Dürer im Zeitalter der Wunder - Ulinka Rublack - E-Book

Dürer im Zeitalter der Wunder E-Book

Ulinka Rublack

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Beschreibung

Eine meisterhafte Betrachtung Albrecht Dürers und der deutschen Renaissancekunst Die preisgekrönte Kulturhistorikerin Ulinka Rublack erzählt vom entscheidenden Wendepunkt in der Karriere Albrecht Dürers. Und bietet einen faszinierendern Einblick in die Welt von Kunst und Handwerk in einer Epoche, die uns bis heute prägt. 1511 fasst Albrecht Dürer einen radikalen Entschluss: Nachdem er sich mit dem Frankfurter Kaufmann Jacob Heller wegen eines Auftrages zerstritten hat, hört er auf, Altarbilder zu malen, und wendet sich anderen Werken zu. Dieser Konflikt ist dabei wie eine Linse, durch die man die neue Beziehung zwischen Kunst, Sammeln und Handel in Europa bis zum Dreißigjährigen Krieg beobachten kann. Denn mit dem beginnenden 16. Jahrhundert wurde Kunst Teil eines wachsenden Sektors von Luxusgütern und vollzog eine umfassende Kommerzialisierung. Kaufleute und ihre Mentalität waren entscheidend für ihre Verbreitung und Entstehung. »Dürer im Zeitalter der Wunder« entführt uns in die Gedanken- und Gefühlswelten Albrecht Dürers und den Kaufleuten seiner Zeit. Anhand von originalen Schriftstücken, Briefverläufen und Bildern zeichnet Ulinka Rublack eindrucksvoll die Geschichte Dürers, seines Werks und des aufkommenden europäischen Kunst- und Handwerksmarkt nach. Ein völlig neuer Blick auf einen prägenden Künstler und seine Epoche.

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Seitenzahl: 994

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Dies ist der Umschlag des Buches »Dürer im Zeitalter der Wunder« von Ulinka Rublack, Nastasja Dresler

Ulinka Rublack

Dürer im Zeitalter der Wunder

Kunst und Gesellschaft an der Schwelle zur globalen Welt

Aus dem Englischen übersetzt von Nastasja S. Dresler

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Dürer’s Lost Masterpiece. Art and Society at the Dawn of a Global World« bei Oxford University Press, Great Clarendon Street, Oxford, OX2 6DP, United Kingdom.

© 2023 by Ulinka Rublack

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © mauritius images/Alamy Stock Photos/The Picture Art Collection

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Sabrina Keim

ISBN 978-3-608-98721-8

E-Book ISBN 978-3-608-12295-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Teil Eins

Briefe an Heller

1.

 Was nur wenige vollbringen können

2.

 Herr Jakob Heller

3.

 Dürers Revanche

4.

 Ein Trio unkonventioneller Freunde

5.

 Malvorbereitungen

6.

 Apelles

AD

7.

 Der dritte Brief

8.

 Wer wird es zu Gesicht bekommen?

9.

 Öl und Pigmente

10.

 Farbe

11.

 Die Lieferung

12.

 Reise in die Niederlande

13.

 Lutheraner werden

Teil Zwei

Trendsetter

14.

 Hans Fugger und das Zeitalter der Kuriositäten

Ein Zeitalter der Wunder

Museen nützlicher Wunder

Die Fugger

15.

 Hans Fuggers Vorliebe für die Malerei

16.

 Stilvoll!

Schuhe

17.

 Stilbewusste Geldausgaben

Die Herausforderung modischer Innovationen

Investitionen in Dinge

Das Dürer-Investment

18. 

Der Bayerische Hof

19.

 Die Dinge im Fluss

Abrechnungen

20.

 Die Schuldenkrise implodiert

21.

 Wilhelm V., Herzog von Bayern

Teil Drei

Dürer und der globale Kunsthandel

22.

 Das Leben nordalpiner Maler

23.

 Der Kunstagent

24.

 Die Karriere des Philipp Hainhofer

25.

 Netzwerke für den Erfolg

26.

 Ein Besuch am Hofe Wilhelms

27.

 Der Seidenhandel und eine zerbrechliche Karriere

28.

 Der Alte Herr

29.

 Materielle Präsenz

30.

 Agent des Herzogs von Pommern

31.

 Der Garten von Eichstätt

32.

 Das Zeitalter Maximilians I.

33.

 Die Jagd auf Dürer

34.

 Die Jagd: Der Kauf des Heller-Altars

35.

 Besondere Dinge

36.

 Ein britischer Spion?

Teil Vier

Dürer-Einkäufe im Dreißigjährigen Krieg

37.

 Kunst und Leben in Krisenzeiten

Der Imhoff-Verkauf

Der Absturz von Amsterdam 1637

Karge Zeiten und neue Möglichkeiten

Epilog

Danksagung

Abbildungsverzeichnis

Digitale Quellen zur weiteren Einsicht und Lektüre

Anmerkungen

Einleitung

1 Was nur wenige vollbringen können

2 Herr Jakob Heller

3 Dürers Revanche

4 Ein Trio unkonventioneller Freunde

5 Malvorbereitungen

6 Apelles AD

7 Der dritte Brief

8 Wer wird es zu Gesicht bekommen?

9 Öl und Pigmente

10 Farbe

11 Die Lieferung

12 Reise in die Niederlande

13 Lutheraner werden

14 Hans Fugger und das Zeitalter der Kuriositäten

15 Hans Fuggers Vorliebe für die Malerei

16 Stilvoll!

17 Stilbewusste Geldausgaben

18 Der Bayerische Hof

19 Die Dinge im Fluss

20 Die Schuldenkrise implodiert

21 Wilhelm V., Herzog von Bayern

22 Das Leben nordalpiner Maler

23 Der Kunstagent

24 Die Karriere des Philipp Hainhofer

25 Netzwerke für den Erfolg

26 Ein Besuch am Hofe Wilhelms

27 Der Seidenhandel und eine zerbrechliche Karriere

28 Der Alte Herr

29 Materielle Präsenz

30 Agent des Herzogs von Pommern

31 Der Garten von Eichstätt

32 Das Zeitalter Maximilians I.

33 Die Jagd auf Dürer

34 Die Jagd: Der Kauf des Heller-Altars

35 Besondere Dinge

36 Ein britischer Spion?

37 Kunst und Leben in Krisenzeiten

Epilog

Register

Für João

Einleitung

Im August 1471 bereitete sich die Stadt Nürnberg(1) auf den Einzug von Kaiser Friedrich III.(1) (1415–1493) vor, der mit einem Gefolge von 800 Pferden eintraf. Auf einem Schimmel sitzend, der sommerlichen Hitze zum Trotz in eine schwarze Reiterrobe mit Mantel, Mütze und großer Haube gekleidet, wurde Friedrich III. von Männern aus den städtischen Patrizierfamilien, dem Klerus und von Schuljungen begrüßt, die fleißig Banner mit seinem Wappen schwenkten. In den Reihen derer, die die Ankunft des Habsburger Kaisers in der deutschen(1) Stadt verfolgten, befand sich auch ein Bierbrauer. In seinen Aufzeichnungen wird erwähnt, dass es der schönste und trockenste Sommer war, wie man ihn seit einem Jahrhundert nicht mehr erlebt hatte. Die Sonne war früh über der Nürnberger(2) Burg aufgegangen und tauchte die Kirchtürme und Dächer in helles Morgenlicht. Nürnberg, eines der wichtigsten politischen, religiösen und wirtschaftlichen Zentren des Heiligen Römischen Reiches, zählte rund 40 000 Einwohner. Stolz präsentierten die Ratsherren Friedrich III. ein Juwel, das einst Kaiser Karl dem Großen(1) gehörte, sowie ein vergoldetes Straußenei, das randvoll mit wertvollen Münzen gefüllt war.

Bei seinem Rundgang durch die Stadt tat der Kaiser etwas, das uns ziemlich überraschen dürfte; ebenso erging es unserem Bierbrauer, der diese Begebenheit natürlich eifrig notierte. In seinen feinen Gewändern streifte Friedrich III.(2) durch diejenigen Viertel, in denen das einfache Volk lebte. Er sprach mit drei verschiedenen Schmieden in ihren Gießereien. Einer von ihnen stellte Messer her, ein anderer war für die schnelle Fertigung großer Mengen von Gewehren bekannt, während der dritte eine kupferne Badewanne zur Schau stellte. Er belohnte jeden von ihnen für ihre geschickten Erfindungen und bewunderte zudem eine neue Holzbrücke sowie eine Brauerei.

An zwei Abenden besuchte Friedrich III.(3) die Tanzveranstaltungen der ansässigen Elite und wurde dabei von seiner Schwester begleitet, die mit sechs Wagenladungen schöner Mädchen anreiste. Er vermachte jeder der Jungfrauen einen goldenen Ring und seiner Schwester ein mit Zobelpelz gefüttertes goldenes Kleid, das mit einer Schnalle im Wert von 200 Gulden zusammengehalten wurde. Friedrich III. blieb 13 Tage lang in Nürnberg(3). Am letzten Tag reiste der Kaiser genau um ein Uhr nachts ab. Für den Bierbrauer erweckte es geradezu den Anschein, als befolge er die Anweisungen seiner Astrologen.[1]

Albrecht Dürer, der drei Monate vor dem Besuch Friedrichs III.(4) geboren wurde, lag in jenem Sommer gewickelt in seiner Wiege. Sein Vater(1) war einer der hochgeschätzten Nürnberger(4) Goldschmiedemeister, den der Stadtrat mit der raschen Fertigstellung der kaiserlichen Trinkgefäße beauftragt hatte.[2] Dürer sollte in die Fußstapfen seines Vaters(2) treten und als angesehener Goldschmied Ringe, Reliquienschreine, Kelche und Krüge anfertigen, Kokosnüsse und Straußeneier verzieren sowie Schäfte für Waffen und Spangen für Kleider herstellen, die ihm die Gunst der Kaiser einbringen würden. Obwohl der junge Dürer sein Handwerk von seinem Vater(3) erlernte, fand er mit zunehmendem Alter Gefallen an der Fülle an Farben, der er auf den Gemälden in den Nürnberger(5) Kirchen begegnete, und am Zeichnen nach lebendem Vorbild. Im Alter von 13 Jahren setzte er sich hin und nahm eine Silberfeder zur Hand, um sich selbst zu porträtieren. Das war eine andere Art von Kunst als die der Goldschmiedearbeit. Er fragte seinen Vater, ob er bei einem Maler in die Lehre gehen könne. Dürer erinnerte sich an ihn als einen Mann weniger Worte, der über seine Bitte sichtlich verärgert war. Als ungarischer(1) Einwanderer war dieser erst mit 40 Jahren in seiner eigenen Nürnberger(6) Werkstatt Meister geworden und hatte nun schon die fünfzig überschritten. In diesem Moment schien es gerade so, als wären all die Lehrjahre vergebens gewesen, wusste er doch nun, dass er seine Werkstatt nicht an diesen, so talentierten Sohn übergeben würde können. Doch er lenkte schließlich ein. Und innerhalb von ein paar Jahren tat sich Albrecht Dürer als Zeichner, Holzschneider, Aquarellist, Kupferstecher und Maler hervor, fest entschlossen, der größte deutsche(2) Künstler aller Zeiten zu werden.

Eine Möglichkeit, die Geschichte Dürers zu erzählen, ist die einer linearen Erfolgsgeschichte. Sein aufsehenerregendes Selbstbildnis in Öl, das er 1500 im Alter von 29 Jahren malte und das heute in der Alten Pinakothek in München(1) hängt, kann als Pendant zur Mona Lisa im Louvre betrachtet werden.

Abb. 1.1 Albrecht Dürer, Selbstporträt in Pelzmantel, 1500, Öl auf Leinwand, 67 × 49 cm. Alte Pinakothek, München(2).

Albrecht Dürers Selbstporträt mit seinem Monogramm AD und einer Inschrift in Goldbuchstaben, deren Farbe auch in den goldenen Strähnen seines Haares anklingt. Gemalt im Jahr 1500, einem Jahrhundert voller Hoffnung auf ein künftiges »goldenes Zeitalter« der Gelehrsamkeit. Erdfarben und Schwarz wurden mit einem Hang zur Melancholie assoziiert, was zur Identifikation mit der Menschlichkeit, der Weisheit und dem Leiden Christi passte, und zugleich den nüchternen Kleidungsstil der Nürnberger(7) Ratsherren sowie Dürers Interesse an der Arbeit mit nur vier Pigmenten in Anlehnung an die alten Meister widerspiegelte. Dürer bewahrte dieses Bildnis in seinem Haus auf.

Mit diesem schuf er eine Selbstdarstellung nach dem Ebenbild Jesu Christi und bewies, dass Deutschland(3) sich durch Gelehrsamkeit, aufrichtige christliche Frömmigkeit und Beredsamkeit auf der Höhe der Zivilisation einzufinden wusste – in einer Zeit, in der junge deutsche(4) Patrizier, die in Italien(1) studierten, als barbarische Schweine beleidigt wurden.

Dürers Kreativität, Produktion und Ehrgeiz waren enorm. Er schuf unzählige innovative Werke für verschiedene Medien, die die ersten ihrer Art waren. Im Jahre 1498 veröffentlichte Dürer die Apokalypse – bildgewordenes Schreckgespenst der Verheerungen von Pest, Hungersnot und Krieg am jüngsten Tag. Es war das erste Buch mit großformatigen Holzschnitten, das nicht als Auftragsarbeit erstellt wurde. Angespornt von den Möglichkeiten, die das neue Druckzeitalter bereithielt, schuf Dürer so auch kostengünstige Holzschnitte mit neuartigen Themen, die er in naturalistischen Details ausführte. Einer seiner berühmtesten Drucke erweckt den Anschein, als hätte er das indische(1) Nashorn, das 1515 in Lissabon(1) von einem Boot stieg, tatsächlich gesehen, obwohl dies nicht der Fall gewesen ist.

Abb. 1.2 Albrecht Dürer, Rhinocerus, Holzschnitt, 1515; 23,5 cm × 29,8 cm; National Gallery of Art, Washington(1), DC.

Seine Freude und Aufregung über die Kreatur sind unmittelbar greifbar. Was für ein seltsames Tier! Es war solch ein Wunder, dass er es einfach darstellen musste. Es hatte Angst vor Elefanten, wie Dürer erfuhr, und wirkte, obwohl es mit seinen massiven, äußerlichen Platten so schwergewichtig erschien, sehr lebhaft und aufmerksam. Dürers Holzschnitt machte es zum bekanntesten Nashorn aller Zeiten: Die Presse lief heiß und der Abzug ging druckfrisch weg, um in ganz Europa(1) bis nach Indien(2) kopiert zu werden.[3]

Als herausragender Porträtist und großer Geschichtenerzähler prägte Dürer die europäische(2) Renaissance(1) in Nord und Süd, Ost und West. Für ein erlesenes Publikum schuf der Künstler Stiche von solcher Feinheit und solchem Einfallsreichtum, die seither niemand zu übertreffen vermochte. Bildwitz und visuelle Tricks zeugen von der Geduld, der Perfektion und der Liebe zum Detail, die ihm sein Vater(4) als Goldschmied beigebracht hatte. Sie verlangten ihm wochenlange, mühevolle Stichelarbeit auf einer Kupferplatte ab. Zwischen 1512 und 1519 beauftragte dann der habsburgische Kaiser Maximilian I.(1) Dürer damit, vermittels der neuen Drucktechnik seine mächtige Dynastie zu glorifizieren. Als Dürers Selbstvertrauen wuchs, arbeitete er an theoretischen Büchern über die Kunst der Perspektive und der naturgetreuen Nachahmung der Natur – mit einer großen Vision: Er wollte Lehrmaterialien zur Verfügung stellen, die es den Künstlern ermöglichen sollten, ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt zu verbessern. Nur wenige seiner Zeitgenossen versuchten sich an einem ähnlichen Vorhaben.

Als Dürer 1520 im Alter von fast 50 Jahren Antwerpen(1) besuchte, wurde er von der Kunstszene als eine Berühmtheit empfangen. In seinem Tagebuch schildert er dieses Erlebnis und bringt seine Begeisterung zum Ausdruck. Die Malergilde hatte ihn und seine Frau Agnes(1) zu einem zu seinen Ehren ausgerichteten festlichen Abendessen in ihrem Saal eingeladen. Als das Paar eintrat und Dürer am Kopf einer glanzvoll gedeckten Tafel angelangte, die mit Silberbesteck und anderem kostbaren Tischgeschirr und herrlichen Speisen gedeckt war, erhoben sich alle. Dürer liebte nicht nur gutes Essen, sondern auch das Spiel vor Publikum. Alle Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet. Er nahm genauestens zur Kenntnis, wie sich diese bedeutenden Leute tief verbeugten, als ob ein großer Herr eintreten würde. Sechs Kannen Wein wurden ihm feierlich als Geschenk überreicht. Der Abend ging schließlich in eine lange, gesellige Nacht über. Antwerpen überschwemmte ihn mit Ehrungen.[4] Diese Runde symbolisierte eine weiterreichende Anerkennung nordalpiner Renaissance(2)kunst, für die Dürers Generation so unnachgiebig gekämpft hatte. Nach seinem Tod im Jahre 1528 hielt sich Dürers Ruhm nicht nur dank seiner Selbstporträts und Drucke, sondern auch aufgrund seiner Zeichnungen und Aquarelle von Landschaften, Pflanzen und Tieren. Wenn man heute den Münchner(3) Flughafen verlässt, kann man Nürnberger(8) Lebkuchen kaufen, die in mit verschiedenen Dürer-Bildern dekorierten Blechdosen abgepackt sind, darunter sein berühmtes Aquarell des Hasen.

Es gibt jedoch auch noch eine andere Möglichkeit, Dürers Geschichte zu betrachten. Anstatt einen ebenen, geradlinigen Weg zum Erfolg nachzuzeichnen, kann man auch die großen Veränderungen in seinem Leben in den Fokus rücken. Auf diese Weise nimmt man zur Kenntnis, was er überwunden und hinter sich gelassen hat, zum Beispiel als er der Welt seines Vaters(5) den Rücken kehrte.[5] So porträtierte sich Dürer nach 1500 nie wieder auf einem eigenständigen Tafelbild, und nach 1512 auch nicht mehr auf irgendeinem anderen öffentlich ausgestellten Medium. Zudem produzierte er nach seiner berühmten Melencolia I aus dem Jahre 1514 keine weitere rätselhafte, unzählige Interpretationen zulassende Druckgraphik mehr. Mitten in seiner Laufbahn hörte Dürer außerdem auf, sich in seinem Werk mit der klassischen Mythologie auseinanderzusetzen. Nach 1516 ließ er sich nur noch von der Natur leiten und wandte sich größtenteils von Arbeiten ab, die seine schöpferische Phantasie auswiesen.

Eine der radikalsten Entscheidungen Dürers geht auf das Jahr 1511 zurück, als er die Herstellung von Altarbildern einstellte, obwohl diese einzigartige Möglichkeiten boten, sich über einen langen Zeitraum hinweg kreativ an Kompositionen zu betätigen und neue Materialien auszuprobieren. Man stelle sich vor, ein Komponist komplexer Sinfonien oder ein Romanautor würde plötzlich aufhören zu arbeiten, während er sich gerade auf dem Höhepunkt seines Schaffens befindet. Das Verständnis für solche umwälzenden Entscheidungen eröffnet eine neue Perspektive auf Dürer und seine Zeit, in der sich die Konsum- und Handelsgewohnheiten veränderten. Als Künstler erfolgreich zu sein bedeutete, den Widersprüchen dieser Welt zu begegnen, Verluste und Gewinne zu erfahren, Kompromisse einzugehen und neuen Horizonten entgegenzustreben.

Es war eine Zeit, die große Veränderungen im Hinblick darauf bezeugte, wie Vermögen ausgegeben wurde. Kunst wurde Teil eines wachsenden Sektors von Luxusgütern, zu dem auch vornehme Mode, Rassepferde oder -hunde, exotische Lebensmittel und Pflanzen gehörten. Dabei gab es nur wenige trennscharfe Unterscheidungen zwischen der bildenden und der dekorativen Kunst.[6] Der Markt für Kunstwerke, die nicht als Auftragsarbeiten erteilt wurden, wuchs rasch. Spezialisierte Luxushändler generierten ein Angebot, um die Phantasie der Konsumenten anzuregen. In ihrem Sortiment fanden sich Kunstwerke unterschiedlichster Qualität und Preisklassen. Herrscher verliehen ihrem Ehrgeiz durch umfangreiche Sammlungen für ihre Höfe Ausdruck; für ihre Sammlungsprojekte ließen sie außerdem häufig neue, eigens zu diesem Zweck bestimmte Gebäude errichten; städtische Eliten und Mittelschichten begannen wiederum, ihre Häuser mit Gemälden, Drucken und kleineren Sammlungen von Raritäten und dekorativen Objekten zu schmücken. Diese Tendenzen waren mit der starken Ausweitung der kulturellen Produktion verbunden. Dürers Aufstieg als Künstler und sein anhaltender Ruhm gingen mit dem Aufkommen und der stärkeren Integration dieser internationalen Kunstmärkte einher; durch sein Erscheinungsbild und sein urheberrechtlich geschütztes Monogramm wurde er zu einem leicht identifizierbaren Künstlertypus – und machte sich damit aktiv zur eigenen Marke.[7]

Abb. 1.3 Albrecht Dürer, Betende Hände – höchstwahrscheinlich seine eigenen, 1508, 29 × 19 cm, Feder und Tinte auf blauem Papier, Albertina, Wien(1).

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Dürers Kunst in diesem neuen Zeitalter des Handels und Kunstsammelns, indem es ein Altarbild in den Mittelpunkt rückt, das sowohl zu seinen besten als auch zu seinen am wenigsten bekannten Werken gehört. Seine anhaltende Berühmtheit ist einer vorbereitenden Zeichnung, den »betenden Händen«, geschuldet. Das Motiv ist auf einem Albumcover des Rappers Drake(1) zu sehen und wurde von Andy Warhol(1) aufgegriffen; es hat Eingang in allerlei Formen des Merchandising gefunden. So auch als Abbildung auf der besagten Lebkuchendose des Münchner(4) Flughafens. Sie gehören zu den berühmtesten Händen der Welt und drücken den tief empfundenen menschlichen Wunsch nach Hoffnung und Akzeptanz aus. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich nicht umklammern oder zusammendrücken. Die Finger berühren sich nur sachte, als wären sie bereits von der Angst erlöst worden.

In Auftrag gegeben wurde das Altarbild, unter dessen vorbereitenden Zeichnungen sich die betenden Hände befinden, von dem Frankfurter(1) Kaufmann Jakob Heller(1). Die häufig persönliche Beauftragung großer Renaissancekunst spiegelte eine soziale Beziehung wider. Indem sich die Kaufleute als neue Elite profilierten, wurden sie zu wichtigen Mäzenen. Das ganze 16. Jahrhundert hindurch galt dieses Altarbild als Dürers bekanntestes Gemälde, doch schon bald nach seiner Fertigstellung im Jahre 1509 nahm Dürer keine solchen Aufträge mehr entgegen. Heller hatte ihn wütend gemacht. Neun Briefe von Dürer an Heller sind erhalten, so viele wie von kaum einem anderen Renaissance(3)künstler an seinen Mäzen. Aus diesen berühmten Schriftstücken geht hervor, dass Dürer einen geradezu historischen Kampf um den Wert von Kunstwerken ausgetragen hat. Doch Heller erwies sich als der Stärkere. Verwundet und verärgert zog Dürer weiter und gab die Altarbilder auf, um lukrativere Werke zu schaffen. Ungeachtet der Tatsache, dass er die Aussicht auf eine gewinnbringende Karriere als Goldschmied für die Liebe zur Malerei aufgegeben hatte, kam Dürer auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu dem Schluss, dass sich das Malen komplexer Kompositionen für solche Auftraggeber(2) schlichtweg nicht auszahlte.

Wie konnte ein Frankfurter(2) Kaufmann Deutschlands(5) führenden Künstler an den Rand der Verzweiflung treiben? Dürer im Zeitalter der Wunder ist das erste Buch, das die Geschichte einer zutiefst zerrütteten Beziehung zwischen einem der bedeutendsten Künstler Europas(3) und seinem kaufmännischen Mäzen erzählt – und beide Seiten beleuchtet. Es zeigt, warum Dürer zu dem Zeitpunkt, zu dem er die fertige Auftragsarbeit aushändigte, ein anderer Mensch war als am Anfang, als er einem solchen Werk noch voller kreativer Zuversicht entgegenblickte. Auf Grundlage des einzigartigen Schatzes seiner Briefe an Heller(3) werden hier die Geschichte und die Auswirkungen eines entscheidenden Wendepunkts in seiner Karriere nachgezeichnet.

Dürer wäre im Übrigen erstaunt gewesen zu erfahren, was mit seinem Gemälde geschehen sollte. Es verließ die Frankfurter(3) Kirche, in der es einst montiert worden war. Im Jahre 1614 erwarb Herzog Maximilian I.(1) von Bayern(2), ein bekannter Kunstkenner, Dürers Mitteltafel des Heller(4)-Altars für seine Privatgalerie. Es verblieb am Münchner(5) Hof(6), bis es dort 1729 bei einem Brand zerstört wurde. Infolgedessen geriet der Heller-Altar aus dem Blick und ist heute das am wenigsten bekannte Werk des Künstlers. Obwohl eine Kopie erhalten ist, kann es als sein verlorenes Meisterwerk gelten.[8] In meinem Buch dient die Geschichte dieses Gemäldes als Objektiv für die Betrachtung eines neuen Verhältnisses zwischen Kunstproduktion, Sammelpraxis und Handel in Europa,(4) angefangen von Dürers Tod bis zum Dreißigjährigen Krieg(1) (1618–1648). Auch hier handelt es sich nicht um eine lineare Erfolgsgeschichte der Malerei. Im Mittelpunkt des Buches steht die These, dass die Kaufleute und ihre Mentalität ausschlaggebend waren für die Entstehung der Renaissance(4)kunst und ihr Erbe für die moderne Kunst in einer kommerzialisierten Welt. Diese Perspektive hilft bei der Erklärung, warum viele andere Kategorien von ästhetischen Objekten die gesamte Epoche über höherrangig bewertet wurden als die Malerei.[9]

Es ist jedoch irreführend, die Mentalität eines Mäzens und eines kreativen Renaissancekünstlers einander so gegenüberzustellen, als hätten sie wenig miteinander gemeinsam. So könnte man auch argumentieren, dass Dürer sich mitunter auch aus dem Grund gegen die Anfertigung weiterer Altarbilder entschieden hat, weil er selbst das Verhalten eines Kaufmanns angenommen hat. Er wollte schlichtweg nicht in Armut leben. Und in Nürnberg(9) gedieh ein Umfeld, das aufstrebende mittelständische Handwerker wie ihn zu besonderer Geschäftstüchtigkeit ermutigte. Seine Karriere nahm ihren Anfang in einer Zeit, in der die kommerzielle Druckgraphik aufkam. Diese lehrte ihn, wie man als Kunsthändler Geld verdient, indem man sich nämlich gekonnt einen internationalen Sammlermarkt aufbaut und seine Einzigartigkeit durch einen persönlichen Stil zur Schau stellt, auch wenn man mit anderen zusammenarbeitete. Bis zum Ende seines Lebens verdiente Dürer eine Summe Geld, die weit über den alltäglichen Bedarf seiner kleinen Familie hinausging. Er genoss es, sich mit einer neuen Welt aufregender Waren aus aller Herren Länder zu beschäftigen. Trotz seiner reformatorischen religiösen Überzeugungen, mit denen er Martin Luther(1) unterstützte, gehörten die Fernhändler zu den Menschen, deren Gesellschaft er am meisten schätzte.

Die starren Grenzen zwischen erfolgreichen »Künstlern« und »Kaufleuten« lösten sich schon zu Dürers Lebzeiten und erst recht im Laufe des 16. Jahrhunderts auf. Kaufleute erleichterten Handelsgeschäfte. Darüber hinaus konnten sie aber auch kreativ mitgestalten, was wie produziert wurde. Sie drückten sich zunehmend durch das Sammeln von und Sprechen über ästhetische Objekte aus. Die Künstler wiederum verhielten sich mittlerweile eher wie Kaufleute. Viele der erfolgreichsten unter ihnen konzentrierten sich auf Themen, die für ein möglichst großes Publikum attraktiv waren, und verwandelten ihre Häuser in Ausstellungsräume. Darüber hinaus begannen sie, die Nachfrage nicht mehr nur zu bedienen, sondern sie selbst zu generieren, indem sie käuflich erwerbbare Gegenstände herstellten und ihre Waren durch neue Strategien und Netzwerke aktiv vermarkteten.

Gelehrte, die mit Künstlern in Verbindung standen, schlugen einen ähnlichen Weg ein, als der europäische(5) Buchmarkt an Reichweite gewann. Die Humanisten zeichneten sich dadurch aus, dass sie ein Image von sich selbst und anderen pflegten. Ein unverkennbares Profil und die Freundschaft mit berühmten Männern zu kultivieren, wurde zu einer regelrechten Obsession der Renaissance(5) und zu einem Marketinginstrument. Unter dem Einfluss dieser Strategien stehend, schrieb einer von Dürers gelehrten Freunden, dass der Geist des Künstlers sein Bett besucht und ihm zugeflüstert habe, er solle seinem Namen in Schriftform zu ewigem Ruhm verhelfen und die Worte hinzufügen, die auf seinem Grab zu lesen sein werden.[10]

Die Renaissance(6) war ein Zeitalter, in dem in einem neuen globalen Maßstab die Märkte die Kultur schufen und die Kultur umgekehrt die Märkte. Diese Interpretation unterscheidet sich von denjenigen Ansätzen, welche die Geschichte der Renaissance in erster Linie als eine Geschichte von Künstlern verstehen, die ihr Selbstvertrauen und ihre Ideen in der Zusammenarbeit mit humanistischen Gelehrten in italienischen(2) oder deutschen(6) Städten gewannen. Das Verständnis für die merkantilen Gepflogenheiten und Denkweisen ist zu einem integralen Bestandteil der Kunstgeschichte der Renaissance(7) geworden.[11] Allerdings sollte eine solche Geschichte sich natürlich nicht nur auf die Malerei und die Bildhauerei konzentrieren – auf dasjenige, was vom 19. Jahrhundert an ausschließlich als »westliche bildende Kunst« definiert wurde.[12] Dass die Malerei zu den freien und nicht den niederen mechanischen Künsten gezählt wurde, dafür haben sich viele Künstler wie Dürer vehement eingesetzt. Immer mehr von ihnen machten daher von Signaturen Gebrauch und malten nach lebendigem Vorbild – nach Menschen natürlich, aber auch nach Tieren, Mineralien und Pflanzen, um behaupten zu können, dass sie durch die Nachahmung der Natur dem unmittelbaren Verständnis von Gottes Entwürfen näherkamen als durch die mathematische Abstraktion über Zahlen und Formen, wie sie von akademisch geschulten Gelehrten befürwortet wurde.[13]

Die zunehmende Reisetätigkeit und die globale Expansion förderten die Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit der Natur und das Interesse an einer Gewinnung verlässlicher empirischer Fakten. Darüber hinaus spielten die politischen Zusammenhänge des Kunstverständnisses eine gehörige Rolle, da die visuelle Kultur immer stärker in die nationale und internationale Politik eingebettet wurde, nicht zuletzt durch die zunehmende Bedeutung diplomatischer Geschenke und Praktiken, die dazu dienten, durch die Zurschaustellung künstlerischer Leistungen in der Architektur sowie durch Mode und Sammlungen weltliche Macht zu demonstrieren. Die Herrscher interessierten sich für ausgeklügelte Ideen, die einen wirtschaftlichen Gewinn in Aussicht stellten. Während Friedrich III.(5) ein Straußenei nur dann als einen Schatz betrachtete, wenn es mit exquisiten Goldschmiedearbeiten bestückt war, maßen andere Sammler hingegen eher schmucklosen Naturraritäten einen Wert bei.[14]

Am Ende seines Lebens stand Dürer selbst an der Spitze eines Zeitalters globalen Handels, das eine neue Faszination für Naturraritäten und das Sammeln von Kunstobjekten begründete, die in Kuriositätenkabinetten vorgeführt wurden. Einige von ihnen umfassten Tausende von Gegenständen, die aus der ganzen Welt und über die Zeit hinweg zusammengetragen wurden und das Seltene und Fremde gegenüber dem Gewöhnlichen und Bekannten zelebrierten. Solche Raritäten regten Dürers Neugier an und erweiterten seinen Bildungshorizont ebenso wie sein Weltbild; auch versetzten sie ihn gleichermaßen in die Lage, Beziehungen zu Herrschern, Kaufleuten und Gelehrten zu pflegen, die ihm weiteres Ansehen einbrachten. Die Einstellung gegenüber der Natur und ihrer Erforschung änderte sich zu dieser Zeit grundlegend, und Dürer war einer der Künstler, der eine Vorreiterrolle spielte, indem er eine neue Aufmerksamkeit für die Detailbeobachtung förderte. In der Folge stieg die Nachfrage nach Naturobjekten und damit auch die Erforschung ihres Nutzens.

Abb. 1.4 »Die Wunderkammer des Ferrante Imperato«, 1672. Ferrante Imperato, Historia naturale … In questa seconda impressione aggiontovi da Gio[vanni] Maria alcune annotationi alle piante nel libro vigesimo ottavo, 2. Aufl. (Venedig(1), 1672), nichtpaginierte Beilage. Courtesy of the Wellcome Library, London(1).

Das Interesse an natürlichen Kuriositäten und kunsthandwerklichen Gegenständen bedeutete, dass die Kunst in Deutschland(7) mit Aufkommen des Protestantismus(1) nicht zwangsläufig unterging. Im Zuge der Reformation(1) entwickelten sich ab den 1520er Jahren neue Geschmäcker. Aus dieser Zeit gehen die globale Expansion, die Angriffe der Bilderstürmer auf die Kunst, die Entwicklung des Buchdrucks und des Bildungswesens sowie der Aufstieg der Mode hervor. All diese Faktoren begründeten eine außergewöhnliche Periode schnellen Wandels, auf den Dürer und andere deutsche(8) Künstler nach ihm reagierten.

Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Veränderungen erklären außerdem, warum es selbst für einen Künstler von Dürers Qualität alles andere als selbstverständlich erscheint, dass wir uns seinen Namen merken und Museen besuchen, um seinen Gemälden unsere Ehre zu erweisen. Vielen damaligen Sammlern ging nichts über Raritäten. So wie sie sich heute zuhauf in den Museen wiederfinden, können sie regelrecht bizarr auf uns wirken, auch wenn wir natürlich gelernt haben, wie man sich zu einem Gemälde verhält. Dieses Buch lädt dazu ein, solche Vorlieben unter anthropologischen Gesichtspunkten zu betrachten, visuelle Dispositionen und die Beschäftigung mit Materialien als fremd, aber aufschlussreich zu begreifen, um zum Wesenskern einer Gesellschaft vorzudringen.[15] Daher befasst sich der zweite Teil dieses Buches mit einem Kaufmann und seinem Interesse an der Kunst in der entscheidenden zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als Deutschland(9) sich zu einer in Protestanten und Katholiken gespaltenen Gesellschaft entwickelte, seine Bevölkerung wuchs und die Staatskunst ausgereifter wurde. Hans Fugger(1) (1531–1598), einer der reichsten Männer der Welt, war ein Sammler und Lieferant von Novitäten. Während Heller(5) Kunst in Auftrag gab, weil er um sein Seelenheil besorgt war, war Hans Fugger ein überzeugter Katholik in einer Zeit religiöser Erneuerung.

Fugger(2) hat uns Tausende von Briefen hinterlassen, von denen allerdings nur einer den Namen Dürers erwähnt. Sie verraten uns, warum bloß andere Kategorien von Objekten so attraktiv wurden und welche kulturellen Vorstellungen und Visionen mit diesen verbunden waren. Private Zoos, Volieren und Kuriositätenkabinette mögen uns heute vielleicht als phantastische Weltflucht erscheinen. Warum interessierte sich jemand für Elche, Kanarienvögel, Korallen, türkische(1) Schuhe oder tote Paradiesvögel und bezahlte dafür so viel? Außerdem gab Fugger(3) ungemeine Summen für neuartige Konsumgüter und vor allem für Kleidung aus. Vieles davon amüsiert uns in seiner Protzigkeit. Pferde waren die Ferraris dieses Mannes, wenngleich er im Alter auf sanftere und duldsamere Rassen angewiesen war. Einmal färbte Fugger sein Pferd sogar mit Safran ein, um den Eindruck von größerer Opulenz zu erzeugen.

Anhand von (4)Fuggers Briefen lässt sich nachvollziehen, wie die Rolle solcher Objekte im Rahmen von Handelsbeziehungen, Staatenbildung und neuen Geschmäckern innerhalb eines marktorientierten Verhaltens an Bedeutung gewinnt. Die Briefe berichten uns von Fuggers Beziehung(5) zum katholischen bayerischen Hof, der sich in seinem Bestreben, ein Schlüsselakteur in der deutschen(10) Politik zu werden, zu einem Machtzentrum der Sammelpraxis entwickelte. In den 1580er Jahren beherbergte München(7) eines der größten Kuriositätenkabinette Europas(6). Zu diesem Zeitpunkt umfasste es Tausende von Objekten, allerdings nur sehr wenige von Dürer, und diese wurden auch nicht an prominenter Stelle zur Schau gestellt.

Nichts in seiner Kindheit lässt erahnen, warum Herzog Maximilian I.(3) später wie besessen Dürers Altarbilder kaufte. Internationale Kaufleute und Geldgeber wie die Fugger(1) mit ihren Verbindungen zur Iberischen Halbinsel und in den atlantischen Raum sowie obendrein in die mediterrane, osteuropäische(7), osmanische(2) und baltische Welt(1), waren wichtige Vermittler, die ihren Beitrag dazu leisteten, am Hof ein breiteres Kunstverständnis auszubilden. Abgesehen von ihrem Interesse an Objekten beschafften diese Händler unter großem Aufwand Arzneimittel und neuartige Nahrungsmittel, darunter den bildschönen Blumenkohl, um Körper und Sinne in einer zunehmend wettbewerbsorientierten Zeit, die Blütezeiten wie Pleiten erfuhr, zu stärken und zu erfreuen.

Während einer solchen Blütezeit nahm Dürers Schicksal eine plötzliche Wendung. Er wurde zu einem der ersten Künstler, mit denen Geld gemacht wurde. Als Exponenten eines Phänomens, das oft als »Dürer-Renaissance(8)« bezeichnet wird, begannen mehrere Sammler ab den 1580er Jahren, Jagd auf seine Gemälde zu machen, und zahlten Tausende von Gulden dafür.[16] Unter der Führung von Kaiser Rudolf II.(1) leerten sie systematisch alle Kirchen von Dürers seltenen Altarbildern. Ein Coup folgte dem anderen. Hellers(6) Altarbild in Frankfurt(4) erwies sich dabei als eines der am schwersten zu erwerbenden Dürer-Werke. Herzog Maximilian von Bayern(4), unzufrieden mit seinem Kuriositätenkabinett, wurde zum hartnäckigsten und schließlich erfolgreichen Bieter. Der Herzog gehörte der Dynastie der Wittelsbacher an, die die Kunst schon lange zu einem Eckpfeiler ihres politischen Führungsanspruchs im Heiligen Römischen Reich erklärt hatte. Noch zu Lebzeiten Maximilians wurde dieses Altarbild in zwei Inventaren als im Erstbesitz der Sammlung befindlich ausgewiesen, die von ihm und drei vorangegangenen Generationen von Wittelsbacher Herzögen aufgebaut worden war.

Wir wissen einiges über den Aufstieg der Renaissancekunst im Zuge des aufkommenden Luxuskonsums in Italien(3) und den Niederlanden(1). Dabei hat die deutsche(11) Forschung erst seit Kurzem begonnen, sich ausführlich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Gestalt der Kunstmarkt im Laufe des 16. Jahrhunderts und bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges(2) (1618–1648) hinein annahm – und dies war die Zeit, in der Dürers Stellung als international anerkannter Maler bestätigt wurde. Die Geschichte der deutschen(12) Kultur in dieser Periode konzentriert sich herkömmlicherweise auf die Höhepunkte des Humanismus und an ihrem Anfang auf Luthers(2) Durchbruch – eine dynamische Diskussionskultur, die durch die Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten »allmählich verblasste« und zu insularen Spaltungen unter den vielen deutschen(13) Territorialstaaten führte. Sie könnte den Anschein einer Kulturgeschichte erwecken, deren nächster Höhepunkt erst der Aufschwung der Goethezeit war, ohne dass es etwas dazwischen gab.[17]

Die in Dürer im Zeitalter der Wunder vorgestellte Interpretation zeigt, wie die Geschichte der materiellen Kultur diese Darstellung modifiziert, indem sie die Rolle der Hersteller, Händler und herrschenden Eliten als kulturelle Innovatoren hervorhebt. Ich möchte verstehen, welche Bedeutung sie Pigmenten, neuen Moden oder Blumen beimaßen und wie die Bedeutung besonderer Eigenschaften von Materialien – einschließlich Farben, Muscheln oder Seide – in dieser Welt zum Ausdruck kam.[18] 1618 befanden sich einige der wichtigsten Sammlungen und Gärten Europas(8) – vom katholischen Wien(2) und Eichstätt(1) bis zum protestantischen Heidelberg und Dresden – in den deutschen(14) Ländern. Ein großer Zustrom protestantischer Flüchtlinge aus Flandern(1) und Frankreich(1) sowie sephardischer Juden verteilte sich über das Gebiet, wo sie sich als Kaufleute und erfahrene Handwerker in Städten wie Frankfurt(5), Hanau(1), Frankental(1), Glücksstadt(1), Freudenstadt(1) oder Nürnberg(10) niederließen. Die Gesellschaft wurde durch ihre Dynamik bereichert. Mehrere dieser Städte wurden neu gegründet. Die Zahl und der Ehrgeiz der städtischen Sammler und Sammlerinnen wuchs. Herrscher vom Süden bis in den hohen Norden planten ambitionierte künstlerische und architektonische Projekte und wurden in einem konfessionell gespaltenen Land durch die Bemühungen um Regierungsführung und Diplomatie enger miteinander verbunden.

Abb. 1.5 Anton Mozart(1), Die Präsentation des Pommerschen Kunstschranks (um 1615/16), Öl auf Holz, 39,5 × 45,4 cm. Kunstgewerbemuseum Berlin(1).Der Kunstagent Philipp(1) Hainhofer präsentiert 1617 sein erstes Kabinett in Stettin dem Herzog(1) und der Herzogin von Pommern(1), die im Hintergrund sitzen; im Vordergrund zu sehen ist eine große Parade Augsburger(1) Künstler, die an der Montage beteiligt waren, und in der Mitte des Bildes wird das Kabinett auf einem Tisch vorgeführt.

Der dritte Teil dieses Buches zeigt anhand der Auseinandersetzung mit einem der ersten erfolgreichen Kunstagenten, wie sich die europäischen(9) Künste und Gesellschaften wandelten. Philipp(2) Hainhofer (1578–1647) entsprach dem neuen Typus eines protestantischen Kaufmanns, der mit Luxusgütern handelte. Er agierte international als professioneller höfischer Kunstagent, so auch für den katholischen Hof von Bayern. Hainhofer koordinierte jahrzehntelang ganze Horden von Augsburger(2) Luxushandwerkern, um Kuriositätenkabinette als einzelne, mit Hunderten von erlesenen Raritäten ausgestattete Möbelstücke herzustellen. Heute finden sich seine Kreationen in den glanzvollsten Kunstbüchern. Sie repräsentieren das Beste vom Besten dieser Epoche und verkörpern ihr philosophisches und spirituelles Programm, das die Wunder von Kunst und Natur zu offenbaren sucht und die Grenzen der Wahrnehmung, Kategorisierung und Unterscheidung von beidem verschiebt.

Artefakte und schriftliche Quellen gibt es in Hülle und Fülle, und sie ermöglichen es uns, Hainhofers(3) Leistungen vollständig zu erfassen.[19] Seine Kabinette schmückten herrschaftliche Räume von Florenz(1) über Wien(3) bis Uppsala, und er war ganz erpicht darauf, einen Kunden in Amerika(1) zu finden. Als Vermittler, Ästhet und Händler mit Energie und seltenem Weitblick stützen seine Betätigungen die These, dass bedeutende Sammlungen vielmehr von Kulturunternehmern wie ihm und den aufkommenden globalen Märkten für Raritäten geprägt wurden als von einer programmatischen Vorstellung von Kunst, die Skulpturen, Gemälde und Drucke exklusiv dem ästhetischen Genuss vorbehielt. Mit der Gründung der Niederländischen(2) Ostindien-Kompanie im Jahre 1602 eröffnete sich beispielsweise ein Angebot an Muscheln aus Indonesien(1). Diese Muscheln werden Hainhofer(4) und andere sicherlich genauso fasziniert haben wie Gemälde – durch eine tiefgreifende Erfahrung ihrer Farben, Texturen und interessanten Geometrie, welche von Dürers theoretischen Schriften inspiriert war. Muscheln zeigten Gott als spielerischen Schöpfer.[20] Im Zuge der Reichsexpansionen sollten die Wunderkammern und die mit ihnen verknüpften Formen wissenschaftlichen Wissens sowie ästhetischer, politischer und religiöser Empfindungen fortan für die Auseinandersetzung mit den Künsten im 17. und 18. Jahrhundert prägend sein.

Diese Entwicklung verlief parallel zur vollen Entfaltung und stärkeren internationalen Integration des Sammlermarktes für Bilder und Raritäten. Kunst, Politik und Religion verschränkten sich auf neue Weise.[21] Die Jagd Maximilians von Bayern(5) auf das von Heller(7) in Auftrag gegebene Altarbild Dürers gibt Aufschluss über die Bedeutung, die dieses Gemälde ein ganzes Jahrhundert nach seiner Entstehung erlangte. Die ästhetischen Qualitäten des Gemäldes und seine kommerzielle Attraktivität spielten dabei eine wichtige Rolle. Ebenso wichtig war aber auch sein Thema. Das Heller-Altarbild stellte die Jungfrau Maria dar und entsprach im Kern den Vorstellungen Maximilians. Dürer hatte seine Maria ein Jahrzehnt zuvor gemalt, bevor die protestantische Reformation(2) Deutschland(15) erschütterte. Nürnberg(11) wurde zu einer der wichtigsten Städte, die sich gegenüber den Habsburger Kaisern zum Luthertum bekannten. Doch ein Jahrhundert später führte Maximilian(6) eine Bewegung an, die die Jungfrau Maria zu einem triumphalen Symbol der militanten katholischen Reform erhob, die er im gesamten Heiligen Römischen Reich – in Deutschland, Österreich(1) und Böhmen(1) – verfocht. Als 1617 der Dreißigjährige Krieg(3) ausbrach, wurde das für Heller bestimmte Gemälde Dürers schließlich in München(8) aufgehängt, um alsbald schon wieder in Sicherheit gebracht werden zu müssen, da Soldaten im Dienst der lutherischen Schweden(1) die herzoglichen Sammlungen plünderten. Dürer hatte sich vorgestellt, dass sein Gemälde für immer in der Frankfurter(6) Kirche bleiben würde, um dort von Kunstkennern aus aller Welt bewundert zu werden. Doch in diesen Zeiten des Wandels wurden religiöse Themen zu den ideologisch am stärksten aufgeladenen und umstrittensten Themen überhaupt. Die protestantische Reformation veränderte die Sujets, die in Kirchen ausgestellt oder besessen werden durften, und machte vorreformatorische Meister in einem noch nie dagewesenen Ausmaß für den Kunstmarkt verfügbar.

Der Dreißigjährige Krieg(4) brachte die Staaten, die ihre Sammlungen durch Plünderungen bereicherten, gegeneinander auf, was zur Folge hatte, dass teure Raritäten als diplomatische Geschenke zirkulierten, um Schutz auszuhandeln. Der Krieg brachte dabei auch einen eigenen Markt hervor. Wie in jedem Krieg war dieser Markt wie geschaffen für Profiteure, die denjenigen, die zum Verkauf gezwungen waren, Geld anbieten konnten. Er beförderte eine einmalige Fluidität auf dem Kunstmarkt und das Entstehen und Vergehen europäischer(10) Sammlungen. Unsere Geschichte Dürers und der deutschen(16) Kunst und Gesellschaft in der Renaissance(9) und im Frühbarock(1) endet daher in London(2). Hier erwarb der große Sammler Thomas Howard(1), Earl of Arundel, Werke von Dürer sowie die Bibliothek seines engsten Freundes Willibald Pirckheimer(1). Vieles davon befindet sich heute noch in der Stadt.

Dieses Buch beschreibt, welchen Einfluss die Kaufleute ausübten, wie sich dieser im Laufe der Zeit veränderte und wie er auf verschiedenen Schauplätzen durch verschiedene Arten von Akteuren, wie den Mäzenen, den Fernhändlern oder den professionellen Kunstagenten in ihrer Funktion als Makler, ausagiert wurde. Diese Beziehungen halfen zu bestimmen, von wem, warum und wie dem Kunsthandel selbst Wert beigemessen wurde. Mein Buch beschäftigt sich mit der Biographie eines verlorenen Meisterwerks der Renaissance(10): mit dem Altarbild, das der Kaufmann Heller(8) bei Dürer in Auftrag gegeben hat, und mit der erstaunlichen Geschichte, wie es vor der Reformation(3) hergestellt und geschätzt wurde und dann in den Geltungsdrang der bayerischen Herrscher verwickelt wurde, als Deutschland(17) zu dem europäischen(11) Land wurde, das am meisten von Kriegen im Namen der Religion zerrissen wurde. Beim Erzählen der Geschichte eines der besten Maler aller Zeiten und seines vergessenen Meisterwerks eröffnet sich eine überraschende Perspektive auf die Kultur, Politik und Gesellschaft in Deutschland und Europa(12) in einer nachhaltig prägenden Zeit, in der die Künste auf der ganzen Welt an Reichweite und Bedeutung gewannen.

Dieser Blickwinkel ermöglicht uns auch, Dürer, der Legende und dem Menschen, näherzukommen. Wie viele deutsche(18) Kinder begegnete ich Dürer das erste Mal im Angesicht eines 500-teiligen Puzzles. Dann wurde ich nach Nürnberg(12) mitgenommen, um sein Haus zu besuchen. Ich klebte eine schwarz-weiße Postkarte davon in ein Album. Ich sah Abbildungen von Das große Rasenstück und Der Hase. Als ich mit diesem Projekt begann, fragte mich ein britischer Kunstkritiker, ob mir Dürers Werk gefalle. Ich erinnere mich, dass ich, die ich in Westdeutschland(1) aufgewachsen bin, nach den großen Jubiläumsfeierlichkeiten zu seinem 400. Geburtstag im Jahre 1971 dachte, Dürer nicht zu mögen, sei schlichtweg nie eine Option gewesen. Die außergewöhnliche Aneignung und Kommerzialisierung von Dürers Werk in alle möglichen Richtungen beschleunigten sich damals und haben nie aufgehört – heute kann man sogar eine Playmobilfigur des bärtigen Meisters Albrecht mit seiner Palette kaufen.[22] Trotzdem habe ich als Kind nie wirklich viel über ihn als Menschen in seiner Zeit erfahren. Dürer hinterließ eine größere Anzahl persönlicher schriftlicher Aufzeichnungen als fast jeder andere Künstler des 16. Jahrhunderts. Doch diese sind nie in modernem Deutsch zugänglich gemacht worden. Seine Stimme erreicht uns meist nur über Biographien vermittelt, es sei denn, man begibt sich in die Welt des fränkischen Dialekts. Um uns Dürer näherzubringen, sind alle Zitate in diesem Buch modernisiert worden.

Dürers Schriften verraten mehr über sein Innenleben als die eines jeden anderen Künstlers der nordalpinen Renaissance(11). Seine Briefe sind eine Schatzkiste. Dürer wird nach wie vor oft in Bezug auf sein graphisches Werk diskutiert, aber die Briefe verraten uns, wie wichtig die Malerei für ihn war und in welcher Beziehung diese zu den zentralen Lehren der Naturphilosophie und der Religion seiner Zeit stand. Dies wiederum lässt uns den Humanismus mit ganz neuen Augen betrachten – wurzelte dieser doch in praktischen Experimenten und medizinischer Versorgung und nicht nur in einer Welt des Geistes. Ich behaupte, dass in Dürers Auseinandersetzung mit der Materialität der Malerei, den Pigmenten oder Ölen, die intellektuellen Strömungen dieser Zeit widerhallen.[23] Durch Dürers Schriften lernen wir die Bedeutung anderer materieller, körperlicher Aspekte des Lebens kennen: seine sexuellen Phantasien oder seine Freude an kulinarischen Köstlichkeiten. Sie führen uns in seine innere Gefühlswelt und erzählen uns, was ihn wütend und manipulativ machte. Nicht nur in seinem künstlerischen Leben gestand er sich zu, sich von der Lust treiben zu lassen und mit Konventionen zu brechen. Er liebte den Humor, konnte selbstironisch und furchtbar sarkastisch anderen gegenüber sein. Er konnte sowohl berechnend als auch kompromittierend sein. Und obwohl er sich von den lutherischen Ideen angezogen fühlte, überging Dürer lieber die Angriffe der Reformatoren auf die Fernhändler als Verantwortliche für wachsende Ungleichheit. Seine Phantasie, seine Träume und seine tiefe Spiritualität inspirierten ihn zu einigen der kraftvollsten Bilder des Grauens und der Hoffnung; und nichtsdestotrotz war er jahrzehntelang gleichermaßen besessen damit beschäftigt, die richtigen Proportionen von Hunderten von Körpertypen zu berechnen. Dürer versank in Arbeit, um schließlich ein Buch hervorzubringen, in dem nur wenige einen praktischen Nutzen sahen. Innerhalb seiner engsten Freundschaften erfuhr seine Arbeit Unterstützung, doch wurden diese manchmal durch soziale Distanz und Eifersüchteleien unter Männern belastet. Der Künstler mochte das Glücksspiel und kaufte liebend gerne ein, musste sich aber ständig um seine Ausgaben sorgen. Im Gegensatz zu seinem Wittenberger(1) Zeitgenossen Lukas Cranach(1) baute Dürer nie eine große Werkstatt auf, um mit der Standardisierung seiner Entwürfe und deren fabrikmäßiger Vervielfältigung Geld zu verdienen.

Diese Quellen erzählen uns vor allem die Geschichte eines außerordentlich phantasievollen Künstlers, der darum kämpfte, so unabhängig und anerkannt wie möglich zu sein, und sich deshalb oft unter gesellschaftlichen Druck gesetzt fühlte. Obwohl er durch seine Kleidung und seine Kreativität aus der Reihe fiel, wollte er lieber mit den Menschen gut auskommen, als einen Skandal herbeizuführen. Daher stellen seine flammenden Briefe an Heller(9) eine Ausnahme dar. Er blieb seiner Mutter gegenüber ein pflichtbewusster Sohn und war ein loyaler Bruder, Freund und Ehemann. Dürer passte sich der Politik des Nürnberger(13) Rats an und war bestrebt, den herrschenden Eliten zu dienen und von ihnen Privilegien zu erhalten. Vielleicht zum Teil auch deswegen, weil Dürer seinen alten Vater(6) mit seiner Entscheidung, nicht in dessen Fußstapfen zu treten, beleidigt hatte; doch noch naheliegender als Grund für seine lebenslangen Ängste vor Feindseligkeit und Ablehnung ist der Umstand, dass er nicht über eine fundierte Schulbildung verfügte. Das Gleiche gilt für sein Engagement, sein Wissen und seine Leidenschaft für die Kunst und das Handwerk an andere Hersteller weiterzugeben.

Das war damals so radikal wie heute. Dürers Anliegen war es, dass das kreative Schaffen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft geschätzt und so gut wie möglich ausgebildet wurde. Sein Werk eröffnet einen einzigartigen Einblick in das Seelenleben einer Avantgarde, die in einer sich modernisierenden Welt für den Wert von Kunst und Kunsttheorie kämpfte. Keines der Themen, mit denen er rang, ist verschwunden – das Verhältnis von Kunst und Kunsttheorie zu Politik und Geschäftswelt, die Anerkennung des Kunsthandwerks, die Frage nach dem angemessenen Wert und Preis sowie die Rolle der Ästhetik in der Gesellschaft. Sein Leben birgt eine Fülle von Fragen für unsere Gegenwart. Vielen, die seine gewagten Selbstporträts betrachten, erscheint Dürer einfach nur überheblich. Doch der Mann, dem ich in seinen Briefen und anderen Schriften begegnet bin, war ebenso zwiespältig und herausfordernd wie viele andere Künstler seiner oder unserer Zeit.

Teil Eins

Briefe an Heller

1.

Was nur wenige vollbringen können

Ende August 1507 faltete der Frankfurter(7) Kaufmann Jakob Heller(10) einen Brief auf. Er hatte bei dem Nürnberger(14) Meister Albrecht Dürer ein prestigeträchtiges Altarbild in Auftrag gegeben und sich vor Kurzem nach dem Arbeitsstand erkundigt. In feinsäuberlicher Schrift erklärte Dürer seinem wohlhabenden Mäzen höflich, warum er mit dem Auftrag noch gar nicht begonnen hatte:

Meinen bereitwilligen Dienst zunächst, lieber Herr Heller(11). Euer gütliches Schreiben habe ich mit Freuden empfangen. Aber wisset, dass ich bis jetzt mit einem Fieber beschwert war, weshalb ich etliche Wochen an der Arbeit am Auftrag Herzog Friedrichs von Sachsen(1) gehindert war, was mir sehr zum Nachteil gereicht hat. Aber jetzt wird sein Werk doch zur Gänze fertig werden, denn es ist mehr denn halb gemacht. Darum habt Geduld mit eurer Tafel, die ich nach abgeschlossener Arbeit, wenn ich dieses Werk für den obengenannten Fürsten fertiggestellt habe, von der Stunde an machen und mich befleißigen will, wie ich es Euch hier zugesagt habe.

Dürer fuhr damit fort, den Frankfurter(8) Kaufmann(12) über die angelaufenen Vorbereitungen zu informieren – ein Schreiner hatte die Holztafel bereits sorgfältig vorbereitet:

Und wiewohl ich sie noch nicht angefangen habe, so habe ich sie doch vom Schreiner ausgelöst und das Geld übergeben, das Ihr mir gegeben habt. Davon hat er nichts abziehen wollen, wiewohl es mich dünkte, dass er nicht so viel verdient hat. Und dann habe ich sie zu einem Präparator gegeben, der sie geweißt und gefärbt hat[1] und sie nächste Woche vergolden wird. Habe bis jetzt noch keinen Vorschuss annehmen wollen, bis ich anfange, sie zu malen, was, so Gott will, die nächste nach des Fürsten Arbeit sein soll.

Dürer erklärte, unter welchem Druck er stehe, da Friedrich der Weise(2) (1463–1525) von ihm vollen Einsatz für seinen Auftrag verlangt hatte. Mit einer Größe von knapp 100 × 90 Zentimetern war Dürers für den mächtigen Sachsenherzog erstellte Marter der zehntausend Christen ein für damalige Verhältnisse großes Ölgemälde. Dürer schuf mit den perfekt proportionierten Körpern der christlichen Märtyrer ein Meisterwerk der Renaissance(12), das auf schaurige Weise zu der Reliquiensammlung des Herzogs, den Knochen und Zähnen von Märtyrern und Heiligen, die alljährlich in der Wittenberger(2) Schlosskirche ausgestellt wurden, passte. Die lebensnahe Darstellung der Leiderfahrung regte ihre Betrachter zu eindringlichen Gebeten an. Die Kirche beherbergte insgesamt 16 Altäre, und ein Flugblatt, das die neu gegründete Wittenberger(3) Universität bewarb und im Jahre 1508 an angehende Studenten verteilt wurde, versprach denjenigen, die vor einem dieser Altäre beteten, einen 100-tägigen Erlass ihrer Sünden, wenn ihre Seele einst im Fegefeuer schmoren würde. Dürer hatte ein Hilfsmittel gemalt, um Erlösung zu erlangen. In seinem Brief an Heller(13) erklärte der Künstler, dass er, um sich nicht durch die Arbeit an solch anspruchsvollen Aufträgen überfordert zu fühlen und verdrießlich zu werden, beschlossen hatte, sich immer nur auf ein einziges großes Gemälde zu konzentrieren: »Es ist eben so, dass ich nicht gerne zu viel auf einmal aufnehme, um mich nicht zu beschweren. Auch der Herzog wird nicht warten müssen, wie es der Fall wäre, wenn ich sein und Ihr Bild gleichzeitig malen würde, wie ich es beabsichtigt hatte«.[2]

Dürers Tafel für Heller(14) maß fast zwei Meter in der Höhe und weit über einen Meter in der Breite. Allein schon wegen ihrer Größe wird sie im Erdgeschoss von Dürers gotischem Stadthaus eine imposante Erscheinung abgegeben haben, so wie sie dort für ihn bereitstand und darauf wartete, dass er mit der Arbeit beginnen würde. Mattweiß und wahrscheinlich nach dem darauf aufgetragenen Kaninchenleim riechend, wurden die Bretter aus poliertem Holz, die sorgfältig zusammengefügt waren, um die richtige Spannung zu erzeugen, dem Künstler zur Projektionsfläche seiner Inspirationen. Unterdessen wirkte er beschwichtigend auf seinen Auftraggeber ein, von dem großartigen Werk zu träumen, das das fertige Altarbild zu werden versprach:

Aber wisset noch als guten Trost, so viel mir Gott verleiht nach meinem Vermögen, will ich noch etwas machen, das nicht viele Leute machen können. Damit eine gute Nacht. Gezeichnet in Nürnberg(15) am Augustinustag 1507.[3]

Albrecht Dürer hat vor allem durch seine erstaunlichen Holzschnitte und Stiche Eingang in die heutige Erinnerung gefunden, als »Meister des schwarzen Strichs« und als Erfinder serieller Selbstdarstellung. Seine Altarbilder sind in den Hintergrund getreten. Dabei waren in der Renaissance(13) geflügelte Retabel diejenigen öffentlichen Kunstwerke, deren Herstellung am naheliegendsten war – sie galten als prestigeträchtig, und die Künstler konnten mehr dafür verlangen. In Auftrag gegeben wurden sie von einer wachsenden Zahl von Kaufleuten, die zu den neuen wohlhabenden städtischen Eliten gehörten. Bevor das Zeitalter der Museen anbrach, waren Kirchen die aufregendsten Schauplätze zeitgenössischer Kunst, und Schaffende wie Kenner kamen angereist, um sie zu sehen. Dürers belesene Freunde dürften ihm von einer Geschichte Deutschlands(19) erzählt haben, die Jakob Wimpfeling(1) 1505 veröffentlicht hatte. Der elsässische Gelehrte lobte die künstlerischen Leistungen der Deutschen und vermerkte, wie sehr Martin Schongauer(1) (ca. 1445–1491) von Künstlern und Kunstschaffenden bewundert wurde:

In der Kirche St. Martin und St. Franziskus in Colmar(1) befinden sich von seiner Hand gemalte Bilder, zu denen die Künstler selbst eifrig strömen, um sie zu kopieren und nachzuahmen.

Wimpfeling(2) kannte Dürer und erwähnte ihn gleich nach der Würdigung Schongauers – allerdings nur seine Kupferstiche und deren Verbreitung in Italien(4).[4]

Als Dürer den Auftrag von Heller(15) annahm, hat er wohl seinen Ruf verbessern und ein herausragendes Altarbild schaffen wollen, das sowohl bei Künstlerkollegen in Erinnerung bleiben als auch weithin besucht werden würde, da sein Standort an einem Knotenpunkt des europäischen(13) Handels- und Bildungswesens gelegen war. Frankfurt(9) lag näher an den Niederlanden(3) als seine Heimatstadt Nürnberg(16), und Künstler aus Flandern(2) gaben neben den Italienern das Tempo in der europäischen Kunstwelt vor. Geschäftsleute und Handwerker, aber auch Gelehrte und Drucker aus Europa(14) besuchten Frankfurt regelmäßig anlässlich der Messe, die im Frühjahr und im Herbst stattfand. Einem zeitgenössischen Reim zufolge gab es dort nichts, was es nicht gab: »Was der Mensch begehrt, ob groß oder klein, findet sich bei dir oder gar nicht«.[5]

Gerade hatte Dürer in einem anderen seinerzeit globalen Handelszentrum, der venezianischen(2) Kirche San Bartolomeo di Rialto, ein Altarbild platziert, das zur Mitte des Jahrhunderts neben Tizians(1) Meisterwerken oder den Bronzepferden des Markusdoms zu den bedeutenden Kunstwerken der Stadt zählte.[6] Das außergewöhnliche Ende des Dürer-Briefs bestätigt Dürers Selbstbild, wonach er sich auf einer Stufe mit älteren wie zeitgenössischen Meistern sah und innerhalb der Gruppe der Besten der Besten um zukünftigen Ruhm konkurrierte. Er wusste, dass solche Hierarchien die Rahmenbedingungen dafür schufen, wie ein kauffreudiger Mäzen ihn einschätzte. Wie also konnte Wimpfeling(3) bloß glauben, dass niemand außer Schongauer(2) jemals etwas Schöneres und Eleganteres gestalten könnte? Daher rührte Dürers erstaunliches Versprechen an Heller(16), »etwas [zu] machen, das nicht viele Leute machen können«. Wenn er die richtigen Bedingungen, die Zeit und Gottes Hilfe bekäme, würde er sich selbst übertreffen und ein Denkmal der Andacht für einen wohlhabenden Mann schaffen, das noch Jahrhunderte überdauern würde.

Diese Komplizenschaft zwischen dem Künstler und dem Händler, die in ihrem gemeinsamen Wunsch bestand, in Erinnerung zu bleiben, sollte sich auszahlen. Altargemälde für die richtigen Kunden in den richtigen Kirchen waren strategisch wichtig und trugen dazu bei, die Nachfrage nach den Werken eines Künstlers zu steigern, höhere Preise zu erzielen und ein künstlerisches Vermächtnis zu schaffen. Das Heller(17)-Altarbild gehört zu Dürers bedeutendsten und spirituell eindringlichsten Aufträgen und ist eines von nur zehn Altarbildern, die er je gemalt hat. Bis ins 17. Jahrhundert hinein hielt es sich als eine zentrale Sehenswürdigkeit in der Frankfurter(10) Kirche und galt als eines der bekanntesten Werke Dürers überhaupt.[7]

Doch nach der Auftragsarbeit für Heller(18) schuf Dürer nur noch ein weiteres Altarbild. Er malte es für eine randständige, neu gebaute Kapelle in seiner Heimatstadt Nürnberg(17) und nahm den Auftrag an, während er noch mit der Vollendung von Hellers(19) Werk beschäftigt war. Warum hat Dürer nach 1511 und in den verbleibenden 18 Jahren seiner Laufbahn sich um keine Aufträge für prestigeträchtige Altargemälde mehr bemüht oder solche angenommen? Hätten diese zusammen mit seinen Drucken seinem Ruhm etwa nicht zu internationaler Reichweite verholfen?[8]

Viele der Hinweise, die eine Antwort auf diese Frage liefern, finden sich in den acht weiteren Briefen, über die Dürer bis zuletzt mit Heller(20) im Austausch stand und die aufzeigen, welche Art von Beziehung ein so ehrgeiziger Künstler wie er zu einem kaufmännischen Mäzen wie Heller aufbauen konnte. Frustriert und wütend aufeinander zahlten beide Männer einen Preis. Für Dürer war der emotionale Tribut mit der Essenz seines Schöpfertums verbunden – und schlussendlich damit, was es für ihn bedeutete zu leben.

2.

Herr Jakob Heller(21)

Stellen Sie sich Jakob Heller(22) als einen kleinen, scharfsinnigen Geschäftsmann vor, wie er energisch einen Raum betritt, gekleidet in einen schwarzen Mantel mit einer großen runden Ledertasche an seinem Gürtel. Dieser Mann war das Produkt seines Geldes. Heller wurde in eine Frankfurter(11) Familie hineingeboren, die von einem wohlhabenden Schuhmacher abstammte, der 1384 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Im Laufe der nächsten Generationen gelangte die Familie(1) durch ihre Beteiligung am Handel zu immer größerem Reichtum, was durch den Erwerb eines Wappens gebührend gefeiert wurde, das drei glänzende Münzen derjenigen Währung zeigt, die als »Heller«(23) bekannt wurde. Diese Münze gehörte zu einer der drei Währungen, die auf den Frankfurter(12) Messen als Zahlungsmittel akzeptiert wurden. Der Name und die glückliche Hand Hellers(24) standen für Geld, und ganz offensichtlich hatte er Unmengen davon angehäuft. Der Heller galt dabei als die am niedrigsten dotierte Währung, und er ging durch sämtliche Hände: Um 1500 entsprach ein Gulden 200 Pfennig und 400 Heller. Jakobs Vater(1) betrieb einen Tauschhandel mit westfälischem Leinen gegen feine Stoffe, Gewürze und andere Luxusgüter aus Venedig(3) und legte sein Geld sorgfältig an. Er besaß viel Land, 560 Schafe und sechs Pferde sowie Stadthäuser in Frankfurt(13), die teils leer standen, wenn sie nicht gerade während der Messen an ausländische Kaufleute vermietet wurden.[1] Mit dem Aufschwung der Messe kam auch der Bedarf an Finanzmitteln – und wohlhabende Frankfurter(14) Familien wie die Hellers(2) mehrten ihren Reichtum durch die kluge Vergabe von Krediten. Im Jahre 1495 machte ein Stadtbesucher aus Nürnberg(18) die Beobachtung: »Es gibt dort eine Stiftskirche und mehrere Klöster, und der Gottesdienst ist ausgezeichnet, und die Leute sind geschickt im Geldverdienen«.[2]

Heller(25) wurde um 1460 geboren und war damit nur etwa zehn Jahre älter als Dürer. Nachdem er seine frühe Jugendzeit mit einem Studium der freien Künste in Köln(1) verbracht hatte, war er in die Geschäftswelt seiner Familie eingetreten und beteiligte sich ab 1487 mit eigenem Kapital an Handelsgesellschaften. Der Handel mit Stoffen und ihr strenger katholischer Glaube verbanden die Hellers(3) mit Italien(5). Jakobs Onkel amtierte 1500 als Konsul für die Stiftung deutscher(20) Kaufleute in Venedig(4), und Jakob war selbst nach Italien gereist, nicht zuletzt um Rom(1) im Jubiläumsjahr zu besuchen, in dem der Vatikan(2) eine allgemeine Sündenvergebung gewährte. Einer seiner Brüder lebte außerdem in Venedig und starb dort um diese Zeit, was es mehr als wahrscheinlich macht, dass auch Jakob selbst diese Stadt mit ihren prächtigen Kirchen, Palästen und dem lebhaften Handel rund um die Rialto-Brücke kannte.[3]

Obwohl er nur in seinem westmitteldeutschen Dialekt korrespondierte, wurde Heller(26) zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu einem der großen Männer Frankfurts(15), der als Kaufmann und Bankier zu großem Reichtum gekommen war. In seinen späten Vierzigern beauftragte er die führenden zeitgenössischen Künstler Dürer und Matthias Grünewald(1), sich und seine Frau zu verewigen. Frankfurt(16) zählte etwa 10 000 Einwohner. Heller war an mehreren Handelsgesellschaften beteiligt, amtierte zweimal, in den Jahren 1501 und 1513, als Oberbürgermeister seiner Stadt und vertrat Frankfurt wiederholt bei kaiserlichen Zusammenkünften und bei diplomatischen Missionen. Und er gehörte zu den wohltätigsten Bürgern der Stadt. Seine Frau Katharina(1), die er 1482 im Alter von etwa 25 Jahren ehelichte, stammte aus der überaus wohlhabenden und angesehenen Patrizierfamilie von Melem. Da Katharinas Vater sich erst vor Kurzem in Frankfurt niedergelassen hatte, trug ihre Heirat mit Heller dazu bei, das Ansehen und die Privilegien der Familie von Melem(1) zu befördern. Ihre Mitgift übertraf die Summe, die Jakobs Vater(2) dem Paar mitgegeben hatte, um die Hälfte; außerdem finanzierten die von Melems die Hochzeitsfeierlichkeiten.[4] Das Paar war in Besitz von Häusern, Feldern, Wiesen und Weinbergen in der Region und verpachtete einiges davon. Mit Katharinas Geld wurde der »Nürnberger(19) Hof« erworben, ein Komplex aus Ställen, Kellern und Unterkünften, der unmittelbar an das Haus ihrer Eltern grenzte. Hier wohnten Jakob(27) und Katharina(2) und empfingen Kaiser, darunter Friedrich III.(6), sowie Nürnberger(20) Kaufleute, die die berühmte Frankfurter(17) Messe besuchten. Die weitläufigen Räumlichkeiten des Hauses brachten allein durch die Kurzzeitvermietungen während der Messe jährlich Einnahmen von mindestens 600 Gulden ein. Die Hälfte dieser Summe spendeten die Hellers(4) im Winter an arme Bürger.[5] Ein von ihnen in Auftrag gegebenes Glasfenster zeigt selbstbewusst einen Engel, der das gemeinsame Wappen des Ehepaares hält – drei Heller-Münzen und die leuchtend rote Krabbe der von Melems.

Abb. 2.1 Kreisförmiges Buntglas, ein Engel hält die Wappen der Hellers(5) und von Melems(2). Historisches Museum Frankfurt(18).

Jakob(28) und Katharina(3) lebten also in einer bedeutenden europäischen(15) Stadt, die seit 1480 auch zu einem Zentrum des Buchhandels geworden war. Die meisten Bücher waren in lateinischer Sprache gedruckt und bedienten einen internationalen Markt; die Lage der Stadt am Main beförderte diesen Handel, da die Bücher in Fässern auf Schiffen über den Rhein transportiert wurden. Doch in Johannes Cochläus(1)’ Kurzer Beschreibung Germaniens von 1512 werden Frankfurt(19) und der Main noch nicht einmal in ganzen Sätzen beschrieben. Das Werk eines jungen Humanisten, der für seine Stadt werben wollte, beschrieb hingegen Nürnberg(21) als nicht nur deutsches, sondern auch europäisches(16) Zentrum.[6]

Doch in einer sich rasant entwickelnden Handelswelt mit einem immer größeren Warenangebot brachten die Frankfurter(20) Messen neue Märkte und Treffpunkte hervor und schufen finanzielle und politische Machtzentren. Die Hellers(6) waren gut vernetzt und verstanden sich darauf, ihr Engagement in Wirtschaft und Politik, im zeitgenössischen Kunstbetrieb, im Wohltätigkeitsbereich und in den Kirchen minutiös zu organisieren. Jakob erlangte in den Jahren, in denen er zu Dürers Auftraggeber wurde, nicht nur Popularität – so stand er achtmal an der Spitze der bedeutenden Frankfurter(21) Schützengesellschaft –, sondern auch Macht: Seit dem Jahr 1508 wachte er über die Qualität der heimischen Fustian- und Wollstoffe.[7] In ihren späten Vierzigern spendete das Ehepaar Geld an verschiedene Orden und gab im Jahre 1509 große, die Kreuzigung darstellende Sandsteinskulpturen für den Friedhof des Frankfurter(22) Doms in Auftrag, wo Katharinas Eltern begraben lagen. Jakob(29) und Katharina(4) suchten in Form von religiöser Kunst für ihre Seele und die ihrer Vorfahren zu sorgen. Die Inschrift auf den Skulpturen lautet: »Im Jahre 1509 ließen diese Darstellung des Kreuzes zum Lobe unseres Triumphators Jesus Christus errichten die Eheleute Jakob Heller und Katharina von Melem, wohnhaft im Nürnberger(22) Hof, für sich und ihre Vorfahren, auf daß Gott den Lebenden Gnade, den Verstorbenen die ewige Ruhe verleihe. Amen«. Hinzu kam ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes 1, Vers 5: »Er hat uns von unseren Sünden erlöst mit seinem Blut«; diese Auswahl zeigt, wie die Reformation(4) bald eine starke Rolle innerhalb der zeitgenössischen Frömmigkeit spielen würde, die Christus und sein reinigendes Blut in den Fokus rückt. Die Angst vor dem Tod und dem, was danach kommen würde, ließ sich durch den Glauben daran abmildern, dass Jesus für die Menschheit gestorben war.[8]

Jakob(30) und Katharina(5) verehrten aber auch weibliche und männliche Heilige sowie die Jungfrau Maria. Aus einer weiteren Inschrift geht hervor, dass Heller(31) und seine Frau ein großes Holzstück, das vom Kreuz Christi stammen soll, sowie mehrere Reliquien von Heiligen beiden Geschlechts in einem Metallkasten aufbewahrten. Sie wurden vom Mainzer Weihbischof gesegnet, der in der nahe gelegenen Stadt einem der mächtigsten deutschen(21) Geistlichen unterstand. Diese Segnung wurde als ein wirkmächtiges Ritual betrachtet, um die Sakralität von heiligen Dingen aufzuladen und zu aktivieren, sodass ihre Kraft auf die Laien übergehen konnte.[9] Die Hellers(7) griffen solche Rituale und heilige Besitztümer auf, um das ewige Leben ihrer Seelen im fortgeschrittenen Alter zu sichern. Im Jahre 1514 schenkten sie den Dominikanern eine mit kostbaren Illuminationen ausgestattete Bibel und finanzierten im selben Jahr den bekannten Künstler Jörg Ratgeb(1), der das Frankfurter(23) Karmeliterkloster mit dem größten Freskenzyklus ausstattete, der je nördlich der Alpen ausgeführt wurde.

Auch die heimischen Goldschmiede dürften Jakob(32) und Katharina(6) gut gekannt haben. Ihre umfangreiche Silbersammlung enthielt zahllose Devotionalien wie Kruzifixe und duftende Rosenkranzperlen, die sie berührt und beim Gebet verwendet haben werden. Das Ehepaar glaubte außerdem an die Wirksamkeit guter Taten. In seinem Testament aus dem Jahre 1519 vermerkte Jakob, dass ein Großteil des Schmucks, des Silbers, des Getreides und des Geldes für wohltätige Zwecke veräußert werden sollte; 100 Gulden, die Katharina(7) »zu Ehren Gottes« hinterlassen hatte, sollten dazu verwendet werden, graues Tuch, eine Fuhre Holz, Schuhe und etwas Brot für Bedürftige zu kaufen und sie mit Almosen zu versorgen.[10] Ein Frankfurter(24) Chronist würdigte Heller(33) daher als einen einzigartigen Wohltäter der Kirche und der Armen.[11]

In seinem Testament hinterließ Jakob Heller(34)