Turmalin 2: Kuss aus Sternenstaub - C. F. Schreder - E-Book

Turmalin 2: Kuss aus Sternenstaub E-Book

C. F. Schreder

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Weder Hörner noch Schuppen oder Steinhaut machen aus, wer wir sind. Wir alle sind Magie, ganz egal, auf welche Art wir diese kanalisieren.«
Dunkle Magie bricht über ganz Turmalin herein, als Lyra an der berühmtesten Zauberakademie des ganzen Landes eintrifft. Dort will sie sich endlich ihre Hörner entfernen lassen, um nach Hause zurückkehren zu können – würden diese ihr nicht plötzlich eine ungeahnte Chance bieten: Als einzige in der Oberwelt aufgewachsene Helya soll sie in die Unterwelt absteigen, um ihr Volk vom gemeinsamen Kampf gegen die finstere Macht zu überzeugen. Dabei stößt Lyra nach deren hundertjähriger Verbannung jedoch nicht nur auf unerwartete Gefahren, sondern entdeckt außerdem, dass mehr in ihr steckt, als sie je vermutet hätte …

In Turmalin erwartet dich eine einzigartige fantastische Welt, die voller magischer Wesen und Artefakte ist – und eine starke, mutige Heldin, die auf ihrer abenteuerlichen Reise weit über sich hinauswächst, nicht zuletzt dank derer, die sie lieben.


//Dies ist der zweite Band der »Turmalin«-Reihe. Alle Romane der mitreißenden High Romantasy im Loomlight-Verlag:
-- Band 1: Magie aus Wasserseide
-- Band 2: Kuss aus Sternenstaub
Die Reihe ist abgeschlossen.//

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

»Weder Hörner noch Schuppen oder Steinhaut machen aus, wer wir sind. Wir alle sind Magie, ganz egal, auf welche Art wir diese kanalisieren.«

Dunkle Magie bricht über ganz Turmalin herein, als Lyra an der berühmtesten Zauberakademie des ganzen Landes eintrifft. Dort will sie sich endlich ihre Hörner entfernen lassen, um nach Hause zurückkehren zu können – würden diese ihr nicht plötzlich eine ungeahnte Chance bieten: Als einzige in der Oberwelt aufgewachsene Helya soll sie in die Unterwelt absteigen, um ihr Volk vom gemeinsamen Kampf gegen die finstere Macht zu überzeugen. Dabei stößt Lyra nach deren hundertjähriger Verbannung jedoch nicht nur auf unerwartete Gefahren, sondern entdeckt außerdem, dass mehr in ihr steckt, als sie je vermutet hätte …

Die Autorin

© Christoph Ascher

C. F. Schreder ist das Pseudonym von Christina Fuchs. Sie wurde 1992 in einem kleinen Tiroler Städtchen geboren, studierte Psychologie und Wirtschaftswissenschaften, lebte ein Jahr lang in Hong Kong und arbeitete anschließend als Personalmanagerin in Österreich und in den USA. Vor allem während ihrer Reisen und Auslandsaufenthalte sammelte sie Inspirationen für ihre Geschichten. Heute lebt und schreibt sie in Salzburg.

C. F. Schreder auf Instagram: www.instagram.com/christina.schreibt/

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen auf: www.loomlight-books.de

Loomlight auf Instagram: www.instagram.com/loomlight_books/

Viel Spaß beim Lesen!

C. F. Schreder

TurmalinKuss aus Sternenstaub

Für Luisa und Elias

1. Vogelweber

Als Lyra sechs Jahre alt war, nahm ihr Vater sie mit zur Vogelweberei in Eilesruth. Dort saßen die Vogelweber in einem Turmzimmer an einfachen Holztischen und in gewöhnlichen Roben aus braunem Stoff, die viel zu unscheinbar für jemanden wirkten, der dabei war, Leben zu erschaffen. Mit geschickten Fingerbewegungen verwoben sie die Fasern aus Blüten- und Honigpartikeln zu Federgewebe, das sich unter dem Hauch ihrer Magie aufbauschte, bis es die Form eines winzigen Vogels annahm.

Ein Vogelweber winkte Lyra an seinen Tisch, ein dünner Fae, dessen fransige Haare von seinem Kopf abstanden, als seien sie Federn, und dessen spitze Nase leicht gebogen war wie der Schnabel eines Vogels.

»Leg dein Ohr an die Muschel«, wies er sie an und deutete auf ein längliches Metallgefäß, das sich nach oben hin öffnete wie eine Tulpe.

Sie folgte seinen Anweisungen, hörte jedoch nichts. Machte sie etwas falsch? Mit hochgezogener Nase presste sie ihr Ohr fester an die Tulpenöffnung. Der Vogelweber kicherte über ihren angestrengten Gesichtsausdruck.

»Schließ die Augen und lass deine Gedanken frei«, wies er sie an.

»Wozu ist das gut?«

»Tu es einfach.«

Also schloss sie ihre Lider und atmete tief ein und aus. Erst geschah gar nichts. Lyra hörte ihren Herzschlag und das feine Knistern der Blütenfäden, die sich unter der Magie der Vogelweber in Federn verwandelten. Sollte sie einfach so tun, als würde sie etwas hören? Aber was? Sie wollte sich nicht lächerlich machen, indem sie die falsche Antwort gab.

Wie sie so dastand, mit geschlossenen Augen und dem kühlen Metall der Muschel am Ohr, flatterten ihre Gedanken wie von selbst davon, wie sie es immer taten, wenn sie einen Moment der Ruhe hatte. Ihre Mutter hatte einmal gesagt, dass Lyra mehr in ihrer Fantasie lebte als in der wahren Welt. Und so träumte sie sich auch jetzt in den Himmel. Sie stellte sich vor, wie sie über den Dächern der Stadt schwebte. Wie sie Menschen, klein wie Spielzeugfiguren, beobachtete und wie die Wolken sie kitzelten. Wie sie selbst zu einem Vogel wurde.

Und plötzlich hörte sie es. Ein leises Zwitschern, von dem sie erst dachte, dass es ihrer Fantasie entspränge. Doch in Wahrheit kam es aus der Muschel, und im nächsten Augenblick gesellten sich weitere Geräusche dazu. Ferne Musik, das Plätschern eines Bachs, Ozeanrauschen, das Rascheln von Blättern, durch die der Wind fegte, Gelächter und ein überraschtes Seufzen.

Vor Staunen klappte ihr der Mund auf, was den Vogelweber zum Lächeln brachte.

»Die Muschel trägt Klangpartikel in sich. Mit ihnen hauchen wir den Vögeln eine Stimme ein. Schau.«

Mit diesen Worten führte er das spitze Ende der Blechtulpe zum Federgewebe, durch das daraufhin ein Zittern ging.

»Aber das Wichtigste ist das Licht.«

Und er hob ein längliches, durchscheinendes Gefäß an, das auf den ersten Blick wirkte wie ein Fernglas, in Wahrheit jedoch ein Lichtbündler war. Im Inneren des Gefäßes befanden sich mehrere hauchdünne Schichten Kristallglas, und als der Vogelweber den Lichtbündler in genau dem richtigen Winkel in das Sonnenlicht hielt, verfingen sich die Strahlen in der ersten Schicht und wurden immer konzentrierter, während sie von Kristallglas zu Kristallglas sprangen. Die magischen Lichtpartikel entwichen an der Rückseite der Röhre und strömten als glitzernder Strahl auf das Vogelgewebe zu.

Die Federn erzitterten und bauschten sich auf, als der Fae-Vogel seinen ersten Atemzug tat. Was eben ein bunter Haufen Federn gewesen war, nahm nun die Gestalt eines Tieres an. Schnabel und Krallen wuchsen aus dem Gewebe hervor, an den Kopfseiten bildeten sich die Augen wie schimmernde Perlen und der Vogel spreizte seine Flügel.

Das winzige Tier riss seinen Schnabel auf und schloss ihn wieder. Mehrmals wiederholte es dieselbe Bewegung und endlich entwich ihm ein Zwitschern, hell und klar wie das schönste Glockengebimmel.

»Und so«, erklärte der Vogelweber, »wird Leben aus Licht geboren.«

Das Bild des neugeborenen Fae-Vogels setzte sich in Lyras Fantasie als Inbegriff der Schönheit fest. Von da an wusste sie, dass sie auf dieser Welt nichts mehr wollte, als Vogelweberin zu werden. Eines Tages, das schwor sie sich, würde sie Leben aus Licht, Luft und Klängen erschaffen.

Als sie ihrem Vater davon erzählte, meinte er: »Wenn du eine wirklich große Vogelweberin werden möchtest, musst du in die Hauptstadt zur Turmalin-Akademie. Die Vogelweber dort erschaffen nicht nur die immergleichen Fae-Vögel. Sie kreieren neue Spezies, Tiere, die du noch nie gesehen hast, und sie erfüllen sie mit einer Magie, die ihnen erlaubt, bis über den Ozean zu fliegen.«

Seither träumte Lyra von der Turmalin-Akademie. Sie las so viele Bücher von ihr und betrachtete die Bilder so oft, dass sich diese in ihre Vorstellung einbrannten. Die glänzende Fassade aus Rosenquarz, die Türme, die sich grazil den Wolken entgegenstreckten. Die Brücken und Bögen, die sich zwischen ihnen spannten, so zahlreich, dass sie ein verwinkeltes Labyrinth im Himmel bildeten. Der mächtige Wasserfall, der dem schlossartigen Gebäude entsprang und in den Ozean donnerte. Die Vögel und anderen magischen Kreaturen, die um die Akademie herumflatterten. Lyra musste nur die Augen schließen, schon war sie da.

Doch als sie wirklich da war und die Akademie mit eigenen Augen sah, war diese von Rauch eingehüllt und die Stadt, die zu ihren Füßen lag, brannte.

Lyra stand reglos an der Reling von Captain Neofangs Frachtschiff und starrte auf Turmalinstadt, das von dicken Rauchwolken eingehüllt war. Angstpartikel surrten durch ihre Hörner, schwach, aber doch wahrnehmbar. Eine Windböe trug den Geruch nach verbranntem Holz und Asche heran, und Lyra schluckte.

»Das muss der Helyedith gewesen sein«, murmelte sie.

Saphire, die sich neben ihr an die Reling klammerte, nickte. »Ich dachte, dass der Angriff auf unser Schiff heftig war, aber hier muss er noch viel schlimmer gewütet haben. Was tun wir jetzt? Können wir überhaupt anlegen?«

»Nein!«, sagte Neofang bestimmt. »Solange der Helyedith in der Stadt ist, bleiben wir mit unserem Schiff auf dem Wasser. Eine Begegnung mit dem Aether war mehr als genug, das tue ich meiner Mannschaft nicht noch einmal an.«

Innerlich seufzte Lyra auf. Da hatte sie auf ihrer Reise so vieles überstanden und dazugelernt – war den Gardisten in der Mühle in Bronnstadt entkommen, in letzter Sekunde von Tibor und Nicolai vor dem irren Hörnerdoktor auf Nephir Ulum gerettet worden, hatte eine Helyedith-Attacke direkt auf dem Ozean überlebt und es geschafft, Emotionsmagie zu kontrollieren –, nur um nun tatenlos dabei zuzusehen, wie die Akademie, ach was, die ganze Hauptstadt in Flammen aufging?

Lyra hätte dem Captain so gerne widersprochen. Hier, auf dem Schiff zu sitzen, während die Leute in der Stadt in Gefahr schwebten, fühlte sich falsch an, vor allem, da sie und Nicolai die Einzigen waren, die eine Chance hatten, die Leute von den Halluzinationen des Helyedith zu befreien. Gleichzeitig wusste sie, dass Captain Neofang recht hatte: Die Crew hatte beim Angriff des Helyedith vor wenigen Tagen zwei ihrer Mitglieder verloren. Zahlreiche Matrosen waren verletzt, und selbst denjenigen, die unversehrt davongekommen waren, stand noch immer der Schock über das Erlebte ins Gesicht geschrieben. Der Helyedith hatte so viel mehr angerichtet, als mit bloßem Auge erkennbar war. Ja, da waren Schnittwunden und Knochenbrüche, doch die Angst und der Hass, den diese dunkle Magie in den Matrosen gesät hatte, wog viel schwerer. Natürlich wollte Captain Neofang seine Männer dem kein weiteres Mal aussetzen.

Ganz abgesehen davon, dass zwei Personen allein sowieso nicht viel ausrichten könnten. Das hieß, eigentlich war Lyra die Einzige, die zum Kämpfen in der Lage wäre. So geschwächt wie Nicolai noch immer war, bezweifelte sie, dass er seine Magie würde einsetzen können.

Nachdem sie vor wenigen Stunden die brennende Hauptstadt am Horizont erblickt hatte, hatte sie Nicolai aus seinem Schlaf geweckt und ihn gebeten, den Schleierzauber zu erneuern. Unmöglich durfte sie sich mit sichtbaren Hörnern in die Nähe der Hauptstadt wagen, schon gar nicht, wenn die Leute dort schlimme Erfahrungen mit dem Aether gemacht hatten und für ebendiese einen Schuldigen suchten.

Vor wenigen Wochen, nachdem sie die Kanalisation nahe Saint Nephir verlassen hatten, war diese Magie für ihn ein Kinderspiel gewesen, doch heute hatte sie Nicolai so viel Kraft abverlangt, dass es ihm physische Schmerzen zu bereiten schien. Mit zusammengepressten Lippen und Schweiß auf der Stirn hatte er den Zauber durchgeführt, während Lyra in ihren Hörnern seine Anstrengung wahrnahm. Danach war er sofort wieder eingeschlafen.

Sie verstand das nicht. Die Verbrennungen auf seiner Haut sahen zwar noch immer schlimm aus, doch sie allein sollten seine Magie nicht dermaßen schwächen. Dazu kam das unbestimmte Surren, das sie in Nicolais Innerem spürte, wann immer sie ihr Ohr an seine Brust legte, als tanzten winzige Funken durch seine Blutbahnen. Oder als hätte der Helyedith mit seinem Blitzschlag einen Teil seiner zerstörerischen Magie in Nicolai gelassen.

Der Gedanke daran ließ Lyra seufzen. Was auch immer es war, das Nicolai dermaßen schwächte, sie hoffte, dass der Arzt in der Turmalin-Akademie ihm helfen konnte. Vorausgesetzt die Akademie stand noch, wenn sie endlich übersetzten.

Es war zum Verrücktwerden!

»Gibt es nicht irgendwas, das wir tun können?«, fragte sie. »Wir können doch nicht einfach hier warten und die Leute ihrem Schicksal überlassen.«

»Doch, das können wir. Und genau das werden wir auch tun«, entgegnete Neofang.

Er hatte ja recht. Aber warum fühlte es sich so falsch an?

Leise schlurfte Bartosz heran und blieb ein Stück von den anderen entfernt an der Reling stehen. Er hielt den Blick gesenkt, schaffte es, vermutlich vor lauter Schuldgefühlen, nicht, irgendjemanden anzuschauen, als er tonlos sagte: »Es sieht aus, als wäre der Angriff bereits vorbei.« Er räusperte sich. »Na ja, da sind keine schwarzen Wolken, keine Blitze, keine Erscheinungen am Himmel, nichts, das auf Magie hinweist. Oder?«, erklärte er. Noch immer schaute er sie nicht an.

Lyra schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Hörner, die die Emotionsmagie in der Luft registrierten. Da waren Angst und Panik, genauso wie ein unbestimmtes Knistern von fernen Erinnerungen, doch sie fühlte die Emotionspartikel so dumpf, als seien sie ein bloßer Nachhall ihrer selbst. Bevor der Helyedith sie auf dem Ozean angegriffen hatte, hatte sie seine Anwesenheit wesentlich stärker wahrgenommen. Das hier erinnerte sie eher an den Moment, nachdem sich die Wolken gelichtet hatten und die Magie langsam verschwunden war.

»Bartosz hat recht«, sagte sie. »Der Angriff ist bereits vorbei.«

Der Kapitän ließ sich davon jedoch wenig beeindrucken.

»Ich weiß, ihr meint es gut, aber meine Verantwortung liegt bei meinen Männern, und die haben in den letzten Tagen genug durchgemacht.« Er deutete eine Verbeugung an und lüpfte seine Kapitänsmütze, ehe er davonging.

»Was tun wir jetzt?«, fragte Saphire.

Lyra zuckte die Schultern. Sie wusste es nicht. Vermutlich würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als zu warten. Auch wenn das ein schrecklicher Gedanke war. Seufzend lehnte Saphire sich über die Reling und begann, ihre Finger im Takt einer unsichtbaren Melodie zu bewegen, woraufhin sich Wasserpartikel aus den Wellen lösten und zu einem feinen Netz sponnen. Mit einem Schnipsen ließ die Nephire das filigrane Gebilde in sich zusammenfallen, bevor sie erneut anfing, die Wasserfäden kraft ihres Geistes ineinander zu verflechten.

Lyra beobachtete dieses Schauspiel. Es war hübsch anzusehen, doch immer wieder wanderte ihr Blick zum rauchbedeckten Horizont, und auch wenn sie versuchte, sich nicht allzu bildlich vorzustellen, was der Helyedith in Turmalinstadt angerichtet haben könnte, so verselbstständigte ihre Fantasie sich doch und erschuf Bilder von weinenden Müttern, die ihre reglosen Kinder im Arm hielten, von Freunden, die aufeinander losgingen, von Familien, die ihr gesamtes Hab und Gut in den Flammen verloren. Sie blinzelte mehrmals, um die Bilder zu vertreiben, womit sie mehr schlecht als recht Erfolg hatte.

Als sie so in den Rauch schaute, erspähte sie etwas auf sie zuflattern. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine riesige Motte, dann jedoch erkannte sie, dass es ein Bote war, der gegen die Meeresbrise ankämpfte und auf das Schiff zusteuerte. Das Papierwesen hatte die Form eines Uhus und seine Oberfläche war mit engen Zeilen bedeckt. Es strauchelte, als der Wind an ihm zerrte. Trotzdem bekam Lyra, die mit ausgestrecktem Arm über der Reling lehnte, es zu fassen. Es knisterte, als der Bote in dem Versuch, Lyras Griff zu entweichen, heftiger mit den Flügeln schlug. Offensichtlich war sie nicht die Empfängerin der Nachricht, doch sie ließ ihn nicht los.

Schnell zog sie ihren Arm zurück und umschloss den Boten mit beiden Handflächen. Die Flügel, die gegen ihre Haut streiften, kitzelten sie. Lyra sog die Luft ein und schloss die Augen, während sie die Handflächen fester zusammenpresste. Obwohl sie wusste, dass der Bote kein echtes Lebewesen war, sondern lediglich sich bewegendes Papier, verursachte es ihr doch Unbehagen, das kleine Wesen zusammenzudrücken. Kurz nur wehrte der Bote sich, flatterte noch heftiger mit den Flügeln, ehe er aufgab und sich knisternd zusammenknüllte. Als Lyra ihre Handflächen wieder öffnete, hatte das Wesen sich in normales zerknittertes Papier zurückverwandelt. Vorsichtig glättete sie die Ränder und las am oberen Papierrand, für wen diese Nachricht bestimmt war: Nicolai.

Nicolai knabberte konzentriert an seiner Unterlippe, während er die Nachricht las. Er saß in seinem provisorischen Krankenbett und hatte mehrere Kissen hinter seinem Rücken aufgetürmt. Lyra und Saphire saßen auf der gegenüberliegenden Koje und schauten ihn gespannt an, Bartosz hielt sich im Hintergrund, tat sich allerdings schwer damit, seine Neugierde zu verbergen, und Tibor lehnte scheinbar gelangweilt am Türrahmen.

»Die Nachricht ist aus der Turmalin-Akademie«, sagte Nicolai schließlich und schaute zu Tibor. »Der Leiter der Akademie und Kar Ambrosio wollen ein Spiegel-Tribunal abhalten, um zu beratschlagen, wie sie wegen dem Helyedith weiter vorgehen. Sie wollen mich dabeihaben.«

»Dich?«, fragte Tibor kopfschüttelnd. »Sollten sie nicht eher jemanden einladen, der auf ihrer Seite des Gesetzes steht?«

Tiefe Furchen zogen sich über Nicolais gerunzelte Stirn, während er die Nachricht betrachtete. Und auch Lyra war verwirrt. Kar Ambrosio? War das nicht der Staatsminister für Sicherheit und damit oberster Leiter der Garde? Was hatte er mit der Fae-Akademie zu tun?

»Doktor Esmerald bittet darum. Er schreibt, es ist überaus wichtig, dass ich teilnehme«, erklärte Nicolai mit skeptischem Ton.

Tibor grummelte: »Das klingt nach einer Falle.«

»Es ist Doktor Esmerald«, entgegnete Nicolai bloß.

»Und du vertraust ihm«, gab Tibor mit unzufriedenem Gesichtsausdruck zurück und seufzte.

Lyra fühlte seine Gedanken, vor allem seine Resignation, so klar, dass er nicht aussprechen musste, was er dachte: Es gab nichts, was er sagen könnte, um Nicolai davon abzubringen. Auch wenn er es für überaus dumm und gefährlich hielt. Als Schmuggler und damit in den Augen des Gesetzes als Verbrecher lief Nicolai tagtäglich Risiko, von den Gardisten geschnappt und für die Taten des Helyedith bestraft zu werden, wie so viele Unschuldige vor ihm. Trotzdem eine Versammlung von Regierungsmitgliedern zu besuchen, war nicht nur riskant, sondern regelrecht naiv. Trotzdem würde Nicolai teilnehmen, weil ihn jemand darum bat, dem er vertraute – und Vertrauen, das hatte Lyra mittlerweile gelernt, ging ihm über alles.

Wieder einmal schien Nicolai die Fragen erfühlt zu haben, die in Lyras Kopf herumtanzten, denn er erklärte: »Hier steht, die Garde hat die Lage nicht mehr unter Kontrolle. Das, was wir vor ein paar Tagen am Schiff erlebt haben, war kein Einzelfall. In ganz Turmalin ist es zu Helyedith-Attacken gekommen. Es ist ...« Er stockte. »Schlimm.«

»In ganz Turmalin? Etwa auch in Eilesruth?«

Lyras Herz setzte für einen Moment aus. Vor ihr geistiges Auge schoben sich die Bilder einer Wolkenschlange, die in das Haus ihrer Eltern einschlug, oder eines pulsierenden, schwarzen Herzens am Himmel über der Akademie in Eilesruth. Und niemand dort beherrschte Helya-Magie, sodass ihre Familie und ihre Freunde auf sich allein gestellt waren. Was, wenn ihren Eltern etwas passiert war? Oder Yivie? Was, wenn ... Sie krallte sich mit beiden Händen im Stoff ihrer Pumphose fest. Daran durfte sie gar nicht denken. Es durfte nichts passiert sein.

Sachte legte Nicolai seine Hand auf ihren Unterarm.

»Soll ich ... Du weißt schon?«

Wärme Klang aus seiner Stimme. Seine Sorge vibrierte in Lyras Hörnern. Trotzdem schüttelte sie vehement den Kopf. Sie brauchte jetzt einen kühlen Kopf, nicht seine Emotionsmagie, die sie beruhigte. Er akzeptierte das, nickte, ließ seine Hand jedoch auf ihrem Arm liegen.

»Du kannst deinen Eltern eine Nachricht schreiben, sobald wir in der Turmalin-Akademie sind. Und beim Spiegel-Tribunal frage ich deine Lehrerin nach der Situation in Eilesruth.«

»Miss Elsgeroth? Sie ist auch beim Tribunal?«

»Ich vermute schon, immerhin ist sie Mitglied der Magier-Gilde und eine der fähigsten Magierinnen des Landes.«

Lyra hatte sich schon immer gewundert, warum eine talentierte Magierin wie Miss Elsgeroth ihre Zeit damit verschwendete, Fae-Schüler zu unterrichten. Dass die politischen Führer Turmalins sich von ihr beraten ließen, passte viel eher zu Miss Elsgeroth als der Weg, den sie für sich gewählt hatte. Zumindest wenn man Lyra fragte.

Saphire zog die Nase hoch. »Um das Ganze für Nicht-Turmaliner wie mich noch einmal zusammenzufassen«, begann sie, »das Ministerium ist eure Regierung, nicht?«

Nicolai, Tibor und Lyra nickten unisono.

»Und regiert werdet ihr von Menschen?«

Nun verwandelte sich das Nicken in Kopfschütteln.

»Die Fae- und die Menschen-Partei teilen sich das Ministerium. Es sind genauso viele Ministerposten an Mitglieder der Fae-Partei vergeben wie an Menschen«, erklärte Lyra, die dieses Thema erst vor Kurzem in der Akademie durchgenommen hatte.

»Ah«, machte Saphire. »Aber die richtig guten Magier sind nicht die Politiker, sondern die Mitglieder der Magier-Gilde. Und weil eure Minister nicht mehr weiterwissen, holen sie sich deren Rat.«

»Genau«, meinte Nicolai.

»Und wofür genau brauchen sie dich dann?«, stichelte Saphire.

Nicolai verzog unmerklich den Mund. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Das werde ich wohl oder übel herausfinden müssen, wenn wir da sind.«

Es gab nur einen guten Grund, warum die obersten politischen und magischen Vertreter Turmalins einen einfachen Schmuggler in ihr Tribunal mit einbeziehen würden. Nämlich den, dass ebendieser Schmuggler ein Helya war, und damit bewandt in der Magie, die den Aether geschaffen hatte. Doch das hieße, dass sie wussten, was Nicolai wirklich war. Konnte das sein? Der Doktor musste es wissen und Lyra bezweifelte keine Sekunde, dass Miss Elsgeroth im Bilde war, aber die anderen?

Saphire hatte offenbar denselben Gedanken gehabt, denn sie hakte nach: »Könnte es eventuell daran liegen, dass du ein, na ja, du weißt schon was, bist?«

»Sie wollen sicherlich Vertreter aus verschiedenen Gruppen dabeihaben«, antwortete Nicolai vage.

»Das heißt, es werden auch Vertreter der Ryalithen und Nephire dabei sein?«, fragte Saphire weiter.

Nicolai zuckte die Schultern. »Dazu sagt die Nachricht nichts. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Ryalith dabei ist.«

Oder auch nicht, da die Fae die Ryalith-Magie gerne als einfache und grobe Form der Zauberei unterschätzten. Das sprach er natürlich nicht aus, was auch gar nicht nötig war. Alle Anwesenden, mit Ausnahme vielleicht von Saphire, die auf einem anderen Kontinent aufgewachsen war, wussten es auch so.

»Nephire gibt es auf Turmalin keine mehr«, fügte er hinzu.

»Jetzt schon«, entgegnete Saphire und reckte das Kinn hoch. »Ich fungiere gerne als Vertreterin meines Volkes.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, murmelte Nicolai.

»Wieso nicht?«

»Weil ...« Er räusperte sich.

An seiner Stelle ergriff Tibor das Wort. »Weil es bei einer solchen Versammlung genauso wichtig ist, manche Gedanken nicht auszusprechen, wie es ist, andere Dinge zu sagen.«

»Also ... also, das ist ...«

Saphire verschränkte die Arme vor der Brust und rümpfte die Nase, protestierte jedoch nicht weiter. Sie wusste selbst um ihr Unvermögen, den Mund in den richtigen Momenten zu halten. Was nicht hieß, dass sie das davon abhalten würde, dem Tribunal beizuwohnen, sollte sie eine Chance dazu bekommen.

»Lasst uns packen«, meinte Tibor und verließ die Kabine. Bartosz folgte ihm, nachdem er einen letzten verwirrten Blick auf Nicolai geworfen hatte.

Wenig später verließen sie gemeinsam den Schiffsbauch. Nicolai schlurfte langsam dahin. Es war das erste Mal, dass er seit seiner Verletzung das Bett für mehr als ein paar Schritt verließ. Tibor machte Anstalten, ihn zu tragen, doch Nicolai wehrte ab.

»Wehe, du hebst mich hoch«, zischte er.

»Du bist zu schwach, um zu gehen«, antwortete Tibor.

»Vor allem ist er zu stolz, um sich helfen zu lassen«, erklärte Saphire, woraufhin Tibor sich tatsächlich damit begnügte, Nicolais Tasche zu tragen und ihn zu stützen, während er selbst hörbar schnaufend die wenigen Stufen auf das Deck nahm.

Ihre Schritte hallten laut am metallenen Gang wider, und dieses Geräusch verursachte ein wehmütiges Ziehen in Lyras Herzen. Schon komisch, als sie vor rund zwei Wochen an Bord des Frachters gekommen waren, war sie enttäuscht gewesen, wie wenig dieses Metallmonstrum mit dem Piratenschiff aus ihrer Fantasie gemein hatte, und sie hatte sich gefragt, wie sie die Tage auf See, ohne jegliche Verbindung zur Natur, zu Wäldern und Wiesen, überstehen sollte. Nun jedoch erfüllte es sie mit Wehmut, dem Schiff und seiner Mannschaft Lebewohl zu sagen.

Die Matrosen hatten auf dem Deck Stellung bezogen, um ihre Reisegäste zu verabschieden. Viele von ihnen hielten Schüsseln mit Suppe in den Händen.

»Wir bitten den Meeresgott, euch auf eurem weiteren Weg zu beschützen«, erklärte Captain Neofang und reichte jedem eine Schüssel. Dann bedeutete er ihnen mit einer Handbewegung, an die Reling zu treten und dem Meeresgott das Essen zu opfern.

»Sollen wir uns auf die Knie werfen?«, frage Lyra, denn das war es, was die Matrosen taten, wann immer sie ihrem Gott etwas darboten.

»Ich weiß, dass ihr eigentlich nicht an den Gott des Meeres glaubt, also kein Grund, eure Demut zu heucheln«, antwortete Neofang und zwinkerte ihnen zu.

Als Lyra neben Saphire an die Reling trat, runzelte diese unzufrieden die Stirn.

»Was ist los?«, fragte Lyra.

Saphire antwortete flüsternd: »Den Matrosen bei ihrem merkwürdigen Ritual zuzuschauen, fand ich durchaus faszinierend, aber es selbst zu tun? Gutes Essen in den Ozean zu werfen, kommt mir falsch vor.«

»Die Matrosen vor den Kopf zu stoßen, indem du es nicht tust, wäre noch falscher«, meinte Lyra. »Na, komm.«

Sie hob ihre Schüssel hoch und kippte die Suppe ins Meer. Saphire folgte ihrem Beispiel seufzend, genauso wie die anderen Mitglieder ihrer Truppe.

Neofang drückte zum Abschied einen nach dem anderen.

»Viel Glück, Lyra. Du hast meine Dankbarkeit für das, was du für uns getan hast«, flüsterte er.

2. Rosenquarz

Kurz darauf hüpften Lyra, Saphire, Bartosz, Nicolai und Tibor in einem Ruderboot über die Wellen. Der kurze Weg von seiner Kabine zum Ruderboot hatte Nicolai angestrengt, sodass er die Augen schloss und wegdämmerte, sobald er im Boot saß. Sein Kopf lag auf Lyras Schulter und seine Brust hob und senkte sich rhythmisch.

Die Mannschaft stand an Deck und winkte ihnen zu, während sie sich immer weiter entfernten. Auch Lyra hob die Hand zum Abschied – und schon wieder zog ihr Herz sich zusammen. Bald schon hätten sie die Turmalin-Akademie erreicht. Dort würde sie sich erneut verabschieden müssen, dieses Mal von ihren Reisegefährten, die ihr noch mehr ans Herz gewachsen waren als die Matrosen. Selbst von Nicolai. Und dort würde sie ihre Hörner verlieren.

»Bist du sicher, dass du weißt, wohin du uns ruderst?«, fragte Saphire und riss Lyra damit aus ihren Gedanken.

Erst jetzt bemerkte sie, dass Tibor mit ihrem Boot gar nicht auf den Hafen von Turmalinstadt, sondern direkt auf den Wasserfall zusteuerte, der vom Fuße der Akademie aus über die Klippen ins Meer krachte.

»Wir nehmen einen versteckten Weg«, erklärte er.

»Und der führt uns da durch?«, meinte Bartosz skeptisch und deutete auf die Wassermassen, die dick wie die Stämme von Heilrath-Bäumen waren und lauter als tausend Trommeln dröhnten.

Unter Tibors strengem Blick zog er jedoch den Kopf ein. Lyra hasste es, ihn noch immer so verschüchtert zu sehen. Wenigstens hatte er überhaupt gewagt, etwas zu sagen.

»Gut für euch, dass ihr eine Nephire dabeihabt«, meinte Saphire.

»Nicht nötig«, brummte Tibor, und tatsächlich schaffte er es irgendwie, mit dem Boot hinter die Wassermassen zu gelangen, ohne direkt in den Wasserfall gesogen zu werden. Die Wellen hoben sie in die Höhe wie ein Spielzeugschiffchen. Feine Wasserspritzer, spitz wie Nadeln, bohrten sich in Lyras Wange, und das Tosen war so laut, dass sie kein Wort ihrer Reisegefährten verstehen konnte. Tibor bewegte seinen Mund, doch was auch immer er sagte, wurde vom Rauschen davongetragen.

Mit einer Kopfbewegung signalisierte er ihnen, wo sie anlegen sollten. Etwa einen Meter über den Wellen befand sich ein Felsvorsprung, der genügend Platz für gut ein Dutzend Personen geboten hätte, und dahinter eine mannshohe Öffnung in den Felsen. Hinter dieser lag vollkommene Dunkelheit.

»Jetzt wäre deine Hilfe angebracht«, meinte Tibor, woraufhin Saphire die Arme ausstreckte und die Finger knacken ließ.

Mit schnellen Bewegungen löste sie Fäden aus dem Wellenkamm, die an der Außenwand des Boots hochkrochen und sich zu einem grobmaschigen Seil flochten. Bartosz ergriff das Wassergeflecht und machte es am Holz fest. Das andere Ende des magischen Seils kroch über die Wellen und schmiegte sich an die Felsen. Dort glitten die Enden der Wasserfäden in die Rillen zwischen dem Gestein oder wickelten sich um kleinere Vorsprünge.

»Gut festhalten«, wies Saphire an, ehe sie mit beiden Armen eine Bewegung vollführte, als würde sie einen Heuballen hochheben.

Daraufhin spannte sich das Wasserseil so abrupt an, dass das Boot einen Sprung machte, ehe es zur Felswand gezogen wurde. Sobald der Vorsprung in Griffweite war, stand Saphire ohne jegliche Schwierigkeiten auf und erklomm die Felsen bis zum Höhleneingang. Ihre Bewegungen waren ruhig und fließend wie das Wasser selbst. Dass sie sich in einer ruckelnden Nussschale von Boot befand, ließ sie sich nicht anmerken.

Bartosz und nach ihm Lyra folgten weit weniger elegant. Mit wackligen Knien erklomm Lyra einen Felsvorsprung, ergriff dann die Hand, die Bartosz ihr entgegenstreckte, und ließ sich von ihm das letzte Stück nach oben helfen.

Nicolai machte Anstalten, sich zu erheben, gab jedoch auf, nachdem das Boot einen weiteren Ruck tat und er beinahe umfiel. Er zog ein Gesicht, als hätte man ihn gezwungen, einen ganzen Topf Kuhmist zu essen, als Tibor ihn wie ein Kind in die Arme nahm und hochhob. Dass er sich ohne großen Protest in den Höhleneingang heben ließ, ja sogar akzeptierte, dass Bartosz ihm seine Arme unter die Achseln schob, um ihn zu stützen, damit Tibor all ihre Taschen aus dem Boot hieven konnte, bewies, wie mitgenommen er war.

»Du kannst das Seil jetzt lösen«, wies er Saphire mit schwacher Stimme an, nachdem alle sicher auf dem Felsvorsprung standen, von dem aus ein niedriger Gang in die Dunkelheit führte.

Kaum dass das Seil sich zurück in einfaches Wasser verwandelt hatte, riss der Sog das Boot weg von den Felsen und zum Wasserfall, wo die gewaltige Kraft der Wassermassen es in Kleinholz verwandelte. Es war beeindruckend, dass Tibor es geschafft hatte, sie alle, ohne mit der Wimper zu zucken, zu den Felsen zu rudern.

»Wir brauchen die Kugeln«, murmelte Nicolai.

»Schon bereit.«

Tibor holte eine Handvoll Lichtkugeln aus der Tasche und reichte sie an die Gruppe weiter. Lyra erkannte diese spezielle Art der Kugeln von damals wieder, als sie durch die Kanalisation hatten flüchten müssen. Ihr Licht war weniger hell, dafür etwas weißer als das gewöhnlicher Lichtkugeln, da sie nicht mit Sonnen-, sondern mit Mondpartikeln gefüllt waren.

»Gibt es dort drinnen etwa Nachtmahre?«, fragte sie und ihre Hörner knisterten in Erinnerung an die dunklen Wesen, die sie im Untergrund gejagt hatten.

»Ja, aber sie sollten weniger aggressiv sein als die in Bronnstadt. Zumindest hatte ich nie Probleme, als ich hier durchgegangen bin. Behaltet nur immer die Lichtkugeln bei euch«, erklärte Nicolai.

Das klang nicht wirklich beruhigend. Doch als Lyra sich auf ihn konzentrierte, fühlte sie keine Furcht von ihm ausgehen. Das mochte seiner Schwäche geschuldet sein, aber sie beschloss, es als positives Zeichen zu deuten.

»Bereit?«, fragte Nicolai. »Oder habt ihr noch Fragen?«

Tibor sagte: »Nur eine. Wirst du dich freiwillig von mir tragen lassen oder müssen wir dich den ganzen Weg über stützen und werden zehnmal so lang brauchen, bis wir bei der Akademie ankommen?«

Nicolai bedachte ihn mit einem Blick, als würde er ihm am liebsten den Kopf abreißen, doch dann nickte er und ließ sich von Tibor hochheben. Lyra verkniff sich ein Kichern. So süß der Anblick von Nicolai auf Tibors Armen auch sein mochte, so sehr spürte sie, wie unangenehm ihm das Ganze war.

Saphire war wieder einmal weniger zurückhaltend. »Ihr beiden seht wirklich sehr putzig aus«, kommentierte sie und schnappte sich ihre Reisetasche.

Dann ging der Marsch los. Die Mondlichtkugeln erhellten den engen Durchgang nur spärlich, doch je weiter sie schritten, desto breiter wurde dieser, bis er Platz für eine Pferdebahn geboten hätte. Nassglänzender grauer Stein umschloss sie – zumindest soweit Lyra das im fahlen Licht erkennen konnte. Die kalte Luft im Inneren der Höhle stand still, kein Luftzug strich über Lyras Haut. Anfangs hallte das Tosen des Wasserfalls laut an den steinernen Wänden wider, je weiter sie allerdings ins Innere vordrangen, desto mehr verklang das Wasserrauschen und wurde vom dumpfen Klang ihrer Schritte und von einem Rascheln abgelöst, von dem Lyra sich einzureden versuchte, dass es von irgendwelchen Kleintieren stammen musste, nicht etwa von Nachtmahren.

Sie waren schon ein gutes Stück in die Höhle vorgedrungen, als Saphire ein Quietschen ausstieß. Lyra fuhr herum.

»Was ist los?«, fragte sie. In diesem Moment sah auch sie den Schatten, der an ihnen vorbeihuschte. Verdammt, es waren also wirklich Nachtmahre.

»Wenn das Ding uns angreift, musst du die Mondlichtkugel vor dich halten«, erklärte sie.

Denn soweit sie wusste, gab es in der Wüste keine Nachtmahre, sodass sie bezweifelte, dass Saphire irgendeine Ahnung hatte, wie sie mit dem Wesen umgehen sollte. »Nachtmahre haben Angst vor Licht und ...«

Weiter kam Lyra nicht. Plötzlich tauchte ein Schatten in ihrem Blickfeld auf – und er steuerte direkt auf Saphire zu.

»Achtung!«, rief Lyra.

Sie musste ihre Leuchtkugel aktivieren! Aber wie hatte das beim letzten Mal funktioniert? Hatte sie in der Kanalisation irgendetwas Spezielles getan oder gedacht? Verdammt, warum musste ihr Gehirn sich plötzlich so leer anfühlen? Da hechtete Bartosz vor Saphire und breitete die Arme aus, um seine Angebetete zu beschützen.

»Nicht!«, rief Nicolai.

Zu spät. Schon hatte Bartosz die Magie der Steine heraufbeschworen. Die Wände rund um sie herum bebten, feiner Sand rieselte von der Decke auf sie herab und in einem Ruck lösten sich Steinsplitter aus der Oberfläche heraus und sausten auf den Nachtmahr zu. Das Schattenwesen stieß einen spitzen Schrei aus, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Wieso rannte das Wesen nicht davon? Oder griff an? Lyra kniff die Augen zusammen, und da erkannte sie die kleinen Schatten, die hinter dem größeren Mahr kauerten.

»Hör auf!«, brüllte Nicolai noch einmal.

Aber Bartosz reagierte nicht auf ihn. Immer weitere Steinsplitter sausten aus der Wand heraus auf den Nachtmahr zu. Oder besser gesagt: auf die Nachtmahrmutter, die ihre zwei Welpen mit ihrem Körper vor den spitzen Splittern abschirmte. Sah Bartosz denn nicht, dass von dem Wesen keine Gefahr ausging?

Doch er schien nichts um ihn herum mehr wahrzunehmen. Weder Nicolais Rufe noch Lyra, die an seiner Schulter rüttelte. Sein Rücken hob und senkte sich fühlbar, so schwer atmete er, seine Schultern zitterten, und die Steinchen flogen immer weiter. Ein stärkeres Beben ging durch die Decke. Plötzlich löste sich ein größerer Gesteinsbrocken und fiel auf sie herab. Lyra konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite ausweichen. Saphire war etwas zu langsam und der Stein streifte ihre Schulter. Sie schrie auf und krümmte sich zusammen.

Erst dieser Laut riss Bartosz aus seiner Trance. Sein Kopf ruckte hoch. Sofort hörten die Steinsplitter auf, zu fliegen, und das Beben legte sich. Nur etwas Staub rieselte noch auf sie herab, als er sich blinzelnd aufrichtete. Bei Saphires Anblick weiteten sich seine Augen.

»Du bist verletzt«, hauchte er.

Sie hielt sich schmerzverzerrt den Arm, der Stoff ihrer Bluse war von Blut durchtränkt. Lyra sog die Luft ein.

»War das ... ich?«, flüsterte Bartosz.

»Mach dir keine Sorgen«, antwortete Saphire. »Es tut nur ein bisschen weh.« Doch ihre zuckenden Lippen und das Fiepen in Lyras Hörnern straften ihre Worte Lügen.

»Es tut mir so leid, es tut mir ... ich wollte doch nur, ich dachte ...« Bartosz hob entsetzt beide Hände an die Wangen. »Egal was ich mache, es geht immer schief. Ich mache alles kaputt«, murmelte er wie zu sich selbst.

»Das stimmt doch nicht, Bartosz«, meinte Lyra, doch er schien sie gar nicht zu hören.

Seine Schuldgefühle waren so deutlich, dass selbst Saphire, die keine Helya-Fähigkeiten besaß, sie spüren musste. Sie schaute Bartosz nur hilflos an, zum ersten Mal um Worte verlegen. Auch Nicolai und Tibor verkniffen sich einen Kommentar, wofür Lyra dankbar war. Denn dass die beiden Bartosz‘ Selbstzweifel für mehr als angebracht hielten, machte ihr Schweigen deutlich genug.

»Kannst du weitergehen?«, fragte Tibor an Saphire gewandt, denn Medikamente hatten sie keine dabei.

Die nickte tapfer, auch wenn sie sich immer noch die Schulter hielt.

»Gut, Bartosz soll deine Tasche tragen«, mit diesen Worten schob Tibor sich an den anderen vorbei, direkt hinter ihm folgte Saphire, die ihre Schritte vorsichtiger voreinander setzte als zuvor.

Lyra warf einen letzten Blick zurück zum Nachtmahr. Das Schattenwesen kauerte über seinen winselnden Welpen und schnupperte an deren Schattenfell. Nachtmahre bluteten nicht, doch rund um ihren Körper waberten gräuliche Schattenflecken. Sie musste verletzt sein. Natürlich war sie das, so wie sie ihre Welpen gegen Bartosz‘ Splitterregen abgeschirmt hatte.

Wenig später erreichten sie Treppenstufen, die scheinbar endlos in die Höhe führten. Schnaufend schleppte Lyra sich selbst und ihre Tasche hoch. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, vor allem, da niemand sprach. Als sie irgendwann das Ende der Treppenstufen erreichte, war dort ... nichts. Keine Tür, keine Öffnung, nur eine einfache Steinwand.

»Und jetzt? Setzen wir Magie ein, um hindurchzugehen?«, fragte Lyra.

»Nein, wir klopfen.«

»Das war kein besonders lustiger Witz«, stellte Saphire fest, deren Wangen eine grünliche Farbe angenommen hatten. Auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, so war Lyra klar, dass sie dringend einen Arzt brauchte.

»Es war kein Witz.« Und tatsächlich setzte Tibor Nicolai nun ab und begann, an die Wand zu hämmern. Kurz darauf ertönte ein Grollen. An einer Stelle etwas oberhalb von Tibors Kopf glühte der Stein auf, als hätte jemand ein heißes Messer in ihn gerammt. Der Punkt wanderte von dort seitlich und schließlich bis zum Boden, als schneide jemand durch die Felsen, bis auf der Steinwand ein Rechteck glühte. Es ruckelte so stark, dass Lyra taumelte, dann löste die Wand innerhalb dieses Rechtecks sich auf und zerfloss wie heißes Kerzenwachs. Ganze Ströme rot glühenden, flüssigen Steins rannen die Treppe hinunter. War das Lava?

Doch die Flüssigkeit versengte weder Lyras Schuhe noch die blanken Fußsohlen von Bartosz, der sich seine Schuhe im Verlauf des Aufstiegs ausgezogen haben musste. Und als Saphire sich trotz ihrer Schmerzen bückte und ihre Fingerkuppe neugierig hineinsteckte, bildete sich keine Brandblase.

Langsam versickerte die Flüssigkeit in den Stufen und wurde eins mit dem Stein, aus dem sie geschaffen worden war. Als Lyra den Kopf wieder hob, öffnete sich in der Felswand ein akkurat geschnittener Durchgang. Auf der anderen Seite stand ein Mann in der purpurnen Uniform der Gardisten. Sein Anblick brachte Lyras Herz zum Stolpern. Was machte ein Gardist hier? Zu seiner Linken stand ein Fae in der langen Robe der Akademie, zu seiner Rechten ein hochgewachsener Mann, ebenfalls in der Uniform der Garde, jedoch ohne jegliches Emblem. Er musste einen niedrigeren Rang innehaben.

Auf den Lippen des führenden Gardisten zeigte sich ein kaltes Lächeln, als er sagte: »Willkommen in der Turmalin-Akademie.«

Die Gardisten führten sie in einen leeren Unterrichtsraum, wo der Anführer sie anwies, hinter den Schulbänken Platz zu nehmen, während er selbst sich auf das Lehrpult hockte. Nicolai und Tibor ignorierten seinen Wink und blieben beide stehen.

»Ich muss eure Dokumente überprüfen«, erklärte der Gardist trocken.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte Nicolai schwer schnaufend. Er musste sich an einer der Unterrichtsbänke abstützen.

»Dunkle Magie wütet in der Stadt und noch wissen wir nicht, wer sie heraufbeschworen hat.«

»Wer!?«, zischte Nicolai.

Lyra ballte unter dem Tisch ihre Hände zu Fäusten. Suchte die Garde wirklich immer noch nach einem Sündenbock, obwohl doch jeder wusste, dass der Helyedith eigenständig agierte?

Ungerührt fuhr der Mann fort: »In Anbetracht der Umstände müssen wir jeden Ankömmling genau kontrollieren. Vor allem die, die versuchen, sich durch die Hintertür einzuschleichen.« Auf seinen Lippen lag ein kaltes Lächeln. Betont zog er seine Pistole aus dem Halfter und platzierte sie auf dem Pult, sodass die Öffnung direkt auf Nicolai deutete.

»Wir haben uns nicht eingeschlichen«, setzte Saphire an zu erklären, schluckte die restlichen Worte jedoch hinunter, als Tibor ihr mit einer Handbewegung bedeutete, Nicolai das Reden zu überlassen.

Der wiederholte: »Wie meine Reisegefährtin erklärte, wollten wir uns nicht einschleichen. Unser Besuch ist schon länger angekündigt, aus offensichtlichen Gründen hat er sich jedoch verzögert. Wie Sie sehen, brauchen wir schnellstmöglich einen Arzt.« Dabei deutete er auf Saphires verletzten Arm.

Der Gardist ignorierte dies jedoch. »Offensichtliche Gründe, so so.«

»Wir wurden während der Anreise auf See vom Aether attackiert und hatten Glück, mit dem Leben davongekommen zu sein. Als wir den Rauch über Turmalinstadt entdeckt haben, haben wir beschlossen, den geheimen Weg über die Klippentunnel zu nehmen. Ich hielt das für sicherer, als durch die Stadt zu laufen und dort womöglich wieder angegriffen zu werden.« Nicolais Stimme klang gepresst, so sehr musste das viele Sprechen ihn anstrengen. Seiner ruhigen Worte zum Trotz fühlte Lyra seine Anspannung.

Der Gardist lächelte noch immer, sagte jedoch nichts. Also fuhr Nicolai fort: »Ich wurde von Master Pinson und Doktor Esmerald persönlich eingeladen, am Spiegel-Tribunal teilzunehmen.«

»Das ist mir bewusst. Seid versichert, dass wir euch andernfalls weniger einladend in Empfang genommen hätten«, antwortete der Gardist und erhob sich. Auf seinem Gesicht lag nach wie vor das falsche Lächeln, das Lyras Hörner zum Knistern brachte. Dieser Mann schien es zu genießen, sie wie Verbrecher zu behandeln, während die anderen Mitglieder ihrer Eskorte, der rangniedrigere Gardist und der Fae, nur dastanden, als ginge sie dies alles nichts an.

Betont langsam streckte der Gardeführer den Rücken durch und wiegte den Kopf von links nach rechts, bis sein Nacken knackte. Als Saphire demonstrativ aufstöhnte, sagte er: »Ich möchte euch keinesfalls länger aufhalten als nötig. Ein Blick auf eure Papiere und ihr könnt weiterziehen und euch medizinische Hilfe holen.«

»Natürlich. Tibor?« Nicolai nickte seinem Partner zu, woraufhin dieser in seiner Tasche wühlte und einen dünnen Stapel Dokumente zutage brachte. Er überreichte sie dem Gardisten, der die Papiere genau studierte. Kam es Lyra nur so vor oder ließ er sich absichtlich Zeit damit?

»Nicolai Cyrin und Tibor Moris«, las er vor. »Außerdem Brahms Esquarz.« Als er den letzten Namen aussprach, bedachte er Bartosz mit einem missbilligenden Blick. Der zog den Kopf ein. Brahms? Lyra musste sich zusammenreißen, um nicht allzu offensichtlich die Stirn zu runzeln. Reiste Bartosz also unter falschem Namen? Nein, viel eher hatte Nicolai ihm gefälschte Papiere besorgt, da unter seinem echten Namen ein Haftbefehl gegen ihn ausstand. Während der Gardist Bartosz abschätzig musterte, schlug Lyras Herz immer schneller. Würde er den Schwindel durchschauen?

Doch dann sagte er nur: »Ein Ryalith-Name. Das musst sicher du sein.«

Bartosz nickte leicht.

»Und eine Lyra Athzensha.«

»Das bin ich«, sagte Lyra und hob die Hand wie eine artige Schülerin.

»Für eure fünfte Reisebegleitung fehlen euch die Papiere.«

Seine Augen verengten sich, als er Saphire musterte oder vielmehr die glänzenden Schuppen, die ihre oberen Wangenknochen bedeckten. Verdammt! Saphire hatte Lyra noch auf dem Schiff erzählt, dass Nicolai für sie ebenfalls gefälschte Papiere besorgen wollte, nachdem sie unerlaubt in Turmalin eingereist war. So, wie der Gardist sich bisher verhalten hatte, bezweifelte sie, dass er Saphire ohne Dokumente würde passieren lassen. Und was dann?

»Ich bin ebenfalls für das Spiegel-Tribunal hier. Als Vertreterin der Nephire«, erklärte Saphire geistesgegenwärtig, was in Anbetracht ihrer Schmerzen ziemlich beeindruckend war, dem Gardisten jedoch nur ein Stirnrunzeln entlockte.

»Da du eine Teilnehmerin des Tribunals bist, sollte es kein Problem sein, dich auszuweisen.«

»Ihre Unterlagen sollten eigentlich da sein«, sagte Nicolai mit gespielter Überraschung. »Hören Sie, können wir die Sache nicht beschleunigen und erst Doktor Esmerald aufsuchen? Die Papiere reichen wir selbstverständlich nach. Sie sehen doch, wir haben wirklich keine Zeit zu verlieren.«

Um seine Worte zu unterstreichen, seufzte Saphire besonders laut. Nicht dass es nötig gewesen wäre. Ihre grünlichen Wangen und ihre zitternden Lippen verdeutlichten auch so, dass sie dringend einen Arzt benötigte.

»Das können wir leider nicht tun«, entgegnete der Gardist ungerührt. »Ihre Papiere zu überprüfen, sollte außerdem nur wenige Sekunden dauern.«

Anstatt dem Mann an die Gurgel zu gehen, wie er es eigentlich gerne tun würde, lächelte Nicolai gequält. »Tibor, schau doch noch einmal nach, ob du sie in der Tasche übersehen hast«, sagte er.

Ganz bestimmt hatte er das nicht, doch Tibor tat, wie ihm geheißen, beugte sich vor und kramte weiter in der Tasche. Schließlich zog er einen Zettel heraus und reichte ihn dem Gardisten. Dieser betrachtete das Dokument eine Zeit lang, ehe seine Lippen sich zu einem breiten Grinsen verzogen.

»Wollt ihr mich etwa bestechen?«, fragte er. Demonstrativ drehte er das Dokument um, sodass jeder sehen konnte, dass es sich dabei um einen Schuldschein handelte. »Bei meinem Vorgänger hättet ihr damit wohl Erfolg gehabt. Und exakt das ist der Grund, warum er gegen mich ausgetauscht wurde.«

»Tibor, was sollte das?«, zischte Nicolai und funkelte seinen Partner böse an. Der zog in gespielter Verlegenheit den Kopf ein, als Nicolai fortfuhr: »Das tut mir unglaublich leid. Ich weiß wirklich nicht, was in meinen Partner gefahren ist. Ich halte selbst nicht das Geringste von Bestechung, vor allem da es keinen Grund dazu gibt. Wie schon gesagt, wir haben alle Papiere.«

Der Gardist lächelte schwach. »Wir zeichnen uns durch die Menschen aus, mit denen wir zusammenarbeiten. Du solltest deine Partnerwahl überdenken.«

»Das sollte ich wohl«, gab Nicolai zu. Lyra fühlte deutlich, wie verärgert er war, doch er schaffte es, seinen Blick vom Gardisten abzuwenden und so zu tun, als gelte seine Wut Tibor.

Der gab sich betreten, wühlte weiter in der Tasche und murmelte, dass die Papiere doch irgendwo sein müssten. Dass Nicolai ein guter Schauspieler war, hatte Lyra ja schon früher beobachtet, dass aber auch Tibor schauspielerisches Talent besaß, überraschte sie. Fast hätte sie geschmunzelt, hätten ihre Sorge um Saphire und ihre Wut dem Gardisten gegenüber nicht überwogen. Da hatten sie es trotz aller Gefahren bis hierher geschafft und nun wollte dieser Idiot ihnen den Zutritt zur Akademie verwehren? Und das nur wegen irgendwelcher fehlender Papiere? Der letzte Funken an positivem Denken verschwand, als der führende Gardist seinen Assistenten nach einem Rauchspiegel schicken ließ.

»Halten Sie das nicht für etwas übertrieben?«, fragte Nicolai.

»Es ist eine reine Routine-Kontrolle«, entgegnete der Gardist mit süffisantem Grinsen. »Mit dem Helyedith vor der Haustüre kann man gar nicht vorsichtig genug sein, was verborgene Magie betrifft. Aber es gibt keinen Grund zur Sorge. Es sei denn, ihr habt etwas versteckt«, fügte er hinzu und lachte, als hätte er einen guten Scherz gemacht. »Aber das habt ihr natürlich nicht.«

Nicolai lachte bitter mit. Verdammt, was sollten sie jetzt machen? Rauchspiegel spürten jegliche Form von Magie auf und würden den Schleier entlarven, hinter dem Lyras Hörner verborgen waren. Wenn herauskäme, dass sie eine Helya war ... was würde der Gardist mit ihr machen? Würde er Lyra die Schuld für die Helyedith-Attacke in der Hauptstadt zuschreiben? Sie für all die Tode, die Verletzungen, die Zerstörung einer fremden Magie büßen lassen?

Als der Hilfs-Gardist keine zwanzig Sekunden später mit einem Spiegel in der Hand zurückkehrte, aus dessen Oberfläche Rauchschwaden aufstiegen, setzte ihr Herzschlag kurz aus. Beim Mond und den Sternen, was sollte sie jetzt tun? Schon einmal war sie kurz davorgestanden, durch einen solchen Spiegel enttarnt zu werden. Damals hatte Bartosz sie gerettet. Nun gab es allerdings niemanden, der für ein Ablenkungsmanöver sorgen könnte.

Unmerklich wich sie zurück. Alles in ihr schrie danach wegzulaufen. Vielleich könnte sie es schaffen, zurück in die Tunnel zu flüchten. Aber was dann? Der geheime Gang in den Felsen führte zurück zum Meer, wo sie erst recht in der Falle säße. Tibor warf ihr einen Blick zu und schüttelte unmerklich den Kopf. Lyra verstand sofort: Tu nichts Auffälliges.

Also schluckte sie ihre Nervosität hinunter, oder versuchte es zumindest. Bisher hatten Tibor und Nicolai noch einen Ausweg aus jeder ausweglos erscheinenden Situation gefunden. Sie musste darauf vertrauen, dass sie das auch jetzt schaffen würden.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Kügelchen an Nicolais Armband funkelten. Er schaute skeptisch vom Gardisten zu den anderen Männern, verzog dann jedoch die Lippen und steckte seine Hand in die Hosentasche. Vermutlich, weil er begriffen hatte, dass er seine Emotionsmagie nicht würde einsetzen können, ohne dass der Rauchspiegel darauf reagierte. Tibor ging in die Knie und wühlte schon wieder in der Tasche.

»Die Papiere müssen doch hier sein«, murmelte er, wobei er heimlich ein Messer aus der Tasche zog und in seinem Ärmel versteckte. Alles ging so schnell, dass Lyra sich fragte, ob sie sich das Blitzen der Klinge nur eingebildet hatte, ehe diese unter dem Stoff verschwand. Ihr lief es heiß den Rücken hinunter. Hatte Tibor ernsthaft vor, die Gardisten anzugreifen, an deren Gürteln gut sichtbar Revolver angebracht waren? Das war doch Wahnsinn!

Saphire musste Lyras Sorgen teilen, denn sie stand umständlich da und streckte ihren gesunden Arm aus. »Nachdem ich diejenige bin, deren Papiere abhandengekommen sind, bin ich wohl auch die Person, die ihr kontrollieren solltet.«

Der Gardist winkte sie heran. Neugierig beobachtete Saphire, wie der Rauch aus dem Spiegel über ihre Haut tanzte. Nach einigen Augenblicken zog er den Spiegel von ihr weg. »Der Nächste«, sagte er.

»Das hier kommt mir wie ein unnötiger Aufwand vor, schließlich haben wir anderen Papiere«, wandte Nicolai ein.

»Oh, kein Aufwand. Reine Routine.«

Es wäre auch zu einfach gewesen. Lyras Hörner kribbelten nun so stark, dass sie fürchtete, der Spiegel könnte auf sie reagieren, auch ohne, dass er direkt auf sie gerichtet war. Nicolai nickte widerwillig und trat vor. Als er Lyra einen Blick zuwarf, sah sie einen winzigen Schatten am Rand seiner Iriden. Was hatte er vor? Würde er trotz Rauchspiegel seine Magie einsetzen? Das war viel zu riskant. Aber eine andere Möglichkeit hatten sie nicht.

Plötzlich flog die Tür auf. Ein Mann in langem grauen Kittel und mit wirren schwarzen Haaren stürmte herein. Im ersten Moment dachte Lyra, es sei Donnaka. Derselbe buschige Bart, gebräunte Haut und dichte Augenbrauen, unter denen bei ihm jedoch helle Augen lagen. Selbst seine Statur erinnerte an den verhassten Schmuggler, denn er reichte dem führenden Gardisten gerade einmal bis zum Kinn.

Trotzdem plusterte er sich vor diesem auf und keifte: »Was tun Sie denn da? Sehen Sie nicht, dass unsere Gäste medizinische Hilfe brauchen?«

Dabei fuchtelte er mit der Hand in Richtung Nicolai und Saphire.

»Doktor Esmerald«, sagte der Gardist zur Begrüßung.

Der Arzt stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte das Kinn, was ihn nur unmerklich größer wirken ließ.

»Darf ich wissen, warum Sie unsere Gäste wie Sträflinge behandeln?«

»Um die Sicherheit während des Spiegel-Tribunals zu gewährleisten, ist es notwendig, dass ...«

»Dass die Teilnehmer des Tribunals die nötige Versorgung erfahren, um tatsächlich teilnehmen zu können«, fuhr der Arzt ihm ins Wort. »Das dürfte selbst für einen Gardisten zu verstehen sein.«

Dieser erwiderte mit verkniffenem Gesichtsausdruck: »Wie ich eben erklären wollte, ist es aus Sicherheitsgründen notwendig, alle Anreisenden zu kontrollieren. Andernfalls könnte jeder behaupten, er sei zum Tribunal eingeladen.«

»Ich sage Ihnen, dass diese Leute zum Tribunal eingeladen sind, und das muss genügen!«, empörte sich der Doktor und wuchs gleich noch ein paar Zentimeter mehr. »Ich habe Master Pinson gewarnt, keine Gardisten in unsere Akademie zu lassen. Ich habe ihm gesagt, dass wir jemanden mit Verstand brauchen, keine kopflose Muskelkraft. Aber er wollte ja nicht auf mich hören«, murmelte er in seinen Bart hinein, als spreche er nur zu sich selbst, jedoch laut genug, dass alle es hören konnten.

Während er vor sich hin grummelte, krümmte Nicolai sich und stieß ein lautes Stöhnen aus. Was für ein Schauspieler!

»Nicolai, geht es dir wieder schlechter?«, rief Tibor theatralisch und griff seinem Partner unter die Arme.

»Sehen Sie? Sehen Sie?!«, empörte der Doktor sich.

Der Gardist bedachte Nicolai mit einer finsteren Miene, sagte jedoch: »Nun gut, ich denke, es spricht nichts dagegen, dass die Gäste mit den notwendigen Papieren mit Ihnen gehen.«

»Was ist mit Saphire?«, rutschte es Lyra heraus.

Saphire selbst hatte es anscheinend die Sprache verschlagen. Sie schaute nur mit großen Augen zum Gardeführer, der erklärte: »Ihr sagtet doch, ihre Dokumente müssten irgendwo in euren Reisetaschen sein. Sobald ihr diese vorzeigen könnt, darf sie euch begleiten. In der Zwischenzeit bleibt sie hier.«

»Aber sie ist verletzt!«, protestierte Lyra.

»Das ist nicht ...«, begann Nicolai. Lyra fühlte seine Sorge gepaart mit unterdrücktem Ärger in ihren Hörnern.

Doktor Esmerald schnitt ihm jedoch das Wort ab. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Aber rechnen Sie damit, dass dies ein Nachspiel haben wird. Ich werde mich mit Master Pinson über Sie unterhalten. Oh ja, das werde ich. Aber fürs Erste habe ich einen Patienten, um den ich mich kümmern muss.«

Mit einem letzten Schnauben trat er weg vom Gardisten und auf Nicolai zu, dessen Gesicht eine ungesunde, gräulich-weiße Farbe angenommen hatte. Er ergriff Nicolais Ellenbogen und sagte: »Ich komme mit den nötigen Utensilien zurück, um eure Reisegefährtin zu verarzten, und während ich nicht da bin, schicke ich einen meiner besten Lehrlinge, um ein Auge auf sie zu haben. Aber du, mein Freund, brauchst ganz dringend selbst eine Behandlung.« Als Nicolai abermals protestieren wollte, legte er ihm eine Hand auf die Brust und fügte hinzu: »Ihre Wunden sehen schlimm aus, aber deine gehen tiefer. Hör ein Mal im Leben auf mich, du weißt, dass ich recht habe.« Und mit einem zornigen Funkeln in Richtung des Gardisten setzte er hinzu: »Und ich werde die junge Dame im Anschluss fragen, ob Sie ihr während unserer Abwesenheit mit irgendetwas anderem als Respekt begegnet sind.«

Der Gardist nickte mit verkniffenen Lippen.

Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Auf keinen Fall würde Nicolai zulassen, dass sie Saphire alleinließen. Deren Augen waren noch größer als gewöhnlich. Wie ein verschrecktes Reh schaute sie von Nicolai zum Doktor, vom Gardisten zu Lyra, von Tibor zur Tasche, in der angeblich ihre Dokumente steckten, und schließlich streifte ihr Hilfe suchender Blick sogar Bartosz.

Langsam drehte Nicolai sich zu ihr um. »Wir kommen dich so schnell wie möglich holen. Sobald wir die Dokumente haben. Es kann höchstens ein paar Stunden dauern, und in der Zwischenzeit kümmern sich Doktor Esmerald und seine Schüler um dich.« Er schluckte schwer. »Es tut mir leid.«

Was? Er würde sie ernsthaft zurücklassen? Das war doch nicht ... das ging doch nicht ... »Aber ...«, murmelte Lyra.

Saphire senkte die Augen und nickte. »Ich vertraue euch«, flüsterte sie.

So schnell es in Nicolais angeschlagenem Zustand möglich war, eilten sie hinter Doktor Esmerald durch die Gänge der Akademie. Lyra wurde beinahe schwindelig, so rasant drehte sie ihren Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung, auf der Suche nach den Wundern, von denen sie überzeugt war, dass sie in der Turmalin-Akademie versteckt waren.

Tatsächlich wirkte alles hier ganz ähnlich wie in der Akademie in Eilesruth. Es war ... enttäuschend.

Schädelgroße Leuchten, gefüllt mit Lichtkugeln, baumelten von der Decke. Wo möglich, waren Fenster und Durchgänge in die Wände eingelassen, dazwischen hingen Gemälde, die vermutlich Magier-Meister darstellten. Decken und Wände bestanden aus hellem Rosenquarz, aus dem an manchen Stellen Äste wuchsen, manche dünn wie Finger, andere dick und knorrig.

Der größte Unterschied bestand darin, wie viele Leute ihnen auf den breiten Gängen eilig entgegenliefen oder sie überholten. Mit ihrem regen Treiben verwandelten sie die Akademie in einen riesenhaften Ameisenhaufen. Die meisten von ihnen waren Fae, erkennbar an ihren rot- oder schwarzglänzenden Haaren, ihren hellen Augen und der Kleidung, die sie trugen. Sie wirkten aufgeregt, ihre Nervosität flirrte durch die Luft.

»Es geht hier nicht immer so zu«, erklärte Doktor Esmerald, der ihre Truppe schnellen Schrittes anführte. »Unsere Schüler helfen dabei, Schutzzauber auszuführen und die Städter zu versorgen. Wir haben einige Lehrsäle für Verletzte bereitgestellt oder für Leute, die ihre Unterkunft verloren haben.«

»Hat der Helyedith denn auch die Akademie angegriffen?«, fragte Nicolai zwischen zusammengebissenen Zähnen.

»Zum Glück nicht. Der Anschlag hat sich auf die Innenstadt konzentriert, bis hier oben ist die Helyedith-Magie nicht vorgedrungen.«

»Dann haben die Schutzzauber also gewirkt?«, hakte Nicolai nach. Skepsis klang aus seiner Stimme.

Der Doktor reagierte auf seine Frage mit einem Seufzen. »Offiziell: durchaus. Aber wenn du mich fragst, hatten wir nur Glück. Einfache Fae-Zauber können gegen den Helyedith nur wenig ausrichten. Dafür braucht es eine andere Art der Magie. Hier herein. Ah, Teobald! Komm, ich habe eine Aufgabe für dich!«

Er winkte einen jung aussehenden Studenten heran und wies ihn an, alles Nötige für Saphires Behandlung zusammenzusuchen und sich auf den Weg zu ihr zu machen.

»Und beeil dich. Deine junge Patientin ist leider in ganz schlechter Gesellschaft«, erklärte er, ehe er dem Studenten fuchtelnd bedeutete, schneller zu laufen. Der preschte los.

Anschließend forderte der Arzt sie auf, ihm durch eine unscheinbare Tür zu folgen. Der Raum, der dahinterlag, erinnerte Lyra an ihr Klassenzimmer in Eilesruth. Helle Dielen bedeckten den Boden, die Regale quollen vor Pflanzen über, und eine Seite des Raums säumten mannshohe Fenster, durch die man über den unendlich wirkenden Ozean blickte. Sobald sich die Tür hinter ihnen schloss, kehrte eine unwirkliche Ruhe ein. Draußen hatte das Chaos geherrscht, hier drinnen war alles still.

»Ich schulde dir einen Gefallen, Esmerald«, meinte Nicolai.

Der Doktor winkte ab. »Du schuldest mir gar nichts.«

»Oh, doch! Du weißt, wie mein Geschäft funktioniert.«

»Eine Hand wäscht die andere, ja ja«, sagte der Arzt und deutete auf eine Liege, die an dem Platz stand, an dem sich in Lyras Klassenzimmer das Pult befunden hätte. »Dann tu mir einen Gefallen und leg dich hin.«

Langsam kletterte Nicolai auf die Liege, besprach dabei jedoch bereits die nächsten Pläne mit Tibor: »Wir müssen schnellstmöglich in die Stadt, um Saphires Dokumente zu besorgen.«

»Bei ihm?«, fragte Tibor, woraufhin Nicolai nickte.

»Verflucht, wenn ich geahnt hätte, dass wir kontrolliert werden, hätte ich darauf bestanden, dass wir ihn zuerst aufsuchen, um die Papiere zu holen. Sobald ich meine Magie wieder halbwegs kontrollieren kann, brechen wir auf.«

»Du brichst nirgendwohin auf«, murmelte der Doktor und drückte Nicolai bestimmt auf die Liege, bis dieser dort flach lag.

»Ich bin für Saphire verantwortlich«, grummelte Nicolai.

»Und ich für dich, immerhin bin ich dein Arzt.«

»Es ist nicht nötig, dass ...«

»Du schuldest mir einen Gefallen, wie du weißt, falls dich dein Kurzzeitgedächtnis nicht in den letzten paar Sekunden verlassen hat. Also bleib liegen, sei ruhig und lass mich meine Arbeit tun.«

»Aber ...«, setzte Nicolai an zu protestieren.

»Ich gehe«, stellte Tibor fest und fügte hinzu: »Ohne dich. In deinem jetzigen Zustand wärst du nur eine Bürde und der Aether hat sich ohnehin verzogen. Da brauche ich keinen magischen Beistand.«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, entgegnete Nicolai. »Die Leute könnten noch immer unter dem Bann des Helyedith stehen. Vielleicht erwischt es dich sogar selbst. Du brauchst mich, und wenn du mich tragen musst, dann ist es eben so.«

»Glaubst du wirklich, dass du in der Lage wärst, den Aether zu bekämpfen?«, warf Lyra ein.

Nicolais Blick lag ein paar Sekunden lang auf ihr. »Das muss ich, wenn wir Saphire nicht bei diesen Gardisten lassen wollen«, murmelte er schließlich.

Und das war keine Option. Die Art, wie der führende Gardist Saphire und vor allem die Schuppen auf ihren Wangenknochen gemustert hatte, jagte Lyra noch jetzt einen kalten Schauer über den Rücken.

»Es gäbe da noch eine andere Möglichkeit«, flüsterte auf einmal Bartosz.

»Auf keinen Fall!«, sagte Nicolai.

Sein strenger Ausdruck galt jedoch nicht Bartosz, sondern Lyra. Weil Lyra, das begriff sie in diesem Moment, die Lösung für ihr Dilemma war. Allerdings eine, die Nicolai alles andere als behagte. Was sie brauchten, war jemand, der in der Lage war, Angst- und Schmerzpartikel zu kanalisieren. Jemand, der es vermochte, Tibor und sich selbst vor den dunklen Bildern des Helyedith zu beschützen - und dieser jemand musste nicht unbedingt Nicolai sein.

»Ich gehe mit Tibor«, stellte sie fest.

»Das ist zu gefährlich.«

»Wieso? Auf dem Schiff habe ich doch bewiesen, dass ich helfen kann, oder nicht?«

»Meine Aufgabe ist es, dich zu beschützen. Auf keinen Fall darf ich riskieren, dass dir etwas zustößt, weil du für mich arbeitest.«

»Ich mache es ja nicht für dich, sondern für Saphire«, erwiderte Lyra.

»Das ändert nichts«, antwortete Nicolai. In seiner Stimme lag ein stummes Flehen. Bitte, mach ein Mal das, was ich dir sage. Bleib hier. Bring dich nicht in Gefahr.

»Genau genommen«, meinte Tibor, »bestand dein Auftrag lediglich darin, Lyra sicher zu Doktor Esmerald zu bringen. Das hast du getan. Ab jetzt steht sie nicht mehr in deiner Verantwortung.«

Was rein gar nichts daran änderte, dass er sich nach wie vor für sie verantwortlich fühlte. Auftrag hin oder her, unter keinen Umständen wollte er zulassen, dass sie sich in Gefahr brachte. Nicht seinetwegen. Nicht wenn er es irgendwie verhindern könnte – wobei ihm klar sein musste, dass es nichts gab, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Nichts davon sprach er laut aus. Das musste er auch gar nicht. In den letzten Tagen hatte Lyra gelernt, in seinen Emotionen zu lesen wie in einem Buch, sodass sie seine Frustration in ihrem Inneren brodeln fühlte. Langsam trat sie an Nicolai heran und ließ sich vor seiner Liege in die Hocke sinken, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

»Vertrau mir«, flüsterte sie und ergriff seine Hand. Seine Finger schlossen sich fest um ihre. »Du hast mich so oft gebeten, dir zu vertrauen, und jetzt bitte ich dich, das Gleiche zu tun. Ich kann das schaffen, ich weiß es. Du musst einfach nur daran glauben, dass ich stark genug bin.« Und mit einem Zwinkern in Tibors Richtung fügte sie hinzu: »Außerdem muss doch irgendwer auf den großen Mann aufpassen.«

Das brachte selbst Nicolai zum Schmunzeln. Einen Augenblick lang glaubte Lyra, ihn überzeugt zu haben, doch dann presste er die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Lyra.«

»Ich glaube, sie hat sich entschieden«, sagte Tibor ruhig. »Ich bringe sie dir heil zurück.«

Der Blick, mit dem Nicolai ihn strafte, war sogar noch düsterer als der, den er für den Gardisten übrig gehabt hatte.

»Was denn?«, fragte Tibor und hob abwehrend die Hände. »Du bist mein Partner und mein bester Freund und ich weiß, wie sehr du Lyra beschützen willst. Denkst du wirklich, ich würde das vorschlagen, wenn ich nicht überzeugt davon wäre, dass ihr nichts passiert?«

»Dann wäre das ja erledigt«, sagte Doktor Esmerald, scheinbar erleichtert darüber, diese Diskussion beendet zu haben. Mit fuchtelnden Bewegungen bedeutete der Arzt Tibor und Lyra, von der Liege wegzutreten. »Ich muss mich jetzt wirklich um meinen Patienten kümmern.«

Ehe Nicolai etwas entgegnen konnte – denn das wollte er, Lyra spürte seine Erwiderungen bereits auf ihrer eigenen Zungenspitze –, sagte sie: »Ich bitte dich nicht um Erlaubnis, Nicolai! Das ist meine Entscheidung, meine ganz allein. Ich will Saphire nicht im Stich lassen, aber genauso wenig möchte ich, dass Tibor allein gehen muss oder dass du dich in Gefahr bringst. Du bist nicht der Einzige, der sich um Leute sorgt. Ihr seid mir auch wichtig.«