Man muß nur zu leben wissen - André Couteaux - E-Book

Man muß nur zu leben wissen E-Book

André Couteaux

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Beschreibung

Arbeit macht das Leben süß, so will man uns einreden. Wer hätte da nicht seine Zweifel? Wer träumte nicht von Zeit zu Zeit davon, die Arbeit anderen zu überlassen und dennoch reich zu sein und glücklich? Ein scheinbar unlösbares Problem und dabei so einfach zu bewältigen, wie sich zeigt: In diesem Roman erzählt ein Lebenskünstler von Beruf und aus Berufung zu Nutz und Frommen aller, die gleich ihm den Hang zum süßen Nichtstun spüren, die Geschichte eines wundersamen Aufstiegs zu Reichtum, Ruhm und Glück. «Arbeite nie!» lautet die goldene Lebensregel, die Antoine von seinem weisen Großvater mit auf den Weg gegeben wird, und Antoine beherzigt diesen Rat, der seinen Neigungen entgegenkommt, getreulich. Nur einmal, als ihm das Geld ausgeht, erliegt er der Versuchung, sich seinen Lebensunterhalt wie andere Menschen zu verdienen, und scheitert prompt – er ist zur Arbeit nicht geschaffen. Und so beschließt er reuig, fortan von nichts, das heißt: auf Kosten anderer zu leben. Mit Phantasie und dem ihm angeborenen Charme schafft er sich Zugang zu der Welt der Reichen, und schon bald ist er in vielen eleganten Häusern von Paris ein gerngesehener und begehrter Gast. Jeder mag den wohlerzogenen jungen Mann und amüsanten Plauderer, und niemand nimmt ihm übel, daß er so leicht vergißt, die kleinen und die großen Summen, die er sich bisweilen borgt, zurückzuzahlen. Aber selbst ein Prophet der Faulheit gilt nichts in seinem Vaterlande oder nur wenig, und so geht Antoine in dem Gefühl, daß er zu Höherem berufen ist, auf Reisen, um auch die Reichen anderer Länder mit seiner Freundschaft zu beglücken … Mit französischem Witz und Esprit erzählt Couteaux diese Lebensgeschichte eines Faulenzers – eine liebenswerte, charmante Eulenspiegelei, die gute Laune macht und ein paar Stunden ungetrübten Lesevergnügens schenkt.

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Seitenzahl: 269

Veröffentlichungsjahr: 2018

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André Couteaux

Man muß nur zu leben wissen

Aus dem Französischen von Theodor Christaller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Arbeit macht das Leben süß, so will man uns einreden. Wer hätte da nicht seine Zweifel? Wer träumte nicht von Zeit zu Zeit davon, die Arbeit anderen zu überlassen und dennoch reich zu sein und glücklich? Ein scheinbar unlösbares Problem und dabei so einfach zu bewältigen, wie sich zeigt: In diesem Roman erzählt ein Lebenskünstler von Beruf und aus Berufung zu Nutz und Frommen aller, die gleich ihm den Hang zum süßen Nichtstun spüren, die Geschichte eines wundersamen Aufstiegs zu Reichtum, Ruhm und Glück. «Arbeite nie!» lautet die goldene Lebensregel, die Antoine von seinem weisen Großvater mit auf den Weg gegeben wird, und Antoine beherzigt diesen Rat, der seinen Neigungen entgegenkommt, getreulich. Nur einmal, als ihm das Geld ausgeht, erliegt er der Versuchung, sich seinen Lebensunterhalt wie andere Menschen zu verdienen, und scheitert prompt – er ist zur Arbeit nicht geschaffen. Und so beschließt er reuig, fortan von nichts, das heißt: auf Kosten anderer zu leben. Mit Phantasie und dem ihm angeborenen Charme schafft er sich Zugang zu der Welt der Reichen, und schon bald ist er in vielen eleganten Häusern von Paris ein gerngesehener und begehrter Gast. Jeder mag den wohlerzogenen jungen Mann und amüsanten Plauderer, und niemand nimmt ihm übel, daß er so leicht vergißt, die kleinen und die großen Summen, die er sich bisweilen borgt, zurückzuzahlen. Aber selbst ein Prophet der Faulheit gilt nichts in seinem Vaterlande oder nur wenig, und so geht Antoine in dem Gefühl, daß er zu Höherem berufen ist, auf Reisen, um auch die Reichen anderer Länder mit seiner Freundschaft zu beglücken …

Über André Couteaux

André Couteaux, 1933 als Sohn eines belgischen Vaters und einer russischen Mutter in Ankara geboren, studierte in der Schweiz und in England. Er war Pressekorrespondent für englische, deutsche und italienische Zeitungen und unternahm Reisen in viele Länder, besonders in den Nahen Osten. 1962 erhielt er den Prix Courteline, 1967 den Gran Prix de l’Humour für den Bestseller «Frau für Vater und Sohn gesucht».

Inhaltsübersicht

Für François und ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel

Für François und Renate Gueyraud

1

Mein Großvater war ein aufgeklärter Mann. Er hatte nach sechs Ehejahren seine Frau zu Grabe getragen und war nie auch nur auf den Gedanken gekommen, ihr Dahinscheiden zu beklagen.

Er hatte zwei Söhne gezeugt. Der eine fiel im Krieg, der andere kam bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Letzterer war mein Vater.

Meine Mutter legte Trauerkleidung an, die ihr bezaubernd stand, und ließ sich zwei Jahre später von einem vornehmen Herrn ehelichen, für den ich Luft war. Ich habe sie nicht wiedergesehen.

Doch dürfte wohl kein Waisenknabe je so glücklich gewesen sein, wie ich es unter der Obhut meines Großvaters war. Als ehemaliger Rechtsanwalt erfreute er sich allgemeiner Wertschätzung, die er teils einem angeborenen Talent, teils seinen Kenntnissen verdankte und nicht zuletzt der Kunst, gepfefferte Honorare einzustreichen. Auch nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, beriet er noch den einen oder anderen Klienten, verbrachte jedoch die meiste Zeit damit, sein Vermögen zu verwalten oder ganz einfach nichts zu tun. Er wohnte auf dem Land in einem Haus mit fünfzehn Zimmern, rauchte brasilianische Zigarren, las Kriminalromane, ritt, kaufte sich bei j eder Gelegenheit ein neues Auto und kam abends immer erst spät nach Hause, wobei er sich allerdings größte Mühe gab, daß ich ihn nicht hörte, denn er glaubte an die Macht des guten Vorbilds.

Er schlief wenig. Frühmorgens stand er auf, machte alsdann einen Spaziergang oder ritt aus, je nach Lust und Laune, und begab sich bei schönem Wetter anschließend zum «Tempel» ganz am Ende des Gartens.

Dieser «Tempel», eine Rotunde, war eine künstlich angelegte Ruine, die ein philosophisch angehauchter und zu Anzüglichkeiten neigender Urururgroßvater der Göttin Venus errichtet hatte. Er erhob sich auf einem Erdwall nahe der Gartenmauer, unmittelbar oberhalb der Nationalstraße, und erinnerte so in aller Öffentlichkeit an den losen Lebenswandel jenes Vorfahren, der unter Ludwig XVI. von seiner Frau betrogen worden und wohl deshalb bis in die Restaurationszeit hinein ein erbitterter Republikaner geblieben war. Hier genoß mein Großvater den Frieden der frühen Morgenstunden. Mehr als alles andere liebte er das Licht des anbrechenden Tages und jene bald schwermütigen, bald heiteren Farben, die das erste Dämmern am Himmel und dann die Morgenröte den Dingen verleihen. Gewöhnlich nahm er ein Buch mit und biß beim Lesen von Zeit zu Zeit in einen Apfel oder eine Birne. Zuweilen stöberte ich ihn dort auf, vor allem, wenn ich etwas auf dem Herzen hatte und Trost brauchte. So fand ich ihn eines Tages in eine Abhandlung über öffentliches Recht vertieft. Diesmal verzehrte er Pflaumen.

«Du bist ja früh dran», sagte er. «Was macht dir Kummer?»

«Mein Abitur. In ein paar Tagen bin ich dran!»

«Wie löblich, daß du dir darum Sorgen machst», sagte mein Großvater. «Als ich so alt war wie du, hatte ich ganz andere Dinge im Kopf. Mach’s wie ich, und laß dir keine grauen Haare wachsen! Ich denke doch, du bestehst die Prüfung. Und selbst wenn du durchfällst – darum geht die Welt nicht unter. Einer der schönsten Lebensabschnitte liegt jetzt vor dir. Genieße diese Zeit. Natürlich, dazu brauchst du einiges Geld. Aber das laß meine Sorge sein. Nachher stelle ich dir einen Scheck aus. Dann kannst du alle Dummheiten begehen, die du nur willst. Vor allem laß dir nichts entgehen – so lernst du am besten, das Leben zu bestehen.»

«Ich danke dir», sagte ich. «Ich werde dich über meine Taten auf dem laufenden halten.»

«Das soll mir recht sein! Dann komme ich auch auf meine Kosten!» antwortete er. Und scheinheilig fügte er hinzu: «In meinem Alter weiß man das zu schätzen.»

«Wie alt bist du eigentlich?» fragte ich ihn im Spaß.

«Zweiundsechzig. Aber wenn dich wer fragt, dann sag, ich sei fünfundfünfzig. Hm – wovon sprach ich doch gerade?»

«Von den Dummheiten, die ich deiner Ansicht nach begehen soll.»

«Die du begehen mußt! Bis jetzt hast du ja noch so gut wie nichts angestellt, und das beunruhigt mich allmählich. Am Ende wirst du noch ein Intellektueller oder ein Pedant, und beides würde dir nichts nützen. Auf den Charme kommt es an! Viele Jahre lang werden dein blonder Haarschopf und dein Engelsgesicht deine besten Trümpfe sein. Sorge dich also nicht länger um Schule und Studium, sondern trachte danach, glücklich zu sein. Man muß es lernen wie alles andere im Leben auch, und je eher du damit anfängst, desto besser. Du weißt, wir sind nicht ganz arm, und später wirst du mich einmal beerben. Du brauchst dir also keine Gedanken um deine Zukunft zu machen. Achte von jetzt an darauf, daß du deinen angeborenen Charme entfaltest. Er wird dich vor allem Unglück bewahren. Glaub mir, du mußt nur charmant sein, dann hast du stets und überall Erfolg.»

Bei diesen Worten zog mein Großvater eine von den Zigarren heraus, die er rechts und links in seinen Westentaschen bei sich zu tragen pflegte wie ein Kosak seine Patronen. Mit einem kleinen silbernen Taschenmesser kappte er die Spitze. Ein Vogel trillerte. Ich betrachtete diesen Mann, der mir zugleich Vater, Mutter, Bruder und bester Freund war, und es schien mir undenkbar, daß er jemals sterben könnte. Er hatte ein frisches, beinahe faltenloses Gesicht, seine Augen waren von einem leuchtenden Blau und seine Lippen schön geschwungen. Charmant sein, das bedeutete für mich, so zu sein wie er.

«Und wie wird man ein charmanter Mann?» fragte ich.

Er dachte einen Augenblick nach.

«Dafür gibt es keine Regel», sagte er. «Außer vielleicht dieser einen: Arbeite nicht zuviel. Mach Schluß mit dem Aberglauben, Faulheit sei ein Charakterfehler. Ganz im Gegenteil: Müßiggang ist der Ursprung aller Tugenden und nicht, wie immer behauptet wird, aller Laster Anfang. Denn er befreit uns von jeglichem Zwang und ermöglicht so den uns angeborenen Tugenden, daß sie in göttlicher Freiheit blühen und gedeihen. Durch ihn und durch ihn allein vollbringen wir Großes. Schon Aischylos hat gesagt: ‹Alles Göttliche geschieht ohne Mühe.› Ja, die Faulheit ist göttlichen Ursprungs. Hat nicht die Erbsünde den Menschen dazu verdammt, im Schweiße seines Angesichts sein Brot zu essen? Nun, daraus folgere ich erstens, daß der Mensch vor dem Sündenfall im Zustand des Nichtstuns lebte, und zweitens, daß wir uns ganz von selber wieder dem Urzustand der Vollkommenheit nähern, wofern wir uns nur gewissenhaft der Faulheit hingeben. Dem wohnt eine so tiefe Wahrheit inne, daß die ehrwürdigsten Religionen jede Arbeit an dem Tag, der Gott geweiht ist, untersagen. Kein frommer Moslem arbeitet am Freitag, kein Jude am Samstag, kein Christ am Sonntag. Demnach kann der Mensch der göttlichen Majestät seine Ehrfurcht offenbar am besten bezeugen, indem er der Ruhe pflegt. Zweifellos liegt hierin auch der tiefere Grund für den eigentümlichen Frieden, den wir am Sonntag empfinden. Ist es doch der einzige Tag, an dem das Geschöpf mit Fleiß den Willen seines Schöpfers tut – nämlich nichts.»

Diese Ausführungen versetzten mich in Entzücken. Ich hoffte, mein Großvater würde in seiner Rede fortfahren, aber er verfiel in Schweigen. Er steckte die Zigarre, die er inzwischen gestutzt hatte, wieder in seine Westentasche und nahm eine andere heraus, um sie der gleichen Prozedur zu unterziehen. Jeden Morgen bereitete er so ein halbes Dutzend Zigarren vor, die er dann im Verlauf des Nachmittags rauchte. Seine Augen strahlten in mildem Glanz. Er schien über irgend etwas nachzudenken und lächelte still vor sich hin. Behutsam versuchte ich, ihn wieder auf sein Thema zu bringen.

«Eines verstehe ich nicht recht», sagte ich. «Du glaubst also nicht, daß Gott ein und derselbe ist, der gleiche für uns alle, und daß wir alle gleichermaßen seine Kinder sind?»

«Doch, gewiß … Aber ich sehe nicht den Zusammenhang. Worauf willst du hinaus?»

«Ich meine, indem wir uns nur am Sonntag ausruhen, machen wir doch gewissermaßen einen Unterschied zwischen den Religionen, den Gott selber ganz bestimmt nicht macht. Meines Erachtens sollten wir uns ihm zu Ehren ebenso am Freitag gemeinsam mit den Moslems ausruhen und am Samstag gemeinsam mit den Juden. Auf diese Weise würden wir wenigstens einen universalen und damit wahrhaft katholischen Geist beweisen.»

Mein Großvater warf mir einen belustigten, zugleich jedoch bewundernden Blick zu, der mich mit Stolz erfüllte. Mit diesem Ausdruck muß der Hexenmeister gelegentlich seinen Zauberlehrling angesehen haben.

«Mein Junge! Mein lieber Junge!» rief er fröhlich. «Du hast wahrhaftig Blut von meinem Blut. Nun brauchst du diese vortrefflichen Grundsätze nur noch in die Praxis umzusetzen. Freilich, im Abitur fällst du dann wahrscheinlich durch, aber du wirst ein gutes Gewissen dabei haben. Und was mich anlangt, so will ich gleich heute abend einen Brief an den Papst schreiben und ihm vorschlagen, er möge es uns zur Pflicht machen, auch die Feiertage der Moslems und der Juden zu heiligen. Das würde uns der Vereinigung aller Religionen, die, wie mir versichert wurde, eines der Hauptanliegen des Heiligen Vaters ist, einen großen Schritt näherbringen.»

Er sagte das mit todernster Stimme, und wenn man ihn so hörte, hätte man glauben können, er sei tatsächlich fest entschlossen, dem Pontifex maximus zu schreiben. Aber ich kannte ihn zu gut und wußte, was hinter diesem gespielten Ernst steckte. Seit langem schon hatte er den Glauben an die Macht der Vernunft aufgegeben und fand nur noch Spaß an scheinbar absurden Theorien. Vielleicht hoffte er insgeheim, durch sie auf unbekannte Wahrheiten zu stoßen. Diesem Spiel widmete er sich mit dem feierlichen Ernst eines Kindes, das mit seiner elektrischen Eisenbahn spielt.

«Und wer weiß», fuhr er fort, «ob wir nicht eines Tages erleben, daß die Trägheit von der Liste der Todsünden gestrichen wird, auf der sie, nebenbei gesagt, schon jetzt nur noch an letzter Stelle steht. Irgendwann werden die Menschen schon noch begreifen, daß es kein größeres Glück im Leben gibt als das Nichtstun. Wie sollte auch ein Mensch, der in seiner Arbeit aufgeht, das Leben genießen können? Woher sollte er die Zeit nehmen, glücklich zu sein und andere Menschen kennenzulernen, welches doch eine der edelsten Freuden ist, die das Leben uns zu bieten vermag … und überdies die Grundbedingung für eine wohlverstandene Nächstenliebe? Glaub mir, was ich dir sage! Arbeite nie!»

Lachend erhob er sich und steckte seine Zigarre ein.

«Gehn wir», sagte er. «Ich mache noch einen kleinen Spaziergang, ehe die Sonne zu hoch steht. Es wird ein heißer Tag werden. Ich hoffe, dich beim Mittagessen zu sehen. Danach können wir zusammen eine Partie Schach spielen, wenn du willst. Später muß ich zu einer wichtigen Verabredung in die Stadt. Zum Abendessen werde ich wohl nicht zu Hause sein …»

Mit diesen Worten verließ er mich.

Wenige Tage darauf fiel ich durchs Abitur, und zum Trost nahm mich mein Großvater mit nach Schottland, wo er eine Cousine besuchte, eine auffallend junge Frau, mit der wir vermutlich kaum näher verwandt waren als über unseren gemeinsamen Vater Adam. Aber die Cousine war ein so hinreißendes Wesen und Schottland ein so romantisches Land, daß ich nicht zögerte, auch meinerseits wahlverwandtschaftliche Bande zu knüpfen.

Als wir zurückkehrten, hatte ich zwar mein Englisch beträchtlich aufpoliert, aber bei der Prüfung im September erlitt ich erneut eine Schlappe. Um mir abermals Trost zu spenden, fuhr mein Großvater zwei Monate später mit mir zum Wintersport nach Österreich, wo wir weitere Cousinen aufspürten. Dieses Wintersportvergnügen zog sich bis in den März hinein. So erlernte ich unter Anleitung meines Großvaters die Kunst, glücklich zu sein.

Erst im darauffolgenden Jahr bestand ich das Abitur. Kurz darauf brach der Krieg aus.

Die Niederlage ließ nicht auf sich warten. Wir bekamen die Besatzung ins Land und ins Haus. In unserem speziellen Fall erlebten wir sie in Gestalt eines preußischen Oberstleutnants und vorzüglichen Juristen, von dem mein Großvater ebenso angetan war wie jener von ihm. Gemeinsam tüftelten sie die raffiniertesten juristischen Schachzüge aus und retteten auf diese Weise vielen Menschen das Leben. Eines Tages wurde der Oberstleutnant abgeholt und nach Dachau gebracht, weil er mit den Franzosen kollaboriert hatte – ein in der Geschichte jenes Krieges vermutlich nicht allzu häufiger Fall. Aber er hatte kollaboriert.

Auch mein Großvater, der mit einem Deutschen kollaboriert hatte, wurde der Kollaboration angeklagt und eingesperrt. Bei der Gerichtsverhandlung zog er sich als sein eigener Anwalt aus der Klemme. In seinem berühmt gewordenen Plädoyer legte er dar, daß er mit einem Kollaborateur kollaboriert hatte, und die Richter, stets Freunde klarer Verhältnisse, ließen ihn frei, verurteilten ihn jedoch zu einer enormen Geldbuße. Nur mit Mühe konnte er den Betrag aufbringen. Diese Erfahrungen hinterließen ihre Spuren bei meinem Großvater, und er sollte nie mehr ganz darüber hinwegkommen. Zudem lag unser Besitz an einer strategisch wichtigen Straße und wurde infolgedessen – mehr oder weniger zufällig – bombardiert und beschossen und der Reihe nach von Besatzern, Befreiern und Befreiten geplündert. Die Geldbuße und die allgemeine Geldentwertung taten ein übriges, und so waren wir schließlich völlig ruiniert. Als ich unser Haus zum letztenmal sah, war es nur noch ein Haufen Trümmergestein zwischen rauchgeschwärzten Mauerresten. Die künstliche Ruine des kleinen Venustempels ganz am Ende des Gartens wirkte jetzt endlich wie eine echte Ruine.

Ein Universitätsprofessor, der gerade im rechten Augenblick einen Ruf nach Peru erhalten hatte, stellte uns seine Wohnung in Paris zur Verfügung. Kaum hatten wir uns dort eingerichtet, wurde mein Großvater bettlägerig. Das wenige Geld, das ihm geblieben war, verwandte er darauf, mein Studium zu finanzieren und sich aus der Schweiz seine geliebten brasilianischen Zigarren schicken zu lassen.

Eines Morgens, als ich ihm sein Frühstück brachte, kam er mir noch matter vor als gewöhnlich.

«Ich fürchte», sagte er, «nun mußt du doch arbeiten.»

Ich versicherte ihm, davon könne nicht die Rede sein. Er lächelte, und ich glaube, er ist zufrieden gestorben.

2

Nachdem ich meine Tränen getrocknet hatte, stellte ich fest, daß ich praktisch mittellos dastand. Mein Großvater hatte mir zwar viele gute Bücher hinterlassen, aber so wenig Bargeld, daß ich kaum ein paar Monate davon leben konnte. Zu allem Unglück kehrte der Universitätsprofessor aus Peru zurück und wollte unbedingt wieder in seine Wohnung ziehen. So quartierte ich mich in einem kleinen Hotel in der Rue de Vaugirard ein, in einer Mansarde, wo meine Bücher die eine Hälfte einnahmen und ich die andere. Meist ging ich spazieren und lernte so Paris und seine Umgebung kennen, Versailles, Fontainebleau, Chartres und so fort. Tag für Tag genoß ich es aufs neue, keinerlei Pflichten zu haben und mich ungetrübt an allen möglichen Dingen freuen zu können, an Kathedralen, Parks, Landschaften oder an dem geschäftigen Treiben der Leute auf den Straßen. Regnete es, so legte ich mich ins Bett, versenkte mich in irgendein Buch und widmete mich sittsam der Vervollkommnung meiner inzwischen schon recht umfassenden Bildung.

Abends ging ich zuweilen auf ein Gläschen Wein in eines der Cafés, die gerade en vogue waren. Bald lernte ich dort ein paar nette junge Leute kennen, Burschen und Mädchen ohne feste Arbeit, die wie ich Lust am Nichtstun zu haben schienen. Anfangs fühlte ich mich außerordentlich wohl in ihrer Gesellschaft. Ihre ablehnende Haltung jeglicher geregelten Tätigkeit gegenüber hatte etwas so tief Menschliches, daß jeder, der ein Herz besaß, sich davon angesprochen fühlen mußte. Ich selbst ließ mich um so mehr beeindrucken, als ich lange Zeit glaubte, ich sei ihnen wesensverwandt. Auch sie betrachteten den Lauf der Dinge gewissermaßen mit ungläubigem Staunen. War es möglich, daß man in dieser gefährlichen Welt, in die sie doch gewiß nicht aus eigenem Antrieb gekommen waren, keinerlei Vorsorge zur Sicherung ihres Lebensunterhalts getroffen hatte? Und da sie nun einmal keinen Geschmack an dieser Welt fanden, konnten sie nicht begreifen, warum sie für das zweifelhafte Vergnügen, in ihr zu leben, auch noch mit irgendwelcher Arbeit bezahlen sollten. Ich fand das gleichfalls unbegreiflich.

Ihr Hauptanliegen war die Neuverteilung der Güter. Selbstverständlich war das auch das meine. Weiter allerdings ging die Übereinstimmung unserer Anschauungen nicht. Ihrer Meinung nach ließ sich diese Neuverteilung nicht ohne einen Aufstand der Massen bewerkstelligen, den sie ungeduldig herbeisehnten. In dieser Beziehung glichen sie dem Strohhalm, der auf die Straße gefallen ist und nun darauf wartet, daß ihn ein Windstoß in den Bach fegt, wo ihn die Strömung zumindest ein Stück weitertragen wird. Ich dagegen wollte die Neuverteilung unverzüglich in Angriff nehmen, notfalls auf eigene Faust. Dieser Wunsch erschien ihnen jedoch utopisch. Sie hatten ein für allemal entschieden, jedes persönliche Vorgehen als «isolierte Initiative» zu betrachten, die von vornherein zur Wirkungslosigkeit verdammt und folglich nutzlos, ja sogar schädlich war. Diese Haltung enthob sie offenbar der Notwendigkeit, jemals einen Entschluß zu fassen. In ihrem Mißtrauen gegenüber jeder «isolierten Initiative» gingen manche sogar so weit, daß sie sich weigerten, auch nur zum Friseur zu gehen oder sich zu waschen. All das trug dazu bei, mich über ihr wahres Wesen aufzuklären: diese Müßiggänger waren im Grunde nur müde Trauerklöße. Die echte Faulheit, die mein Großvater mir gepriesen hatte, mußte etwas ganz anderes sein, und zwar in erster Linie eine lebensbejahende Haltung. Sie mußte sich selbst genügen und aus ihrer passiven Kraft heraus eine alles erobernde Dynamik entwickeln. Nein! Diese traurigen Gestalten waren keine charmanten Müßiggänger. Sie hatten mir eindeutig nichts zu bieten. Ich brach den Umgang mit ihnen ab und kehrte reumütig zu meinen Büchern zurück, in mein Zimmer, in meine Einsamkeit.

So lebte ich still für mich dahin, bis mir allmählich das Geld ausging. Mein letzter Anzug wies bereits Spuren äußerster Mitgenommenheit auf. Unter dem Druck der Verhältnisse beschloß ich, mich nach Arbeit umzusehen.

Anfangs verließ ich mich auf mein juristisches Staatsexamen. Man fragte mich, ob ich Pakete packen könnte. Ich konnte es. Man ließ mich Pakete packen. Ich packte und packte, aber die Pakete gingen, kaum waren sie expediert, von selber wieder auf. Man verzichtete auf meine Mitarbeit.

Ich nahm es mir nicht übermäßig zu Herzen, zumal das Paketepacken mir nicht einmal genug eingebracht hatte, daß ich meinen seit eh und je gesunden Appetit stillen konnte. Außerdem bin ich nun einmal nur glücklich, wenn ich nichts tue. Dieser Charakterzug ist bei mir so tief verwurzelt, daß ich, selbst wenn ich Arbeit suchte, mir nichts sehnlicher wünschte, als keine zu finden.

Doch die Besitzerin meines Hotels, Madame Minard, wurde von Unruhe ergriffen.

«Wann wollen Sie eigentlich bezahlen?» fragte sie mich eines Tages.

«Wie soll ich das wissen? Bin ich ein Prophet?»

Diese Antwort war nicht gerade dazu angetan, sie zu beruhigen, und so setzte sie mich kurzerhand vor die Tür.

Es war November. Ich gab meine letzte Barschaft für ein paar Tassen Milchkaffee aus und irrte dann, ohne zu wissen, wo ich Zuflucht suchen sollte, durch Paris. Nach drei Tagen zitterte ich vor Hunger und Kälte.

Eines Abends ließ ich mich erschöpft auf einem Lüftungsschacht der Metro nieder. Anhaltendes Fasten hatte mich in jenen Schwächezustand versetzt, der für stoischen Gleichmut wie geschaffen ist. Ich hatte das Gefühl, ich hätte nicht mehr die Kraft, diesen warmen Ort je wieder zu verlassen und weiterzuwanken … Nach und nach kamen immer weniger Menschen vorbei. Das Pflaster färbte sich bläulich, die Nacht brach herein. Gegen ein Uhr früh ließ ich mich zu Boden gleiten. Lang ausgestreckt hörte ich die letzten Metrozüge unter mir dahindonnern, und verschwommen ging es mir durch den Kopf, ob ich jetzt wohl sterben würde. Der Gedanke beunruhigte mich übrigens nicht im geringsten. Auf jeden Fall erschien mir der Tod weitaus verlockender als die Aussicht, Tag um Tag in einer Fabrik oder in einem Büro schuften zu müssen, nur damit ich bis zum nächsten Morgen weiterleben konnte. Ein solches Leben wäre für mich die Hölle gewesen. Zwar wollte ich gern weiterleben, doch nur unter der Bedingung, daß ich dabei glücklich war. Das Glück, wie ich es mir vorstellte, konnte unmöglich die Frucht der Mühsal sein. Es war ein Glück, rein und lauter wie Gold, ein Glück, das sich nicht erarbeiten ließ. Und so wie es viel teurer wäre, Gold künstlich herzustellen, als die natürlichen Vorkommen abzubauen, so ist auch der Versuch, durch Arbeit ein glückliches Leben zu gewinnen, eine viel zu kostspielige Methode, als daß sie sich rentieren könnte.

Solche und ähnliche Betrachtungen stellte ich an, während ich zusammengekrümmt auf meinem Metroschacht lag. Inzwischen hatten sich mir zwei weitere Faulenzer zugesellt, die jetzt friedlich neben mir schlummerten. Der eine war ziemlich dick. Ich kroch ganz dicht an ihn heran und nutzte ihn als Windschutz. So sorgt Gott auch für das geschorene Schaf, auf daß kein rauhes Lüftchen ihm schade, sagte ich mir und schlief ein.

Es mochte ungefähr drei Uhr morgens sein, als eine kehlige, dröhnende Stimme mich aus meinen Träumen aufschreckte.

«Also nein, hast du das schon gesehen? Da liegen gleich drei! Unglaublich!»

Der Mann, der das sagte, trug einen Kamelhaarmantel und hatte einen stark belgischen Akzent. Er befand sich in Begleitung einer jungen Dame im Nerzmantel. Vielleicht ein Animiermädchen, dachte ich.

«Hast du das gesehen?» sagte er noch einmal. «Ich schwöre dir, ein Franzose ist so faul wie zehn Belgier zusammen, und dabei ist er noch glücklich!»

«Vielleicht leiden sie Not», meinte das Mädchen.

Sie sprach mit Pariser Akzent, und in ihrer Stimme schwang eine leichte Traurigkeit.

«Das glaubst du nur, weil du jung bist», sagte ihr Begleiter. «Aber Faulenzer sind immer glücklich, wenn sie nur faulenzen können.»

Meine zwei Schlafgesellen waren von dem Gespräch ebenfalls erwacht. Sie hoben die Köpfe und betrachteten schweigend das Paar.

«Wer sagt dir, daß sie glücklich sind?» fragte das Mädchen leicht gereizt. «Sie sind arm, das ist alles.»

Der Mann im Kamelhaarmantel entpuppte sich jedoch als Philosoph. Er zog aus seiner Tasche einen Hundertfrancschein und kam auf uns zu. Offensichtlich malte er sich schon zufrieden die Wirkung aus, die er bei dem Mädchen auslösen würde.

«Nicht wahr, ihr wackeren Burschen», tönte er, «ihr seid doch richtige Faulenzer? Gebt es nur zu! Dieser Schein soll dem gehören, der der Faulste unter euch ist. Nun, wer ist der Faulste?»

«Ich», rief mein dicker Kumpel und lachte. «Sehen Sie nicht, wie fett ich bin? Ich mache keinen Finger krumm.»

Dabei streckte er die Hand aus. Mein anderer Geselle, der längst die seine hingestreckt hatte, versuchte, sie wegzustoßen. Der Belgier lachte schallend.

«Ihr gebt euch alle Mühe», rief er. «Aber der Faulste von euch ist der dritte dort, der uns nur anstarrt. Er hat nicht einmal die Hand ausgestreckt.»

Und damit kam dieser gute Belgier, dieser reizende Belgier, dieser großzügige und offensichtlich sehr mit sich selbst zufriedene Belgier auf mich zu, neigte, noch immer lachend, sein armes, ehrliches, von der Mühsal der Arbeit zerfurchtes Gesicht zu mir herab und schob mir die Hundertfrancnote in die Tasche.

Es wäre undankbar gewesen, an seinem Verhalten Anstoß zu nehmen. Dieser Schein bedeutete mir weit mehr als nur Geld. Er war der Beweis, daß das Leben fürwahr ein Geschenk des Himmels ist. Es sich durch Arbeit erhalten zu wollen, war folglich Gotteslästerung. Solche Gotteslästerung zog übrigens automatisch ihre Strafe nach sich: lebenslängliche Zwangsarbeit. Der mir eigene Widerwille gegen die Arbeit war also im Grunde genommen eine Tugend, ein Beweis des Vertrauens auf jene geheimnisvolle Kraft, die den mit Gütern überhäuft, der das Leben demütig als Geschenk hinnimmt. Ach, hätte ich nur nie Pakete gepackt, dachte ich, dann wäre mir dieser großzügige Belgier schon früher begegnet. Aber das sollte mir eine Lehre sein! Jetzt wußte ich ein für allemal, daß meine Faulheit meine Stärke war. Nie wieder würde ich arbeiten. Ich war ein Faulenzer und als solcher nur zum Nichtstun befugt und befähigt. Je weniger ich tat, desto weiter würde ich es bringen.

Schon bald sollten die Ereignisse die Richtigkeit dieser so ungemein logischen Schlußfolgerung bestätigen.

Als der Belgier und seine Freundin verschwunden waren, stand ich auf, wünschte meinen Nachtgefährten weiterhin angenehme Ruhe und begab mich zu einem Restaurant in der Nähe der Markthallen, wo ich einen Teller Sauerkraut verzehrte. Anschließend kehrte ich zu Madame Minard zurück.

Trotz der etwas ungewöhnlichen Stunde geruhte sie, mich zu bemerken. Sie war in den Fünfzigern, von angenehmem Äußeren, mit einem leichten Ansatz zur Rundlichkeit, und wirkte stets ausgeruht. Freilich saß sie auch die meiste Zeit in ihrem Wohn-Schlafzimmer im Erdgeschoß und kassierte die Rechnungsbeträge ihrer Gäste, was keine sonderlich anstrengende Tätigkeit war. Zwischendurch schrieb sie neue Rechnungen aus, machte zwischen zwei Rechnungen ein Nickerchen und las zwischen zwei Nickerchen Zeitschriften, über denen sie bald wieder einnickte. Nach und nach war sie so weit gelangt, daß sie keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht machte und sich mittags genauso frisch fühlte wie um Mitternacht.

Sie kam in den Flur heraus, und ich bezahlte ihr sogleich meine Schulden.

«Ihr Zimmer ist noch frei», sagte sie. «Ich nehme an, Sie wollen sich schlafen legen. Hier ist der Schlüssel. Sie trinken doch noch eine Tasse Kaffee mit mir, ehe Sie hinaufgehen?»

Während sie sich am Herd zu schaffen machte, kam mir der verrückte Gedanke, ob sie es womöglich darauf abgesehen hatte, mich zu verführen. Aber ich täuschte mich. Ihre Fürsorge entsprang einer keuschen Sympathie für mich, die sie übrigens selbst mit folgenden Worten zum Ausdruck brachte:

«Sie haben mir sofort gefallen, aber ich habe gesehen, worauf Sie hinauswollten. Sie haben sich in den Kopf gesetzt, nichts zu tun. Ich kann Ihnen das durchaus nachfühlen. Ich bin nämlich wie Sie: ich tue auch nichts. Trotzdem müssen Sie, wenn Sie hier wohnen wollen, von jetzt ab im voraus bezahlen.»

Sie hielt inne. Ich griff in die Tasche und zahlte Madame Minard eine Woche Miete. So lernte ich, daß Faulenzer keinerlei Solidarität untereinander kennen.

«Ich gehe jetzt schlafen», sagte ich und stand auf. «Vielen Dank für den Kaffee. Schicken Sie so bald wie möglich Nicole zu mir. Ich möchte ihr meine Kleider zum Bügeln geben.»

«Nicole schläft», sagte sie, «aber ich werde sie wecken.»

Es war gegen fünf Uhr früh, und ich wehrte ab.

«Doch, doch, lassen Sie mich nur», sagte Madame Minard. «Es muß auch Leute geben, die arbeiten.»

Worauf wir einträchtig miteinander lachten.

Nicole war eine schüchterne Studentin, die mit ihren Finanzen in Schwierigkeiten geraten war. Madame Minard hatte ihr listig zwei Monate lang Kredit eingeräumt, ihr dann gedroht, sie wegen Zechprellerei bei der Polizei anzuzeigen, und sich schließlich dazu herbeigelassen, über die Angelegenheit «Gras wachsen zu lassen», sofern Nicole bereit sei, ihre Schulden abzuarbeiten. Inzwischen arbeitete das Mädchen schon fast ein Jahr lang für sie als Putzfrau, Empfangsdame und Mädchen für alles, kurz gesagt, als Sklavin.

Ich hatte Nicole fast immer nur in häßlichen Kleidern, mit spröden Händen und strähnigem Haar gesehen. An diesem Morgen hatte sie, als sie so plötzlich aus dem Bett gerissen wurde, nur hastig Rock und Bluse angezogen. Darunter trug sie nichts. Das sind so Nachlässigkeiten, wie man sie sich erlauben kann, wenn man siebzehn Jahre alt ist. Und während ich ihr meine einzige Hose, meine einzige Jacke und meine letzte Krawatte anvertraute, sah ich Nicole zum erstenmal etwas aufmerksamer an. Ich fand sie schön, und ich sagte es ihr. Sie war so überrascht und verlegen, daß ich keinen Augenblick an ihrer Jungfräulichkeit zweifelte. Dieser Zustand sollte sich übrigens grundlegend ändern, noch ehe meine Kleider auch nur ausgebürstet waren. Ich hatte keinen Anlaß, diese Änderung zu bedauern. Und was Nicole anlangt, die sich so plötzlich der Macht ihrer Reize bewußt geworden war, so schien sie glücklich, und ich sah voraus, daß sie bald zur Vernunft kommen würde.

«Heute abend bin ich wieder da», sagte ich schließlich und drückte sie an mich. «Vergiß inzwischen nicht, daß du Madame Minard nichts schuldig bist, daß die Polizei dir nichts anhaben kann, ihr dagegen allerlei, kurz, daß du so frei bist wie ein Vogel. Ich hoffe, du bist zufrieden!»

«Ja», sagte sie traurig, «aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich müßte eine Stelle finden.»

«Unsinn! Du wirst dein Studium fortsetzen.»

«Wovon soll ich das bezahlen?»

«Das weiß ich noch nicht. Aber hab Vertrauen zu mir … Und jetzt muß ich fort.»

«Wohin gehst du?»

«Zu den Reichen.»

Tatsächlich begab ich mich an diesem Morgen gegen neun Uhr, frisch gebügelt und die Marseillaise pfeifend, zur Metro und fuhr zur Station Muette. Meine Karriere begann.

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Klar erkannt ist ein Problem schon halb gelöst. Ich hatte ein sehr einfaches Problem zu lösen, nämlich das meiner Verpflegung. Worum es ging, war klar, also mußte die Lösung unmittelbar bevorstehen. Mit den hundert Francs des guten Belgiers konnte ich mich zwar ein Weilchen über Wasser halten, wenn ich mich mit dem Notwendigsten begnügte. Doch ich war nicht geneigt, noch länger in meinem Zimmer mit Konserven und trocken Brot ein karges Leben zu fristen. Schließlich waren wir ja nicht auf dem Floß der Medusa.

Nun gibt es gewisse Kreise, in denen man häufig zum Essen eingeladen wird. Zu ihnen mußte ich mir Zugang verschaffen. Unglücklicherweise kannte ich in Paris keine Menschenseele, und wenn ich zur Station Muette fuhr, so nicht etwa, weil ich dort mit jemandem verabredet gewesen wäre. Ich wollte lediglich dem 16. Arrondissement einen kleinen Besuch abstatten. In diesem eleganten Wohnviertel glaubte ich mich leichter in die Denkweise der Reichen versetzen zu können, und darauf kam es mir an, denn mit der Denkweise des armen Schluckers findet man schwerlich Eingang in kapitalkräftige Kreise.

Ich habe diese Gegend von Paris, die Straßen zwischen der Porte d’Auteuil und der Place de l’Alma, immer besonders gern gemocht, und mein kleiner Spaziergang verlief höchst vergnüglich. Der Himmel war klar, die trockene Kälte angenehm und mein alter Mantel warm und bequem. Ich fühlte mich hier zu Hause. Aber alle meine Versuche, mir einen Schlachtplan zurechtzulegen, waren vergebens. Immer wieder wurde meine Aufmerksamkeit von dem Anblick schöner Häuser, elegant gekleideter Frauen oder lautlos dahingleitender Wagen abgelenkt. So schlenderte ich, ohne an etwas Bestimmtes zu denken, von der Avenue Raphaël zur Avenue Mozart und war eben in die Rue Oswaldo Cruz eingebogen, als ich einen swimmingpoolblauen Alfa Romeo vor einem Haus in der Sonne blitzen sah. Er war so wunderschön, dieser Wagen, er glich so verblüffend einem edlen Tier, das nur darauf wartet, seinem Herrn zu Diensten zu sein, daß ich stehenblieb und eine kindliche Lust verspürte, ihn mit der Hand zu liebkosen.