Majdanek - Mordechai Strigler - E-Book

Majdanek E-Book

Strigler Mordechai

4,8

Beschreibung

Mordechai Strigler (1918–1998) begann kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945, seine Erfahrungen im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek in literarischer Form zu verarbeiten. Er legt jedoch keine nüchterne Schilderung des Lebens und Leidens der jüdischen Häftlinge vor, sondern reflektiert tiefgründig die Psychologie und Reaktionen der Opfer und ihrer Henker von der SS. Strigler kaschiert nicht die Fehler und menschlichen Schwächen der Opfer, über die er wie von Wesen aus Fleisch und Blut berichten möchte. »Majdanek« wurde bereits 1947 auf Jiddisch veröffentlicht. Yechiel Szeintuch, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, ist ein profunder Kenner des literarischen Werkes von Mordechai Strigler und verfasste die Einführung zur deutschen Ausgabe von »Majdanek«. »›Majdanek‹ ist aus zwei Gründen eine literarische Sensation«, schreibt Rezensentin Susanne Klingenstein in der FAZ-Rubrik »Literarisches Leben«. Sie nennt zunächst die außergewöhnliche Qualität des Lager-Schriftstellers Strigler, seine literarische Feinheit und auch Reflexionskraft. Zudem attestiert sie Strigler eine skalpellscharfe Beobachtung sowie erbarmungslose Klarheit und stellt ihn auf eine Stufe mit Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész. Desweiteren unterstreicht Klingenstein die Bedeutung von »Majdanek« im Hinblick auf die Entdeckung einer Holocaust-Literatur, die bislang in der Öffentlichkeit kaum oder gar nicht wahrgenoimmen wurde. Voll des Lobes ist die Rezensentin auch über Herausgeber Frank Beer und die Übersetzerin Sigrid Beisel. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juni 2016

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Mordechai Strigler

Majdanek

Verloschene Lichter

Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager

Herausgegeben von Frank Beer

Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel

Mit einem aktuellen Vorwort von Yechiel Szeintuch

Eingeleitet von H. Leivick

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Mordechai Strigler und die Notwendigkeit der realistischen Schoahbeschreibung

Verloschene Lichter werden wieder entzündet

Einführung des Verfassers

Erster Teil - Majdanek

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Zweiter Teil - Hinaus aus Majdanek

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Fußnoten

Der Herausgeber dankt Frau Leah Strigler (New York) für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der deutschen Ausgabe sowie Frau Brigitte Bilz fürs Korrekturlesen.

Deutsche Erstausgabe

© 2016 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

© der Originalausgabe by

Mordekhai Shtrigler

Titel der Originalausgabe:

Maydanek. Bukh eyns funem tsikl »oysgebrente likht«

(Majdanek. Band I der Reihe »Verloschene Lichter«)

Unión Central Israelita Polaca en la Argentina

(Zentralverband der Polnischen Juden in Argentinien), Buenos Aires 1947

Umschlaggestaltung: Hildendesign · München · www.hildendesign.de unter Verwendung mehrerer Motive von www.shutterstock.com

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-86674-474-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Mordechai Strigler und die Notwendigkeit der realistischen Schoahbeschreibung

Eine Einführung

Der jiddische Schriftsteller und Journalist Mordechai Strigler (1918–1998) wurde im Dorf Stabrów bei Zamość (Polen) geboren. In Zamość, wo er seine Kindheit verbrachte, begann er sehr jung an einer Jeschiwa, einer jüdischen Hochschule, zu lernen, und im Alter von achtzehn Jahren hatte er bereits das Talmudstudium in zwei weiteren Jeschiwot in Luck und Kleck abgeschlossen. Das Rabbinerdiplom erlangte er in jungen Jahren. 1937 gab er das Jeschiwaleben auf und ließ sich in Warschau nieder, wo seine Laufbahn als Schriftsteller und Journalist in jiddischer und hebräischer Sprache begann. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich hingegen als Moralprediger (Matif) in der Warschauer Großen Synagoge.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beschloss er, zu seinen Eltern nach Zamość zurückzukehren, wurde beim Versuch, die russische Grenze zu überschreiten, von den Nazis gefasst und zu Zwangsarbeit in verschiedene Arbeitslager verschickt. Am 8. Juni 1943 ging er mit einem Transport nach Majdanek, wo er sieben Wochen lang Gefangener war. Kurz nach der Befreiung beschrieb er das dortige Lagerleben in seinem ersten Buch. Majdanek wurde im jiddischen Original in Buenos Aires, beim Verlag »Dos Poylishe Yidntum«, höchstwahrscheinlich im Juni 1947 veröffentlicht.

Nach einem Leidensweg, der ihn durch zwölf verschiedene Nazi-Lager führte, wurde Strigler am 11. April 1945 im KZ Buchenwald befreit.1 Seine Eltern und drei von sieben Schwestern fielen dem Holocaust zum Opfer.

Zwischen den biografischen Einzelheiten, die über Mordechai Strigler in verschiedenen Quellen heutzutage auffindbar sind, findet man keine genauen Datumsangaben hinsichtlich seiner Aufenthalte in den zwölf Nazilagern bis zur Befreiung. Eine vollständige Liste aller zwölf Lager, in die Strigler deportiert worden war, bevor er am 11. April 1945 von den Alliierten im Lager Buchenwald befreit wurde, fehlt ebenso. Auch liegen keinerlei Informationen darüber vor, wann genau Strigler nach Majdanek gebracht worden ist. Eine aufmerksame und vorsichtige Lektüre von Majdanek selbst kann dabei helfen, einige historische Details, die Strigler eher nebenbei und kurz angebunden fallen lässt, nachzuvollziehen. So finden wir auf Seite 30 im jiddischen Original folgenden Satz: »Es war ein wunderschöner Vorabend des Schawuotfestes.« Da Strigler sich hier auf das hebräische Datum beruft – ein Datum, das im jüdischen Jahreszyklus von höchster Bedeutung ist, nämlich Schawuot, ein Fest, an welchem jedes Jahr der Empfang der Tora am Berg Sinai gefeiert wird – offenbart er ein genaues Datum: den 5. Sivan 5703 oder den 8. Juni 1943.

Nach der Befreiung lässt sich der 27-Jährige in Paris nieder und lebt dort sieben Jahre lang. In dieser Zeit arbeitet er als Journalist und Redakteur der jiddischen Tageszeitung Undzer Vort und verfasst gleichzeitig sechs Bücher über seine Schoaherfahrung. Im Jahre 1952 emigriert er in die Vereinigten Staaten, wo er in New York als Redakteur der jiddischen Wochenschrift Yidisher Kemfer bis 1995 tätig ist. Ab 1987 und bis zu seinem Tode 1998 ist er auch Redakteur der jiddischen Tageszeitung Forverts.

Mordechai Strigler zählte zu den gebildetsten und produktivsten jiddischen Schriftstellern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war Dichter, Essayist, Kulturhistoriker, rabbinischer Gelehrter, politischer Kommentator und Romanautor. 1978 erhielt er den Itzik Manger-Preis für Jiddische Literatur. Schwerpunkt seiner Romane und Erzählungen war das jüdische Leben in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg. Er machte es jedoch auch zu seiner Pflicht, die persönliche und kollektive Lagererfahrung in den Jahren der Naziverfolgung nicht lediglich literarisch zu schildern, sondern auch zu analysieren. In den ersten Nachkriegsjahren schrieb er vermehrt über die Holocaustüberlebenden, insbesondere über die Pariser Kreise.2

Einige jiddische und hebräische Romane, sowie über tausend Erzählungen und Essays und tausende Zeitungsartikel, die ursprünglich in zahlreichen jiddischen und hebräischen Periodika (unter seinem wahren Namen und unter wenigstens zwanzig Pseudonymen) veröffentlicht worden waren, liegen bisher nicht in Buchform vor.

Gleich nach der Befreiung von Buchenwald bemühte sich Strigler um Kontaktaufnahme mit jiddischen literarischen und journalistischen Kreisen in Übersee. Sein erster Brief aus dem befreiten Lager richtet sich an den Dichter H. Leyvick (1888–1962) in New York. In ihm liefert Strigler die intime Abrechnung eines Holocaustüberlebenden, der eine neue Heimstätte sucht, in der er seine inneren Seelenkräfte, die um literarischen und journalistischen Ausdruck kämpfen, zu verankern hofft; ein Hilferuf nach sechs Jahren nationalsozialistischer Unterdrückung und im Namen eines Volkes, das ein Drittel seiner Söhne und Töchter durch die Mörderhand der Diener des Bösen – der Nazi-Deutschen und ihrer Helfer – verlor.

Der Dichter H. Leyvick erkennt in Mordechai Strigler einen jungen talentierten und hochgelehrten, jiddischen Schriftsteller und beantwortet dessen Anfrage unverzüglich. Bereits im August 1945 veröffentlicht H. Leyvick in Amerika Mordechai Striglers Brief an ihn und fügt einige persönliche Begleitworte hinzu. Striglers literarischen Text stellt er dem Jiddisch-Leser in den Vereinigten Staaten als eines derjenigen Dokumente vor, »die uns erreichten zusammen mit Briefen und literarischen Chroniken, verfasst durch die Handvoll junger jiddischer Schreiber, die die Todeslager durchmachten und wie durch ein Wunder überlebten – mit diesen Dokumenten öffnet sich vor uns eine jüdische Tragödie, die so anders ist, so bitter und brutal.«

In seinem Vorwort zu Striglers Majdanek hebt Leyvick dessen inneren Drang hervor, der ihn, zusammen mit der treibenden Kraft des Gedenkens, dazu bewegt, die Schrecken seiner Erfahrungen unter den Nazis neu aufleben zu lassen, um sie kompromisslos und ohne jede Beschönigung zu Papier zu bringen. Strigler wird als Chronist einer finsteren Epoche vorgestellt; einer Epoche, die auf keinen Fall übergangen werden darf – vielmehr niedergeschrieben werden muss, um das nötige psychische Gleichgewicht nach der Befreiung wiederherzustellen. H. Leyvick betont, dass Strigler einen Leser wie ihn gerade dadurch mitreißt, dass er das Böse und Niederträchtige in der Natur des Menschen nicht als das Endstadium der menschlichen Erfahrung darstellt.

Wer Striglers Bücher über die Schoah liest, kann nur zustimmen, wenn Leyvick in seinem Vorwort unterstreicht, dass trotz des Abgrundes, in welchem sich Strigler in den Nazijahren befand und trotz der extremen Erfahrungen, die er mit allen anderen Opfern teilte und die seine geistige Gesundheit bedrohten – er doch seelisch ungebrochen die Jahre der Schoah überstand.

Striglers seelische Standhaftigkeit rührte mitunter von einem direkten Einfluss her, den der Dichter H. Leyvick bereits in seiner Jugend auf ihn gemacht hatte. In der Zeit seines frühen Jeschiwastudiums in Zamość hatte sich etwas Schicksalhaftes abgespielt:

In einem autobiografischen Poem, das er nach dem Krieg verfasste, schildert Strigler ein traumatisches Erlebnis, das er als elfjähriger Schüler (also 1929) einer Musarjeschiwa hatte und welches ihn dazu bewog, seine Heimatstadt zu verlassen. Besagtes Erlebnis war eng mit einem damals schon erschienenem Gedichtband H. Leyvicks verbunden (der genaue Titel ist nicht bekannt). Der Jeschiwabocher Strigler wurde »auf frischer Tat ertappt« – bei der Lektüre streng verbotener weltlicher Literatur. Unverzüglich vor ein Jeschiwatribunal gestellt und nicht bereit, gegen das eigene Gewissen zu handeln, bevorzugte Strigler es, die Jeschiwa zu verlassen, um sich nicht der Forderung des Leiters unterwerfen zu müssen, Leyvicks Buch zu zerstören und gleichzeitig zu schwören, dass er nie wieder jiddische Literatur lesen werde.

Eine derartige biografische Einzelheit ist nicht nur für Strigler charakteristisch. Zahlreiche berühmte Jiddisch-Schriftsteller seiner Generation hatten als Jeschiwaschüler ähnliche Erfahrungen mit der verbotenen, säkularen Jiddischliteratur. So zum Beispiel auch Chaim Grade, der mit einem Buch des Schriftstellers Joseph Opatoschu unter seiner Gemara erwischt wurde und dafür teuer bezahlen musste. Und auch der junge H. Leyvick selbst.

Die moderne jiddische Literatur wurde zunehmend zu einer ernsten Konkurrenz für die talmudische Literatur und gewann die Herzen junger talentierter Männer, die um die Jahrhundertwende geboren worden waren.

Zu Leyvicks wichtigem Vorwort für Majdanek fügte Mordechai Strigler selbst eine erläuternde Einleitung hinzu, in der er sowohl die Beweggründe für das Verfassen seines Buches, als auch seine persönliche Poetik darstellt. Diese Einleitung datierte er mit »Mai 1946«. In einem Brief an Leyvick vom 27. Juli 1946, teilt Strigler diesem mit, dass er das Kopieren seines Buches Majdanek beendet hat, um es nach New York zu schicken, da Leyvick ihm zuvor versprochen hatte, bei der Veröffentlichung des Buches in Amerika behilflich zu sein. In den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war es gang und gäbe, handgeschriebene Kopien anzufertigen. Da ein Vorwort oder eine Einleitung normalerweise verfasst werden, nachdem das gesamte Buch bereits vorliegt, ist es naheliegend, dass Strigler schon kurz nach der Befreiung in Buchenwald an seinem ersten Buch Majdanek zu schreiben begann – höchstwahrscheinlich im Sommer oder Herbst 1945 – und es im ersten Viertel des Jahres 1946 beendet hatte.

In seiner Einleitung zu Majdanek, sowie auch in seinem ersten Brief an H. Leyvick von Anfang Mai 1945 – als er sich noch im befreiten Lager Buchenwald befindet – schreibt Strigler über sich selbst und die persönlichen Schreckenserlebnisse während der Schoah in der dritten Person. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass Strigler bewusst oder unbewusst eine Objektivierung seines Zeugnisses anstrebt, das er zwar als ein individueller Überlebender ablegen, mit welchem er jedoch das Leiden des Kollektivs während des Naziregimes schildern will – wobei er sich selbst als »einen der vielen« ansieht.

Das einzige Mal, dass Strigler in seinem Brief an Leyvick zum ausdrücklich persönlichen »Ich« übergeht, geschieht im Zusammenhang mit der Zukunft, dem Leben nach der Befreiung.

Gleichzeitig drückt Strigler in besagter Einleitung nicht wenig Sorge darüber aus, das Thema der Schoah überhaupt zu berühren. Diese Sorge entspringt der tief verankerten Angst vor einer erneuten Konfrontation mit den ehemaligen Erlebnissen. Verschiedene Stellungnahmen Striglers aus anderer Quelle deuten darauf hin, dass er recht kritisch gegenüber überlebenden Schriftstellern und deren Schoahbeschreibungen war; umso mehr noch – gegenüber solchen, die nicht dabei gewesen waren. Was ihn am meisten empörte und dazu bewegte, die persönliche Angst vor einem erneuten Kontakt mit seinen Erfahrungen der Schoahjahre zu überwinden, war sein Eindruck, dass die Mehrheit dessen, was in seiner Zeit über die Schoah geschrieben wurde, überwiegend auf folgender Mystifikation und Mythologisierung beruhte: Das Heldenhafte und Heilige im menschlichen Verhalten während der Schoah wurde betont, wohingegen das Ordinär-Menschliche, Schwache und Tagtägliche in der Verhaltensweise der durchschnittlichen jüdischen Masse gänzlich unberührt blieb. Strigler veranschaulicht seine Stellung durch eine absichtsvolle Überparaphrasierung des berühmten Verses aus Jesajah 53:7 (»Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird«). Die ihrer Vernichtung entgegenschreitenden Juden beschreibt er nicht als »Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird«, sondern als »ein Volk, das als Menschen zur Schlachtung ging«. (in der Originalfassung S.8, in der deutschen Ausgabe S.18). Strigler fühlt, dass seine Kollegen obsessiv darum bemüht sind, wesentliche Aspekte der Schoaherfahrung zu umgehen, und nachdem er alles, was bis zum Jahr 1946 geschrieben worden war, gelesen hatte, beschließt er, dass er sich auf niemand anders verlassen kann und persönlich Verantwortung dafür übernehmen muss, jener Zeit durch realistische Literatur gerecht zu werden.

Daher rührt also seine literarische Tendenz, auf kleinste Einzelheiten des Lagerlebens einzugehen, dem Leser durch mikroskopischen Fokus ganze Gefühls- und Gedankenwelten erschütterter Menschenseelen zu offenbaren, die unscheinbarsten Geschehnisse detailliert darzustellen. Um all diese nuancierten literarischen Beschreibungen vollends zu erfassen, kann sich der Leser im Grunde nicht mit einer einmaligen Lektüre der Bücher Striglers zufriedengeben. Erst mehrmaliges, wiederholtes Lesen legt die zahlreichen Aspektschichten frei, welche bei der ersten Lektüre entgehen.

Man kann von einem entscheidenden Wendepunkt in Striglers Schriften reden – ein Wendepunkt, der mit dem unwiderruflichen Einschnitt des Krieges in sein Leben zusammenhängt. Bis zum Alter von 21 Jahren war Strigler einerseits ein Talmudstudent gewesen – andererseits bereits ein produktiver jiddischer Schriftsteller. Mit Kriegsausbruch kam es bei Strigler zu einem kritischen Zusammenstoß zwischen seinem literarischen Schreibverständnis der Vorkriegsjahre und einer neu empfundenen Pflicht, seinem Schreiben nun eine andere, von der Geschichte diktierte Dimension zu geben – er wird nun zum Zeugnis-Schreiber seiner Zeit.

Hinzu kommt, dass seine außerordentlich intensive literarische und journalistische Tätigkeit vor dem Krieg überwiegend dem – in seinen Augen heiligen – Zweck diente, zu dem Fortgang der jiddischen Literatur und Kultur beizutragen, die alten hebräischen Quellen zugänglich zu machen, das jüdische Leben in den vorangehenden Jahrhunderten bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu verewigen und an memoireistisch-autobiografischen Schriften zu arbeiten, die übrigens erwähnenswerte literarische Qualität bezeugen. All diese verlieren nun an Bedeutung, und Strigler begreift sich als innerer Beobachter, der selbst zu den Opfern des Naziregimes zählt und das, was um ihn herum verbrochen wird, fieberhaft verzeichnet.

In seiner Einleitung beschreibt Strigler den Seelenzustand, in welchem er sich befindet, als er Majdanek zu schreiben beginnt: »Schweren Herzens, mit einem inneren Zittern und einem Fluch auf den Lippen.« Strigler sieht das Schreiben als eine übermenschliche Pflicht an. Dies mag zum Teil der Grund dafür sein, dass er um einer subjektiven Objektivierung willen, sowohl in der Einleitung als auch in seinem ersten Brief an H. Leyvick, die dritte Person benutzt – selbst dann, wenn er eigentlich über sich selbst schreibt. Darüber hinaus verbirgt er sich in dem literarischen Sextett seiner Prosa über die Schoah hinter einer neugeschaffenen Gestalt namens Mechele.

Sein tiefes Verantwortungsgefühl als Schriftsteller diktiert ihm eines: Verewigen. Für ihn bedeutet das, so genau und objektiv wie möglich den jüdischen Menschen und sein Verhalten zu beschreiben – das Edle sowie das Niederträchtige – aber auch das Verhalten derer, die ein ganzes Volk nicht nur in physische Vernichtung führten, sondern auch zum anwachsenden und andauernden geistigen Vegetieren zwangen.

Strigler ist der Meinung, dass die Böswilligkeit und das Böse, welche im naziokkupierten Europa herrschten und das Leben der Juden bestimmten, ihn zum Realismus verpflichten. Es ist für ihn ausgeschlossen, die Betroffenen schlechthin als Heilige zu beschreiben, sie kollektiv zu idealisieren. Gegen Ende der Einleitung betont Strigler wiederholt, dass sein Schreiben über die Schoah, so wie er sie persönlich erfuhr, frei von jeglicher Idealisierung oder Mythologisierung der Opfer sein will. Und abschließend fügt er hinzu: »Möge ihr heiligmenschliches Andenken damit gesegnet werden. Und mögen ihre im Leben geschändeten Seelen ihre Anklage hinausschreien gegen die Verbrecher an Leib und Seele – bis in alle Ewigkeit.«

Wer die Korrespondenz zwischen Mordechai Strigler und H. Leyvick liest, entdeckt ein Phänomen, das für Strigler charakteristisch ist. Als Schriftsteller und Schoahüberlebender spürt Strigler, sobald er nach der Befreiung beschließt, unverzüglich seine persönlichen Erfahrungen und die der europäischen Juden unter den Nazis niederzuschreiben, dass ein erster Impuls ihm befiehlt, alle Eindrücke und Erlebnisse aus den Schoahjahren in einem einzigen Buch zu erfassen. So übrigens auch ein anderer Schoahüberlebender – der Schriftsteller K. Zetnik. Beide Autoren sahen jedoch sehr schnell ein, dass die zahlreichen und komplexen Erinnerungen der sechsjährigen Naziunterdrückung keinesfalls in einem einzigen Band zusammengefasst werden könnten, und mit der Zeit veröffentlichten beide wenigstens sechs verschiedene Bücher über das Leben unter Naziherrschaft, in Ghetto und Lager.

Striglers erstem Buch Majdanek folgte ein Jahr später das zweite Buch in der Tetralogie Oysgebrente Likht (Verloschene Lichter(In di Fabrikn fun Toyt (In den Fabriken des Todes). In Majdanek beschreibt Strigler seinen dortigen Aufenthalt von einigen Wochen; entsprechend einer persönlichen Aussage Striglers, kann angenommen werden, dass er in Majdanek sieben Wochen verblieb, bevor er ins Arbeitslager Werk C überführt wurde. Dieses Lager, das der Munitionsherstellung für den HASAG-Konzern diente und sich in Skarżysko-Kamienna befand, erreichte Strigler höchstwahrscheinlich am 28. Juli 1943. Im Werk C lebte Strigler zwölf Monate als Gefangener. Anfang August 1944 wurde er ins Lager Buchenwald transportiert, wo er bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 überlebte.

Yechiel Szeintuch, Hebräische Universität, Jerusalem

aus dem Hebräischen von Dr.Miriam Trinh,

Hebräische Universität, Jerusalem

Verloschene Lichter werden wieder entzündet

Mordechai Striglers Buch »Verloschene Lichter: Majdanek« bedarf keiner Empfehlung. Es trägt die Empfehlung in sich.

Es bedarf auch keiner Empfehlung, um im Leser den Wunsch zu wecken, es zu lesen. Denn sobald der Leser anfangen wird es zu lesen, wird er nicht mehr aufhören können. So war auch meine Erfahrung.

Nicht deshalb, weil das Buch lieblich ist.

Sondern deshalb, weil das Buch bitter ist − gallebitter. Aber von jener scharfen Bitterkeit, die mit aller Intensität von des Menschen Schicksalshölle widergespiegelt wird.

Und Strigler war in der allerschlimmsten Hölle − in Hitlers Inferno; was er dort sah, hat nicht nur mit Hitler, nicht nur mit Nazideutschland zu tun, sondern mit dem ganzen Menschengeschlecht. Er sah das Grauenhafteste in der grauenhaftesten längsten Nacht, und − er sah auch den Juden in der längsten Nacht, und − auch sich selbst in der nämlichen Nacht.

Er stand nicht nur einmal in Gefahr, innerlich verletzt zu werden, eine Gefahr, die schwärzer ist als der Tod und das Umkommen selbst, aber sein Charakter, sein eigener Verdienst, diese wundersame Kraft stand ihm bei.

Er kam heil heraus, innerlich gerettet, aber angefüllt mit Gräuelerlebnissen, mit einer Erfahrungsreife, mit Beobachtungen, welche wert sind, entdeckt zu werden. Die Schwere der Last liegt auf seinen strapazierten jungen Schultern und treibt ihn mit Nachdruck, ein ums andere Mal, das Durchgemachte, das Erlittene neu zu erleben. Er jagt wieder mit größter Anspannung durch das Höllenlabyrinth und wir folgen ihm.

Seine Sinne sind wach, hochsensibel. Ebenso sein Gedächtnis. Er überwältigt uns und reißt uns mit. Wir können nicht stehenbleiben. Wir müssen ihm folgen. Wir müssen sehen, was er uns enthüllt. Das Unheimlichste. Wir müssen es sehen.

Ich sage noch einmal: Striglers »Majdanek« braucht keine Empfehlung. Meine Begleitworte sind Ausdruck der Anerkennung für einen jungen Kollegen, der sich aus der Zerstörung erhoben hat und dessen Sendungsdrang nicht ruhen wird, ehe er uns alle mit seinen Erlebnissen bereichert hat.

Er ist dazu berufen.

»Verloschene Lichter« nennt Strigler den Zyklus. Aber aus diesem Verloschenen zündet Strigler neue Lichter an, sowohl Lichter des Gedenkens als auch Lichter des Glaubens daran, dass die allerfinsterste noch lange nicht unsere allerletzte Erfahrung ist.

Mehr noch − die verloschenen Lichter selbst entzünden sich erneut.

H. Leivick

New York, Juli 1947

Einführung des Verfassers

Schon ein Jahr ist es her, dass der Verfasser dieses Buches aus dem Konzentrationslager befreit wurde. Im Laufe dieser Zeit begann er wieder, seine Gedichte und politischen Artikel zu schreiben. Eine Art verborgener Angst hielt ihn davon ab, die sechs Jahre zu berühren, die er in so vielen Ghettos und KZs verbrachte. Er schreckte davor zurück, diesen ganzen Erlebnissen noch einmal zu begegnen und ihnen noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Er wartete mit klopfendem Herzen ab, ob nicht irgend jemand käme und die schwere Aufgabe auf sich nähme; er bräuchte sich dann dieser großen Last nicht anzunehmen, eine Generation so entblößt zu schildern, wie sie es faktisch gewesen ist. Er wies jeden Vorschlag, Erinnerungen zu schreiben zurück, las alles, was geschrieben wurde über das, was geschah, in der Hoffnung, dass dieser Gräuel-Epoche über kurz oder lang Gerechtigkeit widerfahren würde. Leider ist das bis heute nicht geschehen. Es ist noch niemandem eingefallen, dass man auch über unsere Märtyrer wie über Menschen aus Fleisch und Blut schreiben muss, deren menschliche Gestalt abertausende Male am Tag geschändet wurde. Alles, was über unsere Epoche geschrieben wurde, drehte sich nur um die Details. Das Allerwichtigste war deshalb nicht erkennbar. Aber etwas muss doch über den inneren Schmerz erzählt werden, über den tiefen psychologischen Kampf und den so menschlichen Schmerz einer Generation im grauenvollen Untergehen. Aber dann konnte der Verfasser nicht mehr, und schweren Herzens, mit einem inneren Zittern und einem Fluch auf den Lippen auf diejenigen, die uns auf diesen Weg geführt hatten − nicht nur des physischen, sondern auch des geistigen langen Todeskampfes − setzte er sich daran, seiner übermenschlich schweren Verpflichtung nachzukommen. Anstatt wie alle jungen Menschen seines Alters bei anderen Völkern über Sonne, Luft, Licht und Lebensfreude zu schreiben, bestimmte das unbarmherzige Schicksal ihn dazu, der Chronist des Untergangs seines heiligen Volkes zu werden. Des Volkes, für dessen Aufbau er mit Freude seine Jugend und sein Leben gegeben hätte.

Groß ist aber die Verantwortung. Man muss es für alle Zeiten festhalten. Die Welt, selbst die jüdische, weiß noch gar nichts davon, was tatsächlich passiert ist! Und sie muss es wissen! In allen Einzelheiten. Denn auch das Gezanke um einen Bissen Brot, das Hereinschmuggeln eines Stückchen Goldes, die tagtägliche, immerwährende Qual des Verhängnisses, in welchem man oft den Menschen in sich vergaß, auch dieses war ein Menschenopfer, der Ausdruck des menschlichen Martyriums, des jüdischen Märtyrers. Gerade in dem typisch Menschlichen, in dem Alltäglichen, liegt das Heroische im Opfertod eines Volkes, das als Menschen zur Schlachtung ging.

Der Verfasser möchte nicht einfach heldenhafte Geschichten erzählen, keine hervorstechenden Einzelfakten, denn damit würde man über sie, die echten Märtyrer, gar nichts erzählen, sondern nur über abstrakte Gestalten, die sie nicht verkörpert haben. Soll also dieses Buch, wie auch die weiteren Teile, alles über sie erzählen, jede Regung verzeichnen, jedes Auf und Ab in den letzten Minuten, soll es der wahre Grabstein auf ihren verlorenen Knochen sein.

Der Verfasser weiß, dass möglicherweise viele nur Engelsbeschreibungen erwarten − auch das hat ihn bisher davon abgehalten, seine Schilderungen zu veröffentlichen − er will aber denen treu bleiben, die bloß wegen der Bösartigkeit anderer umkamen. Er will nur über sie schreiben und nur sie, so wie sie gewesen sind, verewigen und nicht die, die jemand in seiner Fantasie sehen will. Genau deshalb werden seine Bücher so geschrieben, wie sie sind. Möge ihr heiligmenschliches Andenken damit gesegnet werden. Und mögen ihre im Leben geschändeten Seelen ihre Anklage hinausschreien gegen die Verbrecher an Leib und Seele bis in die Tiefe aller Zeiten.

Mordechai Strigler

Paris, im Mai 1946

Erster Teil

Majdanek

Kapitel eins

I

In jener Nacht wurden alle irgendwie von Unruhe befallen. Schon seit Wochen gingen allerlei Gerüchte um, dass unser Arbeitslager in Zamość liquidiert werden würde. Von verschiedenen kleineren Lagern in der Umgebung trafen Nachrichten ein, eine schrecklicher als die andere. Die große »Aktion«, die Lubliner Gegend von den restlichen Juden zu säubern, hatte begonnen. Bei Nacht wurden die Städtchen umstellt und geleert bis auf den letzten Juden. Der Hurrikan begann, auch die Lager eins ums andere zu erfassen. Im ganzen Umkreis wurde es immer leerer und leerer. Immer wieder kamen neue Nachrichten:

Alle Juden von Łabunek erschossen!

Izbica1 wurde liquidiert!

Krasnyk!

Und jedes Mal aufs Neue gefror einem das Blut in den Adern.

Nur unser Lager wurde nicht angerührt. Jeden Tag rechneten wir damit. Alle waren vorbereitet, das Schicksal anzunehmen, das mit seinem Feuerschwert von Ort zu Ort zog; alle Rechnungen waren abgeschlossen, die Seele wie versteinert. Es sah aber so aus, als habe man uns vergessen. Und wieder läuft die Arbeit normal. Die SS-Leute gehen weiterhin mit finsteren Gesichtern umher und schweigen. So vergehen Tage und Wochen in höchster Anspannung.

Aus und vorbei. Alles um uns her ist schon »judenrein« und nur wir sind geblieben wie eine Insel inmitten eines offenen, aufgepeitschten Meeres. Werden auch wir an die Reihe kommen? Niemand zweifelt daran. Ein Großteil hat die Geduld und den letzten Nerv bereits verloren und wartet auf das Maschinengewehr wie auf den einzigen Erlöser. Die anderen unterhalten sich flüsternd in kleinen Gruppen zwischen den verwanzten Lagerbetten in der Tiefe der Baracke. Man schmiedet Pläne.

Fliehen! Fliehen!

Wie mechanisch wiederholen die Lippen das Wort aus Furcht vor etwas Schlimmerem als dem Tod.

Niemand hat einen klaren Plan, wohin. Selbst wenn es gelänge, von der Arbeit hinaus in die Freiheit zu entkommen, würde auf der Straße der erstbeste Pole dich verraten. Vor dem geistigen Auge erhoben sich die jungen heldenhaften Männer aus verschiedenen Lagern, die es geschafft hatten, sich die ganze Strecke bis zu den Zwierzyniecer Wäldern durchzuschlagen, um sich den polnischen Partisanen anzuschließen, und deren tote Körper später, nach etlichen Tagen, gefunden wurden, nackt oder mit einem zurückgelassenen Lumpen am Leib, präsentiert auf einem kleinen Steg oder beim Wäldchen mit einer kleinen polnischen Notiz, die sich brüstete:

Gefallen, aber nicht von deutscher Hand.

Doch das bisschen bebendes Leben will nichts wissen von Abwägungen. Man spürt, das jetzt und hier alles enden wird und der letzte Tropfen warmen Blutes schlägt hastig Alarm an alle Türen der Gedanken: Such! Tu etwas! Auf wen wartest du? Man wird zerrissen zwischen dem instinktiven Trieb, der alle Glieder wachrüttelt und die Gefahr meldet, die über allen Köpfen schwebt, und dem nüchternen Verstand, der entschlossen urteilt: Nichts zu machen! Versperrt sind alle Auswege, der Tod hat sich überall häuslich niedergelassen! So ereifert man sich und packt den ganzen kleinen Rest nervöser Energie in die Pläne, in die Debatten über Rettung, Weglaufen und das rächende Partisanendasein. Aber man weiß selbst, dass man gar nichts tun wird, dass man so lange warten wird, bis das, was kommen muss, mit aller Kraft an das Lagertor schlägt. Alles wird ruhig ablaufen, wohin auch immer die helmbewehrten Botschafter des Todes uns hinzubringen wünschen. Man will aber gerade diese innerste Gewissheit übertönen und betäuben, man schämt sich vor sich selbst zuzugeben, dass man schon längst mit dem Schicksal Frieden geschlossen hat. Man tuschelt so lange herum, bis die eigene mahnende Stimme in der Tiefe schläfrig und müde wird. Bis alles ausgeredet ist, was es zu bereden gegeben hat, und jeder Einzelne sich wieder in seinen eigenen stinkenden Winkel verkriecht, genau wie gestern, genau wie vor einer Woche.

Von irgendwoher brachte jemand einen vertrauenswürdigen Termin: am 31.! Mit Schwertesschärfe schnitt es allen ins Bewusstsein: am 31.! am 31.! Mit wortlosem Gebet erflehte jeder Einzelne vom eigenen Herzensgrund, vom letzten Brocken Verstand oder von der bleichen Silhouette des klügeren Freundes: Hilf mir! Gib mir einen Rat! Aber alles war verstummt, das eigene Herz war leer bis auf den Grund und auch die Weisheit des Freundes war gelähmt.

Man geht tagsüber wieder zur Arbeit und kommt nachts zurück in die verlausten Baracken. Man isst schweigend und schaut lange, sehr lange einer den anderen an, dann fällt ein Wort, ein Satz nur, in dem alle Reden und alle Pläne eingeschlossen sind:

Schon der 29.!

Der 30.!

Man war ermüdet davon, Tag um Tag den Schrecken in den Gliedern und in den Augen wachzuhalten. Man wartete nur noch − auf nichts mehr wartend.

Und eine Nacht begann, wie alle Nächte im Lager. Verräuchert vom Barackenofen, gepeinigt vom Monatsende. Nur das Entsetzen, versteckt im tiefsten Winkel des Herzens, warnte mit ersticktem Mund ein letztes Mal zaghaft:

Die Nacht zum 31.!

II

Gegen 12 Uhr in der Nacht trug es alle hinüber in eine andere Welt. In dieser Nacht kamen nicht einmal die ukrainischen Wachposten betrunken in die Schlafbaracke herein. Sie vergaßen sogar, ein fröhliches Spektakel in der benachbarten Frauenbaracke zu inszenieren. So hatte jeder die Gelegenheit, sich im Traum zu holen, was das wahre Leben ihm genommen hatte. Aber die heutige Ruhe ist eigenartig verdächtig und unangenehm. Es ist zu ruhig. Das Herz war schon so an den »normalen« nächtlichen Schrecken der einfallenden betrunkenen Wachposten gewöhnt, dass es fast zu einer Art betäubender Sucht geworden war. Im Angesicht derer, in deren Händen du vogelfrei bist, beginnt das schläfrige bisschen Leben von neuem, in den Gliedern zu pochen, du spürst eine zappelnde Angst vor etwas; doch dabei freut sich etwas in dir, das tiefer ist als du selbst, weil du dadurch gleichzeitig erkennst, dass da noch etwas ist, dass du noch etwas besitzt, um dessentwillen du zittern musst, mit dem du vorsichtig umgehen musst.

In der Einsamkeit wird die ständige Furcht der einzige Wecker des erstarrten Lebens. Die reale dröhnende Angst wird dir vertraut wie ein Freund. Und jetzt, da es so still ist, entsteht gleichzeitig eine Leere um dich herum. Es fehlt etwas. So als sehntest du dich danach, die Gefahr zu fühlen, die von einem nahebei lauernden Gewehr eines Betrunkenen ausgeht. Die Hilflosigkeit wird ohne den allnächtlichen grausamen Trubel noch entsetzlicher.

Das erschrockene Schnarchen müden Atems sägt sich knirschend in die Stille der dunklen Baracke. Nur noch hier und da sitzt ein gebeugter Schatten auf der Bettkante, in Gedanken versunken, dabei gar nichts denkend.

Ein Schatten von gegenüber winkt meinem zu:

Motl?

Ein Wortbrocken löst sich von meiner müden Trägheit:

Was ist?

Und wieder wird ein leises Wort zu mir herübergetragen, auf dem Rücken eines verschlafenen Krächzers meines Bettnachbarn:

Warte!

Der dürre Körper meines Nachbarn wiegt sich über mir mit einer fremden Unruhe. Seine großen, unruhigen Augen dringen in mich ein bis in die tiefsten Tiefen. In der Dunkelheit haben sie einen gespenstischen, irren Glanz. In meiner diffusen Hoffnungslosigkeit erkenne ich nicht, wer da redet: sein Mund, seine Augen, seine Hände oder seine Kleidung? Mein Verstand erscheint mir verhüllt von einem dünnen Vorhang. Ich spüre nur, wie seine Gedanken mich umklammern.

Motl, und wenn doch? Vielleicht noch heute?

Seine Finger deuten dabei durch das vergitterte Barackenfenster auf den Stacheldraht beim Zaun.

Schon hundert Mal habe ich diese Frage und diesen Plan gehört, schon tausend Mal selber darüber gegrübelt. Die Antwort ist mir selbst so klar, dass die Lippen nicht mehr beim Verstand nachfragen müssen, sondern jedes Mal selbstständig antworten:

Unmöglich!

Aber jetzt bin ich schon zu müde. Mein Verstand ist so verdunkelt und ausgezehrt, dass er dieses einzige, mechanische Wort der Resignation nicht mehr über die Lippen bringt. Also schweige ich. Mein Kamerad nimmt es als Zeichen der Zustimmung. Er stachelt mich weiter an mit seiner glühenden Ungeduld:

Heißt das, du bist bereit? Soll ich hinausgehen und einen Blick auf die Zaunpfähle werfen?

Er wartet nicht einmal meine Antwort ab, sondern schlurft hinaus aus der Baracke. Für eine Minute bleibe ich allein unter Schlafenden. Nüchterne Wachsamkeit schüttelt mich. Ich fühle mich wie auf einem Friedhof. Schwach höre ich es in mir fragen: Schlafen sie nur, diese Menschen um mich herum, auf ihren grabähnlichen Betten?

Die gefühlte Gefahr, die sich monatelang in der Luft, zwischen den Betten und in den Winkeln zusammengeballt hatte, fühlte sich plötzlich kräftiger an. Sie senkte sich herab und gab mir mit einem Flügel einen Schlag an den Kopf. Es war, als ob alle Schlafenden ihre Schrecken des Tages im wachen Diesseits zurückgelassen hatten, und all diese Schreckensbrocken sammelten und verknoteten sich zu einem Körper. Dieser ganze schwarze Gedanken-Koloss, der sich nicht durch die weiten Grenzen des Schlafes hindurchreißen konnte, warf sich mir wie einem Erlöser zu Füßen. Alle müden Wände, die meine Gedanken im festen Griff hielten, fielen mit einem Krachen zusammen. Eine klare Stimme schrie mir mitten ins Mark: Hier ist der Tod! Ich wachte auf und wunderte mich über mich selbst: Warum habe ich es bis jetzt nicht gesehen? Wie schafft man es zu leben in einer Welt, wo man dermaßen schläft? Die Gefahr bricht in Lachen aus, aus jedem Winkel tönt ihr Gelächter über meine machtlose Erkenntnis. Mein Verstand wird plötzlich gesprächig und ich lausche mit beiden Ohren:

Nein! Er wird es nicht lange halten, der Deutsche, dieses Lager mit Menschen, aus denen die Müdigkeit herausschreit und aus deren Augen ständig die Furcht blickt. Sprechen ihre Münder nicht instinktiv über den Tod, der sicher kommen muss? Ich fühle mich hier plötzlich wie ein Fremder, ein Verlassener. Der Schweiß bricht mir aus: Was tue ich hier? Was tue ich hier? Von allen Seiten schreit es auf mich ein: Flieh! Flieh! Sogar ohne ein »Wohin?«. Nur mit solchen erschöpft Schlafenden nicht zusammen sein!

Mein Kamerad hatte sich inzwischen wieder hereingeschoben durch die Tür. Seine Schritte hatten während des Weges den fieberhaften Schwung verloren, seine Augen waren draußen erloschen. Er sah schlapp und halb bewusstlos aus. Als er näher kam, winkte er nur kummervoll mit beiden Händen wie eine geschächtete Gans mit den Flügeln und brachte kaum noch einen schwachen, verzweifelten Ton heraus:

Zu spät!

Zugleich aufgeregt und benommen erzählte er:

Verstärkte Wachen um das Lager herum, alle zwei Schritte ein Posten. Diesmal döst keiner von ihnen an die Wachbude gelehnt. Durch einen kleinen Spalt im Zaun sah er, wie alle Augen auf das Lager gerichtet waren.

Ich weiß nicht, wen ich damals beruhigen wollte: ihn oder mich? Vielleicht wollte ich auch nicht den Toten auf ihren Lagerstätten das letzte Lächeln rauben, das sie im Traum bei ihrem Kind sahen. Die Gedanken scherten sich schon damals um keinerlei Kontrolle und spazierten im Kopf umher, wie es ihnen gefiel. Nicht auf meine eigene Rede achtend, sprach ich zu ihm und bat ihn: Still! Ruhig! Wecke sie nicht auf!

Ohne es selbst zu wissen, spürte etwas in mir, dass die letzte Stunde der nächtlichen Stille geschlagen hatte. Jetzt wollte ich sie noch einen Moment aufhalten, nur noch einen Moment, solange, bis alles von selbst geschehen würde.

Und die Stunden haben sich einschläfern lassen, wie Kinder, die lange geweint hatten.

III

Halb drei. Eine Gestalt, halb nackt, klettert von einem Etagenbett herab und geht hinaus, in den Augen kleben noch Reste von warmem Schlaf. Das Klosett ist dicht bei den Drahtzäunen, neben einem Wachhäuschen, und es ist zu schade, für diesen Gang von nur wenigen Minuten aufzuwachen. Die Füße scharren beim Gehen und die Augen fallen immer wieder zu.

Zurück kommt er schnell und aufgeregt. Alles in ihm bebt; wie benommen geht er mit wildem Geheul auf den erstbesten am Rand Schlafenden zu:

Und ihr schlaft? He, ihr schlaft?

Da schüttelt er bereits den in Schlaf Versunkenen mit der ganzen Kraft seiner knöchernen Finger, als ob er die Gefahr höchstpersönlich gepackt hielte. Aber er lässt schnell ab von ihm, greift sich mit den Händen in die zerwühlten Haare und bricht in Gejammer aus:

Wir sind verloren! Verloren!

Der Klang seiner Stimme erinnert an den resignierten Ton eines abgelaufenen Weckers. Instinktiv gehe ich zur Tür. Ich will sehen, was draußen vor sich geht. Der neugierige Mündungslauf eines Maschinengewehrs versperrt mir den Weg mit einer Frage auf Deutsch:

Wohin?

Ich weiß selbst, dass ich mich mit meiner Antwort lächerlich mache:

Ich muss nötig, auf den Abort …

Die Büchse hat aber offensichtlich keine große Lust, mit mir zu debattieren. Sie schleudert mir nur ein Wort entgegen, in dem die Drohung aller Todesstrafen mitschwingt:

Zurück!

Zu allen Barackenfenstern sieht man Augen hereinfunkeln. Wehe mir! Wie viele finstere Zornesblicke! Die hat der Todesengel persönlich auf nächtlichen Wegen hinuntergeschickt ins Lager.

Jeder rappelt sich hoch mit einer eigenen Wehklage:

Wehe uns! Das Lager ist umstellt! Umstellt!

Alle schreien gleichzeitig, ringen die Hände. Zitternde Finger beginnen unsinnigerweise, alle Lampen anzuzünden. Ein Hämmern an die Scheiben warnt:

Licht aus!

Geräusche von Schüssen wandern umher über das Barackendach mit boshaften, eilenden Schritten und lassen den anbrechenden Tag vor Schreck erblassen. Dem neuen Tag ist nicht besonders froh ums Herz. Er schaut trüb und grau herein durch die Scheiben und es scheint, damit wolle er sich wegen seiner Machtlosigkeit rechtfertigen:

Ich kann euch gar nicht helfen, Kinder. Ich habe nicht die Kraft dazu.

Und mit einem Mal spüren alle über sich die Flügel des Todes. Mein Kamerad Itzel zerreißt voller Zorn seine paar