Manet - Pierre Bourdieu - E-Book

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Pierre Bourdieu

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Beschreibung

Wie vollzieht sich eine symbolische Revolution? Wann hat sie Erfolg? Am Beispiel des Begründers der modernen Malerei, Édouard Manet, geht der große französische Soziologe diesen Fragen in seinen bahnbrechenden Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1998 bis 2000 nach. Begleitet werden die Vorlesungen von einem Manuskript über Manet, an dem Bourdieu mit seiner Frau Marie-Claire gearbeitet hat. Eine Entdeckung! Bourdieu situiert Manets Malerei in der Krise der Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts – in einem Moment, in dem zum einen die Zahl der Künstler zunimmt und zum anderen die staatliche Autorität in der Beurteilung des Wertes von Kunst fundamental in Frage gestellt wird. In dieser Situation bricht Manet mit den Regeln der akademischen Malerei und revolutioniert die gesamte ästhetische Ordnung. Seine Gemälde sind als Kampfansagen zu verstehen: an die Bewahrer des Akademismus, an den Populismus der Realisten, an den kommerziellen Ekklektizismus der Genremaler und sogar an den im Entstehen begriffenen Impressionismus. Solche symbolischen Revolutionen, so arbeitet Bourdieu heraus, sind nur vor dem Hintergrund der Konstellationen des gesamten kulturellen Feldes zu erklären. Mit seinen Studien zu Manet hat Bourdieu nicht weniger als ein Grundlagenwerk der Kunstsoziologie geschaffen.

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Seitenzahl: 1284

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Wie vollzieht sich eine symbolische Revolution? Wann hat sie Erfolg? Am Beispiel des Begründers der modernen Malerei, Édouard Manet, geht der große französische Soziologe diesen Fragen in seinen Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1998 bis 2000 nach. Begleitet werden die Vorlesungen von einem Manuskript über Manet, an dem Bourdieu mit seiner Frau Marie-Claire gearbeitet hat. Eine Entdeckung!

 Bourdieu situiert Manets Malerei in der Krise der Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts – in einem Moment, in dem zum einen die Zahl der Künstler zunimmt und zum anderen die staatliche Autorität in der Beurteilung des Wertes von Kunst fundamental in Frage gestellt wird. In dieser Situation bricht Manet mit den Regeln der akademischen Malerei und revolutioniert die gesamte ästhetische Ordnung. Seine Gemälde sind als Kampfansagen zu verstehen: an die Bewahrer des Akademismus, an den Populismus der Realisten, an den kommerziellen Eklektizismus der Genremaler und sogar an den im Entstehen begriffenen Impressionismus. Symbolische Revolutionen, so arbeitet Bourdieu heraus, sind nur vor dem Hintergrund der Konstellationen des gesamten kulturellen Feldes zu erklären. Mit seinen Studien zu Manet hat Bourdieu nicht weniger als ein Grundlagenwerk der Kunstsoziologie geschaffen.

Pierre Bourdieu (1930-2002) hatte von 1981 an den Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France in Paris inne. 1993 erhielt er die höchste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben wird, die Médaille d'or du Centre national de la recherche scientifique. 1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen.

Zuletzt erschienen:

Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992 (2014)

Schriften Band 12.1: Kunst und Kultur. Zur Ökonomie symbolischer Güter. Schriften zur Kultursoziologie 4 (stw 2106)

Schriften Band 12.2: Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4 (stw 2126)

Pierre Bourdieu

Manet Eine symbolische Revolution

Vorlesungen am Collège de France 1998-2000 Mit einem unvollendeten Manuskript von Pierre und Marie-Claire Bourdieu

Mit zahlreichen farbigen AbbildungenHerausgegeben von Pascale Casanova, Patrick Champagne, Christophe Charle, Franck Poupeau und Marie-Christine RivièreChristophe CharleOpus infinitumPascale CasanovaSelbstporträt als freier KünstlerAus dem Französischen von

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Manet.Une révolution symbolique. Cours au Collège de France (1998-2000) suivi d'un manuscript inanchevé de Pierre et Marie-Claire Bourdieu © Éditions Raison d'agir / Éditions du Seuil 2013

Die Herausgeber danken Bruno Auerbach, Laure Bourdieu, Simon Bourdieu, Inès Champey, Olivier Christin, Adrien Fischer und Gilles L'Hôte für ihre Beiträge zur Erstellung dieses Werkes. Ebenso danken sie allen, die Pierre Bourdieu in Frankreich wie im Ausland bei der Arbeit über Manet unterstützt haben, namentlich seinen Mitarbeiterinnen Rosine Christin und Martine Dévé.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015

Erste Auflage 2015

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagabbildung: Édouard Manet, Der tote Torero, 1864-1865, Öl auf Leinwand, National Gallery of Art, Widener Collection, Washington

Inhalt

Notiz der Herausgeber

Vorlesungen am Collège de France im Studienjahr 1998-1999Der Manet-Effekt

Vorlesung vom 6. Januar 1999

Thema der Vorlesung: die von Manet ausgelöste symbolische Revolution – Eine vollendete symbolische Ordnung – »Peinture pompier« – Die Konstruktion der modernen Kunst: ein umkämpftes Thema – Parenthese: Soziale Probleme und soziologische Probleme – Staatskunst und Akademismus der Avantgarde – Die Talmi-Revolution – Parenthese über wissenschaftlichen Populismus – Ein unmögliches Forschungsprogramm: der Raum der Kritik – Vom Banalen zum Skandal – Ein Bild voller Unstimmigkeiten – Die Kollision zwischen Edlem und Trivialem – Die Affinität zwischen den Hierarchien – Der falsche Gegensatz »Realismus / Formalismus«

Vorlesung vom 13. Januar 1999

Frage nach der Revolution in der Kunst – Das Spiel des projektiven Bildungstests (»Das erinnert mich an …«) – Das Feld der Kritik konstruieren – Die Wirkungen des Kunstwerks – Die »Kommunikation von Unbewußtem« – Die intentionalistische Theorie – Regelverstoß und ästhetische Barbarismen – Rhetorik des Euphemismus und Wirkung des Titels – Die Wirkungen der Komposition – Eine symbolische Bombe – Die Daseinsberechtigung eines Bildes – Die Infragestellung der Malerei innerhalb der Malerei – Intention und Disposition

Vorlesung vom 20. Januar 1999

Beantwortung einer Frage zur Dialektik – Die Regelverstöße auf ethischem Gebiet – Manet und Monet – Das akademische Auge – Die Dispositionstheorie – Die Philosophie der Intention – Intention und Disposition – Das Zusammentreffen von Habitus und Raum des Möglichen – Das Beispiel der Schriftsteller – Kritik des Begriffs »Quelle« – Die Hypothese der Kohärenz

Vorlesung vom 27. Januar 1999

Reflexiver Rückblick auf die vorangegangene Vorlesung – Präkonstruierte Objekte und technische Perfektion – Epistemologischer Bruch und sozialer Bruch – Theorie der Dispositionen und scholastischer Bias – Philosophie der Intention und Philosophie der Dispositionen – Kritik der genetischen Kritik – Kritik der ikonographischen Tradition – Die hermeneutische Haltung – Kopien, Parodien, Pastiches – Eine sehr seltsame Übung – Das Körperwissen

Vorlesung vom 3. Februar 1999

Entgegnung auf zwei Mißverständnisse – Vom richtigen Umgang mit Quellen – Eine Vorlesung hören – Internalisten und Externalisten – Jugendwerk und Schulübung – Die Intelligenz des Körpers – Die strukturellen Bedingungen schöpferischen Tuns – Eine totale soziale Tatsache – Eine Krise der Institution – Eine formalistische Theorie – Schluß mit dem »Perfekten« der Pompiers

Vorlesung vom 10. Februar 1999

Rückblick auf eine heftige Reaktion – Grenzen des formalistischen Ansatzes – Die illusio als Metaglauben – Die Falle der dichotomischen Logiken – Infragestellung des akademischen Systems und Historisierung des Kunstwerks – Sozialgeschichte der akademischen Kunst – Die Ateliers als Eliteschulen – Körperschaft und Feld – Das Verlagsfeld

Vorlesung vom 17. Februar 1999

Eine akademische Kunst – Pompier-Kunst, Aristokraten und Neureiche – Die akademische Ästhetik – Eine integrierte akademische Institution – Ateliers und Initiationsriten – Konsekration und Glaubensproduktion – Ein gradus ad parnassum – Académie und akademische Malerei – Technische und historische Virtuosität – Eine Ästhetik der Lesbarkeit – Eine »enthistorisierte« Geschichte – Eine Ästhetik der Vollendung

Vorlesung vom 24. Februar 1999

Manets Kritiker – Parenthese über die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem – Lebensstil und Werkstil – Die Abschaffung der Bedeutung – Häretiker und Orthodoxe – Die Nominierung – Der Kampf um das Monopol – Ausstellung und Konsekration – Die Transformation des Bildungswesens – Verteidigung der Körperschaft – Eine Glaubenskrise – Das morphologische Modell Durkheims und seine Grenzen

Vorlesung vom 4. März 1999

Externe Faktoren und Logik der Felder: die Überproduktion von Absolventen – Die Reproduktion der Unterschiede – Disziplinen und »Zufluchts«-Positionen – Die Schwächung des staatlichen Monopols – Der Beitrag des Publikums zur Revolution – Sklerose des Salon und verallgemeinerte Glaubenskrise – Ein Vergleich des künstlerischen Milieus in Paris und London – Manet und die Präraffaeliten – Manet in der Sicht Mallarmés

Vorlesungen am Collège de France im Studienjahr 1999-2000Grundlagen einer dispositionalistischen Ästhetik

Vorlesung vom 12. Januar 2000

Zweifel und Reflexivität – Entstehung des künstlerischen Felds – Kommentar zu einem Text Mallarmés über Manet – Kritik der Kritik – Das Paradigma Zola-Manet-Mallarmé – Die Unstimmigkeiten von Eine Bar in den Folies-Bergère – Mallarmé über Manet – Strukturhomologie zwischen künstlerischem und religiösem Feld – Glaube und Rückkehr zu den Quellen

Vorlesung vom 19. Januar 2000

Zola und Mallarmé – Formalismus, Materialismus und Symbolismus – »Sich ins Wasser stürzen« als Philosophie des Handelns – Eine praktische Ästhetik

Vorlesung vom 26. Januar 2000

Kritischer Rückblick auf die vergangene Vorlesung: Notwendigkeit einer doppelten Historisierung – Parenthese zur Kunstkritik – Zurück zu Mallarmés Text – Der Rahmen als Zuschnitt der Welt – Eine neue Ökonomie der Produktion – Das Zusammentreffen zweier Geschichten

Vorlesung vom 2. Februar 2000

Zusammenfassung der vorherigen Vorlesung – Erläuterung der künstlerischen Formen: das Basis/Überbau-Modell – Modelle historischer Prozesse – Weiterer Verlauf der Vorlesung: das Modell Habitus-Feld – Manet, eine Herausforderung für den Analytiker – Analysemethode – Jenseits der Alternative kontinuierlich / diskontinuierlich

Vorlesung vom 9. Februar 2000

Bruch und Kontinuität – Der Salon des refusés von 1863 – Für einen rationalen Eklektizismus – Brüche in der Kontinuität (1): die Vorwegnahmen – Bruch in der Kontinuität (2): die Parodie – Das Paradox der symbolischen Revolutionäre – Erklärung des Charismas – Die technischen Faktoren – Die morphologischen Veränderungen – Faktoren auf seiten der Nachfrage – Ein multifaktorielles Modell – Besonderheit der Ökonomie der symbolischen Güter

Vorlesung vom 16. Februar 2000

Das künstlerische Feld – Gesellschaftliche Veränderungen und Veränderungen der Form – Parenthese über Forschungen »im Schongang« – Der »Maler des modernen Lebens« – Der Irrtum des Kurzschließens – Der Blick bei Manet – Das Feld als intermediärer sozialer Raum – Die Künstlergesellschaften – Parenthese über Pseudo-Begriffe – Ästhetisch-politische Haltungen und Positionen im Feld – Das Feld der Kritik zwischen literarischem und künstlerischem Feld – Eine Revolution im Feld

Vorlesung vom 23. Februar 2000

Die Produktion von Glauben – Zweckmäßigkeit des Feld-Begriffs – Das Feld der Kritik: die zwei Dimensionen – Kritikerporträts – Die Funktionsweise des Felds der Kritik – Das Kompetenzprinzip – Auf dem Feld-Begriff basierende Analyse – Manet, Subjekt und Objekt des künstlerischen Felds

Vorlesung vom 1. März 2000

Mechanische Erklärung und strukturale Kausalität – Die körperliche Hexis – Manet: ein gespaltener Habitus – Manets Kapital – Die Orte der Akkumulation sozialen Kapitals: 1) Das Collège Rollin – 2) Der Salon des Kommandanten Lejosne – 3) Der Salon von Manets Gattin – 4) Das Atelier von Thomas Couture – 5) Das Louvre-Museum – 6) Die Cafés: eine schicke Bohème – 7) Die Ateliers der Maler

Vorlesung vom 8. März 2000

Das weitere Vorgehen – Die Kunst, eine »reine Praxis ohne Theorie« – Der Standpunkt des Autors und die Beziehung zum Publikum – Eine Wirkungsästhetik – Manet als konkretes Individuum – Form und Inhalt – Der Manet-Effekt – Stützpunkte und Kontrastfiguren – Analyse von Werken

Christoph CharleOpus Infinitum. Genese und Struktur eines unvollendeten Werks

Pierre und Marie-Claire BourdieuManet, der HäresiarchEntstehung der Felder der Kunst und der Kritik(Unvollendetes Manuskript)

Einleitung

1. Die Pompier-Kunst als akademisches Universale

2. Die Krise der akademischen Institution

3. Bruch und Kontinuität

4. Feld der Kritik und künstlerisches Feld

5. »Häresiarch & Co.«

6. Manets Ästhetik

Nachtrag

Pascale CasanovaSelbstporträt als freier Künstler oder »Ich weiß nicht, warum ich mich da hineingemischt habe«

Anhänge

Zusammenfassungen der Vorlesungen im Jahrbuch des Collège de France

Namenregister

Sachregister

Abbildungsnachweise

Notiz der Herausgeber

Dieser Band umfaßt die von Pierre Bourdieu im Verlauf der Studienjahre 1998-1999 und 1999-2000 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen sowie ein unvollendetes Manuskript, das Édouard Manet gewidmet ist. Dieses Manuskript, dessen Niederschrift in den achtziger Jahren begann und sich bis zum Tod des Soziologen fortsetzte, wird hier in seiner letzten, vorläufig gebliebenen Fassung veröffentlicht; Marie-Claire Bourdieu, seine Gattin, hatte im Zuge ihrer Mitarbeit an der Dokumentation daran mitgewirkt und war auch an der Konzeption beteiligt. Für seine Überschrift ebenso wie für die der Vorlesungen sind die Herausgeber verantwortlich. Sie folgten den bei der Veröffentlichung von Über den Staat entwickelten editorischen Leitlinien.[1]

Die Transkription der Vorlesungen am Collège de France orientiert sich an den Prinzipien, nach denen Bourdieu selbst bei der Überarbeitung seiner Vorlesungen und Seminare verfuhr: stilistische Korrekturen, Glättung von Ungeschicklichkeiten beim mündlichen Vortrag (Wiederholungen, sprachliche Marotten usw.) und Beseitigung allzusehr abschweifender oder allzu improvisierter Entwicklungen. Weitere Eingriffe machte vor allem der von Bourdieu eingeräumte unabgeschlossene Charakter der Untersuchung unabweisbar. Genauer gesagt – und eben darin liegt einer der Gründe für diese Veröffentlichung –: Es handelt sich um eine laufende Arbeit, um sich entwickelnde Gedanken, um ein work in progress; daher die Abweichungen von den in seinem Exposé ursprünglich vorgesehenen Inhalten, die Unschlüssigkeiten, die abgebrochenen Überlegungen, teilweise improvisierte oder bloß skizzenhaft angedeutete Punkte, und gelegentlich Wiederholungen oder Rückgriffe, dazu bestimmt, den Hörern den Überblick zu erleichtern – Dinge also, die beim Vortrag unproblematisch waren, aber die Lektüre einer Transkription erschwert hätten, die sich allzu eng an den Wortlaut gehalten hätte. Zwar kam es nicht in Frage, den Vortrag »umzuschreiben«, wie er selbst es getan hätte, aber eine gewisse Umformung erwies sich als unverzichtbar, da Bourdieu seine Vorlesungen nicht niederschrieb, sondern anhand von Notizen laut nachdachte und sich die Möglichkeit vorbehielt, den Gedanken nachzuhängen, die sich beim Reden einstellten. Wenn diese Entwicklungen sich auf das Thema beziehen, stehen sie in Gedankenstrichen; wenn sie den Gedankengang verlassen, werden sie in Klammern gesetzt, und wenn sie zu lang sind, können sie einen eigenen Abschnitt bilden. Für die Gliederung in Abschnitte und Unterabschnitte, für die Zwischentitel, die Interpunktion, die Anmerkungen mit ihren bibliographischen Angaben und Verweisen sind die Herausgeber verantwortlich. Um den kritischen Apparat nicht zu überlasten, haben sie sich darauf beschränkt, andere als bibliographische Angaben nur dann einzuführen, wenn Anspielungen aufzuklären oder allzu knapp angesprochene Dinge in ihren Kontext zu stellen waren; biographische Daten zu den weniger bekannten von Manets Zeitgenossen (Malern und Kritikern), die Bourdieu erwähnt, liefert er im allgemeinen selbst im Verlauf seiner Vorlesungen, soweit die Untersuchung es erforderlich macht.

Bei dem Buchmanuskript wurden unvollständige bibliographische Angaben ergänzt. Wie bei den Vorlesungen wurden zur Erleichterung des Verständnisses dienende Anmerkungen hinzugefügt: Erklärungen, Verweise, nähere Angaben. Das Buch blieb, wie gesagt, unvollendet; die abgeschlossenen Teile sind von mehr oder weniger langen, nur skizzenhaften Passagen durchsetzt – wir haben sie durch Kursivschrift kenntlich gemacht –, auch von Randbemerkungen, die wir trotz ihres fragmentarischen Charakters im Rohzustand belassen haben, denn sie geben eine Vorstellung von der Art und Weise, in der Bourdieu gearbeitet hat, und liefern in gewisser Weise die Betriebsgeheimnisse seiner Werke. Obwohl das Nebeneinander von Vorlesungen und Manuskript manche Wiederholung mit sich bringt, haben wir uns nicht zu Kürzungen entschlossen, da die Ergänzungen schwerer wiegen als die Redundanzen. Sofern jedoch aus anderen Gründen gekürzt wurde, werden diese Gründe im Einzelfall aufgeführt.

Der Text »Opus Inifinitum« von Christophe Charle stellt die Verbindung zwischen den Vorlesungen und dem Manuskript her; er situiert die Manet gewidmeten Arbeiten in Bourdieus Gesamtwerk und rekonstruiert ihre Genese. Er resümiert die seither unternommenen Forschungen und regt mögliche Erweiterungen und Modifizierungen der von Bourdieu eröffneten Sicht an. Ein kurzes Nachwort von Pascale Casanova mit dem Titel »Selbstporträt als freier Künstler« beschließt den Band. Es macht die Homologien zwischen dem Maler und dem Soziologen kenntlich, die zu den Triebfedern der Untersuchung Manets durch Bourdieu gehören, und erinnert an den hohen Preis, den »symbolische Revolutionäre« zu zahlen haben, diese unwahrscheinlichen Individuen – »sehr seltsam« nennt Bourdieu sie –, die ihre Beherrschung eines Systems gegen dieses System selbst kehren, um es umzustürzen.

Der Anhang enthält Bourdieus Zusammenfassungen der Vorlesungen im Jahrbuch des Collège de France, ein Namen- und Sachregister und ein Verzeichnis der zitierten Gemälde.

Die Photographien der Werke Manets und anderer Künstler, die Bourdieu besonders berücksichtigt, sind dem Werk beigegeben. Darauf verweisen Zahlen in eckigen Klammern bei der ersten Erwähnung innerhalb der jeweiligen Vorlesung.[2]

[1] Pierre Bourdieu, Sur l'État. Cours au Collège de France, Paris: Raisons d'agir / Seuil 2012; dt. Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992, übersetzt von Horst Brühmann und Petra Willim, Suhrkamp: Berlin 2014.

[2] <Bemerkungen der Übersetzer stehen in spitzen Klammern>

Vorlesung vom 6. Januar 1999

Thema der Vorlesung: die von Manet ausgelöste symbolische Revolution. – Eine vollendete symbolische Ordnung. – »Peinture pompier«. – Die Konstruktion der modernen Kunst: ein umkämpftes Thema. – Parenthese: Soziale Probleme und soziologische Probleme. – Staatskunst und Akademismus der Avantgarde. – Die Talmi-Revolution. – Parenthese über wissenschaftlichen Populismus. – Ein unmögliches Forschungsprogramm: der Raum der Kritik. – Vom Banalen zum Skandal. – Ein Bild voller Unstimmigkeiten. – Die Kollision zwischen Edlem und Trivialem. – Die Affinität zwischen den Hierarchien. – Der falsche Gegensatz »Realismus / Formalismus«.

THEMA DER VORLESUNG: DIE VON MANET AUSGELÖSTE SYMBOLISCHE REVOLUTION

In diesem Jahr werde ich über etwas sprechen, was man als eine gelungene symbolische Revolution bezeichnen könnte, nämlich die, die Édouard Manet (1832-1883) initiiert hat, wobei es meine Absicht ist, sowohl diese Revolution selbst in ihrer Besonderheit verständlich zu machen als auch die Werke, die diese Revolution ausgelöst haben. Allgemeiner noch möchte ich versuchen, überhaupt den Begriff ›symbolische Revolution‹ verständlich zu machen.

Wenn gerade erfolgreiche symbolische Revolutionen besonders schwer zu verstehen sind, so deswegen, weil es das schwierigste ist, etwas zu verstehen, was selbstverständlich scheint, insofern eine symbolische Revolution ja die Strukturen produziert, über die wir sie wahrnehmen. Anders gesagt: Ganz wie die großen religiösen Revolutionen wälzt eine symbolische Revolution die kognitiven und manchmal in gewissem Maße die sozialen Strukturen um. Sobald sie gelingt, setzt sie neue kognitive Strukturen durch, die dadurch unmerklich werden, daß sie sich verallgemeinern, sich ausbreiten, alle wahrnehmenden Subjekte eines sozialen Universums prägen. Unsere Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wir gewöhnlich benutzen, um die Vorstellungen von der Welt und die Welt selbst zu verstehen, sind dieser gelungenen symbolischen Revolution entsprungen. Die Vorstellung von der Welt, die mit dieser Revolution entstanden ist, ist also evident geworden – so evident, daß der von Manets Werken entfachte Skandal seinerseits erstaunt, ja skandalisiert. Anders gesagt, wir erleben eine Art Verkehrung.

Ich werde Ihnen sinnfällig zu machen versuchen, was ich hier in meiner ersten Vorlesung auf abstrakte Weise darstelle, und das ist nicht so einfach, wie es scheint. Diese Verkehrung von Für und Wider hindert daran, die Arbeit der kollektiven Konversion zu verstehen, die erforderlich war zur Schaffung der neuen Welt, deren Produkt unser eigenes Auge ist – den religiös gefärbten Begriff Konversion verwende ich absichtlich. Natürlich benutze ich das Wort »Auge« im Sinn eines sozial konstruierten Organs, wie es zum Beispiel in dem sehr schönen Buch Die Wirklichkeit der Bilder geschieht, in dem Baxandall die soziale Genese eines historischen Auges, eines Systems von verinnerlichten Wahrnehmungskategorien analysiert.[1] Die Arbeit an der Konversion, die ich hier untersuchen möchte, kann nur verstanden werden, wenn wir das Augenmerk auf unseren eigenen Blick richten, oder genauer gesagt: Sie kann nur kraft einer Arbeit verstanden werden, die darauf abzielt, die Revolution zu entbanalisieren, deren Produkt unser eigener Blick ist, indem wir alles entbanalisieren, was ihr Erfolg banal gemacht hat, nämlich die objektiven und verinnerlichten Strukturen, die sie durchgesetzt hat, angefangen bei den Strukturen unserer eigenen Blickweise.

Ich benutze bewußt das Vokabular Banalisierung und Entbanalisierung, um die Sprache der »Verfremdung« der russischen Formalisten aufzugreifen[2] und nebenbei zwei sehr weit auseinanderliegende Traditionen miteinander zu versöhnen: die der russischen Formalisten und die Webersche Tradition – Max Weber betont, was er die »Veralltäglichung« oder Banalisierung des Charisma nennt.[3] Eine symbolische Revolution ist eine typische charismatische Revolution. Wie die Religionen der großen Religionsgründer setzt sich eine charismatische Revolution in Form mentaler Strukturen durch und tendiert dazu, sich zu veralltäglichen und das zu banalisieren, was durch diese banalisierten Kategorien gesehen wird, das heißt gerade das Objekt der Entbanalisierung, gerade das Objekt des Prozesses der Entbanalisierung. Das Paradox des Großinquisitors bei Dostojewskij,[4] genauer gesagt, das Prinzip dieses Paradoxes, ist in diesen Untersuchungen wiederzufinden. Es ist in keiner Weise erstaunlich, daß eine religiöse Botschaft dadurch, daß sie Erfolg hat und universell wird, sich selbst, insbesondere aber ihre subversive Kraft zerstört.

EINE VOLLENDETE SYMBOLISCHE ORDNUNG

Um diese symbolische Revolution zu verstehen, von der ich, vielleicht zu abstrakt, gesagt habe, daß sie zwangsläufig schwer zu verstehen ist, muß man zunächst einmal die symbolische Ordnung verstehen, die Manet umgestürzt hat, und dann, worin diese Ordnung bestand – eine vollendete symbolische Ordnung ist eine Ordnung, die sich als evident aufzwingt, eine Ordnung, die so ist, daß es niemandem in den Sinn kommt, sie in Frage zu stellen. Mit anderen Worten, eine vollendete symbolische Ordnung vollbringt, daß sie aufgefaßt wird als etwas, das sich von selbst versteht, als taken for granted. Um sich die ganze Macht dieser symbolischen Ordnung zu vergegenwärtigen, muß man sich vor Augen halten, daß diese Erfahrung des »Selbstverständlichen« außergewöhnlich ist, aber paradoxerweise als gewöhnlich erscheint: Sie ist außergewöhnlich, weil sie den fast völligen Einklang zwischen den objektiven Strukturen der Welt, dem Wahrgenommenen, und den kognitiven Strukturen voraussetzt, mit deren Hilfe wahrgenommen wird. Und aus diesem unmittelbaren, unstrittigen, harmonischen Einklang erwächst die Erfahrung des »So-und-nicht-anders«, des »Das-versteht-sich-von-selbst«, des »Anders-geht-es-gar-nicht«.

Eine überlieferte symbolische Ordnung ist so beschaffen, daß die Möglichkeit, anders zu sein oder zu handeln, nicht denkbar ist: Jede andere Ordnung als diese ist undenkbar, es gibt keine Wahrnehmungskategorien, die eine andere Ordnung zu antizipieren gestatten. Utopien beispielsweise schließt eine vollkommene symbolische Ordnung aus – die übrigens nie in vollem Sinne existiert, außer vielleicht in einigen sogenannt »archaischen« Gesellschaften, die völlig abgeschnitten sind von zivilisatorischen Kontakten, durch welche das, was als Natur, physis, erfahren wurde, nun als nomos in Erscheinung tritt, gegründet auf die Willkür einer Konvention, einer Ordnung, eines Gesetzes. Eine symbolische Ordnung verstehen heißt also diesen Einklang zwischen den objektiven Strukturen der sozialen Welt und den kognitiven Strukturen verstehen; heißt den Blickpunkt eines Ethnologen einnehmen, der gegenüber dieser Welt keine äußerliche Position bezieht, der nicht einen normativen Blickpunkt einnimmt, der weder den Blickpunkt der Anprangerung noch den der Rehabilitierung wählt. Allerdings ist bei dem Gegenstand, von dem ich spreche, die Anprangerung schon in der Sprache enthalten, in der wir über ihn sprechen.

»PEINTURE POMPIER«

Von Peinture pompier[5] – die Bezeichnung stammt aus dem akademischen Jargon, letztlich aus dem der Rapins (Malschüler oder »Kleckser«)[6] – sprechen wir, um etwas zu bezeichnen, was wir heute »Peplum« nennen würden, Werke mit Menschen in antikem Kostüm. Diese Peinture pompier, von der wir einige Reste zum Beispiel im Musée d'Orsay sehen können, fordert uns noch heute heraus, wir bleiben nicht gleichgültig. Wir schwanken zwischen Verurteilung und Rehabilitierung. Man kann sagen, diese Kunst sei erledigt, sie sei überholt, wie es heute heißt – in der intellektuellen und künstlerischen Polemik ist das die entscheidende Waffe, dem Gegner nachzusagen, daß er erledigt, daß er überholt ist (wenn man nett sein will, schiebt man ihn zu den Klassikern ab, und wenn man ihn schlachten will, in die Welt von gestern, und man nennt ihn erledigt). Die Kunst der Pompier wird abgetan, ins Archaische, in die Welt von gestern abgeschoben oder auch in manchen Fällen – und diese Sicht greift mehr und mehr um sich – rehabilitiert. Manche sagen, »die Pompiers waren schließlich gar nicht so schlecht«, und ich werde Ihnen Texte von sehr prominenten und respektablen Leuten zitieren, die zu zeigen versuchen, daß die Kunst der Pompiers in mancher Hinsicht gar nicht so abscheulich war, wie man behauptet – paradoxerweise ist die konservative Phantasie unerschöpflich. Zum Beispiel wird hervorgehoben, daß die Pompier-Künstler häufiger von niedriger sozialer Herkunft waren als die Revolutionäre, die sie gestürzt haben – und das trifft auch zu. Ein interessantes soziales Paradox: In den der Sozialordnung gegenüber relativ autonomen Welten, die ich Felder nenne, sind die Revolutionäre üblicherweise Privilegierte, Wohlhabende. Manet ist ein Beispiel dafür, und sicher haben seine Dispositionen zum Revolutionär damit zu tun, daß er ein Privilegierter ist, und vor allem vielleicht, daß der Erfolg der Revolution, die er initiiert hat – das ist eine der Thesen, die ich entwickeln werde –, nicht vorstellbar wäre, wenn er nicht über viel Kapital verfügt hätte, nicht nur über akademische, akademisch beglaubigte Kompetenz, sondern auch über soziales Kapital, über Beziehungen und also über an seine Freunde gebundenes symbolisches Kapital usw. Worüber zu sprechen ist, das ist nicht, wie oft in der Geschichte, tot und begraben. Wenn es eine Tendenz zu töricht historizistischen oder relativistischen Äußerungen gibt, denen zufolge es keine historische Wahrheit gibt, da ja der Historiker in der Geschichte steht und folglich zu keiner objektiven Wahrheit über die Geschichte gelangen kann, dann deswegen, weil die historischen Debatten, im Sinne von Debatten unter Historikern, in mehr oder weniger brandaktuellen sozialen Debatten verwurzelt sind.

Manets Revolution ist – zu Unrecht, glaube ich – als »impressionistische Revolution« bezeichnet worden: Ich denke, daß er mit den Impressionisten fast gar nichts zu tun hat, daß es ein Kategorienfehler ist, wie die Philosophen sagen würden, ihn den Impressionisten zugeordnet zu haben, während er ihnen gegenüber immer auf Abstand gehalten hat, nicht nur um sich nicht gemein zu machen, sondern weil er auf etwas ganz anderes hinauswollte. Die von Manet ausgelöste Revolution, die im Grunde die der modernen Kunst ist, bleibt historisch umstritten, ist Gegenstand von Debatten.

DIE KONSTRUKTION DER MODERNEN KUNST: EIN UMKÄMPFTES THEMA

Ich gehe ganz kurz auf die Debatten ein, bei denen es heute um die moderne Kunst geht, die äußerst vage definiert ist und deren Konstruktion untersucht werden müßte. Es hat Ansätze zur sozialgeschichtlichen Untersuchung der Konstruktion des Musée d'Orsay gegeben, zur Zusammensetzung seines künstlerischen Angebots.[7] Hier wäre eine ganze Untersuchung anzustellen (ich spreche im Konjunktiv, weil ich sie nicht machen werde, das ist nicht mein Thema, aber ich sage Ihnen so viel darüber, daß Sie spüren, daß das Problem, das ich stelle, durchaus kein akademisches Thema ist, wenn ich so sagen darf).

Das Musée d'Orsay könnte als eine Art Halbhistorisierung der Revolution der modernen Kunst bezeichnet werden; das berühmte, riesige Gemälde Rom zur Zeit der Dekadenz (1847) [10] von Thomas Couture, dem prominenten Lehrer von Manet, wird gegenüber von Manets Frühstück im Grünen (1863) [1] aufgehängt. Aber diese halbe Historisierung bleibt zweideutig, insofern sie partiell ist, und man kann sich fragen, ob es darum geht, etwas in seinen Kontext zu stellen oder es zu rehabilitieren. Ist Couture ein Referent, eine Erinnerung an das, wogegen Manet sich konstruiert und wogegen er versucht hat, neue Formen zu erobern, oder ist er ohne Hintergedanken einfach da, die Rehabilitierung eines Moments überzeitlicher Kunst? Die Zweideutigkeit des Musée d'Orsay wird auch durch die gegenwärtige Debatte aufgefrischt, von der ich keine eingehende Chronologie habe, aber auch das könnte man sehr leicht erstellen: Sie alle haben mehr oder weniger von der Debatte gehört, die Jean-Philippe Domecq in der Zeitschrift Esprit – zufällig? – ausgelöst hat und die in Le Monde – zufällig? – fortgesetzt wurde usw.[8] Diese Debatte zielt darauf ab, die »sogenannten Revolutionäre«, wie man in solchen Fällen sagt, in Frage zu stellen und die Tatsache, daß es unter den Revolutionären Schwindler, Opportunisten oder Manipulatoren gibt, zu benutzen, um die subversive Absicht zeitgenössischer Künstler überhaupt in Frage zu stellen.

PARENTHESE: SOZIALE PROBLEME UND SOZIOLOGISCHE PROBLEME

(Wenn ich dieses Problem aufwerfe, dann aus zwei Gründen. Zunächst einmal, weil es wichtig ist, sich vor Augen zu halten, daß das Problem teilweise deswegen schwierig ist, weil es noch aktuell ist, und das ist, glaube ich, höchst bedeutsam: Sozialwissenschaften werden gegen die soziale Welt, im Bruch mit der sozialen Welt gemacht, und, wie ich immer wieder betone, ein soziales Problem ist nicht von vornherein dazu vorbestimmt, ein soziologisches Problem zu werden. Die brennendsten sozialen Probleme sind gerade die, die sich am schwersten in soziologische Probleme verwandeln lassen. Der Soziologe ist nicht jemand, der die sozialen Probleme fix und fertig, vorkonstruiert, ready-made, aufgreift und in sein Labor trägt, um sie zu analysieren. Die erste wissenschaftliche Arbeit, der erste Impuls des Soziologen beruht darin, Distanz von den sozialen Problemen zu schaffen, um sie in soziologische Probleme zu verwandeln. Die Tatsache, daß das Problem, das ich in diesem Jahr stelle, noch immer ein soziales Problem ist, und zwar ein brennendes, und das vielleicht mehr denn je, und zwar, um die Dinge beim Namen zu nennen, in einer Phase der Restauration – und nicht nur auf dem Gebiet der Kunst[9] –, die Tatsache also, daß das Problem der von Manet durchgeführten künstlerischen Revolution heute ein brennendes soziales Problem ist, macht es nicht von vornherein zu einem soziologischen Problem.

Der zweite Grund betrifft das, was ich Ihnen in bezug auf Manets Häresie mitteilen möchte, in bezug auf die symbolische Ordnung, in die er diese Häresie hineinbringt, in bezug auf die Konversion, die er durchführt und die durchzuführen er eine Reihe von Menschen veranlaßt. Ich wünschte mir, Sie stellten alle diese Analysen in Ihrem Geist vergleichend an und hätten die Gegenwart vor Augen. Nochmals in Gegensatz zu dem, was oft behauptet wird: Ein guter Historiker wird man nicht, indem man die Gegenwart aus seinem Geist tilgt, ganz im Gegenteil, ich werde Ihnen aus der Literatur über Manet Beispiele dafür geben. Eine verdrängte, nicht analysierte Gegenwart kehrt im Unbewußten des Forschers wieder und kann seine Untersuchungsschritte, seine Hypothesen, seine Gesamtsicht des Problems usw. entscheidend beeinflussen. Mit anderen Worten, meines Erachtens wäre es wesentlich, daß die Historiker über das zeitgenössische Äquivalent ihres historischen Gegenstands arbeiten. Wenn sie zum Beispiel über Charles-Joseph Panckoucke arbeiten, den Herausgeber der Encyclopédie méthodique, sollten sie auch den Verlag Grasset einbeziehen – nein, Grasset ist ein sehr schlechtes Beispiel, man müßte ein nobleres Beispiel nehmen. Ich schließe die Klammer.)

STAATSKUNST UND AKADEMISMUS DER AVANTGARDE

Ich werde diesen permanenten Vergleich, zu dem ich Sie auffordere, ganz rasch skizzieren. Als Manet auftaucht, unter dem Zweiten Kaiserreich (1852-1870), verfügt Frankreich über eine staatlich approbierte Kunst. Es gibt den Salon, das Institut,[10] die [Académie des] Beaux-Arts, die Museen, kurz, ein ganzes bürokratisches System, könnte man sagen, zur Ausrichtung des Publikumsgeschmacks – ich komme im folgenden auf diese Institutionen zurück. Man bietet dem Publikum Werke, die unter solchen Bedingungen ausgewählt werden, daß es sich von selbst versteht, daß die ausgestellten Werke dies auch verdienen und die nicht ausgestellten es nicht verdienen; es gibt also echte Kunst und unechte Kunst – eine Klassifizierung, die die Museen reproduzieren. Was ist ein Kunstwerk, wenn nicht ein Werk, das dadurch seine Weihe erhalten hat, daß es sich in einem Museum befindet (vgl. Duchamps Urinal)?[11] Der Staat greift deutlich in die Ästhetik ein, und zwar als Instanz der Kategorisierung und Klassifizierung: Er ist eine klassifizierende Instanz. Wir haben heute Äquivalente dafür, und man kann sich die Frage stellen, ob Museen, Museumskonservatoren, Künstlerstipendien, Ankäufe von Gemälden usw. heute nicht genauso eine akademische Kunst produzieren wie die Institutionen Académie, Institut, Salon usw. einst oder ob sie nicht auf eine bestimmte Kunst einen Akademisierungseffekt ausüben. Eine Frage, die gestellt werden muß – mein Kollege Marc Fumaroli zum Beispiel stellt die Frage nach dem Akademismus, den eine staatlich approbierte Kunst produziert, sehr nachdrücklich und virulent, ohne daß ich allerdings mit ihm einverstanden wäre.[12]

Was diesen Akademismus angeht, [ist es wichtig] zu sehen, daß es sich um einen Akademismus der Avantgarde handelt. Manets Situation war einfacher: Es gab einen Bruch mit der akademischen Kunst, es gab Neuerer, die von einer Institution verurteilt wurden, und eine Institution, die sie verurteilte. Erst dreißig bis vierzig Jahre später bildet sich eine neue akademische Institution heraus, ein Akademismus der Avantgarde oder akademischer Avantgardismus, was dazu führt, daß die Frage nach dem staatlichen Eingriff in die Institution Kunst sich stellt und ebenfalls die Frage nach der Echtheit der von der Institution approbierten Künstler. Man könnte sagen, daß es sich um eine der wichtigsten Fragen für die heutigen Kritiker handelt, übrigens nicht nur im Bereich der bildenden Künste, sondern auch in dem der Literatur: Wie kann man Zyniker der Talmi-Revolution und authentische Revolutionäre auseinanderhalten? Mit dem Kriterium der Aufrichtigkeit, das zum Beispiel in den Debatten um Manet angeführt wurde? Man fragte sich damals, ob er ein Betrüger oder ein zynischer Blender ist ob er all das nur macht, um aufzufallen.

DIE TALMI-REVOLUTION

Dabei ist eine der grundlegenden Fragen, denen der Historiker nicht ausweichen kann, die nach der Intention des Künstlers. Die Kritiker jener Zeit, Leute wie Jules-Antoine Castagnary, Théodore Duret, Théophile Thoré-Bürger, stellen ständig die Frage nach den Intentionen des Künstlers und erinnern unablässig daran, wie sehr alles davon abhängt. Heute ist das genauso. Seit der Epoche von Manet sieht man Hochstapler auftauchen, die früher als andere mitbekommen haben, was für eine Revolution gerade abläuft, zumindest oberflächlich zu ihr konvertieren und eine Zeitlang von der Konservation wie auch zugleich von der Konversion profitieren. Einer der typischsten, wir kommen noch darauf zurück, ist eine Figur aus Zolas L'Œuvre <Das Werk> namens Fougerolles; in der Wirklichkeit handelt es sich um Jules Bastien-Lepage,[13]eine idealtypische Figur, wie man sie in allen Feldern findet: Im Feld der Haute Couture zum Beispiel haben Sie Revolutionäre wie Courrèges und dann Arrangeure wie Saint-Laurent.[14] In allen Bereichen sind das Leute, die generell später kommen, die verstehen, was gelaufen ist, und die eine Soft-Version der Hard-Revolution anzufertigen wissen, was ihnen viel einbringt. Bastien-Lepage wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt Manet vorgezogen, sogar von Manets Freunden. Das war nicht spaßig: Manet war noch nicht anerkannt, und schon profitierten seine Affen, die Affen des Genies, während er selber noch verurteilt war – er blieb es bis zu seinem Tod. Wenn man an die Mystik vom artiste maudit, vom verfemten Künstler, glaubt, kann man sagen, daß es ein gutes Omen ist, als Verurteilter zu sterben, aber ich glaube nicht, daß es Spaß macht, so zu leben.

Sobald die symbolische Revolution vordringt, ist Raum für den Betrug mit der Revolution, die Scheinrevolution. So daß die gegenwärtige Lage der Kunst, die ich bloß skizziert habe, damit sie Ihnen gegenwärtig ist, beträchtliche Analogien mit der Lage der Kunst unter dem Zweiten Kaiserreich aufweist, mit dem großen Unterschied, daß der Avantgardismus heute als legitim anerkannt ist, auch wenn es schick ist zu sagen, daß es keine Avantgarde mehr gibt: Es gibt einen legitimen Avantgardismus, und es gibt sogar legitime Hüter des legitimen Avantgardismus, nämlich die Konservatoren der großen Museen für zeitgenössische Kunst, und diese Konservatoren der Avantgarde sind natürlich die Hauptzielscheibe der Kunstkonservatoren, der künstlerisch Konservativen, die sich die Konservatoren der Avantgarde oder den konservativen Avantgardismus vornehmen, den Talmi-Avantgardismus, um die Verdammung des Avantgardismus schlechthin zu rechtfertigen.

Wir rühren hier an einen Punkt, den ich für sehr wichtig halte hinsichtlich der Verächter der Avantgarde und der frühen Kritiker, die ich Ihnen in einer Tabelle darstellen werde. Ich habe mir damit beträchtliche Mühe gegeben, denn statt die Kritiker einen nach dem anderen unter die Lupe zu nehmen, habe ich versucht, den Raum der Kritiker und seine Entwicklung zu rekonstruieren. Ich habe gewissermaßen ein sehr breites und ermüdendes und zwangsläufig unvollständiges Schema angefertigt – es wird immer ein Pedant kommen und mir sagen: »Sie haben den und den in bezug auf dieses und jenes Bild vergessen« –, aber ich habe versucht, diesen Raum der Kritiker und seine Entwicklung so zu rekonstruieren, daß verständlich wird, worin und warum die Kritiker zuerst einen reaktionären Diskurs entwickelt und sich dann nach und nach zu dieser Kunstrevolution bekehrt haben.

PARENTHESE ÜBER WISSENSCHAFTLICHEN POPULISMUS

(Die beste Waffe der konservativen Denunziation ist das, was man das »Lachen des Volkes« nennen könnte, dieses: »Seht doch bloß, seht, wie sie lachen [die Zuschauer angesichts von Manets Bildern]«.[15] In Das Werk, diesem Roman, der literarisch nicht umwerfend ist und auch nicht als Dokument, aber in mancher Hinsicht Dinge zur Sprache bringt, die alle historischen Untersuchungen beiseite lassen, zeigt Zola eindrucksvoll, wie Manet zum Freiwild wird, zeigt das Spektakel um Manet – Le Charivari, das Spektakel, war der Name einer satirischen Zeitschrift, die jede Woche über Manet herfiel.[16] Das ist eine interessante Zeitschrift, die auf eine rituelle Subversion religiösen Typs verweist, auf eine Atmosphäre der »Hexenjagd« – alle Metaphern dieser Art treffen zu –, in der die Kritiker der damaligen Zeit lebten, die sich zu ihren heftigen Ausfällen gegen den Häresiarchen Manet berechtigt fühlten, weil sie das Volk auf ihrer Seite hatten.

Mit anderen Worten, es gab eine Art spontanen Populismus wie heute auch […]. Diese Art Populismus hat heute ihr Äquivalent, und sie wird von gewissen Soziologen unterstützt. Deswegen könnte ich dies nicht unerwähnt lassen, obschon die Mehrzahl der hier [in diesem Saal des Collège de France] anwesenden Soziologen nicht damit gerechnet haben dürfte, daß ich davon spreche [Lachen]. Wenn die konservative Kritik zu Manets Zeit sich mit dem spontanen Populismus wappnet, so deswegen, weil dieser spontane Populismus ins Gewicht fällt: Er verleiht der Kunstkritik eine sehr machtvolle und in gewissem Maß unerbittliche, unumgehbare Autorität. Ich kann dieses Thema nicht entwickeln, aber der spezifische Revolutionär betreibt die Revolution gegen die Herrschenden in der relativ autonomen Welt, in der er kämpft: Er betreibt die Revolution gegen die Académie, er betreibt die Revolution gegen die Mandarine, aber er betreibt sie auch, ob er will oder nicht, gegen das »Volk« in Anführungszeichen, das in Wirklichkeit das Bürgertum war; die Besucher der von der Académie veranstalteten Ausstellungen kamen nicht aus den unteren Klassen, sondern aus dem Bürgertum. Mit anderen Worten, der spezifische Revolutionär, der Revolutionär in einem relativ autonomen oder sich konstituierenden Feld, befindet sich in einer durchaus paradoxen Lage, denn er ist dazu verurteilt, eine Revolution – die wirklich revolutionär sein kann, auch für das Volk – gegen das Volk zu betreiben. Und er kann des Elitarismus bezichtigt werden. Hier stocke ich, wie Sie sehen, denn ich gehe wie auf Eiern, rühre ich doch an gerade jetzt brandaktuelle Dinge, derentwegen man sich in den Pariser Gazetten förmlich zerfleischt und derentwegen man mich in denselben Gazetten auch gern zerfleischen würde. Im übrigen ist mir bewußt, daß das, was ich sage, einige Nuancierungen verdient …

Der aktuelle Kampf gegen das, was man den Neoakademismus der Avantgarde oder den akademischen Neoakademismus nennen könnte, wird oft von großen Kennern der Avantgarde geführt. Das ist bei Domecq nicht der Fall, wohl aber zum Beispiel bei Jean Clair,[17] der sehr gut weiß, wovon er spricht, und durchaus fähig ist, die Schwindler herauszukennen, der fähig ist, diejenigen auszumachen, die das moderne und legitime Bild der modernen Kunst ausnutzen, das von den Konservatoren konserviert wird, um konservative Dinge zu machen, die revolutionär aussehen. Darum ist der Kampf sehr schwierig, denn die Denunzierung der Kunst der Avantgarde kann sich heute mit der Anprangerung des Schwindels wappnen und eine gewisse sachliche Grundlage ins Feld führen, fundamentum in re, wie die Alten sagten.

Man kann mit Recht behaupten, daß es Leute gibt, die den Staat betrügen, die sich subventionieren lassen usw., aber die absolute Waffe dieser Kritik der zeitgenössischen Kunst, die sonst elitär wäre und eine Sache von Intellektuellen, von Spezialisten bliebe, liegt in der Fähigkeit, sich mit einem regressiven Populismus zu wappnen, zu dem die Soziologie beiträgt. Es gibt eine Soziologie – in geringem Grad bei Raymonde Moulin, in hohem Grad bei Nathalie Heinich[18] –, die einen wissenschaftlichen Populismus anbietet:[19] Diese Soziologie bedient sich der wissenschaftlich erworbenen Kenntnis der sozialen Determinanten für die Tendenz, (avantgardistische) Kunstprodukte zu konsumieren, und kann sich also mit der Kenntnis über die Geschmacksverteilung in Sachen Malerei versehen, um eine bestimmte Verurteilung der avantgardistischen Kunst zu rechtfertigen. Die Denunzierung durch diesen soziologischen Populismus, die oft von soziologischen »Bastien-Lepages« ausgeht, führt zu einer wissenschaftlich legitimierten Anprangerung der künstlerischen Reaktion. Auch da bin ich in einer schwierigen Lage, weil ich nur eine sehr oberflächliche Analyse skizziere, damit Sie diese Vorlesung über Manet nicht bloß als eine historische Darstellung hören, die ganz interessant sein mag, aber durch die historische Distanz neutralisiert wird – was eins der großen Probleme ist, die Manet aufgibt. Mit dem Frühstück im Grünen, von dem ich sprechen werde, hat uns Manet Aktdarstellungen vor Augen geführt, die die historische Euphemisierung zu neutralisieren, in die Vergangenheit zu verweisen erlaubte. Ich möchte also einen »Manet-Effekt« erzielen, gewissermaßen …)

EIN UNMÖGLICHES FORSCHUNGSPROGRAMM: DER RAUM DER KRITIK

Noch eine weitere peremptorische und arbiträre Bemerkung, ich denke aber, was ich hier gerade entwickle, ist ein Arbeitsvorhaben, das fundierter ist, als es aussieht, aber ich habe nicht die Zeit, das vollständig zu belegen. Wie im 19. Jahrhundert koinzidiert bei der Verurteilung des heute dominierenden antiakademischen Akademismus eine rechte Kritik mit einer linken Kritik. Das ist etwas sehr Interessantes angesichts der Verurteilungen, die oft von denselben ethischen Voraussetzungen ausgehen.

Wenn ich diesen stockenden und schwierigen Exkurs gemacht habe – jedenfalls ist er mir schwergefallen –, dann deswegen, weil ich denke, daß es bei dieser soziologischen Arbeit um ethisch-politische Dinge geht. Im Kunstmilieu gehört es zum guten Ton, davon auszugehen, daß die soziologische Arbeit zu jedem möglichen Verständnis der künstlerischen Schöpfung in Gegensatz steht, und doch ist sie, denke ich, in einer ganz bestimmten Konstellation zu einer ästhetischen Waffe geworden. Und wenn die soziologische Argumentation auf diese Weise ästhetisch eingesetzt wird, erscheint sie mir als unentbehrlicher Verbündeter jeder Kritik. Der ganz bescheidene Vorschlag, der allem, was ich machen werde, zugrunde liegt, lautet: Nur eine »historisch-soziologische« Untersuchung des Raums der Produktion und des Raums der Rezeption macht eine wirklich radikale und konsequente Kritik möglich. Was ich predige, ist ein Mahnruf an den Verantwortungssinn der Kritik und der Soziologie. Darum geht es. Dies also war der erste Punkt und die erste Funktion dieser Analysen, der erste Nutzen, den Sie aus diesen Analysen des künstlerischen Felds zur Zeit von Manet und der Umwälzung ziehen können, die er dort eingeführt hat.

In einem Fall wie dem von Manet und der Kunst seiner Zeit ist der ganz besondere Status, den die historische Forschung der Kritik einzuräumen hat, eine andere Vorbedingung. Ein wesentlicher Teil der Kenntnis, die uns über die Kunst des 19. Jahrhunderts zugänglich ist, rührt nämlich von den Kritikern her. Und ich habe nur einen Kunsthistoriker gesehen, der sich darüber gewundert hat, daß die Kunstkritiker keine Kritik der Kunstkritik unternehmen – anders gesagt, daß die Kunstkritiker keine Geschichte der Kunstgeschichte machen, was eine Vorbedingung für die Benutzung der Produkte dieser Geschichte wäre. Sie werden sagen: Schon wieder dieser Imperativ der Reflexivität, den ich immer von vornherein predige. Aber ich denke wirklich, daß eines der Ziele meiner Arbeit darin liegt, zu zeigen und zu beweisen, daß diese reflexive Beziehung zur Kritik die unumgänglichste Voraussetzung für das Verständnis des Diskurses von Manet, der Diskurse über Manet und der Werke Manets und seiner Zeitgenossen ist.

Die Analyse des Raums der Kritik zur Zeit von Manet rechtfertigt sich doppelt: Erstens, ganz wie man üblicherweise Dokumente, ihre Echtheit einer Kritik aussetzt [indem man sich fragt], ob die Unterschrift echt ist oder nicht, ob das Dokument gefälscht ist oder nicht, muß man auch, so scheint mir, eine soziologische oder historische Kritik von Dokumenten unternehmen: Nimmt man zum Beispiel einen Text von einem Kritiker wie Thoré, Duret, Castagnary usw., dann geht es nicht nur darum zu wissen, ob er echt ist, wann er geschrieben wurde usw.; es ist wichtig zu wissen, welche Position er im Raum der zeitgenössischen Diskurse eingenommen hat. Mit anderen Worten, wie war die Position dieses Diskurses im Raum der Diskurse und wie die Position des Produzenten dieses Diskurses im Raum der Produzenten solcher Diskurse. Ein Dokument welcher Art auch immer – und das gilt, denke ich, für jedes historische Dokument – ist eine Positionierung in einem Raum, die ihren Sinn bezieht einerseits durch Bezug auf den Raum homologer Positionierungen und andererseits durch Bezug auf den Raum der Positionen, dessen Ausdruck diese Positionierungen sind. Dies also die erste Rechtfertigung dieser Kritik, dieser Vorbedingung der Kritik der Kritik.

Der zweite Grund, der dazu zwingt, diese Kritik zu thematisieren: Ich habe zu Beginn gesagt, daß die von Manet vollzogene Revolution schwer zu begreifen ist in dem Maße, in dem sie erfolgreich war, sich bei uns durchgesetzt hat, den mentalen Strukturen, die sie entwickelt hatte, zum Durchbruch verholfen hat. Die Kritik verstehen und die langsame Evolution des Raums der Kritik läuft im Grunde darauf hinaus, die Bedingungen zu verstehen, unter denen die Revolution sich vollzogen hat. Nur wenn man die Genese eines Raums der Kritik und die Transformationen dieses Raums versteht, läßt sich auch der Übergang von einer akademischen Kritik zu einer ästhetischen Kritik und die Erfindung des Kritikers im heutigen Sinne verstehen – diese Erfindung gehört zu den Transformationen, die Manets Revolution ausgelöst hat und deren Ergebnis sie gleichzeitig ist. Man spricht viel von Rezeptionssoziologie, von Rezeptionstheorie, aber in dem besonderen Fall der Situation von Manet könnte man sagen, daß der Zweck einer Analyse der Kritik darin besteht, der Rezeptionssoziologie eine Grundlage zu verschaffen.

Zentral für das, was ich Ihnen heute kurz zeigen möchte, ist, daß die symbolische Revolution die Wahrnehmungskategorien der wahrnehmenden Subjekte verletzt, sich darüber hinwegsetzt. Indem die symbolische Revolution sie angreift, sie in Frage stellt, zwingt sie diese Kategorien in gewisser Weise dazu, sich zu enthüllen. Der Häresiarch entbanalisiert, wie ich vorhin gesagt habe, er erschüttert die Rezipienten, versetzt sie in einen Zustand der Empörung; er gibt ihnen Ärgernis und bringt sie dazu, das Banale, das Offensichtliche, das, »was sich von selbst versteht«, zu verdeutlichen, was der maßgebliche Kritiker desto mehr verabscheut zu sagen, je maßgeblicher er ist. Er hat sich nicht zu rechtfertigen für das, was sich von selbst versteht, zum Beispiel den Primat des Alten gegenüber dem Zeitgenössischen, er hat den Primat der Tiefe gegenüber der Flachheit nicht zu rechtfertigen usw. Mit anderen Worten, der Kunstskandal ist gewissermaßen eine Vorladung, die die Autoritäten – diejenigen, die sich autorisiert fühlen zu sprechen, und das ist bei den Kunstkritikern der Fall – auffordert, nicht nur zu sagen, ob etwas gut oder schlecht ist (was sie sehr gerne tun), sondern die unbewußtesten und verhohlensten Beweggründe ihrer Urteile zu offenbaren. Und diese Beweggründe benennen sie meistens natürlich nicht mit einer »cleanen« Axiomatik, in Form kalter Propositionen wie »das Alte ist besser als das Zeitgenössische«, »das Tiefe ist besser als das Flache«; sie sagen es in Form von Beschimpfungen, Aggressionen, Gewalt. Sie sind einer Form von Gewalt ausgesetzt und reagieren mit Gewalt.

Diese Kritik der Kritik ist natürlich äußerst schwer durchzuführen, weil die meisten dieser Leute ganz unbekannt sind, völlig obskur, und das Sammeln der geringsten Auskünfte über sie (über ihre Ausbildung, über ihre Herkunft usw.) viel Arbeit voraussetzt. (Leider brauchte man ein Leben dazu, dieses Programm durchzuführen, aber ich denke, daß unrealisierbare Programme zumindest einen wissenschaftlichen Vorteil haben: Sie liefern eine Kritik der Programme derer, die meinen, daß es realisierbare Programme gibt. Ich sage das ohne die geringste Ironie. Es geht nicht darum, zu demoralisieren und zu sagen, wie die Philosophen es oft tun: »Das ist nichts als engstirniger Positivismus, Faktenhuberei usw.; wir dagegen sagen alles, wir greifen zurück auf unhintergehbare theoretische Voraussetzungen.« Darum geht es überhaupt nicht. Es geht um ein durch und durch realistisches Programm, das aber schlicht und einfach viel Zeit oder sehr gut organisierte Forschungsgruppen erfordert.)

Bleibt, daß die soziologische Kritik dieser Kritik äußerst wichtig ist, weil sie im Idealfall erlaubt festzustellen, was jede Äußerung über jedes der Bilder von Manet besagt; und um zu wissen, was jede dieser Äußerungen besagt, muß man wissen, was gleichzeitig geäußert worden ist über gleichzeitig ausgestellte Bilder, und zwar von der Gesamtheit der Kritiker, die diese Bilder besprechen, denn sie beziehen sich wechselseitig aufeinander, es gibt Feldeffekte usw. Dieses unrealisierbare Programm, das man aber immerhin entwerfen kann, würde ermöglichen, den Sinn der unterschiedlichen Empörungen zu verstehen: Es gibt die, die sich über den sexuellen Aspekt des Frühstücks im Grünen empören, und andere, die sich über den kompositorischen Aspekt empören; und was sofort auffällt, wenn man von den Kritiken spricht: Es gibt eine Hierarchie unter den Empörungen. Es gibt Empörungen, die vom Oberflächlichsten (»Das ist nicht Mode«, »das ist veraltet«) bis zum Profundesten reichen, wobei das Profundeste im allgemeinen das ist, was die Struktur, die Komposition, den gesamten Aufbau des Bildes betrifft.

VOM BANALEN ZUM SKANDAL

Da wir jetzt zum Werk kommen, will ich ganz rasch sagen, was ich mit der Projektion des Frühstücks im Grünen beabsichtige, die Sie vor Augen haben. Natürlich, wenn ich ein so banales und banalisiertes Werk projiziere – man kann es auf Keksdosen finden, und es ist sicher nach der Mona Lisa das am meisten kommentierte Werk, das heißt das am meisten gesehene und also am wenigsten gesehene –, habe ich eine leicht verrückte Absicht, und zwar die, Ihnen zu ermöglichen, den Skandal nachzuvollziehen, den dieses banalisierte Werk auslösen konnte. Wie hat ein Werk für Keksdosen eine unvorstellbare Gewalt entfesseln können? Ich denke, die revolutionärsten Schriften von Marx oder Durkheim haben nicht den hundertsten Teil von der Gewalt ausgelöst, die dieses Werk ausgelöst hat, und sein Double, nämlich Olympia (1863) [7]. Vor einem solchen Werk kann man sich viele Fragen stellen, aber ich möchte Ihnen einfach einmal eine Analogie vortragen. Man kann dieses Werk per Analogie denken, als Phänomen eines religiösen aggiornamento, dieser sanften Form von symbolischer Revolution, einer Form von Revolution gegen die Institution, durchgeführt von der Institution. Das beginnt mit einem Konzil, einer gemeinsamen, streng beaufsichtigten, gefilterten Arbeit von Priestern, Bischöfen, Kardinälen – alle möglichen Zensuren bewirken, daß sie nicht das Gewaltsame einer vereinzelten Häresie hat, die von einem vereinzelten Akteur ausgeht. Und trotzdem liefert das aggiornamento eine Analogie. Vor ein paar Jahren habe ich ein Buch mit dem Titel Ce que parler veut dire herausgebracht,[20] in dem ich Dokumente wiedergegeben habe, die ich zufällig entdeckt hatte: In der Rue Saint-Sulpice[21] war ich auf ein Buch gestoßen, das den Titel trug Livre blanc et noir de la communion solennelle;[22] natürlich wurde mein soziologisches Auge wach, ich habe das Buch gekauft und etwas ganz Außerordentliches entdeckt: Der Verfasser, Hochwürden Maurice Lelong, Prediger in Notre-Dame, hatte sozusagen alle entrüsteten Briefe zusammengestellt, die er anläßlich der vom zweiten vatikanischen Konzil ausgelösten Reform der katholischen Liturgie von seinen Gläubigen erhalten hatte. Wenn Sie in das Buch schauen – ich glaube, es ist ganz amüsant –, werden Sie sehen: ich habe auf der linken Seite Sätze aufgeführt, in denen sich die Empörung über den Skandal Luft macht, und in Klammern Nummern hinzugefügt, die auf den Typ des benannten Skandals verweisen: (1) bedeutet Irrtum des Akteurs, (2) falsches Instrument usw.[23] Ich nenne ein Beispiel für einen Irrtum: Man reicht die Kommunion, aber man reicht sie in einer Scheune oder in einer Küche: ein falscher Ort, der Anstoß erregt; man reicht die Kommunion, aber sie wird von einem Laien gereicht, nicht von jemandem, der von einer als Inhaber des Monopols an der rechtmäßigen Verwaltung von Heilsgütern konstituierten Körperschaft, wie Max Weber sagt, rechtmäßig beauftragt ist, nämlich von einem Priester – ein weiterer Grund zum Ärgernis; falsche Kleidung: Man hält die Messe in Alltagskleidung ab und ohne die normalen Attribute priesterlicher Weihe; falsches Verhalten: Der Priester reicht die Kommunion, indem er die Hostie aus seiner Tasche zieht [Lachen]. Sie lachen, sehen Sie, genau dieses Lachen hat Manet ausgelöst. Oder statt die Hostie in den Mund zu stecken, gibt man sie jemandem in die Hand. Das schockiert viele Leute, das ist ein Fehlverhalten; andere wieder empören sich über das Format der Hostien, die viel zu groß sind – man muß sie in Stücke schneiden, man kann sie nicht auf einmal runterschlucken.

Dieser Versuch der Analyse eines moderaten Skandals, den ich seinerzeit gemacht habe, brachte zum Vorschein, daß eine Gesamtheit von Bedingungen erfüllt sein muß, wenn alles so glatt verlaufen soll wie in der Kirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet ganz hier in der Nähe:[24] ein Priester mit einer Sutane, mit den ganzen Gerätschaften, einem Ziborium usw.; ein bestimmter Zeitpunkt, ein bestimmter Ort, Vorbereitungen, ein System von Bedingungen, das als solches für jedes seiner Elemente bürgt. Damit die Liturgie funktioniert, ist also erforderlich, daß alle Bedingungen vereinigt sind, wie die Erfahrung des Skandals nach und nach offenlegt. Und andererseits gehört es zum Funktionieren der symbolischen Macht der katholischen symbolischen Ordnung, daß alle diese Bedingungen unsichtbar vereint sind, ohne daß es jemandem auffällt. Erst wenn das beginnt aus dem Leim zu gehen, merkt man, daß das eine oder andere Element fehlt. Mit anderen Worten, die Bürgschaft der religiösen Institution für diesen oder jenen einzelnen religiösen Akt ist nicht an einen besonderen Akteur gebunden, sondern an ein System von Beziehungen zwischen Handlungen, Akteuren, Instrumenten, Zeitpunkten, Orten. Die Erfahrung des Willkürlichen stellt sich ein, des Mißbrauchs der symbolischen Macht, wenn ein Mandatsträger als selbstdesignierter Priester, als sein eigener Mandatsträger handelt, der die Autorität usurpiert, die an ihn bloß delegiert ist. Ich verweise Sie auf die Seite 115 von Ce que parler veut dire,[25] wo Sie die Beschreibung eines symbolischen Systems finden, das funktioniert wie geölt, das gut verinnerlicht ist und daher von denjenigen, die in ihm aufgehen, überhaupt nicht wahrgenommen wird. Ich denke, der Skandal, den Manet durch das Bild Frühstück im Grünen auslöst, ist ganz analog zu dem aggiornamento, aber sehr viel heftiger, und wenn man die zeitgenössischen Kritiker von Manet liest, wie ich Le livre blanc et noir de la communion solennelle gelesen habe, kann man dort entdecken, was ich entdeckt habe: eine vollständige Analyse der Bedingungen des Funktionierens des akademischen Systems.

Wie die empörten Mitglieder der katholischen Gemeinde Fehler und Verfehlungen entdeckt haben, so haben auch die empörten Kunstkritiker, die sich zum Sprachrohr des breiten Publikums und Medium des volkstümlichen Lachens machten, Fehler des Häresiarchen entdeckt und damit gleichzeitig die impliziten, stillschweigenden Voraussetzungen der akademischen Ordnung enthüllt. Damit spricht der Diskurs der Kritiker die Voraussetzungen eines harmonischen Funktionierens der ästhetischen Liturgie und des Salon aus. Wie die Krise der Liturgie eine Krise der religiösen Sprache ist, die mit einer Krise des Klerus einhergeht und die Krise der Sprache verdoppelt, so ist die Krise, die Manet hervorruft, wesentlich eine der ästhetischen Sprache: Die Leute wissen nicht mehr, wie sie davon sprechen sollen. Manet macht etwas, von dem man nicht weiß, wie davon zu sprechen wäre, etwas, worüber man nichts zu sagen hat. Leider vergessen die Historiker, daß die wichtigsten Dinge sich oft im Schweigen äußern. Eins der Probleme, die sich zum Beispiel die Kritiker stellen – und dieses Problem stellen alle symbolischen Kämpfe –, liegt in der Frage, ob man Manet mehr schadet, wenn man von ihm spricht, oder dann, wenn man nicht von ihm spricht. Und tatsächlich gibt es Kritiker, die es bis zum Ende durchhalten, nicht von ihm zu sprechen. Der Kritiker des Figaro wird erst ganz am Ende von ihm sprechen, wenn es nicht mehr möglich ist, nicht von ihm zu sprechen, weil alle von ihm sprechen und weil Manet einen Skandalerfolg hat. Aber eine der wirksamsten Strategien ist zumindest anfänglich das Schweigen. Einer der Vorzüge systematischer Analysen ist der, daß sie das Schweigen zum Vorschein bringen. Während, wenn Sie nur die Diskurse derer nehmen, die gesprochen haben, Sie die nicht sehen, die nichts gesagt haben, obwohl Schweigen sprechender sein kann als Reden.

EIN BILD VOLLER UNSTIMMIGKEITEN

Der Häresiarch, der das Bild produziert hat, produziert einen Skandaleffekt, zerbricht eine symbolische Ordnung, die Übereinstimmung zwischen Wahrnehmungsstruktur und Sozialstruktur, die der Erfahrung der sozialen Welt als etwas Selbstverständlichem zugrunde liegt. Die Strukturen treten meist in Form binärer Gegensätze auf: Es gibt das ästhetische Oben und Unten, der Hierarchie der Gattungen entsprechend, es gibt den Gegensatz männlich/weiblich, den Gegensatz Bürger/Volk usw. Eine gewisse Anzahl »volkstümlicher« Kritiker (das heißt Kritiker, die in vielgelesenen Zeitungen schreiben und bemüht sind, bei ihrer Leserschaft gut anzukommen, indem sie ihr sagen, was sie hören will – das Phänomen der Einschaltquote ist nicht neu …) sieht beispielsweise sofort die sexuelle Barbarei, die Tatsache, daß da angezogene bürgerliche Männer sind und eine nackte Frau, eine Kokotte niedrigen Standes, wie man annimmt.

Dieses Bild ist voller Unstimmigkeiten – man müßte eigentlich sagen: Unschicklichkeiten –, das heißt voller Widersprüche hinsichtlich der Kategorien, die den Hirnen der Menschen jener Epoche als Wahrnehmungsschemata einbeschrieben sind und festlegen, was für die Mehrzahl der Betrachter und der Künstler zulässig ist. Zum Beispiel stellt man fest, daß dieses Bild, das 2,08 m mal 2,64 m mißt, für sein Thema zu groß ist. Wir haben die Dimensionen und insbesondere die Beziehung zwischen der Hierarchie der künstlerischen Kategorien, also der Werke, und der Hierarchie der Größe der Bilder nicht mehr im Auge. Einige denken, daß es für eine Genreszene zu groß sei,[26] und namentlich für eine Badeszene, eine ganz besondere Kategorie. Kritiker stellen fest, daß zwischen dem zeitgenössischen Charakter und [dem pastoralen Charakter des Werks] ein Widerspruch vorliege; für eine Badeszene sei es zu realistisch. Ein anderes Ärgernis, das die Kritiker feststellen: für ein schlüpfriges Bild, das unauffällig an den Mann gebracht und von ihm in die Brieftasche gesteckt werden kann, ist es zu öffentlich und offiziell. Dieses Werk ist eine doppelte Verletzung zweier Spielarten des Sakralen (es begeht ein Sakrileg im Sinne Durkheims): Für die spezifisch Zuständigsten, die Gläubigsten, die auch die Empörtesten sind, verletzt es etwas spezifisch Sakrales auf ästhetischer Ebene; und außerdem verletzt es etwas nichtspezifisch Sakrales, das ethisch-sexuelle Sakrale.

Also eine erste Regelverletzung, die sich auf die Beziehung zwischen der Hierarchie der Gattungen und der Hierarchie der Formate bezieht: Das Frühstück im Grünen ist ein großes Bild, während die gemeinhin verfügbaren Formate zwischen 21,5 mal 7,2 cm und 94,4 mal 129,6 cm lagen. Es gab eine gewisse Anzahl von Standardformaten, sonst mußte man eine Sonderbestellung aufgeben. Die Frage wird sich erheben, ob Manet die Absicht hatte zu provozieren, insofern als sicher gilt, daß er dieses nicht standardgemäße Format gewollt hat, das nicht zu dem Sujet paßt, mit dem er sich beschäftigte. Das Format des Frühstücks im Grünen ist nämlich das, was Historienmaler für ihre Nachschöpfungen edler Vorgänge benutzen (in der Hierarchie der Künste standen religiöse Gemälde obenan, dann folgten Historiengemälde, dann Genrebilder und ganz unten Stilleben). Manet hat bewußt ein großes Format für eine Landschaft, eine Genreszene gewählt, also für eine untergeordnete Gattung. Manet hat eine ehrgeizige Absicht, ein Thema kehrt unter der Feder der Kritiker ständig wieder: Für wen hält er sich eigentlich? Er will Oberhaupt einer Schule sein und versteht sich nicht einmal auf sein Metier! Sie bezichtigen Manet der Vermessenheit, und diese Bezichtigung beruht auf der unbewußten Wahrnehmung der Unstimmigkeiten des Bildes. (Es ist interessant, daß einem die Empörung in der Kehle steckenbleibt, daß man etwas auf dem Herzen hat – man müßte einmal eine Soziosomatik moralischer Empörung erstellen, die keine Worte findet, da das Wesentliche nicht bis zur Äußerung, bis zum Bewußtsein vordringt, was nicht heißt, daß es unbewußt wäre im Freudschen Sinne. Eines der Probleme der ethischen Empörung besteht in der Sprachlosigkeit.)

DIE KOLLISION ZWISCHEN EDLEM UND TRIVIALEM

Zweite Regelverletzung: die historischen Referenzen. Erste Bemerkung: Nur wenige zeitgenössische Kritiker (drei oder vier) machten bei diesem Bild historische Bezüge aus, das heißt »Entlehnungen« bei Malern der Vergangenheit, während die heutigen Kritiker sich in historischen Referenzen gegenseitig zu überbieten suchen. Das ist ein Bias der Erwin Panofsky verpflichteten Ikonographie: Für einen wohlinformierten Kritiker ist es Ehrensache, in der Malerei, in Stichen, Lithographien usw. Bezüge herauszufinden, während auch die gebildetsten zeitgenössischen Kritiker von Manet (Thoré zum Beispiel) mit wenigen Ausnahmen historische Bezüge kaum ansprechen, und das ist eine historische Information über den historischen Blick der historischen Kritik jener Zeit. Diese Kritik ist dazu da, die Geschichte zu erzählen, die das Bild erzählt, und nicht die Geschichte der Malerei, in der das Bild steht. Der Kritiker ist jemand, der einen schulgemäßen und literarischen Kommentar macht (er muß sehr gut geschrieben sein) und der beansprucht, einen Text zu verfassen, der das Bild nahezu ersetzt. Diese Tradition setzt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fort, wie Dario Gamboni im Hinblick auf Odilon Redon nachgewiesen hat.[27] Joris-Karl Huysmans rivalisiert in einer Art Prosagedicht mit dem Maler, der das Sujet der Kritik sein soll.[28] Die Literaten verhelfen den Malern zur Sprache, weil davon ausgegangen wird, daß sie sich nicht mit Worten auszudrücken wissen. Man sollte einmal über Duchamps Ausdruck »dumm wie ein Maler« nachdenken …[29]

Es gibt also historische Bezüge und Zitate, die meist nicht gesehen werden, und wenn sie gesehen werden, dann werden sie hinterfragt, damit ihre Intention gerügt werden kann: Ist es ein Plagiat? Eine Kopie? Oder, ganz selten, obwohl das Thema Parodie sehr wichtig ist: eine Parodie? Manche Kritiker, mit denen ich einverstanden bin, bringen dieses Bild mit Offenbach[30] in Zusammenhang und sehen die Inszenierung einer mythischen Szene darin. Die Kritiker jener Zeit zitieren Giorgione[31]