"Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen" - Myriam Rawick - E-Book

"Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen" E-Book

Myriam Rawick

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Beschreibung

Myriam ist knapp sieben Jahre, lebt mit ihren Eltern in Aleppo, liebt das Gewimmel auf dem Basar und die Gerüche des Jabel-Saydé-Viertels, wo sie und andere armenische Christen wohnen. Als im September 2011 die Unruhen ausbrechen, rät die Mutter ihr, ein Tagebuch zu führen, um den Schrecken zu bannen. Erschüttert hält Myriam fest, wie ihre Welt in Terror und Angst zusammenbricht, sie von einem Viertel ins nächste ziehen müssen, Cousins sterben oder entführt werden. Nur selten kann sie dem Terror ringsum ein kurzes kindliches Glück abtrotzen. Doch sie und ihre Familie halten unverbrüchlich zusammen und überleben mit Glück und Geschick das unfassbare Leid.

Am 15. Dezember 2016 kam der französische Journalist Philippe Lobjois nach Aleppo, lernte Myriam und ihre Familie kennen und erfuhr von ihrem Tagebuch. Später half er ihr, es aus dem Arabischen ins Französische zu übertragen.

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Seitenzahl: 154

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Zum Buch

Myriam ist knapp sieben Jahre, lebt in Jabal al-Saydé, einem Viertel im Norden von Aleppo. Ihre Eltern sind armenische Christen, ihr Vater führt erfolgreich ein Lebensmittelgeschäft. Myriam liebt die Tabak-, Tee- und Kaffeegerüche dieses Viertels, die Lebendigkeit, das Gewimmel auf den Märkten und den Straßen, aber auch den täglichen Gang zur Schule. Sie mag ihre Lehrerin Joséphine, die 35 Jahre jung ist und langes Haar hat, das ihr bis zur Taille fällt. Myriams Mutter Antonia erzählt gern Geschichten, geht mit ihr im Sommer zu Haffar, dem besten Eisgeschäft der Stadt, wo sie auf der Terrasse sitzen. Und Myriam spielt mit ihrer dreijährigen Schwester Joëlle.

Doch im September 2011 verändert sich ihre Welt: Demonstrationen wogen durch die Straßen, die Regierung lässt Polizei aufmarschieren, die Geschäfte schließen. Der Norden von Aleppo, wo sie auch wohnen, fällt als Erstes in die Hände der Rebellen, die das Nachbarviertel, Bustan al-Basha, schon im August 2012 erobert haben. Bald ertönen die ersten Schüsse, Gewalt erschüttert den Alltag, die Elektrizität fällt im Juli 2012 aus, die Familie lebt im Treppenflur, hilft sich mit Kerzen, schwarz gewandete Männer drängen ins Viertel, in dem bald Granaten einschlagen. Der Brotpreis verfünffacht sich, Gas wird fast unbezahlbar. An einem Tag hört Myriam zehn Bombeneinschläge. Ein Cousin wird von Dschihadisten entführt, die Familie muss immens hohes Lösegeld zahlen, um ihn wieder freizubekommen. Die Familie rückt immer näher zusammen, die Verwandten unterstützen sich gegenseitig.

Antonia, ihre Mutter, empfiehlt Myriam, ein Tagebuch zu führen, um den Schrecken und die Angst zu bewältigen. Hier ist es.

Zur Autorin

Myriam Rawick wurde 2004 in Aleppo als Tochter armenischer Christen geboren. Im Alter von sieben Jahren begann sie auf Anraten ihrer Mutter ein Tagebuch über die Schrecken des Krieges, den sie ununterbrochen in Aleppo miterlebte. Nachdem sie ihr Tagebuch im Juni 2017 in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt hat, lebt sie mit ihren Eltern und Geschwistern wieder in Aleppo.

MYRIAM RAWICK

(Unter Mitarbeit von Philippe Lobjois)

»MAMA SAGT,

DASS SELBST

DIE VÖGEL

NICHT MEHR

SINGEN«

MEIN TAGEBUCH

ALEPPO 2011-2017

Aus dem Französischen

von Pauline Kurbasik

BLESSING

Originaltitel: Le journal de Myriam

Originalverlag: Fayard, Paris

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2017 by Fayard

Copyright © 2018 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-22600-8V001

www.blessing-verlag.de

Vorwort

Blasse Körper, halb geöffnete Münder, der nackte Oberkörper wie zum Luftholen gewölbt … Dreißig kleine Opfer eines Chemieangriffs am 6. April 2017 im Morgengrauen im Gouvernement Idlib; dieser Angriff hat in unseren Zeitungen für Schlagzeilen gesorgt.

Elf Tage später ein Selbstmordattentat auf Busse bei einer Evakuierung aus Aleppo: achtundsechzig bei lebendigem Leib verbrannte kleine Körper. Kinder ohne Namen und Alter, die wieder einmal einem Krieg zum Opfer gefallen sind, den sie nicht verstehen.

Wie viele Kinder insgesamt sind unter den etwa 400 000 Toten, die dieser Konflikt gekostet hat? Und wie viele der Kinder, die dort aufwachsen, sind für immer so traumatisiert, dass ihr Leben zerstört ist?

So ist der Krieg in Syrien. Man kann versuchen, die Guten und die Bösen zu erkennen, aber man sieht vor allem Tod und Zerstörung. Aufgetürmte Leichen, vergast oder lebendig verbrannt, nichts ist diesen Menschen erspart geblieben.

Ich bin am 15. Dezember 2016 nach Aleppo gekommen, als die wirtschaftliche Hauptstadt Syriens noch völlig im Chaos versank. Ich habe eine Stadt vorgefunden, die fast zur Gänze verwüstet war. Von Norden nach Süden ist nur ein Dreieck übrig geblieben, das die sogenannten westlichen Viertel umfasst. Aus diesem regimetreuen Dreieck, dem kleinsten Teil in dieser riesigen Stadt, ist – im Laufe der fünf Kriegsjahre – eine Zone geworden, die von aus den Rebellengebieten im Osten Geflohenen überquillt.

Es gab weder Wasser noch Strom, und aus dem grauen Himmel regnete es pausenlos auf die dem Elend ausgelieferte Stadt. Kein Suk mehr, kein Park, kein Brunnen, an dem man sich bei großer Hitze erfrischen kann. Aber eine starke, aufrechte Bevölkerung mit einem großen Überlebenswillen.

Auf dieser kleinen Insel der Überlebenden habe ich zunächst Bekanntschaft mit SOS Chrétiens d’Orient gemacht, einer französischen Organisation, die den Gläubigen vor Ort hilft. Die Mitarbeiter haben mich dann an die Maristes Bleus verwiesen, eine andere christliche Organisation, die auf den Höhen von Aleppo untergebracht ist und ihre Schule seit Beginn des Konfliktes für flüchtende Familien aller Konfessionen geöffnet hat.

Bei der monatlichen Verteilung von Lebensmittelkörben hat mir Frère Georges die kleine Myriam und ihre Mutter Antonia vorgestellt.

Myriam, Antonia und ihr Vater Joseph wollten, dass bekannt wird, wie es ist, in dieser Hölle aufzuwachsen, in dieser Falle namens Aleppo zu überleben; daher erzählten sie mir stundenlang von ihrem Alltag. Diesen Alltag hat sie, auf Anraten ihrer Mutter, in einem dünnen Heft über Jahre hinweg festgehalten.

Als Christin armenischer Herkunft stammt Myriam aus einer der überlebenden Familien, die vor dem Genozid durch die Türken im Jahr 1915 geflohen sind. Ihre Vorfahren haben hundert Jahre lang im Viertel Jabal al-Saydé im Norden von Aleppo gelebt, aus dem sie 2013 von den Dschihadisten vertrieben worden sind.

Als im Jahr 2011 die Demonstrationen gegen Präsident Bachar al-Assad in Aleppo begannen, war Myriam sechs Jahre alt. Das Regime antwortete mit extremer Gewalt auf den Aufstand. 2012 fielen die ersten Schüsse. Dann die ersten Bomben, Bomben, an die man sich bald gewöhnte. Und die Toten, geliebte Menschen, verschwanden, einfach so, bis zum Jahr 2016.

Myriam hat Glück gehabt. Aber das allein hat sie nicht am Leben erhalten. Ihre Stärke, die Kraft ihrer Familie und ihrer Eltern, die sie vor dem Schlimmsten bewahren wollten, selbst unter Granatenbeschuss und sogar beim drohenden Einmarsch der Dschihadisten, haben zu ihrer Selbstbehauptung beigetragen.

Ihr Tagebuch zeugt von der Gewalt, die sie erleiden musste. Verstehen konnte sie diese Gewalt ebenso wenig wie die anderen Kinder aus Aleppo und ganz Syrien und wie alle Kinder, deren einzige Schuld darin besteht, am Leben zu sein, lachen, lernen und spielen zu wollen.

Philippe Lobjois

Einleitung

Ich muss nur die Augen schließen und mich konzentrieren, dann kehrt alles zurück.

Ich bin drei Jahre alt, ziehe mich im Wohnzimmer am Sofa hoch, um da hinaufzuklettern. Mein Gesicht versinkt in den Polstern mit den roten Stickereien. Hinter mir höre ich Mama lachen.

Ich bin vier Jahre alt und erwarte ungeduldig meinen Geburtstagskuchen. Aus der Küche rieche ich den Honigduft. Papa, Mama, meine Schwester und die Nachbarn sind da, sie lachen und reden durcheinander. Ein sanftes, fröhliches Tohuwabohu.

Mama hat mir mein Lieblingskleid angezogen. Weiß mit kleinen bunten Blumen, die überall aufgenäht sind. Ich fahre mit dem Finger darüber, um bei jeder Blume die Blütenblätter zu zählen.

Papa hat die Wohnzimmerfenster weit geöffnet. Die Bäume schaukeln im Wind, sie reichen fast bis zum Fenster. Ein Windzug dringt herein, erfrischt uns und bläst wie von Zauberhand die Kerzen auf meinem Kuchen aus, bevor ich dazu komme.

Ich bin sechs Jahre alt, und zum ersten Mal nimmt Mama mich mit auf den Suk. Der Taxifahrer lässt uns auf dem großen Parkplatz aussteigen, der donnerstags als Markt dient. Mama hat mich ermahnt: »Lass meine Hand nicht los, es wird voll sein. Bestimmt sind dort mehr Menschen, als du jemals gesehen hast.« Und sie hatte recht.

Ich drücke mich an sie, und wir bahnen uns einen Weg durch die Straßenhändler und Passanten, die kommen und gehen. Eine ockerfarbene Mauer umschließt die Altstadt. Ich erinnere mich an diese riesigen offenen Holztore, die wir passieren.

Die Hitze von draußen weicht sogleich einer steinernen Kühle. Meine Augen brauchen einige Augenblicke, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Der Suk ist ein Labyrinth aus überdachten Gassen. Wo ich auch hinschaue, an Wänden und Decken, sehe ich Ziegelsteine. Den Himmel sieht man nur durch verglaste Oberlichter. Über mir folgt eine Steinkuppel auf die nächste. Ich habe den Eindruck, als würde ich einen magischen, tausendjährigen Tunnel betreten.

Überall sind kleine Verkaufsstände in die Wände geschlagen. Stoffe in allen möglichen Farben, die von den Auslagen herabhängen. Mäntel, Kleider, Stickarbeiten.

Mama zeigt mir verschiedene Stoffrollen: »Fass mal an.« Ich zögere, es gibt rosafarbene, orange, rote. Ich entscheide mich für Grün. Es fühlt sich weich an. »Das ist Seide, mein Schatz«, flüstert Mama.

Wir dringen weiter in dieses märchenhafte Labyrinth vor. Händler ziehen mit Schubkarren an uns vorbei, die mit frischen Mandeln beladen sind.

Mama sagt mir, ich solle die Augen schließen. Ich gehorche, überglücklich, mich auf das Spiel einzulassen. Mamas Hand führt mich. »Jetzt kannst du sie wieder aufmachen.« Als ich die Augen öffne, funkelt und glänzt alles um mich herum. Die Stoffhändler sind Juwelieren gewichen. Kilos, Tonnen Gold, die funkeln. Ketten, Armbänder quellen in goldenen Strömen aus den Auslagen.

Düfte, Lachen, Farben.

So viele Erinnerungen an mein früheres Leben. Erinnerungen wie Fata Morganas. So weit entfernt von meinem heutigen Leben. Von dem, was ich sehe. Von dem, was ich rieche und spüre.

Ich heiße Myriam, ich bin dreizehn Jahre alt. Ich bin in Jabal al-Saydé aufgewachsen, dem Viertel in Aleppo, wo ich geboren wurde. Einem Viertel, das es nicht mehr gibt.

Ich habe Angst, diese Bilder zu vergessen, diese Stadt, die verschwunden ist, diese Welt, die im Chaos versunken ist.

Neulich hat mir Mama gesagt, dass meine Augen nicht die einzigen Hüter meiner Erinnerungen seien. Ich könne mich auch auf meine Finger, meine Ohren und meine Nase verlassen.

Der Heimweg von der Schule riecht nach Ingwertee vom Café Ammouri, der Samstag nach rundem, warmem Brot vom Bäcker an der Straßenecke, der Sonntag riecht nach den Wachskerzen der Saint-Georges-Kirche, nach Spaziergängen im alten Suk, in dem Olivenölseife und Gewürze verkauft werden.

Meine Geburtstage schmecken nach Honig, der Sommer schmeckt nach Datteln, der Frühling nach Aprikosen aus Damaskus, der Winter nach dem Zimttee meiner Großmutter.

Vor den Ereignissen bin ich in diesem Paradies aus Farben, Düften und Aromen aufgewachsen.

Vor den Ereignissen habe ich mich in Aleppos Sonne gebräunt, Aleppos Wasser getrunken und mich mit Alepposeife gewaschen.

Ich habe meine Stadt und mein Viertel geliebt. Ich spürte gern die Wärme der von der Zeit blank geschliffenen Steine, hörte gern den Gesang des Muezzins, stellte mich gern in den Schatten der Kirche.

Ich war glücklich, frei.

Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Leben einmal anders sein könnte.

Damals sind Mama und ich viel umhergelaufen. Von Westen nach Osten, von Norden nach Süden. Von der Zitadelle, die über die Altstadt wacht, bis zur Saint-Élie-Kirche, die wie eine Burg aussieht.

Im Sommer setzten wir uns nach unseren Spaziergängen unter einen Eukalyptusbaum auf den Platz und genossen ein mit Pistazien bestreutes Sahneeis. Wenn ich die Augen schließe, rieche ich noch diesen Duft nach Milch und Orangenblüten.

Manchmal, wenn wir früh am Morgen aufbrachen, machten wir in einem Café in der Altstadt halt. In einem Bistro im Hof einer Karawanserei aßen wir Tomaten, Gurken, Oliven, Käse und Kräuterbrot mit Olivenöl.

Eines Tages, als ich noch sehr klein war, hat Papa gesagt: »Aleppo ist der Stern dieser Erde.« Und damit hatte er Recht.

Aleppo war das Paradies, unser Paradies.

Heute Morgen hat man uns in unser Zuhause zurückkehren lassen. Doch von unserer Wohnung, unserer Straße, unserem Viertel ist nichts mehr übrig geblieben. Betontrümmer, Zementsplitter, scharfer Eisenschrott. Nichts aus meiner so glücklichen Kindheit habe ich wiedererkannt.

In der Morgendämmerung mussten wir von unserer neuen Wohnung aufbrechen. Seit dem Krieg dauert es ewig, ein paar Kilometer zurückzulegen. Als wir unser altes Viertel erreichten, war ich vor Erschütterung wie gelähmt, weil der Anblick so traurig war. Überall Schutt und Metall.

Dort drüben, am Ende der Straße, neben dem ehemaligen Laden, wo Mama unsere Kleidung hat umändern lassen, liegt ein Haufen verbrannter Autos.

Dort, wo früher der Metzger war, der hervorragendes Hammelfleisch für Bratspieße verkaufte, steht heute eine Mauer aus ausgeschlachteten Bussen. Ich habe nach oben geblickt und das große Gebäude vor mir angeschaut, ein altes Haus, in dem eine Schulkameradin von mir gewohnt hat. Ausgeweidet. Die weiße Fassade übersät mit schwarzen Löchern, aus denen kilometerlange Drähte herausragen.

Als ich mich umdrehte, habe ich ein anderes Stück Straße gesehen. Ich habe es nicht gleich erkannt, doch lange hingeschaut, es hat mich auf geheimnisvolle Art angezogen. Nach einer Weile habe ich Mama gefragt: »Ist es hier?« Sie wusste sofort, was ich meine. Sie hat genickt und mir die Hand hingestreckt. Das war unsere Straße.

Wir sind auf einen Steinhaufen geklettert. Zu meiner Rechten glaubte ich, etwas zu erkennen. Nur ein Loch in der Wand, ein großes Loch, als hätte man eine Garage ins Gebäude gebrochen. An der Rückwand hingen allerdings die Reste eines Plakats. Vertraute Farben. Und da erinnerte ich mich plötzlich. Ich habe an Mamas Ärmel gezupft und gefragt: »Ist das der Laden von Abou Yasser?«

»Ja, Myriam.«

Mit einem Schlag war alles wieder da. Das Lächeln des Lebensmittelhändlers, das runde Brot mit Mohn, das wir jeden Abend bei ihm gekauft haben, der hausgemachte Joghurt seiner Frau, den er freitags verkaufte.

Die Düfte, die Aromen, die Freuden, all das lag nun hier unter den Ruinen, unter den eingestürzten Dächern begraben.

Als wir vor unserem Haus standen, habe ich die Gebäude nicht erkannt. Es gab keine Balkons mehr, keine Fenster. Ich konnte es nicht glauben. Die Bäume davor hatten keine Blätter mehr, als wären auch sie während des Krieges gestorben. Das war doch nicht unser Zuhause.

Hand in Hand sind Mama und ich hineingegangen. Niemand war da, alles war still. Nur ein paar Katzen, die sich auf der ersten Stufe die Reste einer Maus teilten.

Kaum waren wir im Treppenhaus, erinnerte ich mich an alles. Spiele mit den Nachbarskindern. Den Kuchenduft, der aus der Straße zu uns aufstieg.

Und dann erinnerte ich mich an die letzten Monate hier. Nächte, in denen wir darauf warteten, dass sich die Bomben schlafen legen. Stunden, in denen wir darauf warteten, dass uns die Schüsse schlafen lassen. Genau dort habe ich meine kleine Schwester getröstet, als die Männer in Schwarz in unser Viertel eingedrungen sind. Meine Angst hat diese Mauern durchtränkt, sie mit Trauer überstrichen.

Die Wohnung hat keine Tür mehr, keine Fenster, keine Möbel.

Im Wohnzimmer liegen bloß noch ein Stück Teppich und ein zerbrochener Stuhl auf dem Boden. Der ganze Rest ist verschwunden. Der Kühlschrank, der Gasherd auch. Die Schränke. Alles.

Ich wollte in mein Zimmer gehen, blieb jedoch mit meiner Sandale hängen. Ich stolperte und fiel hin. Als ich aufstehen wollte, fiel mir auf dem Boden etwas auf. Eine kleine verbeulte rote Dose.

Ich hob sie auf. Ich schaute sie lange an, bevor ich mich getraut habe, sie zu öffnen. Ich musste nur ein wenig ziehen, dann hat sich der Deckel gelöst und – fast gleichzeitig – begannen die Tränen zu fließen.

Und als ich diesen Schatz betrachtete, sind mir Hunderte Bilder durch den Kopf geschossen.

Hier, mit diesem kleinen blauen Auto, habe ich damals, an einem Sonntagmorgen nach der Messe, mit meinen Nachbarn Fouad und Charbel Autorennen gespielt. Und dieser Ball: Meine Freundin Joudi und ich haben ihn an einem Samstagnachmittag auf dem Boden springen lassen.

Ich habe die Dose wieder geschlossen. Als ich mir den Deckel noch einmal anschaute, wusste ich genau, wo sie herkam. In meinem früheren Leben hatte sie unter meinem Holzbett hinter Tüten mit zu kleiner Kleidung gelegen.

Wie sie hier gelandet war? Ich weiß es nicht, aber mit ihr war alles wieder da. Der Duft der Bäckerei, die Rufe der Kinder auf der Straße, die Kuchen meiner Mutter, das Lächeln des Lebensmittelhändlers Abou Yasser.

In diesem Augenblick habe ich zum ersten Mal begriffen, was Krieg bedeutet.

Krieg, das war meine unter diesen Ruinen begrabene, in einer kleinen Dose eingesperrte Kindheit.

Ich habe sie fest an mich gedrückt, fest entschlossen, sie mitzunehmen. Seitdem gebe ich sie nicht mehr her. Nie mehr.

Andere haben Fotos oder Filme, wieder andere Spielzeuge, Stofftiere oder Kleidung. So viele Dinge, die sie an die Vergangenheit erinnern.

Aber ich habe nichts mehr aus meiner Kindheit. Nichts, außer einer kleinen, zerbeulten Dose.

Aleppo, Februar 2017

Aleppo, 12. Juni 2011

Meine Oma heißt Teta. Ich liebe sie. Sie ist alt, aber nicht so alt wie Jedo, mein Opa. Ich habe heute den Nachmittag mit ihr verbracht. Sie hat mich nach dem Mittagessen zu Hause abgeholt. Sie hatte ihre hübsche Hose aus weißem Leinen an und eine schwarze Bluse mit einer Weste darüber. Sie hat mit Papa und Mama sehr heißen Tee getrunken, dann sind wir losgegangen. Meine Eltern mussten meine kleine Schwester Joëlle zu einem Geburtstag bringen.

Ich bin so gern mit Teta zusammen, weil sie immer ganz viele Geschichten erzählt und mir Kuchen kauft. Heute sind wir zu Haffar gegangen, dem besten Eismann der Stadt. Eigentlich weiß ich nicht, ob er wirklich der Beste ist, er macht aber zumindest das beste mahallabieh.

Vor Haffars Laden ist immer viel los; drin wird das Eis zu Bändern geschlagen. Teta hat ein Eis mit Orangenblütengeschmack genommen. Ich eines mit Rosengeschmack.

Nachdem die Leckerei in unseren Mündern geschmolzen war, haben wir auf einer kleinen Terrasse nebenan einen Aprikosensaft getrunken. Vor dem Café standen vier runde Tische mit Hockern aus Korb. Neben uns saßen zwei sehr elegante Damen mit großen, baumelnden Ohrringen. Teta hat mir gesagt, dass auch sie – als sie noch jünger war – solche Ohrringe getragen hat. Sie muss sehr schön gewesen sein, damals, aber auch heute ist sie noch schön.

Aleppo, 20. Juni 2011

Meine Schule liegt im Viertel namens Jabriyeh, neben der Kirche Saint-Dimitri, in der Nähe der Tour Amal. Sie heißt Wouroud, die »Schule der Rosen«. Meine Lehrerin heißt Joséphine, ist fünfunddreißig Jahre alt und ähnelt Mama. Sie hat langes Haar, das ihr auf den Rücken fällt.

Manchmal gibt sie uns Rollschuhe, mit denen wir auf dem Pausenhof herumfahren dürfen. Weil nicht genug für alle da sind, nimmt jeder nur einen. Und wir rollen auf einem Fuß umher und versuchen nicht hinzufliegen.

Ich mag es sehr, wenn meine Lehrerin mich bittet, an die Tafel zu kommen, um den anderen etwas zu erklären. Dann bin ich stolz und fühle mich wie ihre Assistentin.