Magnolia Bay 1: Magic so Pure and Evil - C. F. Schreder - E-Book

Magnolia Bay 1: Magic so Pure and Evil E-Book

C. F. Schreder

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Beschreibung

»Schwarze Magie forderte immer einen Preis. Es brauchte Blut oder Knochen – und Leben.«

Kari ist die beste Schutzgeldeintreiberin Magnolia Bays, gleichzeitig an die unsichtbaren Fesseln des skrupellosen Skarabäusclans gekettet. Als ihr Vater eines Tages um die Freiheit seiner Tochter fleht, geschieht etwas Unfassbares: Plötzlich erinnert sich niemand mehr an ihn oder an Kari. Vergessen von ihrem Clan, flieht sie in die Walled City. Dort trifft sie den geheimnisvollen Agenten Nael und dessen Schwester Zora, eine Knochenmagierin. Beide sind einem gesichtslosen Dämon auf der Spur, der für das Verschwinden unzähliger Menschen verantwortlich ist. Obwohl sie ihm misstraut, ist Kari fasziniert von dem mysteriösen Nael. Doch er ist enger mit den Vorkommnissen verwoben, als sie ahnt, und sich auf ihn einzulassen, könnte Kari nicht nur ihr Leben kosten …

//Dies ist der erste Band der »Magnolia Bay«-Dilogie. Alle Romane der High Fantasy-Serie im Loomlight-Verlag: 

  • Magic so Pure and Evil
  • Love so Bitter and Sweet (Juli 24))//

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Das Buch

»Schwarze Magie forderte immer einen Preis. Es brauchte Blut oder Knochen – und Leben.«

Kari ist die beste Schutzgeldeintreiberin Magnolia Bays, gleichzeitig an die unsichtbaren Fesseln des Skarabäusclans gekettet. Als ihr Vater eines Tages um die Freiheit seiner Tochter fleht, geschieht etwas Unfassbares: Plötzlich erinnert sich niemand mehr an ihn oder an Kari. Vergessen von ihrem Clan, flieht sie in die Walled City. Dort trifft sie den geheimnisvollen Agenten Nael und dessen Schwester Zora, eine Knochenmagierin. Beide sind einem gesichtslosen Dämon auf der Spur, der für das Verschwinden unzähliger Menschen verantwortlich ist. Obwohl sie ihm misstraut, ist Kari fasziniert von dem mysteriösen Nael. Doch er ist enger mit den Vorkommnissen verwoben, als sie ahnt, und sich auf ihn einzulassen, könnte Kari nicht nur ihr Leben kosten …

Die Autorin

© Christoph Ascher

C. F. Schreder ist das Pseudonym von Christina Fuchs. Sie wurde 1992 in einem kleinen Tiroler Städtchen geboren, studierte Psychologie und Wirtschaftswissenschaften, lebte ein Jahr lang in Hongkong und arbeitete anschließend als Personalmanagerin in Österreich und in den USA. Vor allem während ihrer Reisen und Auslandsaufenthalte sammelte sie Inspirationen für ihre Geschichten. Heute lebt und schreibt sie in Salzburg.

www.instagram.com/christina.schreibt/

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Viel Spaß beim Lesen!

C. F. Schreder

Magnolia Bay – Magic so Pure and Evil

Mögliche Trigger findet ihr am Ende des Buches. Passt auf euch auf!

Für Mau

Prolog

10 Jahre zuvor

Das Zwitschern der Paradiesvögel vermischte sich mit dem Schluchzen von Karis Mutter zu einem tiefblauen Klagegesang. Strophen voller Trauer und Melancholie. Eine Melodie des Abschieds und doch von glockenheller Schönheit.

Kari schaute auf ihre Finger, an denen Goldringe voller Juwelen funkelten. Auf die perlenbesetzte Seide, die um ihre Schultern gewickelt war und in Kaskaden ihre Beine entlangfloss. Feinster Stoff und edelster Schmuck, die vermutlich zehnmal mehr wert waren als die schäbige Baracke ihrer Familie. Und doch hätte Kari all das liebend gern für einen weiteren Tag mit ihren Eltern eingetauscht.

Auf ihr linkes Handgelenk hatte eine Dienerin einen Skarabäus gemalt. Das Tier hatte ein geschlossenes Auge auf dem Rücken und hielt die Mondsichel in den Greifern. Ein Zeichen der Stärke und zugleich das Zeichen des Fremden, der schon bald ihre einzige Familie sein würde. Ihr neuer Vater. Ihr Herr. Ihr Besitzer. Auch wenn Kari nichts von alledem wollte.

Noch war der Skarabäus aufgemalt, doch sobald Kari sich als würdig erwies, würde der Fremde ihn permanent auf ihre Haut prägen lassen. Das hatte er versprochen.

Dann wäre sie eine richtige Nemea.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte sie einen Nachnamen, wie ihn sonst nur die Mitglieder der ältesten oder einflussreichsten Familien Magnolia Bays trugen. Zum ersten Mal wäre sie jemand, der Bedeutung hatte.

»Sieh mich an, Kind«, forderte eine schneidende Frauenstimme. »Du bist jetzt Mitglied eines stolzen Hauses. Verhalte dich auch so.«

Bisher hatte Kari es vermieden, den Anwesenden ins Gesicht zu schauen. Vor allem dem Fremden und der Frau, die er mit sich gebracht und als Chichiko Nemea, seine Ehefrau, vorgestellt hatte. Nun hob Kari vorsichtig den Blick und zwang sich, der Frau in die Augen zu sehen. Sie stand zwischen Karis neuem und ihrem echten Vater in dem winzigen Garten hinter der Baracke ihrer Familie, aus der das Schluchzen von Karis Mutter drang. Diese hatte es nicht über sich gebracht, die Hütte zu verlassen.

Chichiko war auf eine stechende Art schön. Dunkelrote mandelförmige Augen glänzten in ihrem runden Gesicht. Die Lippen waren mit violettem Stift umrahmt und ihre Haare fielen in Wellen über ihre Schultern bis zur Taille. Doch wie sie Kari musterte, ließ jegliche Schönheit vermissen.

Chichiko machte einen Schritt auf Kari zu und forderte: »Dreh dich, Kind. Lass dich anschauen.«

Hilfe suchend wandte sich Kari zu ihrem echten Vater. Als dieser nickte, folgte sie der Anweisung und drehte sich um die eigene Achse. Chichiko fasste eine von Karis bunten Haarsträhnen und kräuselte die Nase, als ginge ein unangenehmer Geruch von ihr aus.

»Was ist das nur für eine Farbe auf deinem Kopf? Blau und Rosarot und Violett. Als wärst du in einen Farbtopf gefallen.«

Kari schluckte, nicht wissend, ob sie etwas erwidern sollte oder gar durfte. Chichiko ließ die Strähne fallen und zog die Oberlippe hoch, sodass sie ihre Schneidezähne entblößte.

»Was willst du nur mit diesem jungen Ding, Daishiro? Sieh dir ihre Ärmchen an! Dünn wie Zweige. Und das Haar, wie ein verfilztes Vogelnest auf ihrem Kopf. Die Kleine ist bloß ein Kind.«

Die letzten Worte sprach sie wie eine Beleidigung aus. Dabei bedachte sie Kari mit einem Blick aus rot glänzenden Augen, so kalt wie gefrorene Lava.

»Noch«, sagte der Fremde in ruhigem Tonfall. »Aber ich bin mit Geduld gesegnet. Gib ihr fünf Jahre und sie wird das schönste Paradiesvögelchen in meinem Haus sein.«

In seinem Käfig, wohl eher.

Dann fuhr er fort: »Schau mich an, Kari. Du solltest keine Angst vor mir haben.«

Karis Lippen bebten. Sie wollte den Kopf drehen, wollte der Bitte des Fremden folgen, doch sie konnte es nicht. Konnte sich nicht dazu durchringen, ihn anzusehen, diesen Mann, der sie von ihren Eltern und ihrem Zuhause fortreißen und mit sich nehmen würde.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt.

»Bitte«, flehte ihr Vater. »Habt Geduld mit ihr, Don Nemea. Sie ist doch erst elf Jahre alt. Sie versteht das alles nicht.«

Und ob sie verstand! Was gab es da nicht zu begreifen?

Gestaltwandler-Familien stand ein Sitz im Äußeren Kreis der Regierung Magnolia Bays zu, was ihnen einen besonderen Status verlieh. In früheren Generationen hatte Karis Familie dies genutzt, um ein florierendes Handelsunternehmen aufzubauen. Doch in den letzten Jahren war die Macht der Gestaltwandler versickert, als hätte irgendjemand ein Loch in die unsichtbaren Schichten der Welt gebohrt, durch das die Magie unaufhaltsam abfloss. Während die Menschen mehrspurige Straßen und riesige Hochhäuser bauten, wurden immer weniger Leute mit magischem Potenzial geboren. Viele Wandler-Linien waren gänzlich verschwunden. Es war mit den Drachen geschehen, mit den Fischen und Bären, und nun auch mit Karis Familie, den Paradiesvögeln. Karis Großvater hatte es noch geschafft, sich Flügel und einen Schnabel wachsen zu lassen, ihr Vater konnte gerade einmal ein paar Federn auf seiner Haut sprießen lassen. Und Kari? Ihr fehlte jegliches magische Talent.

Mit der Magie waren auch die Stellung, die Geschäfte und das Geld ihrer Familie verebbt, und über die Jahre hatten sie in immer größerer Armut gelebt. Von ihrem Haus im Zentrum des Silver Districts hatten sie in eine Baracke umziehen müssen, die im Sommer heiß wie eine Sauna wurde und durch die im Winter der kalte Wind blies. Neue Kleidung hatten sie sich seit Jahren nicht leisten können und in den letzten Monaten war selbst das Essen knapp geworden.

Das wenige Geld, das sie hatten, und selbst solches, das sie eigentlich nicht hatten, gaben ihre Eltern für Karis Unterricht aus. Sie bezahlten Magier, Gurus und Professoren, in der Hoffnung, dass diese Kari das Verwandeln beibringen würden. Als letzte Nachkommin der Paradiesvogel-Linie war sie die einzige Chance für ihre Eltern, ihr altes Leben zurückzuerlangen. Wenn sie es schaffte, sich zu verwandeln, wäre ihre Familie wieder Teil der Oberschicht Magnolia Bays, ihnen stünde ein Sitz im Äußeren Kreis und damit in der obersten Linie der Macht zu. Ihr Leid wäre vorbei.

Doch trotz all der Übungsstunden und der Opfer, die ihre Eltern gebracht hatten, konnte Kari nicht einmal eine einzige Feder auf ihrer Haut wachsen lassen.

Sie hatte versagt.

Und nun war die letzte Möglichkeit, die Familienschulden bei den Nemeas zu begleichen, ihnen Kari zu verkaufen. Der Don des Skarabäusclans war ein Sammler, das hatte Karis Vater ihr erklärt. Er sammelte Kunst, seltene Pflanzen und Tiere und, allen voran, seltene Menschen. So wie Kari einer war. Als letzter Paradiesvogel war Kari wertvoll genug für ihn, um ihren Eltern die Schulden zu erlassen. Sie verdrängte die Frage danach, was er tun würde, wenn er herausfand, dass sie keinerlei Wandlungsfähigkeit besaß. Kari war kein Paradiesvogel. Kein echter. Kari war wertlos.

Ein Schatten legte sich über sie, als Daishiro Nemea, der Don des Skarabäusclans, vor sie trat und seine Hand unter ihr Kinn legte. Mit sanftem Druck hob er ihr Gesicht an und zwang sie damit, ihm in die Augen zu schauen. Kari hielt den Atem an.

Wenn sie weinte, würde Don Nemea das als Beleidigung auslegen. Wenn sie Angst zeigte, würde er sie für ihre Schwäche missachten. Das hatte Karis Mutter ihr am Morgen eingeschärft. Also hielt sie seinem Blick stand, auch wenn das Rasen ihres Herzens beinahe ihre Brust sprengte.

Don Nemea hatte ein gewöhnliches Gesicht, wie man es auf den Straßen zu Hunderten sah. Ein grauer Bart bedeckte seine Wangen und kantigen Kieferknochen. Seine Nase war dünn, die Augen schwarz und überraschend sanft für einen Mann, dessen Namen die meisten Menschen aus Respekt oder Furcht nicht auszusprechen wagten. Falten zogen sich über seine Stirn. Kari hatte ihren Vater sagen hören, dass Don Nemea um die fünfzig Jahre alt war. Genauso gut hätte er hundert sein können. Für Kari sah er uralt aus.

»Nun, Kari«, sagte er mit weicher Stimme. »Freust du dich, Teil der Nemea-Familie zu werden?«

Sie zwang sich zu nicken.

»Ich verspreche dir, dich zu beschützen, dich zu lehren, dich zu achten. Im Gegenzug dafür erwarte ich von dir Gehorsamkeit und Wissbegierde. Folge mir und die Welt wird dir zu Füßen liegen.«

»Danke, Don Nemea«, flüsterte Karis Vater. Sein Gesicht war noch grauer und eingefallener als normalerweise.

»Sie sollten sich um Ihre Frau kümmern«, fuhr Don Nemea mit einer Kopfbewegung in Richtung der Baracke fort, von wo aus das Schluchzen drang. An Kari gewandt sagte er: »Komm, mein Paradiesvögelchen. Wir brechen auf. Dein neues Leben wartet auf dich.«

»Wir haben ihre Sachen gepackt und ...«, begann ihr Vater, auf einen schäbigen Koffer deutend.

»Die brauchen wir nicht«, unterbrach Chichiko ihn.

Don Nemea hob eine Hand, was wohl so viel hieß wie: ›Halt den Mund.‹ Seine Frau verschränkte die Arme vor der Brust und schürzte die Lippen. Sie funkelte Kari noch hasserfüllter an als ohnehin schon. Doch sie gehorchte ihm.

Genauso wie Kari ihm würde gehorchen müssen.

»Komm, Tochter«, sagte Don Nemea und legte seine Hand auf Karis Rücken. Die sanfte Berührung sandte ein unangenehmes Kribbeln ihr Rückgrat hinab. Tochter. Es fühlte sich so falsch an!

»Aber ...«, begann Kari, doch ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Sie wollte sich verabschieden. Sie musste! Musste ihre Mutter ein letztes Mal in die Arme schließen. Musste sich von ihrem Vater sagen lassen, dass sie keine Angst haben sollte. Musste sich bei beiden dafür entschuldigen, dass sie versagt hatte.

Ihr Körper bebte, aber es gab nichts, das sie tun oder sagen konnte. Eine Wahl hatte sie sowieso nicht, als der Mann, der von nun an ihr Leben in der Hand hielt, sie von ihren Eltern wegführte, hin zu einer vor der Baracke geparkten Limousine. Chichiko stieg zuerst ein, Kari folgte ihr. Das Innere des Wagens war so stark heruntergekühlt, dass sie eine Gänsehaut bekam.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Chauffeur den Koffer mit ihren Habseligkeiten in eine Mülltonne warf, ehe er selbst einstieg. Dann schlossen sich die Türen des Wagens und Kari fühlte sich im eiskalten Inneren, als ob ihr jemand die Luft abschnürte.

Dies war der Käfig, in dem sie von nun an gefangen sein würde.

»High Heels bedeuten Macht.«

Kari

Jetzt

Kari liebte den Geruch von Angst.

Im Gegensatz zu Daishiro, der den Mief der Furcht fast noch mehr verabscheute als Schwäche. Als Kari jünger war, befahl er seinen Dienerinnen, sie in eine Wanne zu stecken und abzuschrubben, bis der Geruch von ihr abließ. Wenn es sein musste, stundenlang und bis Karis Haut rot glühte. Damals verstand sie nicht, was er von ihr abwaschen wollte. Zwar konnte sie Angst fühlen oder in den zitternden Lippen und dem gebrochenen Ausdruck in den Augen anderer sehen, aber riechen konnte Kari sie nicht.

Als sie ihn danach fragte, antwortete er: »Du wirst noch lernen, die Angst zu riechen, mein Paradiesvögelchen. Es ist ein Talent, eine Gabe und zugleich ein Fluch, die sich entwickeln, wenn du die Furcht anderer oft genug gekostet hast. Sie riecht nach Verwesung, süßlich und schwer, wie eine Mischung aus verdorbenem Obst, vergossenem Blut und Exkrementen. Wenn du diesen Gestank das erste Mal in der Nase hattest, wirst du ihn nie wieder los.«

Er hatte mit fast allem recht. Mit einer Ausnahme. Für Kari roch Angst nicht nach Verwesung, sondern nach der süßesten aller Versuchungen. Nach der Sache, die sie ihr Leben lang gewollt hatte und für die sie täglich kämpfen musste.

Angst roch nach Macht.

Und so sog sie die Luft tief ein, als sie gefolgt von ihren zwei Leibwächtern, dem schwarzhaarigen Haruo und dem silberhaarigen Genji, an dem Türsteher vorbeiging, der so tat, als würde er sich bei ihrem Anblick nicht fast in die Hose machen.

»G-guten Abend, Miss Nemea«, begrüßte der bullige Türsteher Kari und neigte den Kopf.

»Ich hoffe doch, dass es ein sehr guter Abend werden wird«, entgegnete sie und zog einen Mundwinkel nach oben.

Auf seiner Stirn erkannte Kari die ersten Schweißtropfen. Als sie noch breiter lächelte, zuckten seine Augenlider nervös. Ah, da war sie, diese unverkennbare Süße der Furcht.

Haruo trat hinter Kari und murmelte ihr ins Ohr: »Warte hier, während ich die Bar sichere.« Der leichte Befehlston in seiner Stimme fiel ihr sofort auf.

»Nein.«

»Kari ...«

Sie drehte sich um, sodass sie ihm in die grauen Augen blickte. Dabei berührten sich ihre Nasenspitzen beinahe. Einen Moment lang durchzuckte Kari ein Prickeln. Früher hatte sie sich gewünscht, Haruo so nahe sein zu können. Mit seinen schwarzen kurzen Haaren, den zahlreichen Tattoos, die seinen durchtrainierten Oberkörper und seine steinharten Arme bedeckten, und dem eisenharten Gesichtsausdruck sah er genauso aus, wie sie sich einen Götterkrieger vorgestellt hatte. Während sie ihn heimlich beim Training beobachtet und darauf gehofft hatte, er, der talentierte Kämpfer, würde sie bemerken. Aber das war eine andere Kari gewesen, eine schwächere, naivere Version ihrer selbst.

»Wenn du ganz lieb Bitte sagst, erlaube ich es dir vielleicht«, flüsterte sie.

Haruo presste die Lippen zusammen. Er hasste diese Machtspielchen. Seit er dem Skarabäusclan als Zwölfjähriger beigetreten war, hatte er sich einen Namen als Schattenassassine gemacht. Im Gegensatz zu den meisten Schlägern der Nemeas, die mit Vorliebe Nasen brachen und Blut vergossen, erledigte Haruo jeden Auftrag blitzschnell und ohne Spuren zu hinterlassen. Sein Vorgehen war zwar sauberer, seine Ziele deswegen aber nicht weniger tot. Und er traf jedes Ziel, auf das er angesetzt war.

Dadurch hatte er sich Respekt in den Reihen des Skarabäusclans verschafft. Mittlerweile war er vierundzwanzig Jahre alt und es wurde gemunkelt, dass Daishiro darüber nachdachte, ihn zu einem richtigen Nemea zu machen. Indem er ihn adoptierte, genauso wie Kari vor vielen Jahren, oder indem er ihm eine seiner Töchter, vielleicht sogar Kari, als Ehefrau versprach. Sollte dies geschehen, wäre Haruo Kari nicht nur ebenbürtig, er würde in der Rangordnung des Clans über ihr stehen - und das behagte ihr ganz und gar nicht.

Kari wusste nicht, wie viel an diesem Gerede dran war. Daishiro Nemea mochte offiziell ihr Vater sein, aber er vertraute ihr trotzdem nicht genug, um seine Pläne mit ihr zu teilen - oder sich gar Karis Meinung darüber anzuhören, was sie von ihrem möglicherweise zukünftigen Bruder oder Ehemann hielt. Er vertraute ihr ja nicht einmal genug, um sie allein loszuschicken. Denn das war der eigentliche Grund für die zwei Bodyguards, die Kari wie Schatten folgten. Sie waren nicht hier, um Kari zu beschützen - denn das konnte sie allein sehr gut -, sondern um sicherzugehen, dass sie nicht aus der Reihe tanzte.

Genji war das geringere Übel. Er hielt sich im Hintergrund und hatte zu viel Respekt, um Karis Anweisungen infrage zu stellen. Haruo nahm seine Aufgabe als Beschützer dafür um Längen zu ernst, zumindest wenn man Kari fragte. Und genau das war der Grund, warum sie ihn so gerne auf die Palme brachte.

»Kein liebes Bitte-bitte?«, flüsterte sie und machte einen Schmollmund.

Seine Lippen bebten, während er Kari mit den Augen aufspießte. Sie hielt dem Blick stand. Früher hatte Haruo sie auf diese Art einschüchtern können. Es war nicht so, dass sie Angst vor ihm gehabt hatte, sondern vielmehr Angst davor, ihm zu missfallen. Aber das war vorbei.

Schließlich schnaubte er: »Bitte.«

»Guter Junge.« Kari tätschelte ihm den Kopf wie einem gehorsamen Welpen.

Haruo schob sich wortlos an ihr vorbei und ging einen dunklen Gang entlang. An dessen Ende führte eine unscheinbare Tür ins Innere einer Bar. Das Luminer war ein geheimer Glücksspiel-Salon des Nemea-Viertels.

Kari stöckelte ihm auf ihren High Heels hinterher. Routiniert scannte sie ihre Umgebung. Schummriges rötliches Licht erhellte den Raum nur spärlich und dicker Zigarrenrauch hing in der Luft. Ein halbes Dutzend goldener Vogelkäfige baumelte von der Decke. Darin befanden sich Drachen, kaum größer als Papageien, deren Schuppen eigentlich in den Farben des Regenbogens leuchten sollten, hier drinnen allerdings einen gräulichen Ton angenommen hatten.

Sie taten Kari leid. Einst waren die Drachen stolze Kreaturen, die über das Land und die höchsten Türme Magnolia Bays flogen. Doch die Großdrachen existierten nicht mehr und ihre kleineren Nachfahren waren zu Maskottchen verkommen, die in Käfigen dahinsiechten. Wie Kari.

Sie verscheuchte diesen Gedanken. Selbstmitleid war nur eines: erbärmlich.

An einigen Tischen hockten Männer und Frauen und spielten Poker, Mah-Jongg oder Knochenwürfeln. Weitere waren hier, um sich zu betrinken oder sich einem anderen Rausch hinzugeben. Dem des Silberrauchs oder des Funkenpulvers, beides gewonnen aus Drachenfeuer, oder dem der Lust.

Auf den Couchen am hinteren Ende der Bar sah Kari zwei Männer, die sich mit weiblichen Hüllen vergnügten. Die stimmlosen Wesen steckten in dünnen Kleidchen, trugen Perücken und hatten Rouge auf die Wangen geschmiert. Trotzdem war unverkennbar, dass sie keine echten Menschen waren, so steif und teilnahmslos, wie sie auf den Schößen der Männer saßen. Hüllen wurden nicht geboren, sondern magisch erschaffen und für sehr viel Geld gehandelt. Sie hatten keinen eigenen Willen, keine Gefühle, keine Seele ... Auch wenn ihre Körper aus Fleisch und Blut bestanden, waren sie nur Puppen. Daishiro besaß ein gutes Dutzend solcher Hüllen, die er als Übungsobjekte für seine Männer benutzte, damit diese den Gebrauch ihrer Waffen an echtem Fleisch testen konnten.

Die meisten Besucher im Luminer waren klug genug, ihre Augen zu senken, während Kari ihren Blick von einem Eck des Raums zum nächsten gleiten ließ. Die Stammgäste kannten Kari bereits, und allen anderen sagte allein ihr Auftreten, dass sie sich nicht mit ihr anlegen sollten. Sie trug ein knielanges, körperbetontes Kleid aus türkiser Seide mit offenem Rücken, und ihre langen pastellfarbenen Haare waren auf die Seite gekämmt, sodass ihr Rückgrat vollkommen freilag.

Oder besser gesagt, das Tattoo eines bunten Paradiesvogels, das sich von ihren Schultern bis zu ihrer Taille zog und das Kari als Daishiro Nemeas Paradiesvögelchen kennzeichnete.

Und niemand - wirklich niemand - wollte in die Ungnade des Skarabäus-Dons fallen.

Kari sog genüsslich die Luft ein, die plötzlich vom Duft frischer Granatäpfel, Räucherstäbchen und Magnolien erfüllt war. Hach, süße Angst.

Da entdeckte sie einen jungen Mann an der Bar, der seine Augen direkt auf sie gerichtet hatte. Er starrte sie regelrecht an, ein herausforderndes Lächeln auf seinen Lippen. Haruo war er ebenfalls aufgefallen. Er trat neben Kari und legt seine Hand auf den Gürtel, an dem seine Lieblingsspielzeuge - Messer verschiedener Größen und Formen - steckten. Die meisten Leute würde diese Geste dazu bringen, sich weinend auf dem Klo zu verstecken, aber der Kerl an der Bar wirkte ungerührt.

»Wartet hier«, wies Kari ihre Bodyguards an.

Sofort schob Haruo sich vor sie. »Lass ihn mich zuerst überprüfen«, bat er in deutlich sanfterem Tonfall als vor wenigen Augenblicken.

Einen halben Herzschlag lang überlegte Kari, seiner Bitte zu folgen. Vielleicht sollte sie ihm die Genugtuung geben, den Beschützer zu spielen. Dann verdrehte sie jedoch die Augen und stöckelte zur Bar. Dort ließ sie sich auf dem Hocker neben dem Fremden nieder. Kaum, dass sie saß, tänzelte Lady Whinn, die Besitzerin des Luminer, heran.

»Guten Abend, Miss Nemea. Welche Ehre, Sie in unserem Etablissement zu begrüßen«, säuselte sie.

»Wie jeden Monat«, gab Kari zurück.

Whinns Lächeln wirkte gequält. »Soll es nur das Übliche sein oder darf ich Sie auf einen Drink einladen?«, fragte sie.

Das Übliche wäre Schutzgeld, welches sie monatlich an den Skarabäusclan abzuliefern hatte.

»Ich hätte gerne einen Gin«, sage Kari.

»Natürlich, den besten des Hauses für Sie«, säuselte Lady Whinn und deutete eine Verbeugung an.

Ehe sie außer Hörweite war, meldete sich der Mann zu Karis Linken: »Machen Sie zwei daraus.« An Kari gewandt fuhr er fort: »Ich lade dich ein.«

»Nicht nötig«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen. »Das Haus lädt mich ein.«

»Das Haus wird es mir sicher verzeihen, wenn ich das übernehme.«

Gemächlich drehte Kari sich zu ihm und musterte sein Gesicht, auf dem ein nervtötend selbstsicherer Ausdruck lag. Er hatte elegant geschwungene Augenbrauen über einer geraden Nase. Seine schwarzen Haare fielen ihm auf der rechten Seite in die Stirn und verdeckten das Ohr. Seine Haut war etwas dunkler als Karis, seine Augen so schwarz wie das nächtliche Meer. Er war der Typ Mann, der nur lässig einen Mundwinkel heben oder zwinkern musste, und schon standen die Frauen Schlange und, verdammt, er wusste es ganz genau. Tatsächlich verzogen sich seine Lippen in diesem Moment zu einem schiefen Lächeln und er zwinkerte ihr zu. Kari musste sich zusammenreißen, um nicht zu schnauben.

»Wie wäre es mit einer Runde?«, fragte er, immer noch mit diesem selbstsicheren Lächeln, und zog einen Stapel Drachenmark-Karten aus der Tasche.

Kari bemerkte, dass Haruo und Genji sich am Rande des Raums positioniert hatten und jede ihrer Bewegungen beobachteten. Sollte der Fremde irgendetwas versuchen, hätte er schneller ein Messer in seiner Stirn stecken, als er blinzeln könnte.

»Ich spiele nicht«, gab Kari zurück.

»Was macht jemand, der nicht spielt, in einer Glücksspielbar?«, wollte er wissen.

»Nichts, das dich etwas angehen würde«, antwortete sie und legte ihre Hand so auf den Tresen, dass er ihr Handgelenk sehen konnte, auf dem das Zeichen der Nemeas prangte. Der Skarabäus, der die Macht des Mondes in den Klauen hielt.

Das wäre eigentlich der Moment, in dem er seinen Fehler realisieren, sich entschuldigen und schnellstmöglich ein paar Sitze weiter wegbewegen sollte. Oder ganz aus der Bar laufen. Die drei Clans im Norden waren so mächtig, dass selbst die Regierung und deren offizielle Schutztruppen sie in Ruhe ließen, und von allen dreien war der Skarabäusclan der gefürchtetste.

Aber der Kerl hob bloß die Augenbrauen. Erkannte er das Zeichen etwa nicht? Möglich, immerhin hatte Kari ihn noch nie hier oder sonst wo in den Nemea-Vierteln gesehen.

»Zu schade«, meinte er und legt seine Hand neben ihre.

Kari war kurz davor, ihn mit einem Tritt von seinem Sitz zu befördern und ihm damit zu zeigen, wer in den Nemea-Vierteln das Sagen hatte, da heftete sich ihr Interesse auf die Brosche an seinem Ärmel. Ein winziges Stück, dessen schwarz glänzende Oberfläche auf der gleichfarbigen Jacke kaum zu erkennen war. Eine von Flammen eingerahmte Lilie.

Drei Herzschläge lang hielt sie die Luft an. Daishiro hatte sie vor den Lilien gewarnt. Was genau es mit der Brennenden Lilie auf sich hatte, wusste Kari nicht. Sie waren kein Clan, auch kein Unternehmen, sondern eine Organisation, die in den Schatten operierte. Offiziell gab es sie nicht - und Kari hatte keine Ahnung, was sie taten -, trotzdem musste die Brennende Lilie mächtig sein. Nur so viel hatte Daishiro ihr erklärt: »Halt dich von den Lilien fern.« So nannten sich die Mitglieder des Syndikats. »Und was immer du tust, mein Paradiesvögelchen, leg dich nie mit einer Lilie an.«

Als Daishiro das sagte, klang er besorgt. Mehr musste Kari nicht wissen. Wenn der Don des Skarabäusclans auch nur den Funken von Furcht vor etwas zeigte, dann bedeutete das, dass dieses Etwas scheißgefährlich war.

»Sicher, dass du nicht spielen willst?«, fragte der junge Mann.

Kari schluckte. Sie wusste, was sie tun sollte. Nämlich sich höflich verabschieden, aufstehen und gehen, um Bericht an Daishiro zu erstatten. Aber sie war zu neugierig darauf, was ein Lilien-Agent in den Nemea-Vierteln machte und, noch viel mehr, was er ausgerechnet in dieser schäbigen Glücksspielhöhle zu suchen hatte.

Also nickte sie. »Eine Runde. Aber ich muss dich warnen. Ich bin ziemlich gut, und nur weil du neu hier bist, kriegst du kein Mitleid von mir.«

Während er mischte, stellte Lady Whinn zwei Drinks vor ihnen ab. Haruo und Genji standen noch immer am Rande des Barraums. Mit Sicherheit würden die beiden detaillierten Bericht an Daishiro erstatten. Ihm zu erklären, warum Kari mit einem fremden Mann Karten spielte, würde alles andere als eine Freude werden.

Der Agent legte die Karten vor ihnen auf. »Darf ich dich nach deinem Namen fragen?«

»Wozu?«, entgegnete Kari schulterzuckend.

»Fändest du es nicht sympathischer, wenn wir uns beim Vornamen kennen würden? Ich kann dich natürlich auch Miss Nemea nennen, wenn dir das lieber ist.«

»Kari«, sagte sie betont unaufgeregt. »Und du?«

»Jonas.«

»Und dein richtiger Name?«

Er blinzelte. »Wie bitte?«

»Du hast mich verstanden, Jonas.«

Er schien zu überlegen. »Nael«, sagte er nach ein paar Sekunden und reichte ihr die Hand. »Ich wüsste zu gerne, was mich verraten hat.«

»Ein Ermittler gibt niemals seine Geheimnisse preis«, antwortete Kari. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Sie hätte es nie zugegeben, doch dieses Geplänkel mit Jonas, der gar nicht Jonas hieß, gefiel ihr.

Tatsächlich hatte er sich überhaupt nicht verraten. Der falsche Name war ihm wie Öl über die Lippen gegangen. Gut für Kari, dass sie immer mit einer Lüge rechnete.

Sie nahm ihre Karten in die Hand und ordnete sie. »Du siehst nicht aus wie eine Ermittlerin«, stellte Nael fest.

»Ach nein?«

Betont langsam glitt sein Blick über ihre Beine bis zu ihren High Heels. Er ließ sich Zeit damit, als würde er jede Sekunde genießen, und Kari kribbelte es regelrecht auf der Haut. »Sollte eine Ermittlerin nicht etwas praktischeres Schuhwerk tragen?«

Sie schmunzelte. »Lass mich dir ein Geheimnis verraten«, sagte sie und lehne sich nach vorn, sodass sie ihre nächsten Worte bloß flüstern musste. »Würde ich praktische Schuhe tragen, wüssten meine Feinde, dass ich Grund zum Weglaufen habe.«

Eine von Daishiros Weisheiten: Zeig deinen Feinden niemals, dass du Grund zur Angst hast. Weder mit deinen Worten noch mit deinen Taten oder deinem Äußeren. Sei ihnen in allem, was du tust, und in allem, was du bist, überlegen.

Kari sah sich ihr Blatt an, machte den ersten Stich und warf die nächste Karte. »Dein Zug«, meinte sie dann.

Nael ließ sie auch den zweiten Stich machen. Er schien sich keine große Mühe zu geben. Das oder er war ein verdammt schlechter Spieler.

»Wie kommt es, dass ich dich nie zuvor gesehen habe?«, fragte Kari.

»Ich habe dich ja auch noch nie gesehen«, gab er zurück.

»Weil du nie zuvor hier warst.«

»Hmmm.«

»Und wenn ich richtig rate, bist du heute nicht hier, um dich zu amüsieren.«

»Du glaubst, dass ich mich nicht amüsiere?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.

Kari ignorierte seine Flirterei. Neutral fragte sie: »Was treibt dich hierher?«

»Da du so gut darin zu sein scheinst, meine Gedanken zu lesen, wie wäre es, wenn du es mir sagst?«

Wieder war da dieser herausfordernde Blick, der Kari gleichzeitig ärgerte und anspornte. Niemand forderte sie je heraus. Zumindest nicht auf diese Art. Daishiro stellte sie öfter auf die Probe, doch bei ihm war es nie ein Spiel, sondern immer ein Test. Alle anderen Männer, mit denen Kari sich umgeben durfte, arbeiteten für ihn, und niemand wäre dumm genug, mit Don Nemeas Adoptivtochter zu flirten.

»Du bist hier, weil du etwas suchst«, stellte Kari fest und legte den Kopf schief. »Oder jemanden.«

Nael widersprach nicht, was sie als Zustimmung deutete.

»Du bist ...«

In diesem Moment nahm sie aus ihren Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Sie fuhr herum, allerdings zu langsam. Schon spürte sie einen Schwall Flüssigkeit, und plötzlich lag ein schwerer Männerkörper auf Karis Schoß. Es war ein Betrunkener, der gestolpert sein musste. Ein penetranter Geruch nach Bier stieg in ihre Nase. Binnen einer Millisekunde stand Haruo vor ihr, packte den Kerl und riss ihn von Kari weg.

Der Betrunkene stöhnte vor Schmerz, ehe er lallte: »Sorry ... tut mir ... oh, tut mir voll leid. Ich wollte nicht ...«

Der Kerl konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie hätte ihn viel früher kommen sehen müssen! Wenn er kein Betrunkener, sondern ein Assassine der anderen Clans wäre, dann wäre sie jetzt tot. Und ganz ehrlich, das wäre weniger peinlich. Verdammter Mist! Sie war so von Nael abgelenkt gewesen, dass sie ihre Umgebung aus dem Fokus verloren hatte. Sie musste wie leichte Beute wirken.

Kari spürte die Blicke von Lady Whinn und noch einem guten Dutzend weiterer Barbesucher auf sich. Die Leute, die noch vor wenigen Momenten zu viel Angst gehabt hatten, sie auch nur anzusehen, starrten nun voller Neugierde. Wieder roch sie die süßliche Angst in der Luft - allerdings vermischt mit etwas anderem. Belustigung?

Kari hob ihre Hand mit dem Rücken zu Haruo. Eine Geste, die sie sich von Daishiro abgeschaut hatte und die so viel bedeutete wie: ›Bleib zurück, ich habe die Situation unter Kontrolle.‹ Haruo verstand sofort, auch wenn seine finstere Miene zeigte, dass er alles andere als einverstanden war. Trotzdem ließ er von dem Betrunkenen ab und ging ein paar Schritte zurück.

Das hier konnte Kari allein regeln. Sie musste es sogar. Alles andere wäre ein Eingeständnis ihrer Schwäche und das würde einer Zielscheibe auf ihrem Rücken gleichkommen. Also rutschte sie von ihrem Sitz, streckte den Rücken durch und musterte den Betrunkenen von oben bis unten. Er war über einen Kopf größer als Kari, hatte fast kinnlange dunkelblonde Haare, braun gebrannte Haut und ein breites Kreuz. Er trug eine Jacke in den Farben der City University und unter seinem Shirt zeichnete sich eine durchtrainierte Brust ab. In seinen hellblauen Augen lag ein weicher, wässriger Blick, seine vollen Lippen waren zu einem bemühten Lächeln verzogen.

Er sah aus wie ein typischer Surferboy, der sich eigentlich in den Rooftop-Bars des Central Districts oder in einer der Underground Discos in Almacen herumtreiben sollte. Während Kari ihn anschaute, blinzelte er nervös und schwankte die ganze Zeit.

»Dein Name?«, fragte Kari mit kalter Stimme.

»Äh ... Lycien.« Er lächelte schief. »Und deiner?«

Bei den drei Göttinnen, er kapierte nicht einmal, dass das hier mehr war als ein Flirt zwischen Feierlustigen. Ein kleiner Teil von Kari wollte Mitleid mit ihm haben, aber sie durfte nicht. Denn Mitleid war Schwäche. Und Schwäche war Tod.

»Auf die Knie, Lycien«, befahl sie.

»Was?«

»Auf die Knie.«

Er schaute sie an wie ein Hundewelpe, zu gleichen Teilen verwirrt und verängstigt. Dann lachte er auf, wohl denkend, dass ihr Befehl ein Scherz sein musste.

Innerlich fluchte Kari.

»Darf ich?« Nael hatte sich ebenfalls erhoben und trat nun auf den Betrunkenen zu. Er fuhr laut genug fort, dass es auch die anderen Besucher der mittlerweile vollkommen verstummten Bar hören konnten: »Ich fände es zu schade, wenn du deine Finger mit diesem stinkenden Kerl beschmutzen müsstest.«

Seine Stimme klang sanft wie ein Streicheln auf der Haut. Zu sanft. So sehr, dass man die dunkle Bedeutung seiner Worte fast überhörte.

»Nur zu, Nael, beeindrucke mich«, meinte Kari und deutete auf den Betrunkenen.

Daraufhin packte Nael den Kerl und rammte ihm den Ellenbogen in den Bauch. Stöhnend sackte dieser in sich zusammen und würgte, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Nael versetzte ihm zwei weitere Schläge, einen davon ins Gesicht, woraufhin Blut aus dessen Nase schoss. Mit einem Tritt beförderte er ihn auf die Knie. Lycien keuchte, da packte Nael ihn an den langen Haaren und zog seinen Kopf nach hinten, sodass er gezwungen war, Kari anzusehen. Angst und Verwirrung standen in seinen Augen.

»Und jetzt küsst du meine Füße und sagst mir, wie leid es dir tut«, befahl sie.

»Es ... es ... tut mir leid«, presste der Typ hervor. Gut so, zumindest ein wenig Überlebenssinn hatte er.

Nach ein paar zähen Sekunden beugte er sich nach vorne und presste die Lippen auf die Spitzen ihrer High Heels. Eine süßliche Note, vermischt mit dem ranzigen Geruch des Alkohols, drang an Karis Nase. Aber dieses Mal konnte sie die Angst nicht genießen.

Schneller, als Kari reagieren konnte, fasste Nael dem Betrunkenen in die Jackentasche und zog ein in durchscheinendes Plastik eingeschlagenes Päckchen sowie eine Visitenkarte heraus. Er wog das Päckchen in der Hand und reichte es an Kari weiter. Die Visitenkarte schien er behalten zu wollen, doch Kari schnappte sie sich aus seinen Fingern und las: Talent Solutions - wir helfen Ihnen, Ihr Potenzial zu entfalten! Eine Jobvermittlungsagentur? Auf der Rückseite waren die Anschrift, Telefonnummer und E-Mail-Adresse der Agentur abgebildet. Nichts Verdächtiges. Warum hatte Nael sich dann gescheut, ihr die Karte zu geben? Oder war sie nun schon so paranoid, dass sie sich sein Zögern eingebildet hatte?

»Du willst also dein Potenzial entfalten«, sagte Kari zu dem Kerl zu ihren Füßen.

Er antwortete gar nichts. Starrte lediglich mit zitternden Lippen auf das Päckchen in ihrer Hand. Dessen Inhalt erkannte sie sofort. Silberrauch.

Das dürfte der Grund sein, warum es diesen Lycien in die Nemea-Viertel verschlagen hatte. In Magnolia Bay gab es drei Regionen: die Hauptinsel Magnolia Island, wo sich die meisten Unternehmen, Hotels, Museen und Geschäfte, der Regierungssitz und die City University befanden und wo Kari früher gelebt hatte, die Schwesterninsel Citrin Island, die wesentlich kleiner und ländlicher war, und die Peninsula, die im Norden von den Clans kontrolliert wurde. Obwohl die Drogenszene in den Clubs der Hauptinsel genauso florierte wie hier, waren die traditionellen Pulver dort schwer zu bekommen. Außerdem würde es Lyciens gegenwärtigen Zustand erklären.

Silberrauch ließ einen schweben. Es sorgte dafür, dass man sich leicht fühlte, als würde der eigene Körper nicht mehr zu einem gehören. Silberrauch schickte einen in den Himmel, bis alles andere ganz weit weg war.

»Bitte ... ich brauch das«, lallte Lycien.

»Das kann ich mir vorstellen«, gab Kari zurück und warf Haruo das Päckchen zu. Er fing es aus der Luft.

»Nein, ich - ich ... brauche es wirklich.«

»Sieh das als deine Bezahlung für mein ruiniertes Kleid an«, antwortete sie.

»Nein ... Nein - ich ...«

Der Kerl wollte aufstehen, wurde jedoch von Nael zurückgehalten.

»Wofür auch immer du es brauchst«, sagte dieser und fixierte Lycien mit einem strengen Blick, »überleg dir gut, ob es wichtiger ist als dein Leben.«

Die Stille in der Bar wurde noch bedrückender, falls das überhaupt möglich war. Kari lächelte zufrieden. Sie hatte nicht vor, Lycien für seinen betrunkenen Stolperer umzubringen, aber es gefiel ihr, dass alle nun genau das glaubten.

»Du hast Glück, denn ich bin heute gut gelaunt«, sagte sie. »Also gebe ich dir ein Geschenk. Fünfzehn Sekunden. So lange bekommst du, um zu verschwinden. Du solltest sie nutzen, bevor ich es mir anders überlege.«

Im Geiste dankte sie den drei Göttinnen, als der Betrunkene sich tatsächlich aufrappelte und so schnell in Richtung des Ausgangs schwankte wie in seinem gegenwärtigen Zustand möglich. Lautlos zählte sie bis fünfzehn. Dann nickte sie Haruo und Genji zu. Eine stumme Aufforderung zum Aufbruch.

Sie würdigte Nael keines Blickes mehr. Er sollte bloß nicht denken, dass Kari sich von ein paar Schmeicheleien oder seinem Eingreifen eben beeindrucken ließ. Lady Whinn wartete mit einer Box, die Schutzgeld beinhaltete. Kari bedeutete Genji, sie einzustecken. Gefolgt von ihren beiden Schatten stöckelte sie nach draußen.

»Wenn ich klug wäre, müsste ich vielleicht nicht sterben.«

Lycien

Die Straße drehte sich. Oder waren es die Häuser, die sich drehten?

Stöhnend ließ Lycien sich an einer Wand hinab auf den Boden sinken. Sein gesamter Körper schmerzte - sein Bauch, sein Gesicht und seine Nase, die hoffentlich nicht gebrochen war. Er schloss die Augen und drückte den Hinterkopf an die kühle Fassade. Scheiße, selbst mit geschlossenen Lidern drehte sich alles.

Irgendwie musste er sich sammeln, um nach Hause zu kommen. Oder zumindest weg von dieser Straße, bevor die Schlägerin mit den bunten Haaren oder ihr durchgeknallter Freund herauskommen und ihn sehen würden. Fünfzehn Sekunden waren nicht besonders lange, um sich in Luft aufzulösen, vor allem, wenn die Welt so sehr schwankte wie gerade eben.

Je länger Lycien über die Geschehnisse in der Bar nachdachte, desto mehr fragte er sich, ob es eine Halluzination gewesen war. Er hatte gehört, dass Silberrauch Wahnvorstellungen hervorrufen konnte. War es das, was eben passiert war? Besser gar nicht darüber nachdenken, denn je mehr Lycien seinen Kopf anstrengte, desto schneller wirbelten seine Gedanken durcheinander.

Was für ein verdammter Mist! Wenn er klüger wäre, hätte er Lins Einladung angenommen und wäre gemeinsam mit ihr und den Cheerleadern in Almacen feiern gegangen. Dann wäre er jetzt entweder mit Lin auf der Tanzfläche oder in ihrem Bett - mit ihrem süßen Hintern auf seinem Gesicht. Aber, Trottel, der er war, hatte er stattdessen beschlossen, allein in den Norden der Stadt aufzubrechen.

Natürlich hatte Lycien die Geschichten von den Clans gehört, die diesen Teil Magnolia Bays mit so eiserner Hand kontrollierten, dass nicht einmal die Sicherheitsleute der 131. Einheit sich in die Clanviertel wagten. Aber er hätte nicht damit gerechnet, ihren Schlägern in die Arme zu laufen. Und zweimal nicht damit, dass sie ihn beinahe umbringen würden, nur weil er eine von ihnen angerempelt hatte.

Das Schlimmste war, dass sie das Pulver einkassiert hatten. Den einzigen Grund, warum er überhaupt hier war - und seine beste Chance, die nächsten Monate zu überleben. Wenn Lycien der Schlägerin mit den bunten Haaren erklären würde, dass es um Leben und Tod ging, würde sie es ihm glauben? Vermutlich nicht, und selbst wenn, wäre es ihr egal.

In seinem Kopf drehte es sich nun so schnell, dass ihm übel wurde. Lycien musste würgen. Nachdem sich sein Mageninhalt auf den Asphalt entleert hatte, fühle er sich etwas besser. Ekliger, aber besser.

»Scheiße«, murmelte er. Vielleicht sollte er einfach auf der Straße liegen bleiben und schlafen. Nur ein paar Stunden, um die Kraft zu sammeln, bis zur nächsten U-Bahn-Station zu laufen. Schlaf. Schlaaaaf. Es klang so verlockend.

Aber selbst in seinem angetrunkenen Zustand realisierte Lycien, dass das eine riskante Idee wäre. Er rappelte sich hoch und atmete tief durch, um die Straße damit zum Stehenbleiben zu bringen. Oder zumindest dazu, sich ein klein wenig langsamer zu drehen. Die Straße tat ihm diesen Gefallen jedoch nicht.

Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und stützte sich dabei an der Wand ab. Er kam jedoch nicht weit, da stellte sich ihm jemand in den Weg. Blinzelnd hob Lycien den Kopf.

»Hör mal ...«, begann er, stockte dann.

Vor ihm stand ausgerechnet der dunkelhaarige Kerl mit dem kalten Blick, der ihn in der Bar in die Mangel genommen hatte. Dieser - wie hatte die Frau mit den bunten Haaren in gleich genannt - Nael? Sofort rutschte Lyciens Herz in seine Hose. Zumindest eine gute Sache bewirkte Angst: Auf einen Schlag fühlte er sich etwas klarer. Nicht vollkommen nüchtern, aber zumindest war sein Verstand schärfer als noch vor wenigen Sekunden.

»Geht’s?«, fragte Nael. Er klang ernsthaft besorgt. Selbst seine Augen wirkten wärmer.

Aber Lycien durfte nicht mit Mitleid rechnen, und was auch immer der Kerl von ihm wollte, es konnte nichts Gutes sein.

»Ich möchte nur nach Hause. Ich verschwinde, okay. Ich mache dir keinen Ärger mehr.« Beschwichtigend hob Lycien die Hände.

»Die Visitenkarte, woher hast du die?«, fragte Nael.

Lycien brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon er sprach. »Die von Talent Solutions?«, fragte er. »Ich habe noch mehr davon, wenn du eine willst.«

Er tastete in seinen Taschen herum, die leer waren. Mist. Lycien hätte schwören können, dass er noch mindestens eine Visitenkarte dabeihatte.

»Was auch immer sie dir versprochen haben, geh nicht hin«, sagte der Schläger.

»Äh?«

»Dein Leben ist mehr wert als das, was sie dir bieten können.«

Lycien hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Nael sprach. Trotzdem nickte er. »Danke. Ähm ... eine schöne Nacht noch.«

Innerlich betete Lycien, dass der Schläger ihn würde ziehen lassen, doch er verstellte ihm den Weg.

»Ich will echt keinen Ärger«, sagte Lycien. Er klang weinerlich. Na ja ... er fühlte sich auch weinerlich.

»Ich auch nicht. Darum gebe ich dir meinen Rat.«

Lycien lächelte oder zumindest versuchte er zu lächeln. Aber die Nase seines Gegenübers hüpfte und drehte sich wie die Straße vorhin und das machte die Sache schwierig.

»Du bist krank, nicht wahr?«, meinte der Fremde.

»Was?«

Der Schock über diese Frage verdrängte Lyciens Angst für einen Augenblick. Das konnte er gar nicht gemerkt haben! Oder? Oder?! Frenetisch schob Lycien seinen Ärmel hoch, doch seine Haut sah ganz normal aus.

»Woher? Wie ...? Ich meine ...«

»Ich weiß nicht, wie viel du von dem, was ich dir jetzt sage, bis morgen behalten wirst«, sagte Nael. »Aber hör trotzdem zu. Das Pulver, das du gekauft hast, ist ein Schwindel. Es wird dir für ein paar Stunden ein schönes High bescheren, mehr aber auch nicht. Wenn du Hilfe willst, brauchst du weder Silberrauch noch die Leute von Talent Solutions.«

»Was soll ich deiner Meinung nach sonst tun?«, rutschte es Lycien heraus. Als ob dieser irre Schläger ihm wirklich helfen könnte. Niemand konnte das.

Er schaute Lycien eindringlich an. »Kauf dir ein Schwein.«

»Was?«

»Kauf dir ein Schwein und geh in die Walled City. Frag nach Mama Laquar. Wenn dir irgendjemand helfen kann, dann sie.«

Ein Schwein? Die Walled City? Die Mauernstadt war ein Zusammenschluss zwölf dicht bewohnter Hochhäuser, die am südwestlichen Rand Magnolia Bays lagen und deren Fassaden sich über die Jahrzehnte in Mauern verwandelt hatten. Die Bewohner lebten semi-autark und blieben noch mehr unter sich als die Leute in den Clanvierteln. Was Lycien dort sollte und vor allem, wozu er ein Schwein brauchte, konnte er sich nicht zusammenreimen.

Ehe Lycien fragen konnte, was es mit den merkwürdigen Worten des Fremden auf sich hatte, war dieser verschwunden. Da war nur noch die leere, sich drehende Straße. Und ein, wie es schien, endlos langer, unüberwindbarer Weg in Lyciens Wohnung und in sein Bett.

»Ich brauche kein Herz.«

Kari

Zurück vor dem Nemea-Anwesen empfing Kari der schwere Geruch von Lychees und Zuckerwatte. Die Tore standen offen und gaben den Blick auf die Magnolienbäume frei, welche die Einfahrt säumten. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ein Schatten schob sich hinter einem der Bäume hervor. Sofort trat Haruo vor Kari und hob die Arme in einer abwehrenden Geste. Doch er ließ die Hände sinken, als er die Jaguardame erblickte. Das Tier bewegte sich geschmeidig, die Ohren gespitzt und die durchdringenden Augen auf Kari und ihr Gefolge gerichtet. Langsam erhob es sich auf die Hinterpfoten. Dann ging ein Beben durch das Fell, und im nächsten Moment war der Jaguar verschwunden und an seiner Stelle stand eine junge Frau mit brauner Haut und langen Zöpfen, in die Edelsteine geflochten waren. Genji und Haruo senkten ihre Blicke, doch Fayola lächelte, als wäre ihr entweder nicht bewusst oder völlig egal, dass sie nackt vor ihnen stand.

»Hallo, Tochter«, sagte Fayola in einem Tonfall, der so süß war wie Zucker. Spätestens jetzt wusste Kari, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

Fayola war Daishiros zweite Ehefrau und sein neuer Stolz. Denn im Gegensatz zu Kari konnte sie sich nach Belieben in ihre Tiergestalt verwandeln. Er hatte sie vor zwei Jahren geheiratet. Ein Friedenszeichen zwischen ihm und den Zalaros, den Anführern des Klauenclans, der neben dem Skarabäus- und dem geheimnisvollen Opalclan die nördliche Peninsula kontrollierte.

Damals war Fayola achtzehn Jahre alt und wild wie eine Raubkatze gewesen. Kari hatte gehofft, sie würden Freundinnen werden. Eine Vertraute in diesem Haus hätte sie gut gebrauchen können.

Doch der Frieden zwischen den Nemeas und den Zalaros hatte in etwa ebenso lange gehalten wie Fayolas gespielte Freundlichkeit Kari gegenüber. Sie hatte sich innerhalb weniger Wochen in ihre neue Rolle als Ehefrau eingefügt und genoss die Macht und den Luxus. An ihrer Anwesenheit gab es lediglich ein Gutes: Durch sie hatte Kari gelernt, dass Daishiros erste Ehefrau Chichiko gar nicht so schrecklich war. Zumindest nicht, wenn man sie mit Fayola verglich.

»Was ist hier los?«, fragte Kari.

»Du hast Besuch.« Fayola grinste so breit, dass sie ihre spitzen Eckzähne entblößte. »Komm!« Dann drehte sie sich um. Noch in der Bewegung verwandelte sie sich zurück in einen Jaguar.

Kari, Haruo und Genji folgten ihr nach drinnen und die Einfahrt entlang. Am Ende des von Magnolien gesäumten Wegs befand sich die Nemea-Villa, ein prunkvolles dreistöckiges Gebäude im alt-palay’schen Stil. Sie hatte eine weiße Fassade mit Stuckverzierungen rund um die Fenster, filigran anmutende Balkone, um deren Streben sich steinerne Drachen rankten, und geschwungene Dächer.

Am Fuß der Treppe, die in die Villa führte, stand Daishiro im Schatten des Yulanibaums. Wie immer trug er einen schlichten dunkelgrauen Anzug. Die Hände hatte er hinter seinem Rücken verschränkt. Zu beiden Seiten waren seine Wachmänner postiert. Vor ihm kniete ein Mann, die Stirn auf den Boden gepresst und die Arme vor sich ausgestreckt. Ein Zeichen der Demut.

Kari blieb auf der Stelle stehen. Ihr Puls überschlug sich. Der kauernde Mann strahlte eine gewisse Angst aus - eine, die sie vor langer Zeit bereits einmal wahrgenommen hatte. Lange bevor sie gelernt hatte, Furcht zu riechen.

Daishiro bedeutete ihr, näher zu treten. Wie in Trance setzte sie einen Fuß vor den anderen. Je näher sie kam, desto deutlicher vernahm sie das Flattern und Knistern der Yulani-Blüten, die in regenbogenbunten Trauben von den Ästen baumelten und bereits die ersten Federn bekamen. Es gab Yulanis, auf denen Schmetterlinge wuchsen oder Motten oder Libellen. Der in Daishiros Garten war ein besonders seltenes Exemplar, aus dessen Knospen Kolibris sprossen.

Der Schatten des Yulani-Baums war stets einer von Karis Lieblingsorten gewesen, einer der wenigen Plätze in der Nemea-Villa, die sie mit Staunen statt Misstrauen erfüllten, und das Rascheln seiner Federblüten versprach Leichtigkeit - ja, fast so etwas wie Freiheit. Aber nicht heute.

Heute war es, als lege sich mit dem Schatten eine schwere Decke auf Karis Schultern, und die Musik der Blüten wurde vom Wimmern des Mannes zu ihren Füßen unterbrochen. Sein Gesicht konnte Kari nicht sehen - und ein Teil von ihr wollte das auch gar nicht.

»Ich flehe Euch an, Don Nemea, erfüllt einem alten Mann seinen einzigen Wunsch. Es war ein Fehler, der größte Fehler meines Lebens und ich ...«

»Still«, orderte Daishiro. Sofort schloss der Mann seinen Mund.

Der Nachhall seiner Worte tanzte durch Karis Gedanken. Sie hatte diese Stimme so lange nicht mehr gehört, dass sie überzeugt gewesen war, sie vergessen zu haben. Doch nun erkannte sie die Stimme ihres Vaters sofort.

»Du solltest nicht mich bitten, sondern Kari. Sieh sie an, deine Tochter«, forderte Daishiro. »Erzähl ihr, warum du hier bist.«

Nein ... Kari musste einen neutralen Gesichtsausdruck bewahren. Musste stark wirken, auch wenn sie schreien wollte. Musste das Zittern in ihr Inneres verbannen.

Zehn Jahre.

So viel Zeit war vergangen, seit sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte.

Zehn Jahre seit dem Tag, an dem ihnen kein richtiger Abschied vergönnt gewesen war.

In all dieser Zeit hatte er sich nicht gemeldet. Kein Besuch. Kein Anruf. Kein Brief. Keine versteckte Nachricht. Nichts.

Und jetzt?

Wieso bist du hier?

Vorsichtig schob ihr Vater sich in eine sitzende Position und hob den Kopf. Er wirkte, als sei er um hundert Jahre gealtert. Seine Haut war gräulich und dünn, seine Augen, die Kari einst an die Weite des Frühlingshimmels erinnert hatten, erschienen ihr nun so seicht wie Regenpfützen.

»Kari«, flüsterte er und sie ...

Sie konnte nicht atmen.

Im Versuch, ihren Puls zu beruhigen, legte sie den Kopf in den Nacken und starrte in die Baumkrone. Die Äste bogen sich unter dem Gewicht der Blüten. Kari erkannte einzelne Federn, die funkelten wie zu Leben gewordene Edelsteine.

»Es tut mir leid. So unglaublich leid! Was wir dir angetan haben ...« Seine Stimme brach. Er schluchzte.

Sag etwas. Tu etwas. Atme, Kari. Atme.

Aber sie konnte nicht.

»Erzähl ihr, warum du hier bist«, forderte Daishiro erneut.

»Ich kann unsere Schulden bezahlen. Ich habe es Don Nemea bereits gesagt, nicht wahr?« Dabei warf er Daishiro einen flehenden Blick zu.

Der erklärte: »Dein Vater scheint zu glauben, dass du eine Gefangene in meinem Haus bist. Er möchte dich freikaufen. Mit Geld, das er noch nicht hat.«

Karis Vater neigte seinen Oberkörper, streckte die Arme aus und drückte die Stirn auf den Asphalt. »Ich schwöre auf alles, was mir lieb ist, ich bringe das Geld. Gleich morgen! Ich bringe es Euch!«

»Nehmen wir an, ich glaube dir«, gab Daishiro zurück. Doch sein Blick lag nicht auf Karis Vater, sondern auf ihr. Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinab. »Nehmen wir an, du hättest genügend Geld, um den Verlust meines Paradiesvögelchens aufzuwiegen. Am Ende wäre es trotzdem ihre Entscheidung, was sie tun möchte.«

»Bitte, Kari ...«, flehte ihr Vater, ohne sie anzuschauen, die Stirn noch immer auf den Boden gepresst. »Bitte, komm nach Hause.«

Kari musste etwas antworten. Sie konnte nicht einfach hier stehen und sich von allen anstarren lassen, aber sie war wie versteinert. Komm schon, Kari. Komm! Atme. Sag etwas!

»Nun, Kari? Was möchtest du tun? Es ist deine Wahl.«

Ihre Wahl. Die Worte waren so verlockend und doch so gefährlich. Denn es war nicht ihre Wahl. Nichts war das wirklich im Hause Nemea. Das hier war nichts weiter als einer von Daishiros vielen Tests ihrer Loyalität, und wenn Kari ihn nicht bestand, wäre das Letzte, was er tun würde, sie mit ihrem Vater gehen und in Frieden leben zu lassen.

Fayola strich in Jaguargestalt um Daishiros Beine und schnurrte. Sie wusste ebenfalls, dass dies ein Test war. Vermutlich stellte sie sich bereits vor, was sie mit Kari anstellen dürfte, wenn sie versagte.

Aber das würde sie nicht. Kari wusste genau, was Daishiro von ihr erwartete. Welche Worte sie aussprechen musste, um diese Prüfung zu bestehen. Auch wenn es das Herz ihres Vaters brechen würde. Doch das war besser, als es ihm von Fayola mit den Fangzähnen aus der Brust reißen zu lassen. Ein kleiner Teil von Kari, den sie mit elf Jahren gelernt hatte zu unterdrücken, schrie und weinte und strampelte. Sie drängte diesen nutzlosen Teil zurück und sagte: »Mein Zuhause ist hier.«

Ein Ruck ging durch ihren Vater. Er hob den Kopf, suchte Karis Blick, und in seinen Regenpfützen-Augen sah sie etwas, das einen Stich in ihre Brust sendete. Dorthin, wo das verkümmerte kleine Ding saß, das einst ein richtiges Herz gewesen war. Es fühlte sich an wie ein Sprung, als ob ein weiteres Stück von ihrem Herzen wegbrechen würde, um es noch kleiner, noch zerbrochener zurückzulassen.

Gut so. Kari brauchte kein Herz. Denn eines zu haben, hieß Schwäche, und im Hause Nemea hieß Schwäche Tod.

»Geh nach Hause«, sagte sie zu ihrem Vater und legte so viel Kälte in ihre Stimme, wie sie konnte. Er musste glauben, dass sie es ernst meinte. Denn sollte er wiederkommen, würde Daishiro nicht so gnädig mit ihm sein wie heute.

»Geh. Und komm nie wieder zurück.«

»Mitgefühl ist meine größte Schwäche.«

Nael

Kari und ihre zwei Bodyguards waren bereits verschwunden, als Nael endlich am Nemea-Anwesen ankam. Er verfluchte sich dafür, Zeit mit diesem Lycien vergeudet zu haben. Seine Schwester Zora meinte, Mitgefühl sei eine seiner größten Stärken, aber er fragte sich, ob es nicht eher eine Schwäche war.

Die Bewohner der Skarabäusviertel waren Außenseitern gegenüber notorisch misstrauisch, trotzdem hatte Nael mit dem entsprechenden Bestechungsgeld ein paar Informationen über den Mann zusammentragen können, der an der Spitze des Clans saß: der Don, Daishiro Nemea, Kunstliebhaber und Sammler, bekannt für sein strategisches Geschick, für die Loyalität seiner Gefolgsleute und - mehr als alles andere - für seine Grausamkeit. Don Nemea war ein Mann, der so stark bewacht wurde, dass es einem Staatsakt gleichkam, in seine Nähe zu gelangen - und die Begegnung zu überleben. Seine Gefolgsleute waren hingegen greifbarer, und als Nael hörte, dass eine seiner Töchter als Schutzgeldeintreiberin in gewissen Etablissements unterwegs war, wusste er, was er als Nächstes zu tun hatte.

Kari Nemea.

Sie war genauso, wie Nael sie sich vorgestellt hatte. Genauso kalt. Genauso Furcht einflößend. Genauso schön. Und er müsste lügen, würde er behaupten, dass er ihr kleines Katz-und-Maus-Spiel nicht genossen hatte. Tatsächlich hätte er sich gerne länger mit ihr unterhalten. Weitergebracht hatte es ihn jedoch nicht. Kari wusste entweder weniger, als Nael angenommen hatte - immerhin hatte die Visitenkarte von Talent Solutions sie nicht stutzig gemacht -, oder sie war eine fabelhafte Schauspielerin. Was er ihr absolut zutrauen würde.

Als die Tore zum Innenhof der Nemea-Villa sich öffneten, zog Nael sich in die Schatten zurück. Ein Mann in abgetragener Kleidung stolperte heraus und fiel auf die Knie. Ihm folgte ein Skarabäuskrieger, der die Arme vor der Brust verschränkte und etwas sagte, jedoch zu leise, als dass Nael es verstehen konnte. Der ältere Mann rappelte sich vom Boden auf und legte die Hände wie zum Gebet aneinander. Selbst mit einigen Metern Abstand hörte Nael sein Schluchzen. Da fiel ein Schatten aus dem Torbogen und ein Tier stolzierte heraus.

Nael blinzelte. Tatsächlich, da war ein Jaguar. Dann stimmten die Gerüchte also, denen zufolge Don Nemeas zweite Ehefrau eine echte Gestaltwandlerin war. Früher waren die Gestaltwandler-Linien mächtig gewesen, doch über die Jahre war ihre Magie versickert, und heute gab es kaum noch welche.

Umso beeindruckender war die Raubkatze, die so nah an den flehenden Mann heranschlich, dass ihre Schnurrhaare seine Wange kitzelten, und die Zähne fletschte. Er zitterte heftig, wich allerdings nicht zurück. Nael fragte sich, was so wichtig für diesen Mann war, dass er sich dem Jaguar stellte.

Karis Leibwächter verdrehte die Augen und hob die Hand, woraufhin zwei weitere Skarabäuskrieger aus dem Tor traten. Der eine zog den Mann auf die Füße. Schneller, als dieser reagieren konnte, boxte er ihm in den Bauch, und der Ältere sank in sich zusammen.

Nael wandte den Kopf ab, ehe der nächste Schlag niederging. Erst als das dumpfe Geräusch von Fäusten auf Fleisch und das Keuchen der Männer verklungen waren, schaute Nael auf. Der Blick des Jaguars begegnete seinem. Nael hielt die Luft an. Zwar war er in den Schatten verborgen, doch bestimmt konnte das Tier ihn riechen. Nach ein paar mit Herzklopfen gefüllten Sekunden drehte der Jaguar sich allerdings um und schritt mit den drei Skarabäuskriegern durch das Tor, das sich hinter ihnen schloss. Der ältere Mann blieb als Lumpenbündel am Boden liegen.

Und jetzt? Nael konnte ihn nicht einfach dort liegen lassen ... Aber helfen konnte er ihm genauso wenig, wenn er nicht riskieren wollte, von den Nemeas bemerkt zu werden. Denn wenn das geschähe, wäre seine Mission gescheitert. Nael hatte zu lange und zu viel gekämpft, um seine Stellung in der Brennenden Lilie zu gefährden. Und das würde er, wenn seine Chefs Grund zur Annahme hätten, dass er weich war. Aber der Mann lag noch immer da und rührte sich nicht ... verdammt ... verdammt!

Zora hatte so was von unrecht! Mitgefühl war definitiv seine Schwäche.

Lautlos huschte Nael aus seinem Versteck und auf den Mann zu, kniete sich vor ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wir müssen hier weg«, flüsterte er.

Der Mann versuchte, sich aufzustemmen, schaffte es jedoch nicht. Innerlich fluchte Nael. Er sollte sofort von hier verschwinden! Stattdessen schob er die Hände unter die Achseln des Mannes und half ihm auf die Beine. Er sah fürchterlich aus. Beide Augen waren zugeschwollen, eine Platzwunde prangte auf seiner Wange und aus seiner Nase, die in einem schiefen Winkel saß, rann Blut. Unter seiner Kleidung mussten sich zahlreiche weitere Prellungen und Blutergüsse befinden.

»Ich bringe Sie in ein Krankenhaus«, flüsterte Nael, aber der Mann schüttelte den Kopf.

»Es ... es geht schon.«

Dabei konnte er nicht einmal allein stehen. Sobald Nael seine Hände von ihm löste, schwankte er schlimmer als der Betrunkene von vorhin.

»Sie müssen mitkommen«, zischte Nael. Wenn nötig, würde er ihn tragen.

Doch der Mann wehrte ab: »Ich kann sie herausholen. Ihre Freiheit, ich kann ihre Freiheit gewinnen.« Seine Augen sprangen unfokussiert hin und her. Nael vermutete, dass er eine Gehirnerschütterung hatte. Das würde auch sein Gebrabbel erklären. Andererseits: Nach allem, was er heute Abend beobachtet hatte, wäre Nael naiv, nicht nach der tieferen Bedeutung seiner Worte zu suchen.

»Wessen Freiheit?«, fragte er.

»Meine Tochter«, flüsterte der Mann mit bebenden Lippen. »Für sie, ich muss ... ich muss Kari ...«

»Kari Nemea ist Ihre Tochter?«, stieß Nael aus.

»Ich muss zu ...«, begann der Mann.

Da dröhnte Gebell durch die Nacht. Nael fuhr herum. Jeden Moment würde das Tor sich wieder öffnen und Skarabäuskrieger ausspeien - spätestens dann sollte Nael verschwunden sein. Wenn er Karis Vater trug, wäre er jedoch nicht schnell genug. Er konnte ihn zurücklassen oder bleiben und versuchen, ihm zu helfen. Es war die waghalsigere Option, aber auch die, die ihn Kari und Daishiro Nemea näher brachte.

Die Entscheidung fiel binnen einer Millisekunde. Mehr Zeit hatte Nael auch nicht, denn das Tor zum Nemea-Anwesen schwang in diesem Augenblick auf und zwei riesige Hunde schossen heraus, gefolgt von dem silberhaarigen Kämpfer, der Kari in die Bar begleitet hatte und der, wenn Naels Informationen stimmten, Genji hieß. Eines der Tiere verbiss sich im Oberschenkel des älteren Mannes, das zweite machte einen Satz auf Nael zu. Er schaffte es gerade so auszuweichen, doch im selben Moment hörte er ein Klicken, als Genji seine Waffe auf ihn richtete.

»Hände hinter den Kopf, Beine auseinander, und wenn du eine falsche Bewegung machst, schieße ich«, donnerte er.

Nael befolgte die Befehle und verschränkte die Finger hinter dem Kopf, während Karis Vater wimmernd gegen den Hund trat, der an seinem Bein hing.

»Durchsucht die beiden«, befahl Genji den zwei jüngeren Kriegern, die eben durch das Tor traten.

Der eine zog Karis Vater auf die Beine, der andere nahm sich Nael vor und betastete erst seinen Oberkörper, dann seine Beine. Es kostete Nael jedes Fitzelchen seiner Willenskraft, dem Kerl keinen Tritt zu versetzen, als er ihm die Pistole abknöpfte. Doch solange er nicht wusste, wie er Karis Vater lebend aus dieser Situation herausbringen könnte, war es besser, die Füße stillzuhalten. Dann führten sie Nael und Karis Vater wortlos durch das Tor ins Innere des Nemea-Grundstücks.

Unauffällig schaute Nael sich um. Er musste eine Fluchtmöglichkeit finden! Die Nemea-Villa war umringt von einem weitläufigen Garten, in dem zahlreiche Bäume und Blumen wuchsen. Rund um diesen Garten zog sich eine zwei Meter hohe Steinmauer. Keine perfekten Aussichten für einen Fluchtversuch, zumal Nael einen verletzten Mann würde tragen müssen.

Genji führte sie zu einer Reihe kleinerer Gebäude am Rand der Gartenanlage. Eine Tür wurde geöffnet und Nael nach drinnen geschubst. Er taumelte und fiel auf die Knie. Der Geruch nach Blut und Schweiß umfing ihn. Hinter sich hörte er Karis Vater flehen. »Nein, bitte ... bitte nicht ...«

Nael schaut auf - und mehr als zwei Dutzend tote Augen starrten zurück.

Er musste die Übelkeit zurückkämpfen, die in ihm aufwallte. Der Raum war voller Hüllen. Manche lagen oder hockten auf dem Boden, die meisten standen reglos da, ihre Mienen vollkommen ausdruckslos. Und ihr Zustand ... Selbst im fahlen Licht machte Nael die zahlreichen Verbände aus, genauso wie die Blutergüsse und Schnittwunden, bei denen niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie zu verbinden.

Weiches Fell streifte ihn, als die Jaguardame sich neben ihm niederließ. Nael hatte ihr Kommen gar nicht bemerkt, so leise war sie auf ihren Samtpfoten geschlichen. Er drehte seinen Kopf und entdeckte sein Spiegelbild in ihren dunklen Augen. Die Gestaltwandlerin hielt den Blickkontakt, als wollte sie Nael stumm etwas mitteilen.

»Was sollen wir mit ihnen machen?«, fragte der Kämpfer, der Nael festhielt.

»Das hängt ganz davon ab, wie kooperativ sie sind.« Genji drehte sich zu Karis Vater um, der leise vor sich hin wimmerte. »Wie oft muss ich dir befehlen, den Mund zu halten, bevor du es verstehst.«

Er versetzte dem älteren Mann einen Tritt in den Magen. Karis Vater krümmte sich stöhnend zusammen.

»Du weißt, wer das ist, oder?«, zischte Nael. »Hältst du es für klug, den Vater deiner Anführerin zu schlagen?«

»Kari schert sich einen Scheiß um ihn.«