Mein adoptiertes Glück - Cornelia Waller - E-Book

Mein adoptiertes Glück E-Book

Cornelia Waller

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! »Du bist verrückt, Julia, total verrückt!« Viktoria Fabian sah die Freundin kopfschüttelnd an. Julia Correll streckte die schlanken Glieder in dem eleganten grünseidenen Hausanzug. »Das mag dir auf den ersten Blick so scheinen, Vicky. Ich nehme es dir nicht übel, daß du an meinem Verstand zweifelst, aber ich werde meinen Plan durchführen.« »Julia, ich bitte dich! Du willst ein Kind, aber keinen Ehemann, das ist… nun, du machst es dir zu einfach. So etwas geht doch nicht. Außerdem braucht ein Kind beide Eltern, und es ist egoistisch von dir, nicht zu bedenken, was du so einem kleinen Wesen vorenthalten willst!« Vicky ereiferte sich. »Quatsch«, sagte Julia, griff zu ihren Zigaretten und zündete sich eine an. »Schau dir doch die Kinder an, die in kaputten Ehen aufwachsen. Es gibt nicht wenige, wie du weißt. Meinst du nicht, daß es da manches Kind mit nur einem Elternteil einfach besser hat? Wenn ich ein Kind habe, das seinen Vater nie kennenlernen wird, dann kann es ihn schließlich auch nicht vermissen.« »Das ist ein Irrtum!« widersprach Vicky nachdrücklich. »Das wird ihm seine Umwelt sehr bald bewußt machen. Im Kindergarten oder spätestens in der Schule wird es dann feststellen, daß seine Spielkameraden Väter haben, und es wird dich fragen, warum es selbst keinen hat.

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Mami Bestseller – 62 –

Mein adoptiertes Glück

Robby ist jetzt mein Sohn

Cornelia Waller

»Du bist verrückt, Julia, total verrückt!« Viktoria Fabian sah die Freundin kopfschüttelnd an.

Julia Correll streckte die schlanken Glieder in dem eleganten grünseidenen Hausanzug.

»Das mag dir auf den ersten Blick so scheinen, Vicky. Ich nehme es dir nicht übel, daß du an meinem Verstand zweifelst, aber ich werde meinen Plan durchführen.«

»Julia, ich bitte dich! Du willst ein Kind, aber keinen Ehemann, das ist… nun, du machst es dir zu einfach. So etwas geht doch nicht. Außerdem braucht ein Kind beide Eltern, und es ist egoistisch von dir, nicht zu bedenken, was du so einem kleinen Wesen vorenthalten willst!« Vicky ereiferte sich.

»Quatsch«, sagte Julia, griff zu ihren Zigaretten und zündete sich eine an. »Schau dir doch die Kinder an, die in kaputten Ehen aufwachsen. Es gibt nicht wenige, wie du weißt. Meinst du nicht, daß es da manches Kind mit nur einem Elternteil einfach besser hat? Wenn ich ein Kind habe, das seinen Vater nie kennenlernen wird, dann kann es ihn schließlich auch nicht vermissen.«

»Das ist ein Irrtum!« widersprach Vicky nachdrücklich. »Das wird ihm seine Umwelt sehr bald bewußt machen. Im Kindergarten oder spätestens in der Schule wird es dann feststellen, daß seine Spielkameraden Väter haben, und es wird dich fragen, warum es selbst keinen hat. Was willst du ihm dann antworten?«

»Die Wahrheit«, sagte Julia bestimmt. »Ich würde ihm sagen, daß ich nicht hätte heiraten wollen, weil ich glaubte, daß eine Ehe mich nicht glücklich machte, daß ich aber auf ein Kind nicht hätte verzichten wollen.«

»Und du glaubst, daß ein kleines Kind das verstehen wird?«

»Warum nicht? Kinder sind nicht so dumm, wie man immer meint. Wenn man ihnen die Dinge offen erklärt, begreifen sie sie schon.«

»Willst du nicht doch versuchen, einen Mann zu finden, den du wirklich liebst und mit dem du auch leben möchtest? Schau, wenn dir einer gut genug ist, der Vater deines Kindes zu werden, so muß er doch so viele Vorzüge besitzen, daß du es wagen könntest. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß du einen x-beliebigen Mann zum Vater deines Kindes machen wolltest.«

»Natürlich nicht«, erklärte Julia bestimmt. »Im Gegenteil, ich würde sehr genau wählen, und er müßte ganz bestimmte innere und äußere Vorzüge besitzen.«

»Ich finde es ekelhaft, wie du darüber so – so kühl reden kannst, als handele es sich um die Auswahl eines guten… na, ich sage lieber nicht, was ich meine, du verstehst es wohl auch so.«

»Allerdings«, sagte Julia und lächelte überlegen. »Genauso ist es. Ich will in diesen Mann keine Gefühle investieren, aber ihn achten können und wissen, daß er als Mensch wertvoll ist, daß mein Kind von ihm gute Erbanlagen mit auf die Welt bekäme.«

»Du redest wie ein Biologe, wie ein Vererbungsforscher, gräßlich! Wenn ich dich nicht lange genug kennen würde, liebe Julia, du wärest mir direkt unsympathisch.«

»Tue deinen Gefühlen keinen Zwang an«, entgegnete Julia nun merklich kühler. Und sie dachte, daß sie wohl besser daran getan hätte, Viktoria nicht in ihre Pläne einzuweihen.

»Sei nicht eingeschnappt«, sagte Vicky versöhnlich. »Schau, ich bin deine Freundin und werde es bleiben, aber du kannst deshalb nicht verlangen, daß ich immer alles billige, was du tust. Mit einer, die dir nach dem Mund redet, ist dir schließlich auch nicht gedient, oder? Na, siehst du. Wenn dein Entschluß feststeht, will ich jetzt meinen Protest zurückhalten und gern mit dir über die Verwirklichung sprechen, denn das wolltest du doch, nicht?«

Julia nickte.

»Wie du weißt, bin ich durch die Erbschaft meiner Großmutter nun eine vermögende Frau, frei in meinen Entscheidungen und vor allem frei von jedem beruflichen Zwang.«

»Stimmt, du könntest einem Kind eine finanziell gesicherte Zukunft bieten. Manche Eltern können das immerhin nicht, und es ist für ein Kind natürlich schon ein Plus«, gab Vicky zu. »Ich dachte allerdings, du liebtest deinen Beruf so sehr, daß du ihn nie aufgeben wolltest? Schließlich bist du eine sehr beschäftigte Schauspielerin und…«

»Vollbeschäftigt stimmt zwar«, fiel Julia ihr ins Wort, »aber keine der ersten Garnitur. Und das wünscht sich eigentlich jede in meinem Beruf. Ich habe meine Theaterengagements, mache Hörspiele im Radio und liefere Synchronstimmen für Film und Fernsehen. Man kennt meine Stimme vielleicht, mich selbst aber höchstens in ein paar Provinzstädten. Ich verzichte nicht auf großen Ruhm, wenn ich das alles aufgebe. Hundert andere springen nur zu gern für mich ein, unersetzlich bin ich also nicht. Soll ich so weitermachen, bis ich unter den komischen Alten rangiere, wo ich es doch finanziell nicht mehr nötig habe? Soll ich heiraten, um meines Geldes wegen geheiratet zu werden?«

»So wie du aussiehst, wird dich jedermann um deiner selbst wollen«, sagte Vicky neidlos und schaute

die Freundin an. Julia war eine wirkliche Schönheit! Sie war mittelgroß, besaß eine ausgezeichnete Figur und ein wunderschönes, ausdrucksvolles Gesicht mit schmaler gerader Nase, mandelförmigen dunklen Augen und einem vollen, gutgeschnittenen Mund. Aschblondes, leicht gelocktes Haar kontrastierte ganz eigenartig zu den dunklen Augen und einem auch im Winter stets leicht gebräunten Teint. »Hast ja schließlich auch vor deiner Erbschaft etliche Männer gekannt, die dich vom Fleck weg geheiratet hätten, oder?«

»Du weißt, Vicky, daß gutes Aussehen nicht immer ein Vorzug ist. Man gerät an Männer, die sich mit einem schmücken wollen wie… na, wie mit einem schicken Auto beispielsweise. Schauspielerin dazu, auch das reizt. Du hast ja teilweise meine Enttäuschungen miterlebt. Nicht jede Frau hat solch ein Glück wie du mit deinem Peter.«

»Stimmt.« Vicky nickte überzeugt, und ihr zumeist freundliches Gesicht strahlte von innen heraus. Sie war seit vier Jahren mit einem Zahnarzt verheiratet und sehr glücklich mit ihm. Peter Fabian war der Typ des ruhigen, gutmütigen Mannes, der im häuslichen Alltag seiner Frau die Führung überließ, sich und seine Aktivitäten auf den Beruf konzentrierte. Sie hatten einen kleinen Buben von drei Jahren, ein reizendes Kerlchen, keine finanziellen Sorgen, ein hübsches Haus – nichts fehlte zu ihrem Glück. Vicky war eine reizende Frau, nicht eigentlich hübsch, aber sehr sympathisch und eine aufrichtige Freundin dazu, wie Julia in den langen Jahren, da sie sich kannten, immer wieder festgestellt hatte.

»Muß es unbedingt ein eigenes Kind sein?« fragte Vicky nach einer Weile. »Es gibt doch so viele bedauernswerte Würmchen, die in Waisenhäusern ein liebearmes Leben führen. Wenn du dir nun dort ein Kind aussuchtest und zunächst in Pflege nimmst, das wäre doch auch eine Möglichkeit, findest du nicht?«

»Ich hatte es gelegentlich auch erwogen«, erwiderte Julia überraschend. »Aber dann sagte ich mir, daß ich doch eine gesunde Frau bin, die ein eigenes Kind haben könnte, und ich kam wieder davon ab.«

»Aber für dich, in deiner Lage, wäre es doch viel einfacher, zu einem Kind zu kommen, meinst du nicht auch?« beharrte Vicky.

»Deinen Thomas, den nähme ich jedenfalls sofort!« Julia lächelte.

»Siehst du, also müßte es vielleicht gar kein eigenes sein!«

»Ach, ich weiß nicht recht. Man weiß doch gar nicht, woher so ein Kind kommt. Es mag süß und hübsch sein, aber – um wieder wie ein Biologe zu sprechen, wie du vorhin so kritisiert hast – über seine Anlagen weiß man doch wenig und…«

»Aber man kann es doch erfahren. Den Jugendämtern ist doch die Herkunft eines jeden Kindes bekannt«, warf Vicky ein.

Julia sagte nichts, schaute jedoch skeptisch vor sich hin.

»Soll ich uns mal bei dem Heim anmelden, das mir bekannt ist?« Vicky ließ nicht locker.

»Ich glaube, man gibt Kinder immer nur Elternpaaren«, meinte Julia daraufhin. »Eine Adoption ist auch schwierig für Alleinstehende. Vergiß nicht, eine Schauspielerin wird oftmals noch mit einer unsoliden Person gleichgestellt, und man wird mich am Ende nicht für seriös genug befinden.«

»Na, das bliebe noch abzuwarten. Du wirkst nicht wie so ein Sexfilmsternchen, du bist eine großartige und ernsthafte Schauspielerin, eine gescheite und gewissenhafte Person, die etwas, was sie sich vorgenommen hat, auch nach besten Kräften durchführen wird.«

»Danke für die Blumen, Vickylein. Ich könnte dich direkt zu meiner Fürsprecherin machen.«

»Klar, wenn du mal eine brauchst, Peter und ich sind zur Stelle.«

Anschließend lenkte Vicky das Thema in andere Bahnen. Sie dachte, daß Julia das alles noch einmal durchdenken sollte und nicht zu etwas gedrängt werden durfte, was sie nicht wirklich wollte.

*

Die hübsche kleine Villa, die Julia in einem vornehmen, aber älteren Stadtteil bewohnte, hatte sie von ihrer Großmutter geerbt. Die alte Dame war zu ihren Lebzeiten ziemlich knauserig gewesen. Julias Berufswahl hatte sie nie gebilligt. Eine Schauspielerin galt für sie als unsolide. Da jedoch keine anderen Erben vorhanden waren, hatte sie ihr Testament schließlich doch zu Julias Gunsten verfaßt. Diese hatte das nie zu hoffen gewagt, denn die Kontakte zwischen der verschrobenen alten Frau und Julia waren weder besonders eng noch herzlich gewesen.

Doch nun gehörte ihr das schöne alte Haus, das in einem herrlichen, parkähnlichen Garten lag, dazu ein stattliches Vermögen, allerlei Beteiligungen und Aktienpakete.

Julia setzte sich in einen der modernen Sessel, die sie vor dem Fenster zu einer gemütlichen Sitzgruppe zusätzlich erworben hatte. Sie schaute hinaus in den Garten mit seinen schönen alten Bäumen, dem hoch aufgeschossenen, verwilderten Rasen. Sie rekapitulierte das Gespräch mit der Freundin und fragte sich, ob es für sie eine Lösung bedeutete, wenn sie deren Vorschlag befolgen und ein fremdes Kind zu sich nehmen würde.

Es fanden sich Für und Wider, und sie sah sich außerstande, zu einem Entschluß zu kommen. Schließlich griff sie zu einem Rollenbuch, um einen neuen Text zu lernen.

»Du willst wirklich mit mir ein Kinderheim aufsuchen?« sagte Vicky erfreut. »Prima, Julia, daß du dich dazu entschlossen hast. Es ist ein Versuch, und wir werden ja sehen, wie du hinterher denkst. Ich werde mich in dem mir bekannten Heim sofort um einen Termin bemühen. Wann paßt es dir denn am besten? Gleich in den nächsten Tagen nachmittags? Gut, ich melde uns an.«

Und dann war es soweit. Beide Frauen waren etwas nervös, als sie schließlich vor der Tür des Heimes standen und auf Einlaß warteten. Sie wurden in das Büro der Heimleiterin geführt und machten sich bekannt. Frau Beier, so hieß die Dame, war eine sympathische Endvierzigerin, graumeliert und mütterlich-rundlich.

»Sie wünschen ein Kind zu adoptieren?« fragte sie, nachdem man Platz genommen hatte, und schaute unwillkürlich Vicky an.

»Nein, ich«, sagte Julia und bekam einen erstaunten Blick, der an ihrem eleganten Kleid, das aus einer exquisiten Boutique stammte, herunterging.

»Aha. Und Ihr Gatte wäre einverstanden?« fragte sie dann.

Julia und Vicky wechselten einen Blick.

»Ich bin nicht verheiratet«, erklärte Julia wahrheitsgemäß.

Frau Beiers Gesicht bekam sogleich einen ablehnenden Zug.

»Ja, so… also wissen Sie, wir sehen so, im allgemeinen lieber, wenn unsere Kinder in kompletten Familien oder jedenfalls bei Ehepartnern unterkommen. Es ist ja elterliche Liebe, die ihnen fehlte, die sollten sie durch eine Adoption möglichst bekommen. Einzelpersonen – ganz gleich ob Mann oder Frau – bekommen sehr schwer die Genehmigung zur Adoption. Ich will sagen, bei ihnen wird doppelt kritisch geprüft, ob sie fähig und in der Lage sind, ein Kind mit allen Verantwortungen aufzuziehen. Darf ich fragen, was für einen Beruf Sie haben?«

»Ich bin Schauspielerin«, antwortete Julia, und ihre Stimme klang ein wenig aggressiv, weil sie die Reaktion der Heimleiterin schon voraussah. Und richtig, deren Miene wurde gleich noch um einiges bedenklicher.

»Schauspielerin – oh – aber – da sind Sie doch viel fort und können sich gar nicht so um ein Kind kümmern«, wandte sie ein.

Siehst du, stand in Julias Blick zu lesen, mit dem sie Vicky anschaute, siehst du, man will mich ja gar nicht!

»Meine Freundin wird ihren Beruf aufgeben, wenn sie ein Kind finden würde, das sie zu sich nehmen möchte«, sagte Vicky schnell und fügte auch hinzu, daß Julia in besten Verhältnissen und in einem schönen Haus lebte und einem Kind alles bieten könnte, was es zu seinem Wohlbefinden und für seinen späteren Ausbildungsweg benötigte.

Julia fand, daß Vicky zu ausführlich wurde und sie geradezu anpries. War das denn nötig? Konnten die es sich hier leisten, voreingenommen zu sein, wenn sie so viele Kinder hatten, die in Heimen verkümmerten? Julia dachte nicht daran, daß sie ungerecht urteilte. Man mußte schließlich bestrebt sein, jedes Risiko für die Kinder auszuschalten, denn eine Sache, die schiefging, ging ja immer zu Lasten der bedauernswerten Kinder.

Julia setzte zum Reden an, aber Vicky gab ihr einen kleinen Stubs mit dem Fuß. Zu offen war in ihrem Blick zu lesen, was kommen mußte.

»Könnten wir uns wohl einmal hier umsehen, damit meine Freundin erst einmal eine Vorstellung von den Kindern bekommt, die hier bei Ihnen leben?« fragte Vicky.

Frau Beier nickte. »Sicher, das können Sie natürlich gern.« Und sie dachte bei sich, daß die elegante Schauspielerin dann vielleicht ohnehin von ihren Plänen absehen würde. Es war einfach, sich vorzustellen, daß man ein Kind zu sich nahm, aber wenn dann Vorstellungen zu Personen wurden und alles sehr greifbar, schreckten manche doch zurück.

Die drei Frauen erhoben sich.

»Wir haben jetzt Freizeit«, erklärte Frau Beier, während sie den beiden anderen voran den Flur entlangging. »Da finden Sie die Kinder bei ihren Lieblingsbeschäftigungen im Haus und Garten.«

Sie öffnete eine Tür.

»Hier ist das Lesezimmer für unsere kleinen Leseratten«, sagte sie und ließ Julia und Vicky eintreten.

Die kleine Bibliothek wies wohlgefüllte Regale an den Wänden auf, und in der Mitte des Raumes war eine Sitzgruppe, wo einige Kinder saßen. Sie erwiderten den Gruß der beiden Damen und schauten sie neugierig an. Sie waren es gewohnt, daß hin und wieder Besucher kamen, aber immer wieder bemächtigte sich ihrer eine große Spannung. Es handelte sich ja meistens um Adoptionswillige, und jedes der Kinder fragte sich erwartungsvoll, ob jemand von ihnen und wer dann ausgewählt werden würde. Die Mehrzahl aller Heimkinder wünschte sich, adoptiert zu werden, sie träumten von Eltern, die sie liebten, und ihnen die fehlende Nestwärme gaben.

Frau Beier stellte die Kinder vor.

»Das ist unsere Marina«, sie wies auf das zunächst sitzende, etwa zwölfjährige Mädchen, das nun aufstand, bis über beide Ohren rot werdend. »Sie ist ein lesewütiges Mädchen, nicht wahr, Marina, bald hast du alle unsere Bücher ausgelesen?« Sie strich dem blonden Mädchen mit den kurzen Haaren und den blauen Augen über den Schopf.

Marina nickte schüchtern.

»Und da ist Robby, unser Wildfang!« Sie zeigte auf einen Zehnjährigen mit frechem Lausbubengesicht, der nun sein Buch beiseite legte.

»Ist das jemand, der ein Adoptionskind sucht?« fragte er und schaute Julia mit großen Augen an. War die aber mal hübsch! Und so schick! Mensch, mit solcher Mutter könnte man aber die anderen schön neidisch machen! Ein hungriger Ausdruck trat in seine Augen, und seine Keßheit, die für ihn ein Schutzpanzer war, schwand dahin. So eine nahm ihn ja doch nicht! Die suchten immer blondgelockte kleine Mädchen von zwei bis vier Jahren, die sie verwöhnen konnten wie kleine Prinzessinnen.

»Hier sind bloß Große«, erklärte Robby altklug. »Die kleinen niedlichen Kinder sind unten im Sandkasten.«

Julia als Schauspielerin hatte ein feines Ohr für menschliche Zwischentöne, und sie empfand die Resignation des Jungen, die aus seinen Worten sprach. Die Hoffnungslosigkeit, hier je herauszukommen.

Julia lächelte ihn an.

»Na, so schrecklich alt ist man mit Zehn ja wohl auch noch nicht, finde ich.«

»Aber die meisten suchen Kleine, nicht wahr, Frau Beier?« wandte er sich an die Heimleiterin.

Die lächelte auch bedauernd.

»So ist es leider. Diese Erfahrung können wir unseren größeren Kindern leider nicht ersparen.«

»Die denken, wir sind frecher«, warf Robby ein und zog sich tiefsinnig am Ohrläppchen.

»Was leider manchmal auch stimmt, sei ehrlich«, Frau Beier lächelte. »Und nun wollen wir noch zu den anderen hinuntergehen«, sagte Frau Beier und öffnete die Tür.

Während Julia hinausging, schaute sie sich noch einmal um, und ihr Blick traf den von Robby. Nun geht sie wieder, ich hatte ja recht, so glaubte sie deutlich darin zu lesen. Irgendwie gab es ihr einen Stich.

Sie sahen noch ungefähr vierzig Kinder, kleine und größere. Reizende Kinder waren dabei, besonders bei den Zwei- bis Fünfjährigen.

»Schau dir die an«, flüsterte Vicky Julia bei einer süßen Dreijährigen zu. »Ist die nicht zum Fressen?«

Julia nickte zwar, aber es war ganz sonderbar, sie mußte an den kleinen Lausbuben im Lesezimmer denken und wie er seine Meinung wieder bestätigt sehen würde, wenn auch sie, wie anscheinend die meisten, sich solch einen hübsch anzusehenden Fratz heraussuchen würde.

»So, nun haben Sie alle gesehen«, sagte Frau Beier, als sie zuletzt noch im Werkraum gewesen waren, wo die Kinder malten und bastelten. »Sie sehen, wir haben hier einen Querschnitt durch alle Altersklassen.«

»Sind alle zur Adoption freigegeben?« fragte Vicky sachlich.

»Nein, natürlich nicht. Es sind die sogenannten Scheidungswaisen darunter, die natürlich noch Eltern haben und nur wegen gewisser Umstände hier sein müssen. Und es gibt auch Mütter, die sich zwar niemals um ihre Kinder kümmern, dennoch keine Adoptionserlaubnis erteilen.«

»Und der kleine Robby vom Lesesaal?« fragte Julia. »Was ist mit dem?«

Erstaunt schaute Frau Beier sie an. Gerade von ihr hatte sie gemeint, wenn sie sich überhaupt für ein Kind interessierte, dann gewiß für eines der niedlichen kleinen Mädchen.