wusste nur zu gut, dass italienische Gelehrte, die die kopernikanische Auffassung vertraten, die Erde drehe sich um die Sonne, von der katholischen Kirche der Ketzerei verdächtigt wurden und Gefahr liefen, vor die Inquisition gebracht zu werden. (1)Giordano Bruno, der heterodoxe dominikanische Mathematiker (der Kepler entsetzte, weil er an die kosmische Unendlichkeit und das Chaos glaubte), war 1600 in Rom verbrannt worden. (1)Galileo Galilei, für dessen Ideen sich Kepler in seinen Schriften eingesetzt hatte, wurde 1616 vom Heiligen Offizium gezwungen, zu erklären, dass er gewillt sei, »die besagte Auffassung ganz aufzugeben, dass nämlich die Sonne das Zentrum der Welt sei und unbeweglich und dass die Erde sich bewegt; noch sie zukünftig zu behaupten, zu lehren oder zu verteidigen in irgendeiner Weise, weder in Wort noch Schrift«. Schon bald wurden Keplers eigene Werke auf den römischen Index gesetzt, weil er nicht nur behauptete, dass die Erde sich um die Sonne bewege, sondern auch, dass die Erde eine Seele besitze und also lebendig sei.[3]

Im Januar 1616 schrieb Kepler an den Magistrat der württembergischen Stadt Leonberg, dass sich seine »geliebte, betagte Mutter« in ihrem Alter zunehmend »der Bequemlichkeit beraubt« sehe. Er gab zu, dass er befürchtete, sie könnte sich zu unüberlegten Äußerungen hinreißen lassen, die ihr die Folter durch schlecht ausgebildete Richter oder sogar den Tod einbringen könnten. Es folgten einige verärgerte Bemerkungen über den Zusammenhang zwischen seinem eigenen Schicksal und dem seiner Mutter:

… offenbar scheint der Bericht anzudeuten, dass auch ich verbotener Künste angeklagt werde, sodass diese schamlose Gegenpartei, aufgeblasen durch wer weiß was für Trinkrituale, mich und meine fünfzehn Jahre in kaiserlichen Diensten gewissermaßen übers Haus geblasen hat und darauf aus ist, meiner Mutter das Herz gänzlich aus dem Leib zu reißen.[4]

Selbst für jene Zeit war das eine eigenartige Wortwahl. Sie zeigt, wie tief Keplers Furcht saß, der Fall könnte all seine Verdienste zunichtemachen und Katharina vollkommen zugrunde richten. Daher bat er wenig später um die Erlaubnis, nach Württemberg reisen und unter Einsatz seines Lebens und Eigentums für das Recht seiner Mutter zu streiten. Als Nächstes würde er alle Freunde, Förderer und die Menschen, deren Gunst er sich erworben hatte, mobilisieren. Die Gerechtigkeit sollte siegen.

Einleitung

Dieses Buch führt in eine entrückte Welt, in der fast jeder glaubte, dass es Hexen und den Teufel gibt (Abbildung 2). Seit Mitte der 1970er-Jahre versuchen Historiker, die geistige Verfassung von Gesellschaften zu erklären, die sich auf dem Höhepunkt der Verfolgungen, zwischen 1580 und 1650, außergewöhnlichen Herausforderungen gegenübersahen. Durch klimatische Veränderungen, die dazu führten, dass auf extrem kalte Winter- und Frühjahrsperioden relativ kalte und regnerische Sommer folgten, kam es über mehrere Jahre hinweg zu Missernten. Kepler sagte für das Jahr 1595 einen dieser strengen Winter voraus und berichtete später, österreichische Hirten seien mit erfrorenen Nasen heimgekehrt, die in Stücke zerfallen seien, als sie sie geputzt hätten. Ihre Gliedmaßen hätten zu faulen begonnen, und schließlich seien die Männer gestorben.[1] Die Hagelstürme waren so heftig, dass sie nicht nur Ernten und Vieh vernichteten, sondern auch Kirchtürme und andere Gebäude zerstörten. Durch das Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert wurden Ressourcen und Arbeitsplätze knapper. Die Preise stiegen, Hunger breitete sich aus, Pest und andere Krankheiten brachten den Tod.

Jeder konnte es mit Hexerei zu tun bekommen. In einigen Regionen begann diese schreckliche Vorstellung das soziale Vertrauen zu untergraben. Das Unheil konnte durch Berührungen übertragen werden, aber auch durch scheinbar harmlose Geschenke: einen Apfel, einen Kuchen oder ein Getränk. Hexen konnten Nachbarn, Freunde oder Hausangestellte sein, die zum Hexensabbat in Massen zusammentrafen und mit Teufeln verkehrte Messen feierten. Die Bilder und reißerischen Schriften des 16. Jahrhunderts machten aus der furchterregenden Figur der dämonischen Hexe ein missgünstiges altes Weib auf einem Besenstiel, das wild entschlossen ist, alle Fruchtbarkeit zu vernichten, und sich beim Hexensabbat zügellosen Tänzen hingibt.[2]

◇ ◇ ◇

Abbildung 2: Albrecht Dürer, frühe Darstellung einer alternden Hexe, die rückwärts auf einer Ziege reitet und schlechtes Wetter macht, Radierung, ca. 1500, 11,4 × 7,1 cm. © Trustees of the British Museum.

Dank genauer Forschungen können wir nachvollziehen, wie sich die Hexenverfolgung im Lauf der Jahre verschärfte. In einer kleinen lutherischen Grafschaft bei Württemberg kam es zwischen 1562 und 1564 zur ersten großen Welle mit mehr als sechzig Hinrichtungen wegen Zauberei.[3] Überaus besorgt äußerte der Arzt (1)Johann Weyer die Ansicht, Hexen seien verblendete, häufig depressive Frauen, die dringend einer medizinischen Behandlung bedürften. Ihr Pakt mit dem Teufel (den er für real hielt), bestehe nicht zwischen gleichberechtigten Partnern, sondern beruhe auf Macht und Angst. Er könne nicht Gegenstand einer weltlichen Strafe sein. Doch wegen der langen Periode von Missernten, die Deutschland und andere Teile Europas zwischen 1569 und 1575 erlebten, blieben Weyers Bedenken weitgehend ungehört.[4]

Zwischen 1580 und 1599 nahm die Verfolgung extreme Ausmaße an. Im katholischen Erzbistum Trier wurden Hunderte von Menschen angeklagt. In der großen Region waren alle Ernten bis auf zwei vernichtet worden. Zu den Opfern, die aus allen Schichten kamen, gehörten neben Frauen auch eine beträchtliche Zahl von Männern. (1)Peter Binsfeld, Weihbischof von Trier, war der erste Geistliche seit (1)Heinrich Kramer, dem Verfasser des berüchtigten Hexenhammers aus dem Jahr 1486, der ein aktualisiertes, praktisches Handbuch vorgelegt hatte, mit dem sich die Hexenverhöre durch Leitfragen zum Sabbat strukturieren ließen. Nach Binsfelds Ansicht rechtfertigte eine einzige Denunziation durch eine für schuldig befundene Person die Folter aller Verdächtigten, die jene erwähnt hatte. Dieses Verfahren führte zu Massenprozessen.[5]

Zeitgleich wandte sich der französische Staatstheoretiker (1)Jean Bodin entschieden gegen (2)Weyers These, Hexen seien eine gefährliche Sekte, die von männlichen Hexenmeistern organisiert werde. Bodin hielt das Verbrennen von Hexen für eine wirksame Maßnahme zur Rettung des Landes.[6] Auch im Herzogtum Lothringen wurden Hexen jetzt unbarmherzig verfolgt. Zwischen 1580 und 1630 resultierten aus kommunalen Klagen in jedem Jahrzehnt bis zu dreihundert Zaubereiprozesse, von denen bestürzende achtzig Prozent mit Todesurteilen endeten. Ein Ankläger meinte, sein Fallmaterial liefere »über jeden Zweifel erhabene Beweise« dafür, dass Frauen und Männer anderen Menschen durch teuflische Praktiken realen Schaden zufügen könnten.[7]

Zwanzig Jahre nach Beginn dieser Massenhinrichtungen legte der gelehrte Jesuit (1)Martin Delrio eine der einflussreichsten dämonologischen Abhandlungen vor. Seine Schrift Disquisitionum magicarum (1600) war nicht nur ungewöhnlich umfangreich, sondern enthielt auch entsetzliche Fallbeschreibungen. Einmal wird höchst anschaulich geschildert, wie die zehn Monate alte Tochter eines Arztes fast gestorben wäre, weil jemand ständig »Werkzeuge der Bosheit« wie Knochen und Koriandersamen in ihr Kinderbettchen gelegte habe. Der Mann ließ zweimal einen Exorzisten kommen und seine Frau vermutete, dass, weil ihre geliebte Tochter »sehr anziehend« sei, die Ursache »in der Eifersucht oder dem bösartigen Hass einer zauberkräftigen alten Frau« liegen müsse. Delrio lieferte eine anschauliche Schilderung des Hexensabbats und erinnerte, dem Beispiel (2)Binsfelds und (2)Bodins folgend, allzu nachsichtige Richter daran, dass Gott sie dazu aufgerufen habe, das böse Hexenheer auszurotten.[8]

Nicht alle in Europa oder Deutschland waren mit solch militanten Ansichten einverstanden. In Bayern lösten die seit den 1590er-Jahren ansteigenden Verfolgungszahlen heftige Debatten über die Frage aus, ob es notwendig und gerecht sei, Hexen hinzurichten und die von ihnen denunzierten Menschen zu verhaften. Viele angeklagte Frauen widerriefen mutig ihre (gewöhnlich durch Folter abgepressten) Aussagen. Einige beteuerten, Gott selbst werde jene bekämpfen, die »sie in Hexen zu verwandeln trachteten«.[9]

Führende Theologen in Württemberg vertraten eine schlüssige Auffassung: Ihr Leben lang hörten Katharina und Johannes Kepler, dass Hagelstürme, Erdbeben, Gewitter, Überschwemmungen und Hungersnöte nicht durch Hexen verursacht würden, sondern zu den schrecklichen Strafen gehörten, die auf Gottes Vorsehung zurückgingen. Christen müssten die himmlischen Zeichen deuten, indem sie sie auf ihre eigenen Sünden bezögen und Reue zeigten. Unmittelbar nach einem Unwetter, das im Mai 1613 Weinberge und Äcker verwüstet hatte, ermahnte der Tübinger Geistliche (1)Johann Georg Sigwart die Menschen, ihre Sünden zu bereuen, dann werde ihnen schließlich die Gnade eines strengen, väterlichen Gottes zuteil, so wie Sonnenschein auf Regen folge. Warum, so fragte Sigwart, lässt Gott als allmächtiger Lenker des Universums Hexen zu? Er werde einfach vom Teufel überlistet, diesem »scharffpsinnige[n] un geschwinde[n] Naturkündiger«, der vorhersagen könne, wann Gott sich anschicke, die Menschen zu strafen. Dann fordere der Teufel seine stets bereite Hexenhorde auf, ihre Zaubertränke und Salben anzumischen. Dadurch werde den verblendeten Frauen vorgegaukelt, ihre eigenen teuflischen Mittel könnten Naturkatastrophen hervorrufen.[10]

Obwohl lutherische Pfarrer glaubten, Hexen verdienten es durchaus, wegen ihrer böswilligen Absichten hingerichtet zu werden (und nicht, weil sie tatsächlich Schaden anrichteten), begnügten sie sich meist mit dem Hinweis, Gott selbst werde beim Jüngsten Gericht schon die Spreu vom Weizen zu trennen wissen. Die Tübinger Rechtsprofessoren waren der gleichen Meinung. Dank diesem vorsichtigen Ansatz kam es zwischen 1560 und 1750 in Württembergs Gerichten nur bei sechshundert Frauen und Männern zu Befragungen und Anklagen; hingerichtet wurden lediglich einhundertsiebenundneunzig Personen – was zwar immer noch beträchtlich ist, aber doch gering im Vergleich zu den dreitausendzweihundert Hexen, die in den anderen dreihundertfünfzig Territorien, aus denen Südwestdeutschland zwischen 1561 und 1670 bestand, mit dem Tod bestraft wurden.[11]

◇ ◇ ◇

Zu vielen dieser Hinrichtungen kam es im Zuge einer vierten großen Welle von Hexenprozessen in Deutschland, die sich zwischen 1607 und 1617 in einer Dekade ständiger Preissteigerungen ereignete. In dieser Zeit wurden auch die Keplers in die Verfolgungen verwickelt. Wie dramatisch die Geschehnisse waren, verdeutlicht der Umstand, dass während dieses Jahrzehnts in dem kleinen Territorium Ellwangen zwei Henker fest angestellt waren, die ausschließlich dafür zuständig waren, Hunderte von Hexen und Hexern zu foltern und zu verbrennen. Ellwangen war weniger als hundert Kilometer vom Wohnort Katharina Keplers entfernt. In den Jahren 1611 und 1612 wurden fast dreihundert Frauen und Männer wegen Zauberei hingerichtet. Männliche und weibliche Familienangehörige der Opfer wurden festgenommen, weil man glaubte, es handele sich um ein erbliches Verbrechen.[12] Dieses massenhafte Töten zeigte, wie leicht die Spirale aus Gerüchten, Denunziationen und Folter außer Kontrolle geriet. Sogar im gemeinhin vorsichtigen Württemberg glaubte man, dass einige Anschuldigungen zu dringlich waren, um sie zu ignorieren.

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Abbildung 3: Diese Statue einer sinnenden Frau mit deutlich herausgearbeiteten Schultern, geäderter Haut, schlaffen Brüsten und Hautfalten am Bauch zeigt, wie sehr die Faszination für eine naturalistische Darstellung von Schönheit auch die Auseinandersetzung mit dem alternden mütterlichen Körper prägte; 15,9 cm, Süddeutschland, 1520–​1525, Birnenholz geschnitzt, teilweise pigmentiert. © Victoria and Albert Museum.

Wenn man Katharina Keplers Fall in allen Einzelheiten rekonstruiert, entfaltet sich das Leben in einem lutherischen Herzogtum und einer seiner kleinen Städte wie unter einem Vergrößerungsglas. Der Fall Kepler gehört zu einem der am besten dokumentierten Hexenprozesse Deutschlands. Der Berühmtheit ihres Sohns ist es zu verdanken, dass seit ihrer Entdeckung 1820 zwei dicke Bündel unversehrter Protokolle im Stuttgarter Staatsarchiv bewahrt wurden. Außerdem ist die Stadt, in der Katharina lebte, außergewöhnlich gut dokumentiert. Daher können wir ihre Welt mitsamt ihren Überzeugungen sehr genau nachzeichnen. Dazu gehört auch, dass wir verstehen, was für die Menschen damals von Bedeutung war: wie die einfachen Leute lebten, sich ernährten, ihre Kinder erzogen, wonach sie strebten, wie sie Konflikte lösten, welche Vorstellungen sie sich von übernatürlichen Erscheinungen machten und wie sie Arzneimittel herstellten. Niemand litt in dieser Epoche unter unerklärlichen kollektiven »Wahnvorstellungen« oder lebte in einem »freudschen Disneyland«, wie ein Historiker behauptet. Auch gibt es keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, die örtlichen Richter hätten »Keplers wissenschaftliche Erkenntnisse nicht verstehen können« und hätten deshalb, wie es in dem einzigen zu diesem Thema in englischer Sprache vorliegenden Buch heißt, »ihre Vorurteile durch lutherische wie katholische Kirchendogmen ergänzt, um sie als Argumente gegen seine Mutter zu verwenden«. Diese Argumente sind eine historische Erfindung.[13] Umfangreiches Quellenmaterial, auch über andere Hexenprozesse, breitet vor unseren Augen ein Panorama frühneuzeitlichen Lebens und noch dazu ein ergreifendes Drama aus. Als Historikerin habe ich die Möglichkeit zu fragen, wie Katharina selbst ihre Entscheidungen traf und wie sie ihre Familie und Gemeinschaft erlebte, statt mich mit den Urteilen anderer – auch denen ihres berühmten Sohns – begnügen zu müssen. In den meisten modernen Darstellungen erleben wir Katharina entweder in der Rolle des heldenhaften Opfers oder in der Rolle der Schurkin. Einige unterstellen sogar, sie habe tatsächlich etwas Hexenhaftes an sich gehabt. Ich hoffe, die Leser werden solcherlei Urteilen am Ende des vorliegenden Buchs mit Skepsis begegnen, aber auch verstehen, welche Quellenaspekte ihnen zugrunde liegen.

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Katharinas Leben und Prozess zu entdecken, heißt aber auch, unsere Vorstellung von Johannes Kepler selbst zu revidieren. Es ist zu wenig, in Kepler nur den Meister des rationalen Denkens zu sehen, der das Universum mechanisierte. Unsere saubere Trennung zwischen rational und irrational, Religion und Zauberei verschleiert, welche Bedeutung das Wissen über Mensch und Natur für ihn und viele seiner Zeitgenossen hatte. Und darin wiederum liegt die Verbindung zwischen einigen seiner Vorstellungen und denen seiner Mutter.

Was einem lebendigen Baum oder den Sternen zustieß, konnte nach Überzeugung beider durchaus Auswirkungen auf den eigenen Körper haben; denn Mikro- und Makrokosmos, die menschliche Natur, die Pflanzenwelt und das Universum waren miteinander verbunden. Immer blieb die Welt Gottes Schöpfung, und Kepler ging in allem von der tiefen Überzeugung aus, dass die gesamte Natur und selbst der menschliche Instinkt die Spuren dieser göttlichen Urheberschaft in sich trügen. Daher bewunderte der Astronom Schneeflocken für die Regelmäßigkeit und Stabilität der hexagonalen Kristalle, aus denen sie bestanden. Sogar über Kinder, die Seifenblasen zu fast perfekten Kugeln bliesen, schrieb er. Die Erde verglich er mit einer Frau in Wehen, die vollkommene geometrische Kristallformen gebar – Gebilde, die die Menschen zu ihrem Erstaunen abbauen konnten. Nach Kepler hatte Gott nicht nur ein perfekt funktionierendes Uhrwerk-Universum geschaffen, sondern auch eine wunderbar raffinierte und unterhaltsame Welt, die es zu bewundern galt. Alle Menschen hatte er mit dem Instinkt begabt, einige der regelmäßigen irdischen Merkmale mit ausgesprochenem Vergnügen nachzubilden. Tanzschritte und musikalische Kompositionen wiederholten Muster aus der Geometrie und könnten von Menschen nur hervorgebracht werden, weil sie nach Gottes Bild geschaffen worden seien. Musikalische Oktaven berührten sogar das »unwissende« Volk.[14] Menschen gleich welchen Stands, Geschlechts und Alters trügen das Wissen in sich, das sie brauchten, um die lebendigen Prinzipien des göttlichen Universums zu verstehen und anzuwenden. Alle Menschen seien, so schrieb Kepler, »winzige Staubkörnchen«, die das Bild Gottes in sich trügen und das Werk der göttlichen Schöpfung fortsetzten.[15]

Deshalb schätzte Kepler eine Reihe von Auffassungen, die die Handlungsmacht von Dämonen oder Widersachern des Christentums rundweg abstritten. Wie seine Mutter war er – egal, welcher Not und Mühsal er sich gegenübersah – nicht dazu zu bewegen, Satan oder Hexen (die nach Meinung einiger Menschen in einer zerfallenden Welt hemmungslos wüteten) irgendeinen Einfluss auf sein Leben zuzugestehen. Nach seiner Überzeugung befand sich die Welt vielmehr in einem ständigen Prozess der Schöpfung und Erneuerung, der ihr die Entwicklung zu immer größerer Schönheit und Vollkommenheit ermöglichte.[16] Satan blieb ein weit abstrakterer Agent der »Dissonanz«. Kepler ließ keinen Zweifel daran, dass er sich viel mehr für natürliche Ursachen oder die Frage, wodurch Menschen böse werden, interessierte, als dafür, alles sofort durch die Handlungsmacht Gottes oder des Teufels zu erklären.[17]

Beflügelt von seiner Begeisterung für kosmische Konstellationen veröffentlichte Kepler 1606 seine Abhandlung De stella nova. In der Schrift geht es um eine junge Supernova, die der Astronom für einen neuen Stern hält. Die Bedeutsamkeit des Sterns resultierte aus dem Umstand, dass er sich in Konjunktion mit Mars, Jupiter und Saturn im Sternzeichen des Schützens zeigte. Enthusiastisch vertrat Kepler die Auffassung, das Zeitalter, in dem er lebte, werde durch diese ganz spezielle Planetenkonjunktion positiv beeinflusst. Er dachte, das Universum jenseits des Mondes und der Planeten sei veränderlich. Im Gegensatz zu automatischen Uhren, die er als Verkörperung der Regelmäßigkeit bewunderte, aber wegen ihrer Unfähigkeit, Veränderungen wiederzugeben, kritisierte, könne Gottes Welt also dynamisch, überraschend, erhellend und vielfältig sein, wenn die Menschen weiterhin positiv auf die Möglichkeiten ihrer Zeit reagierten.

Kepler stützte sich in seiner Abhandlung auf die Prämisse, dass die Erde selbst ein lebender Organismus sei und viele ihrer Reaktionen auf die Geschehnisse im Himmel übertragbar seien. Er glaubte an Spontanzeugung auf der Erde, beispielsweise könnten sich bestimmte Pflanzen oder Tiere aus Sümpfen und anderen faulenden Stoffen in veränderter oder verbesserter Form selbst erzeugen, statt aus Samen oder Eiern hervorzugehen. Die Ausdünstungen von Bäumen verwandelten sich in Raupen mit kunstvollen Körperformen, die von Frauen (von denen man meinte, sie hätten mehr Körpersäfte als Männer) in verschiedene Floharten, Wasserströme in neue Meeresungeheuer, Erdmengen in einen Schwarm von flatternden Schmetterlingen. Der neue Stern, so erklärte er, bedeute entsprechend, dass sich der Himmel von Verfallstoffen gereinigt habe. Bevor er erschienen sei, habe er nicht existiert, aber er sei durch physische Ursachen erzeugt worden. Alle Schöpfung sei so vielfältig in ihren veränderlichen Manifestationen, dass sie jeden lebendigen Geist dazu anrege, sich in einem ähnlichen Prozess fortwährend zu entfalten, neue Eigenschaften zu erwerben und durch wachsendes Wissen weiterzuentwickeln.[18]

Diese ungewöhnliche Verbindung von Gedanken aus Natur- und Bewegungsstudien ermöglichte Kepler, das bahnbrechende Konzept der unregelmäßigen Regelmäßigkeit zu entwickeln, dem zufolge eine regelmäßige Umlaufbahn durchaus unregelmäßige Planetenbewegungen zulässt. Er war bereit, die herrschenden kosmologischen Vorstellungen infrage zu stellen. »Ihr sagt, dass mein Oval die Gleichförmigkeit der Bewegung beseitige«, schrieb Kepler 1607 herausfordernd als Entgegnung auf das traditionelle Argument, dass der Kreis vollkommener als die Ellipse und frei von magnetischer Kraft sei, um dann zu erklären: »Nun denn!«[19]

Keplers bemerkenswerter Glaube an dynamischen Fortschritt und geistige Regsamkeit verband sich mit der Ansicht, dass die kosmische Veränderung die Menschen bereits positiv beeinflusst habe. In der Schrift Vom neuen Stern stellt er eine beeindruckende Liste miteinander in Zusammenhang stehender Renaissance-Errungenschaften auf, die höchste Bewunderung verdienten. Sie offenbarten, so schreibt er, genau die gleichen Prozesse göttlich inspirierter Verwandlung alter, überlebter Formen in neue Gestalten. Die Menschen seien inzwischen eher zur Zusammenarbeit bereit und die mittelalterliche Barbarei durch eine öffentliche Ordnung ersetzt worden, die sich auf Gesetze und eine starke Regierung stütze. Militärtechnik und -strategie hätten sich weiterentwickelt. Die maritime Expansion Europas habe sich die Fortschritte in der Navigation zunutze gemacht, um Wohlstand, Handel und den christlichen Glauben zu mehren. Universitäten und Lehre hätten an Bedeutung gewonnen und zu einem verbesserten Bildungswesen geführt, als die Mönche von Gelehrten ersetzt worden seien, wodurch sich das Verständnis des antiken Wissens vertieft habe. Keplers Liste war noch nicht zu Ende. Die erstaunliche Bandbreite, Genauigkeit und Entwicklung der mechanischen Künste wie etwa der Navigation, Architektur oder Konstruktionstechnik und die ständigen Verbesserungen im Druckwesen bewiesen, wie außerordentlich rasch sich das Wissen entwickle: »… jedes Jahr … ist die Zahl der Veröffentlichungen auf jedem Gebiet größer als die all jener, die in den letzten tausend Jahren hervorgebracht wurden«. Durch die Erfindungen und Bücher des Menschen, so fasste Kepler enthusiastisch zusammen, »hat sich heute eine neue Theologie und Rechtswissenschaft herausgebildet; die Paracelsianer haben eine neue Medizin geschaffen, und Kopernikus verdanken wir eine neue Astronomie«. So gelangt er zu dem Schluss: »Ich bin der aufrichtigen Meinung, dass die Welt durchaus voller Leben ist, ja, von ihm überschäumt, und dass die Impulse, die von diesen bemerkenswerten Verbindungen ausgehen, ihre Wirkung nicht verfehlen.« Der neue Stern und die Menschen, die darauf zu reagieren wussten, waren im Begriff, die Welt zu verändern.[20]

Nach Keplers Ansicht vermittelte eine neue Philosophie also ein tieferes Verständnis von der Beziehung zwischen Erde und Kosmos, was den Menschen auf neuartige und aufregende Weise nützte. Neu war ein Schlüsselwort von Kepler. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen hielt er es für seine Aufgabe als Gelehrter, aller Panikmache wegen des angeblich unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs und des Jüngsten Gerichts entgegenzuwirken. Stattdessen legte Kepler eine schlüssige, detaillierte Liste aller kulturellen und politischen Fortschritte vor, die eine außerordentlich optimistische Weltsicht rechtfertigten. 1604 schrieb er, die Ergebnisse seiner optischen Forschungen seien ebenso wichtig wie die »Entdeckung eines neuen Weltmeers«, das sich zum Nutzen der Menschheit befahren lasse.[21] Diese Forschungen brächten neue Instrumente hervor und antworteten auf die politischen Herausforderungen der Zeit. Die navigatorischen Verbesserungen der Europäer würden zu engeren Handlungsbeziehungen im Ostseeraum und zu niedrigeren Getreidepreisen für die Bevölkerung führen.[22] Der allmähliche wissenschaftliche Fortschritt, der neben rationalen Methoden und empirischer Beobachtung auch tiefer Gläubigkeit zu verdanken war, könnte eine genauere Weltsicht sowie bessere politische und gesellschaftliche Verhältnisse hervorbringen.[23]

Diese positive Darstellung war meilenweit entfernt von den fatalistischen Schriften seiner Zeitgenossen wie dem lutherischen Pfarrer (1)Daniel Schaller, der ab 1595 wiederholt verkündete, dass sich alles im Niedergang befinde – dass die Erde gealtert sei, das Licht dunkler, der Boden unfruchtbarer, der Fischbestand kleiner und die Festigkeit von Stein und Eisen geringer geworden seien, mit einem Wort, dass das endgültige Verderben nahe sein müsse.[24] Selbst (1)Johann Arndt, ein lutherischer Bestsellerautor mit einem ausgeprägten Interesse an der Naturphilosophie, sah das »Böse im Menschen« unaufhaltsam wachsen und die Welt, ein faulendes, schlammiges Gefängnis, dazu verdammt, beim Jüngsten Gericht vernichtet zu werden. Die apokalyptischen Vorstellungen des Protestantismus bekräftigten das, was (2)Martin Luther bereits enthüllt hatte: Das Papsttum war der biblisch angekündigte »Antichrist«, des Teufels schrecklicher Verbündeter, der das Ende der Welt brachte.

Kepler führt uns in eine Welt, in der neben dieser verhängnisvollen lutherischen Theologie mit ihrer pessimistischen Einschätzung der menschlichen Natur auch eine positive, zukunftsorientierte Geisteshaltung vertreten wurde – von Männern wie ihm, von tatkräftigen, unterschiedlichen geistigen Traditionen verpflichteten protestantischen Herrschern und ihren Frauen an einigen deutschen Höfen sowie von nachdrücklichen Initiativen in bedeutenden Reichsstädten, die auf Erneuerung und Reformen drängten. Viele Fürstenhöfe förderten zum Wohl der Gesellschaft großzügig das Bildungswesen. Als junger Mathematiker erlebte Kepler den lutherischen Hof Württemberg sowohl als Ort geistiger Entfaltung wie als Schauplatz der experimentellen, praktischen und ehrgeizigen Betätigung; (1)Sibylla von Anhalt trug hier umfangreiche Kenntnisse über Kräutermedizin zusammen, während ihr Mann Herzog (1)Friedrich alchemistische Forschung für medizinische Zwecke förderte und ein Heilbad finanzierte. Diese praktischen Studien waren mit der Vorstellung von positiver Regeneration verknüpft, denn man nutzte natürliche Rohstoffe – Mineralien, Pflanzen, Wasser, Erdwärme –, um das Leben auf der Erde zu verbessern. Das war eine ziemlich radikale Abkehr von der immer noch nachwirkenden mittelalterlichen Auffassung von der irdischen Existenz als dem selbst verschuldeten Unglück des Menschen nach dem Sündenfall. Daher müssen wir Keplers Ideen zu einer weit größeren Bandbreite von Personen – unter ihnen viele Frauen – in Beziehung setzen, die von der Mechanik und Naturlehre fasziniert waren. Keinesfalls lebte er in einer abgeschotteten Welt männlicher »Laborwissenschaft«. Das ermöglichte ihm letztlich, Katharinas Einstellung zur Heilkunde zu verstehen und schließlich zu ihrer Verteidigung vorzubringen, dass sie verlässliche medizinische Erfahrungen auf der Grundlage des christlichen Glaubens erworben hatte.

Abbildung 4: Johannes Kepler, Holzschnitt aus seinem Lehrbuch Epitome; die Illustrationen stellen die lebendige Dynamik des Universums dar. Moderne Ausgaben des keplerschen Werks übergehen die verdeckten dekorativen Elemente im Interesse der »Wissenschaft«. © By permission of the Master and Fellows of St John’s College, Cambridge.

Die Württemberger Männer in Keplers Umkreis entwickelten gleichsam begeisternd, ehrgeizig und kreativ vollkommen neue Denk- und Handlungsweisen. Kepler arbeitete eng mit (1)Wilhelm Schickard, einem jungen lutherischen Pfarrer zusammen, der später Astronomieprofessor in Tübingen wurde. Schickard beherrschte von Hebräisch bis Äthiopisch nicht nur viele Sprachen, sondern versorgte Kepler auch mit unglaublich innovativen Darstellungen von Himmelsphänomenen. (1)Johann Valentin Andreae, ein weiterer lutherischer Pfarrer, veröffentlichte einen der ersten utopischen Entwürfe urbanen Lebens und führte in einer Stadt des Herzogtums soziale Reformen durch. (1)Christoph Besold wurde während des Prozesses eine besonders wichtige Stütze aus diesem Umkreis. Der Juraprofessor an der stramm lutherischen Universität Tübingen gehörte zu den einflussreichsten Staatsrechtlern seiner Zeit, der für seine riesige Bibliothek die neuesten Bücher über alle nur denkbaren Themen in spanischer, französischer und italienischer Sprache bestellte. Aus diesem Grund konnte er auch die Schriften des Italieners (1)Campanella übersetzen, eines heterodoxen, lange Jahre inhaftierten Philosophen, für den sich auch Kepler interessierte.[25]

Insofern ist es keine besondere geistige Leistung, Keplers Modernität kenntlich zu machen. Aber es kann dazu beitragen, die progressiven, dynamischen Tendenzen seiner Gesellschaft aufzuzeigen, die oft unterschlagen wurden, um das Bild eines rigiden, von religiösen Idealen und staatlicher Kontrolle stark eingeschränkten Landes zu zeichnen. Kepler musste für die Drucklegung seiner Schriften kämpfen und war manchmal sogar gezwungen, sich das Papier selbst zu kaufen. Trotzdem gelang es ihm, seine Werke auf der Frankfurter Buchmesse zu verkaufen, und er hatte Glück, dass er nicht in Italien lebte, wo seine Bücher nur von einigen wenigen Händlern ausgesuchten Kunden »unter dem Ladentisch« angeboten wurden. Kepler durfte nicht an der Universität Tübingen lehren, konnte aber mit einigen ihrer Professoren zusammenarbeiten. Er kämpfte erbittert um die Ehre seiner Familie und fand sich glänzend in einem Rechtssystem zurecht, das ihm die Verteidigung seiner Mutter gestattete. Die württembergische Politik kreiste dauernd um die Forderung der Landstände nach einer legalen Rechtsordnung, die sich darauf berief, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei. Kepler war zu diesem Ideal erzogen worden und machte es zur Grundlage seiner Philosophie.

Es gilt, diese Tendenzen in der deutschen Öffentlichkeit, im Bildungswesen und in der Rechtsprechung genügend herauszuarbeiten, um dann vielleicht jenes Gefühl für die Dynamik der Institutionen und Debatten in Deutschland zu entwickeln, das wir brauchen, um zu verstehen, warum sich diese Gesellschaft am Ende selbst reformieren konnte.[26] Um 1700 wurden nur noch wenige Deutsche wegen Hexerei verfolgt. Damit war ein entscheidender Kampf für die Gerechtigkeit gewonnen. Kepler hat seine Verteidigungsschrift nie veröffentlicht, aber sie ist ein wegweisender Versuch, die Argumentation der Anklage durch rechtliche Einwände zu entkräften.

Wie brachte er dieses Kunststück fertig? Keplers beruflicher Alltag war keineswegs auf eine höhere Sphäre beschränkt, in der er mit Herausforderungen wie einer Anklage wegen Zauberei nicht in Berührung gekommen wäre. Sein Erfolg beruhte nicht zuletzt auf seiner robusten Fähigkeit, Anfeindungen abzuwehren und sich in Streitgesprächen zu behaupten, indem er eisern an einer schlüssigen Argumentation festhielt und alle Vorwürfe Punkt für Punkt widerlegte. Mit großer Entschlossenheit nutzte er diese Fähigkeit zur Verteidigung seiner Mutter. Die Gegenseite habe kein überzeugendes Argument, erklärte er, und die Methode, mit der man versuche, bloße Behauptungen in belastbare Beweise zu verwandeln, sei falsch. Die ständige Notwendigkeit, seinen eigenen Gegnern zu kontern, hatte ihn darauf vorbereitet, die größte Herausforderung seiner Karriere anzunehmen und zu meistern.

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Kurzum, Johannes Kepler wird uns zeigen, wie es im Zeitalter Galileis war, nördlich der Alpen Debatten über Beweise und Gerechtigkeit zu führen. Vor allem ist dies aber ein Buch über einen Sohn und seine Geschwister, deren verwitwete Mutter der Hexerei angeklagt wurde. Dies gibt uns die Möglichkeit, die deutschen Hexenprozesse als eine Geschichte über Familien neu zu entdecken. Auf dem Höhepunkt der Verfolgungen schien jeder in Gefahr zu sein. Noch im Jahr 1687 wurde in einer Anklageschrift die Familiengeschichte eines Mannes bis zu zwei weiblichen Vorfahren zurückverfolgt, die 1619 hingerichtet worden waren.[27] Die Gerüchte über Verdächtige würden sich noch jahrelang halten, was allein schon eine enorme Belastung für die betroffenen Familien bedeutete. Wenn es zu einem Prozess kam, konnten Söhne, Ehemänner und Schwiegersöhne entscheidend zur Beschuldigung oder Entlastung der mutmaßlichen Hexe beitragen. Es wäre beruhigend, wenn wir sagen könnten, dass sich ihre Kinder geschlossen hinter Katharina stellten und sie verteidigten. Tatsächlich reagierten die Geschwister jedoch ganz unterschiedlich auf Katharinas Misere und die Belastung, die mit dem Vorgehen gegen sie einherging. In der Weltharmonik, die Johannes 1619, bevor er mit der Verteidigung seiner Mutter begann, veröffentlichte, behauptete sogar er plötzlich, seine Mutter habe »ihre Stadt« gegen sich aufgebracht und »ihr beklagenswertes Unglück selbst verschuldet«. Als die Anschuldigungen gegen Katharina immer deutlicher auf einen Prozess hinausliefen, wurde Keplers jüngster Bruder (1)Christoph in seiner Einstellung zu Katharina zunehmend ambivalent. Als aufstrebender Handwerker war er entschlossen, sich sein Leben von dem Prozess nicht ruinieren zu lassen. Am Ende zog er sich von der Verteidigung zurück. Die Verwandten reagierten nicht nur mitleidig und liebevoll, sondern auch unsicher, furchtsam, ablehnend und schuldbewusst. Manchmal wurden sie auch von einem Gefühl der Scham und Schande überwältigt. Sie waren an diesen Geschehnissen nicht nur als vernunftbegabte Wesen, sondern auch durch ihre Fantasien und Träume beteiligt, als Kinder einer mutmaßlichen Hexe und als Geschwister, die in diesem Drama für unterschiedliche Seiten Partei ergriffen. Katharina Kepler und ihr berühmter Sohn erscheinen so als Menschen wie wir: als Teil einer Familie, die sich auf uns verlässt, uns hasst oder liebt, uns im Stich lässt oder unterstützt. Ihr Prozess führt uns vor Augen, was es letztlich heißt, verwandt zu sein: das Leben der anderen (emotional und symbolisch) zu leben und ihren Tod zu sterben.[28] Davon erzählt die Geschichte der Keplers in all ihren schrecklichen Einzelheiten.

1

Katharinas Leben

Katharina Kepler lebte in Württemberg, dem größten Herzogtum Südwestdeutschlands, im Herzen Mitteleuropas. Henker, die Delinquenten aus diesem Herzogtum verbannten, riefen ihnen nach, sie sollten sich über den Rhein, der die Westgrenze bildete, oder die im Süden und Osten verlaufende Donau davonscheren. Württemberg hatte seinen eigenen schiffbaren Fluss von beträchtlicher Länge, den Neckar, der mitten durch das Territorium floss und dabei die wichtigsten Städte durchquerte. Stuttgart war mit rund neuntausend Einwohnern die Hauptstadt und Tübingen durch seine 1477 gegründete Universität weithin bekannt.

Es war eine geschäftige, von Bürgern und Bauern besiedelte Region mit einem dichten Netzwerk von kleinen Städten und Dörfern. Die Landschaft prägten Weinberge, fruchtbare Obstwiesen, Wälder und Felder. Da der Adel keine offiziellen politischen Rechte besaß, wurden lokale Vertreter der »Ehrbarkeit« gewählt, die auf den Landtagen in Stuttgart gemeinsam mit dem Herzog über Schulden, Kriege und Steuern entscheiden sollten. Allen Bürgern wurde Rechtssicherheit in Strafprozessen zugesichert. Im Gegenzug schuldeten die meisten Haushalte dem Herzog für diese Privilegien Frondienste, ein Zehntel seiner Getreideernte, Geldsteuern und Bodenzins, der für einen Großteil des Landes erhoben wurde. 1534 hatte Württemberg das Luthertum eingeführt und blieb fortan eines der größeren Gebiete in dem komplizierten Gefüge der politischen und religiösen Zugehörigkeiten, aus dem Deutschland nun bestand. Pfarrer verlasen nach den Sonntagspredigten immer öfter staatliche Gesetze, um das Glücksspiel, Tanzen, Trunkenheit und vorehelichen Sex einzudämmen. Diese Maßnahmen sollten die Steuereinkünfte vermehren, die Macht des Herzogs erhöhen und den lutherischen Glauben fördern, um das Land moralisch zu stärken und vor Gottes Zorn zu schützen.[1]

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Abbildung 5: Erntearbeit in Württemberg; Ausschnitt eines Holzschnitts von Johann Bauhin, De aquis medicatis nova methodus, 1612. © By permission of the Master and Fellows of St John’s College, Cambridge.

In diese Welt religiöser Streitigkeiten und der Sorge um die öffentliche Ordnung wurde Katharina Kepler entweder 1547 (wie sie selbst glaubte) oder 1550 (wie ihr Vater meinte) hineingeboren.[2] Die Menschen dieser Zeit erinnerten sich häufig anhand dramatischer historischer Ereignisse an ihr Geburtsjahr, was ihr individuelles Leben mit schwierigen Situationen verknüpfte, die das ganze Land betrafen. Katharinas Vater zufolge wurde er selbst »im Jahr des großen Hagels geboren«, und Katharina erzählte Johannes, sie sei drei Tage vor Martini im Jahr des Schmalkaldischen Krieges zur Welt gekommen, als die spanischen Truppen, die für den Katholizismus kämpften, die stark befestigte Nachbarstadt besetzt hatten.

Katharina stammte aus dem Dorf Eltingen, siebzehn Kilometer westlich von Stuttgart gelegen. Ihr Vater, Melchior (1)Guldenmann, der später als »frommer und ehrenwerter« Mann beschrieben wurde, hatte fast zwanzig Jahre lang, von 1567 bis 1585, das Amt des Bürgermeisters inne. Er führte alle Rechnungsbücher für den Herzog – vermerkte die Einkünfte aus Gemeindeland, Wäldern, Schafherden und Geldstrafen –, organisierte Gemeindeversammlungen und schlichtete Streitigkeiten.

In dem Dorf gab es eine große, elegante Kirche aus dem Jahr 1487, die dem Haus der Guldenmanns direkt gegenüberlag. Die lutherischen Pfarrer predigten ihren Gemeinden von dem Kampf zwischen Gott und Satan, bei dem ein allmächtiger Gott schließlich über alles Böse triumphieren würde. Tiere, Pflanzen, menschliche Körper und Seelen zeugten allesamt von seiner Schöpfung. Doch die Menschen waren der Sünde erlegen, daher mussten sie all ihre Verfehlungen täglich durch Gebet und die Vervollkommnung ihres Glaubens büßen. Wie ein strenger Vater, so die Prediger, schicke Gott den Menschen die Strafen der Vorsehung, vor allem Unwetter, Hungersnöte oder Kriege. Manchmal strafte er sie auch individuell – durch Krankheit oder Leid –, um sie zu einem gottgefälligen Leben zu führen. Geistlicher Zuspruch blieb eine schwere Prüfung.[3]

Eltingen hatte keine Schule, aber seit sie denken konnte, zog Katharina jeden Morgen einen Kittel über ihr langes Leinenhemd und half in der Gastwirtschaft oder auf den Feldern. Man erwartete von Kindern, dass sie ab einem Alter von etwa zwölf Jahren ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Mit vierzehn, wenn sie zum Abendmahl zugelassen waren, galten sie als erwachsen. Es gibt keine Quellen, die belegen, dass Katharina ihr Dorf verlassen hätte oder dass ihre Mutter früh gestorben wäre, wie einige Historiker behaupten.[4] Als Eltinger Jugendliche wird sie gewusst haben, wie man Tiere säubert, füttert und hütet, Gras mäht, Trauben liest, Heu gewinnt und Feuer macht, hackt, sät, erntet, Weinstöcke beschneidet, Essen zubereitet, Korn von der Spreu trennt, Erbsen trocknet, die richtigen Kräuter sammelt, kocht, backt, Kleidung näht, spinnt, strickt, stopft, wäscht und das Haus putzt, aber auch, wie man mit Geld, Gästen und Dienstboten umgeht. Das waren einige der Fertigkeiten, die sie für ihr künftiges Leben als unermüdliche Ehefrau brauchte. Wenn sie ungehorsam war, wurde sie vermutlich geschlagen – man glaubte, Nachsicht verderbe Kinder.

Wie jede junge lutherische Frau wusste Katharina, dass sie eine Familie gründen musste, wenn sie ein gesichertes und achtbares Leben führen wollte. Die Klöster waren geschlossen, und alleinstehenden Frauen wurde mit Misstrauen begegnet. Ihre Pflichten als Ehefrau würden darin bestehen, die Schmerzen der Geburt zu ertragen, den Haushalt zu führen, an der Seite ihres Mannes zu arbeiten und regelmäßig mit ihm zu schlafen, um ihn von verbotenen Versuchungen abzuhalten. In dieser Zeit wurde die Partnerwahl für die meisten Menschen durch die Herkunft, das Vermögen, die Gesundheit und die Geografie bestimmt, aber auch durch Zuneigung und Anziehung. Die Zustimmung des Vaters musste eingeholt werden, und die Eltern erwarteten, dass sie mit ihren Töchtern auch nach deren Heirat in engem Kontakt blieben, nicht zuletzt, um im Alter versorgt zu werden. (3)Luther hatte von allen jungen Leuten verlangt, früh zu heiraten, um der sexuellen Sünde außerhalb der Ehe zu entgehen. Tatsächlich wurden Frauen, die nicht der Oberschicht angehörten, erst nach dem zwanzigsten Lebensjahr ernsthaft umworben.

Katharina war Anfang zwanzig, als sie einen jungen Mann namens (1)Heinrich Kepler kennenlernte. Sein Vater (1)Sebald war Kaufmann in der nahe gelegenen Reichsstadt Weil der Stadt und gerade zum Bürgermeister gewählt worden. Das machte ihn im weiteren Umkreis seiner Heimat zu einer Autorität; er hatte bereits an einem der deutschen Reichstage teilgenommen. Auch Heinrichs Großvater war im Stadtrat gewesen und zum Bürgermeister gewählt worden. Stolz auf ihre Vorfahren, unter denen sich angeblich auch ein Soldat befand, der sich in kaiserlichen Diensten ausgezeichnet hatte, beantragten die Keplers die ständige Führung eines Wappens, die ihnen Kaiser (1)Maximilian II. 1564 gewährte. Das Wappen zeigte einen »rot gekleideten Engel mit blondem Haar«, dessen Hände auf einem Schild ruhten. Über dem Engel befand sich ein verschlungenes rot-goldenes Ornament mit einer goldenen Krone, aus der »ein gelber Spitzhut ragt, gekrönt von einem Büschel schwarzer Reiherfedern«, verziert mit kleinen gelben Schmuckelementen.[5] Die Keplers versuchten, aus dem Einsatz dieses Wappens Prestige zu gewinnen, wann immer sie konnten.

Im Frühjahr 1571 war Katharina Guldenmann von ihrem Dorf aus den viel beschrittenen Weg nach Westen gegangen, um in diese angesehene Familie einzuheiraten. Das junge Paar zog zu Heinrichs Eltern in ein stabiles Fachwerkhaus am Weiler Marktplatz, wo Heinrich im Geschäft seines Vaters half, Leinen, Baumwolle, Kerzen und Schlösser zu verkaufen.[6] Am 27. Dezember desselben Jahres brachte Katharina ein schwächliches, kleines Kind zur Welt. Es war halb zwei am Morgen eines Tages, an dem der Frost milderem Wetter wich und der Schnee in Regen überging. Die Eltern, die um das Leben des Kindes fürchteten, nannten den frühgeborenen Jungen Johannes, nach dem Evangelisten, dessen an diesem Tag gedacht wurde.[7] Zwei Jahre später gebar Katharina einen weiteren Sohn. Er wurde wie sein Vater auf den Namen (1)Heinrich getauft.

Bei den meisten jungen Frauen folgte auf die Hochzeit in regelmäßigen Abständen eine Schwangerschaft mit der anschließenden Stillzeit sowie die gemeinsame Arbeit mit dem Ehemann und den angeheirateten Verwandten. In Württemberg erhielten junge Männer und Frauen die gleiche Mitgift, wenn sie heirateten. Daher erbten die Kinder oft Geld oder – häufiger – Weideflächen, Weinberge und Felder, außerdem Gerätschaften und Vieh. Frauen verbrachten einen Großteil ihres Tages auf dem Land, das sie zusammen mit dem Ehemann besaßen und das die Familie ernährte. Nur selten unterbrachen sie die Arbeit – selbst in den Zeiten ihrer Schwangerschaften und Geburten machten sie das Heu und verrichteten andere schwere Arbeiten. Zwar war es alleinstehenden Frauen gesetzlich verboten, ein Handwerk zu erlernen, sodass ihnen die meisten Berufe verschlossen blieben, aber von Frauen, die mit Handwerkern verheiratet waren, erwartete man, dass sie mit ihren Männern zusammenarbeiteten, den Beruf erlernten und halfen, die Produkte zu verkaufen und Schulden einzufordern. Mit anderen Worten: Frauen waren Mitarbeiter. Da sie keinen Lohn bekamen, waren sie gesuchte Arbeitskräfte, während sie ihrerseits neue Fertigkeiten erwerben konnten.[8]

Doch statt für seine Familie eine solide Lebensgrundlage zu schaffen, wurde (2)Heinrich schon bald rastlos. Mit siebenundzwanzig Jahren verließ er sie, um sich als Soldat zu verdingen. Auf der Seite der katholischen Spanier kämpfte er in Flandern gegen die calvinistischen Rebellen, die versuchten, ihr Land von der Habsburger Herrschaft zu befreien. Es war während dieser Zeit nicht ungewöhnlich, dass ein Lutheraner gegen Calvinisten kämpfte, aber wahrscheinlich spielten religiöse Überzeugungen bei Heinrichs Entscheidung nur eine untergeordnete Rolle. Ihn dürften eher die Gefahr, das unkonventionelle Leben und die außergewöhnlich gute Bezahlung gereizt haben. Immer häufiger wurden in den Niederlanden große Söldnerverbände für längere Perioden ausgehoben, um die Kosten für Rekrutierung, Truppenverlagerung und Ausrüstung zu drücken.[9] Deshalb spielte das zu erwartende Geld für die meisten Söldner sogar eine größere Rolle als die Aussicht, in ferne Länder zu reisen. Ein Mann namens (1)Burckhardt Stickel aus Stuttgart, der wie (3)Heinrich aus einer wohlhabenden Familie stammte, kämpfte beispielsweise in Flandern, begab sich dann nach Italien, Korfu und später nach Nordafrika, wo er half, in der Hafenstadt Goletta jene Festung zu bauen, die schon bald den Türken in die Hände fallen sollte. 1570, mit neunundzwanzig Jahren, berichtete er, wie seine Kameraden mit dem strengen spanischen Gouverneur in den Niederlanden, dem (1)Herzog von Alba, um den Lohn für vierunddreißig Monate Kriegsdienst feilschten: »Drei Monate bezahlten sie uns in Leinen, Samt oder Seide, den Rest in Geld.«[10]

Katharina duldete nicht, dass Heinrich sie verließ. 1575, nach einjähriger Abwesenheit ihres Ehemanns, ließ sie ihre kleinen Kinder in der Obhut einer Freundin zurück und begab sich auf die weite Reise nach Flandern, um Heinrich nach Hause zu holen. Sie war wild entschlossen. Vielleicht fragte sie Heinrich, warum er sie mit der Aufgabe, in der Gesellschaft ihrer unfreundlichen angeheirateten Verwandten die gesamte Arbeit auf ihrem Land zu verrichten, zurückgelassen hatte. Außerdem war allgemein bekannt, dass unverheiratete Frauen die Truppen begleiteten und unehelicher Sex bei der Soldateska auf der Tagesordnung stand. Wie immer ihre Unterredung verlaufen sein mochte, Heinrich kehrte mit Katharina nach Weil zurück, jedoch nur um seine Familie erneut zu verlassen und sich wieder den Truppen anzuschließen. Doch im folgenden Herbst kehrte er schließlich in sein Elternhaus zurück. Johannes hatte inzwischen die Pocken überlebt, aber Narben und eine dauerhaft beeinträchtige Sehfähigkeit zurückbehalten.

1575 schien Heinrich endlich bereit zu sein, ein Haus zu kaufen und sesshaft zu werden. Das Ehepaar zog mit seinen Söhnen von Weil in das benachbarte Leonberg und erwarb drei Hektar Ackerland und 1,7 Hektar Weideland (das entspricht in etwa der Größe von zweieinhalb Fußballfeldern). Zwei Jahre später erwarben sie für die beträchtliche Summe von hundert Gulden das Bürgerrecht – das heißt, sie konnten kommunale Ressourcen nutzen, und (4)Heinrich durfte die Vertreter der Stadt Leonberg wählen.[11]

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Man kann sich gut vorstellen, warum Katharina und Heinrich Leonberg für den geeigneten Ort hielten, um hier ihre Kinder großzuziehen. Es lag unweit der Ortschaften, in denen sie aufgewachsen waren, und nur dreizehn Kilometer von Stuttgart entfernt. Leonberg war lutherisch, hatte tausend Einwohner und thronte sicher auf einem Gebirgsplateau. Der von einer Stadtmauer geschützte Ort war nur von Osten zugänglich und von einem dreißig Meter breiten und zehn Meter hohen Stadtgraben umgeben (Abbildung 6). Als die Keplers nach Leonberg zogen, war die alte Burg in eine neue Residenz für die Herzöge von Württemberg umgebaut worden, die in den wildreichen Wäldern der Umgebung auf die Jagd gingen. Die kommunalen Gebäude wurden im Stil der Spätrenaissance renoviert. Die gotische Stadtkirche erhielt ein hübsches Türmchen und bald darauf eine komplette Renovierung des Innenraums. Ein Tübinger Steinmetz fertigte 1566 eine adrette Ritterfigur mit Wappen und Hoheitszeichen des Herzogs für den Brunnen auf dem abschüssigen dreieckigen Marktplatz in der Stadtmitte. 1580 wurde das Rathaus vergrößert und die Straßen und Gassen gepflastert.

Abbildung 6: Rekonstruktion Leonbergs, wie es im späten 16. und im 17. Jahrhundert aussah. © Stadtarchiv Leonberg, Zeichnung Erich Nawratil.

Viele Handwerker arbeiteten in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes von zu Hause aus und belebten die Stadt mit ihrer Geschäftigkeit. Gelegentlich wurden männliche wie weibliche Missetäter mit schweren Eisen um den Hals zur Schau gestellt, bevor der Scharfrichter sie mit der Peitsche über den Marktplatz trieb und durch das obere Stadttor davonjagte.[12] Einmal im Jahr, zur Zeit der Weinlese im September, boten italienische und holländische Händler, Puppenmacher, Gewürzkrämer, Gürtler, Hutmacher, Säckler und viele andere Handwerker ihre Waren auf dem Jahrmarkt feil.[13] Im Winter wurden auf dem Marktplatz Schweine geschlachtet. Mittwochs lockte ein Wochenmarkt nicht nur lokale Verkäufer an, sondern auch Wanderhändler, die die Region bereisten, für die neuesten medizinischen Kuren warben und ihre Heilsteine verkauften. Männer legten auf dem Platz jährlich ihren christlichen Treueschwur auf die Herzöge ab. Frauen trafen sich täglich am Brunnen, um Wasser zu holen (Abbildung 7).

Abbildung 7: Leonberger Marktplatz mit dem Rathaus zur Rechten (ca. 1480) und dem 1566 verschönerten Brunnen; später wurde Katharina im zweiten Stock des Rathauses verhört. © Fotografie: Christoph Rublack.

Das keplersche Haus stand am oberen Ende des Marktplatzes. Hier lebten die wohlhabenden Bürger in großen mehrstöckigen Gebäuden unweit des Rathauses. Drei benachbarten Familien hatte der Heilige Römische Kaiser Wappen gewährt. Das war offensichtlich der Ort, der (5)Heinrichs gesellschaftlicher Stellung seiner Meinung nach entsprach: in der Nachbarschaft jener Männer, die bei Gericht und im Stadtrat dienten, die ihren Lebensunterhalt als Kaufleute und Händler verdienten und die, wie ihre Frauen, bei Arm und Reich häufig als Paten fungierten, in manchen Fällen für mehr als fünfzig Kinder. Doch Heinrich Kepler sollte nie ein eigenes Geschäft gründen oder die dunkle fellbesetzte Wollrobe des Magistrats tragen.

Die Schertlins, Besserers und Drehers aus der Nachbarschaft dagegen zeichneten sich durch ihren beträchtlichen Reichtum aus, den sie durch ihre Geschäfte als Kaufleute oder Geldverleiher erworben hatten. Seit Generationen dienten Männer aus diesen Familien im Leonberger Stadtrat und bei Gericht. Entsprechend wohnten die Besserers am Marktplatz 1, und in ihrem Keller lagerten fünfzehntausend Liter Wein zum Verkauf.[14] Auch die Familie Korn kam zu großem Wohlstand, weil sie das Amt des Stadtschreibers versah und damit eine wichtige Funktion in der Verwaltung des Herzogtums innehatte. Die Korns, die nach der Zahl der beschriebenen Seiten bezahlt wurden, schufen einen erstaunlichen Bestand an Dokumenten – Akten von Grundstücksverkäufen, Inventare, Heiratsverträge, Testamente, Gerichtsprotokolle, Steuerbescheide, Hypothekenverzeichnisse, Protokolle der Stadtratssitzungen und sorgfältig geführte Register. Sie vergossen aber nicht nur Tinte und füllten Bücher, sondern handelten außerdem noch mit Wein. (1)Jakob Korn, der später Teile des Kepler-Falls aufschrieb und kopierte, verschönerte die Fassade seines großen Hauses sogar durch einen Turm mit einer Wendeltreppe und Schmuckmalereien und gab einen Sandsteinrahmen für sein Eingangstor in Auftrag. Diese an Burgen erinnernden architektonischen Details verkörperten zwischen Leonbergs robusten Fachwerk- und Ziegelbauten mit ihren massiven Eisenschlössern und ausgetretenen Holztreppen gewissermaßen den Triumph des erlesenen Geschmacks.[15]

Lutherische Pfarrer verkündeten ihren Gemeindemitgliedern, dass ein tugendhaftes Leben gottgefälliger sei als Marmor, aber auch, dass die Menschen an der Spitze der Gesellschaft mehr Verantwortung trügen und das Recht hätten, ihren Status bis zu einem gewissen Grade zur Schau zu stellen.[16]