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Pierre Bourdieu

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Beschreibung

Kaum ein Wissenschaftler war politisch so engagiert wie Pierre Bourdieu. Umso mehr überrascht es, dass er dem Staat keine eigene Monographie gewidmet hat. Dass er sich dennoch intensiv mit dem Thema beschäftigte, belegen seine Vorlesungen am Collège de France, deren fulminanter Auftakt Über den Staat bildet. Bourdieu geht es sowohl um Fragen der Methodologie und Theorie bei der Untersuchung des Staates als Forschungsobjekt als auch um die historische Genese dieser Institution. Er analysiert zentrale Unterscheidungen wie die zwischen öffentlich und privat sowie den Einfluss der Massenmedien. Über den Staat ist eine große Synthese – und das eigentliche Hauptwerk Bourdieus zur politischen Soziologie.

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Seitenzahl: 1142

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Kaum ein Wissenschaftler war politisch so engagiert wie der große französische So­ziologe Pierre Bourdieu. Um so mehr überrascht es, daß er dem Staat, dieser bis heute zentralen politischen Institution, dieser »kollektiven Fiktion«, keine eigene Monographie gewidmet hat. Daß er sich intensiv mit dem Thema beschäftigte und der Staat zunehmend in den Mittelpunkt von Bourdieus Forschung rückte, belegt nun die Publikation seiner Vorlesungen am Collège de France, deren fulminanter Auftakt Über den Staat bildet.

Bourdieu widmet sich darin auf einer ganz konkreten Ebene Fragen zur Methodologie und Theorie bei der Untersuchung des Staates als Forschungsobjekt wie solchen zur historischen Genese dieser Institution etwa in Frankreich, England, China oder Japan. In ebenso brillanten wie detaillierten Untersuchungen führt er vor, wie der moderne Staat aus einem Prozeß der Konzentration symbolischer Macht hervorgeht, an dem die Beamten und Juristen einen entscheidenden Anteil haben, und analysiert zentrale Unterscheidungen des »Denkens des Staates« wie die zwischen öffentlich und privat sowie das Problem der Korruption und den Einfluß der Massenmedien. Das außerordentlich reiche Werk zeigt nicht zuletzt auch den begnadeten Lehrer Bourdieu, der über die Schwierigkeiten der Vermittlung soziologischer Erkenntnis reflektiert.

Über den Staat ist eine gelungene Synthese – und das eigentliche Hauptwerk Bourdieus zur politischen Soziologie.

 

Pierre Bourdieu (1930 - 2002) hatte von 1981 an den Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France in Paris inne. 1993 erhielt er die höchste akademische Auszeichnung, die in Frankreich vergeben wird, die Médaille d‘or du Centre national de la recherche scientifique. 1997 wurde ihm der Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen verliehen.

 

Zuletzt erschienen:

Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5 (stw 1975)

Algerische Skizzen, 2010

Soziologie ist ein Kampfsport (fes 5)

Reflexive Anthropologie (zusammen mit Loïc J. D. Wacquant, stw 1793)

 

PierreBourdieu

Über den Staat

 

Vorlesungen am Collège de France 1989-1992

 

Herausgegeben von Patrick Champagne, Remi Lenoir, Franck Poupeau und Marie-Christine Rivière

 

Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim

 

 

 

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

Sur l'État. Cours au Collège de France (1989-1992)

© Éditions Raisons d'agir / Éditions du Seuil, janvier 2012.

 

Die Arbeit der Übersetzer wurde gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds, Berlin.

 

Die Herausgeber danken Gabrielle Balazs, Jérôme Bourdieu, Pascale Casanova, Christoph Charle, Olivier Christin, Yvette Delsaut, Paul Langot-Ymonet, Gilles L'Hôte, Pierre Rimbert und Gisèle Sapiro für wertvolle Hinweise, mit denen es möglich war, bestimmte Passagen der Vorlesung zu klären, und insbesondere Loïc Wacquant für seine aufmerksame Durchsicht des Textes.

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlagfoto: Daniel Mordzinski

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-73767-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

Notiz der Herausgeber

11

 

Studienjahr 1989-1990

 

Vorlesung vom 18. Januar 1990

17

Ein undenkbarer Gegenstand 17 – Der Staat als neutraler Ort 19 – Die marxistische Tradition 21 – Kalender und Struktur der Zeitlichkeit 24 – Die staatlichen Kategorien 29 – Die staatlichen Akte 31 – Der Eigenheimmarkt und der Staat 36 – Die Barre-Kommission zur Wohnungspolitik 42

 

Vorlesung vom 25. Januar 1990

53

Theorie und Empirie 53 – Staatliche Kommissionen und Inszenierungen 55 – Die soziale Konstruktion öffentlicher Probleme 60 – Der Staat als Standpunkt der Standpunkte 62 – Die offizielle Heirat 63 – Theorie und Theorieffekte 66 – Die beiden Bedeutungen des Wortes »Staat« 68 – Besonderes in Allgemeines verwandeln 71 – Das obsequium 73 – Die Institutionen als »organisiertes Vertrauen« 77 – Genese des Staates. Schwierigkeiten des Unternehmens 79 – Parenthese über das Lehren der Forschung in der Soziologie 80 – Der Staat und der Soziologe 82

 

Vorlesung vom 1. Februar 1990

90

Die Rhetorik des Offiziellen 90 – Das Öffentliche und das Offizielle 97 – Der universelle Andere und die Zensur 105 – Der Künstler als Gesetzgeber 108 – Genese des öffentlichen Diskurses 110 – Öffentlicher Diskurs und Formgebung 115 – Die öffentliche Meinung 120

 

Vorlesung vom 8. Februar 1990

126

Die Konzentration der symbolischen Ressourcen 127 – Soziologische Lektüre Franz Kafkas 130 – Ein nicht zu bewältigendes Forschungsprogramm 133 – Geschichte und Soziologie 137 – The Political Systems of Empires von Shmuel Noah Eisenstadt 140 – Zwei Bücher von Perry Anderson 148 – Die Probleme der »drei Wege« nach Barrington Moore 155

 

Vorlesung vom 15. Februar 1990

158

Das Offizielle und das Private 158 – Soziologie und Geschichte: der genetische Strukturalismus 162 – Genetische Geschichte des Staates 170 – Spiel und Feld 175 – Anachronismus und Illusion des Nominalen 180 – Die beiden Gesichter des Staates 182

 

Studienjahr 1990-1991

 

Vorlesung vom 10. Januar 1991

191

Historischer Ansatz und genetischer Ansatz 191 – Forschungsstrategie 196 – Die Wohnungspolitik 200 – Interaktionen und strukturale Beziehungen 202 – Ein Effekt der Institutionalisierung: die Evidenz 207 – Der »So-ist-es«-Effekt und die Schließung der Möglichkeiten 211 – Der Raum der Möglichkeiten 212 – Das Beispiel der Orthographie 215

 

Vorlesung vom 17. Januar 1991

221

Zum weiteren Gang der Vorlesung 221 – Die beiden Bedeutungen des Wortes Staat: Der Staat als Verwaltung, der Staat als Gebiet 223 – Die Disziplinenteilung der historischen Arbeit als epistemologisches Hindernis 226 – Modelle der Genese des Staates: 1. Norbert Elias 230 – Modelle der Genese des Staates: 2. Charles Tilly 238

 

Vorlesung vom 24. Januar 1991

244

Antwort auf eine Frage: Der Begriff der Erfindung unter strukturalem Zwang 244 – Modelle der Genese des Staates: 3. Philip Corrigan und Derek Sayer 252 – Die exemplarische Besonderheit Englands: Ökonomische Modernisierung und kulturelle Archaismen 261

 

Vorlesung vom 31. Januar 1991 267

Antwort auf Fragen 267 – Kulturelle Archaismen und ökonomische Transformationen 268 – Kultur und nationale Einheit: Der Fall Japan 273 – Bürokratie und intellektuelle Integration 278 – Nationale Vereinheitlichung und kulturelle Herrschaft 281

 

Vorlesung vom 7. Februar 1991

288

Die theoretischen Grundlagen einer Analyse der Staatsmacht 288 – Die symbolische Macht: Kräfteverhältnisse und Sinnverhältnisse 290 – Der Staat als Produzent von Klassifikationsprinzipien 293 – Glaubenseffekt und kognitive Strukturen 295 – Kohärenzeffekt der symbolischen Systeme des Staates 301 – Eine staatliche Konstruktion: Der Stundenplan in der Schule 304 – Die Produzenten der doxa 307

 

Vorlesung vom 14. Februar 1991

312

Die Soziologie, eine esoterische Wissenschaft, die einen exoterischen Eindruck macht 312 – Fachleute und Laien 316 – Der Staat strukturiert die soziale Ordnung 323 – Doxa, Orthodoxie, Heterodoxie 326 – Verwandlung des Privaten in Öffentliches: Das Auftauchen des modernen Staates in Europa 328

 

Vorlesung vom 21. Februar 1991

335

Logik der Genese und Emergenz des Staates: Das symbolische Kapital 335 – Die Etappen des Konzentrationsprozesses des Kapitals 339 – Der dynastische Staat 344 – Der Staat, eine Macht über den Mächten 347 – Konzentration und Enteignung der Kapitalsorten: Das Beispiel des Kapitals der physischen Gewalt 349 – Bildung eines zentralen ökonomischen Kapitals und Konstruktion eines autonomen ökonomischen Raumes 354

 

Vorlesung vom 7. März 1991

362

Antwort auf Fragen: Konformismus und Konsens 362 – Konzentrationsprozeß der Kapitalsorten: Die Widerstände 364 – Die Vereinheitlichung des juridischen Marktes 368 – Die Entstehung eines Interesses am Allgemeinen 371 – Staatliche Perspektive und Totalisierung: Das Informationskapital 374 – Konzentration des kulturellen Kapitals und Konstruktion der Nation 379 – »Natürlicher Adel« und Staatsadel 381

 

Vorlesung vom 14. März 1991

387

Abschweifung: Ein Gewaltakt im intellektuellen Feld 387 – Das Doppelgesicht des Staates: Herrschaft und Integration 390 – Jus loci und jus sanguinis393 – Die Vereinheitlichung des Marktes symbolischer Güter 396 – Analogie zwischen religiösem Feld und kulturellem Feld 402

 

Studienjahr 1991-1992

 

Vorlesung vom 3. Oktober 1991

411

Ein Modell der Transformationen des dynastischen Staates 411 – Der Begriff der Reproduktionsstrategien 414 – Der Begriff des Systems der Reproduktionsstrategien 421 – Der dynastische Staat im Lichte der Reproduktionsstrategien 424 – Das »Königshaus« 429 – Die juridische und die praktische Logik des dynastischen Staates 433 – Die Ziele der nächsten Vorlesung 435

 

Vorlesung vom 10. Oktober 1991

437

Das Modell des Hauses gegen den historischen Finalismus 437 – Worum es bei der historischen Erforschung des Staates geht 447 – Die Widersprüche des dynastischen Staates 453 – Eine dreiteilige Struktur 457

 

Vorlesung vom 24. Oktober 1991

462

Die Logik der Vorlesung: Rekapitulation 462 – Reproduktion der Familie und Reproduktion des Staates 464 – Exkurs zur Geschichte des politischen Denkens 469 – Die historische Arbeit der Juristen bei der Konstruktion des Staates 473 – Differenzierung der Macht und strukturelle Korruption: Ein ökonomisches Modell 479

 

Vorlesung vom 7. November 1991

485

Präambel: Die Schwierigkeiten der Kommunikation in den Sozialwissenschaften 485 – Das Beispiel der institutionalisierten Korruption in China (1): Die ambivalente Macht der Unterbürokraten 490 – Das Beispiel der institutionalisierten Korruption in China (2): Die »Reinen« 495 – Das Beispiel der institutionalisierten Korruption in China (3): Doppeltes Spiel und doppeltes »Ich« 500 – Die Genese des bürokratischen Raumes und die Erfindung des Öffentlichen 504

 

Vorlesung vom 14. November 1991

509

Konstruktion der Republik und Konstruktion der Nation 509 – Die Konstitution des Öffentlichen im Lichte der Vertragsidee des englischen Verfassungsrechts 511 – Die Verwendung der königlichen Siegel: Die Kette der Garantien 519

 

Vorlesung vom 21. November 1991

530

Antwort auf eine Frage zu der Opposition öffentlich/privat 530 – Die Verwandlung des Privaten in Öffentliches: Ein nichtlinearer Prozeß 532 – Die Genese des Metafeldes der Macht: Differenzierung und Trennung von dynastischer und bürokratischer Autorität 537 – Ein Forschungsprogramm zur Französischen Revolution 541 – Dynastisches gegen juridisches Prinzip: Der Fall der Lits de justice545 – Methodologische Abschweifung: Die Küche der politischen Theorien 549 – Die juridischen Kämpfe als symbolische Kämpfe um die Macht 552 – Die drei Widersprüche der Juristen 556

 

Vorlesung vom 28. November 1991

560

Die Geschichte als Einsatz von Kämpfen 560 – Das juridische Feld: Eine historische Annäherung 563 – Ämter und Beamte 571 – Der Staat als fictio juris573 – Das juridische Kapital als sprachliches Kapital und als praktische Problembeherrschung 576 – Die Juristen gegen die Kirche: Die Autonomisierung einer Körperschaft 578 – Reformation, Jansenismus und die Welt der Juristen 583 – Das Öffentliche: Eine noch nie dagewesene und immer noch werdende Realität 586

 

Vorlesung vom 5. Dezember 1991

588

Programm einer Sozialgeschichte der politischen Ideen und des Staates 588 – Das Interesse an der Interessenfreiheit 593 – Die Juristen und das Universelle 595 – Das (falsche) Problem der Französischen Revolution 599 – Staat und Nation 601 – Der Staat als »Zivilreligion« 605 – Nationalität und Staatsbürgerschaft: Der Gegensatz zwischen dem französischen und dem deutschen Modell 608 – Interessenkämpfe und Kämpfe zwischen Unbewußten in der politischen Debatte 612

 

Vorlesung vom 12. Dezember 1991

614

Die Konstruktion des politischen Raumes: Das parlamentarische Spiel 614 – Abschweifung: Das Fernsehen im neuen politischen Spiel 616 – Vom Staat auf dem Papier zum realen Staat 618 – Die Beherrschten domestizieren: Die Dialektik von Disziplin und Philanthropie 622 – Die theoretische Dimension der Konstruktion des Staates 628 – Abschließende Fragen 636

 

Anhänge

 

Zusammenfassungen der Vorlesungen im Jahrbuch des Collège de France

645

Zur Stellung der Vorlesung über den Staat im Werk Pierre Bourdieus

653

 

Bibliographie

662

1. Arbeiten die sich auf den Staat, das Feld der Macht oder die politische Ideengeschichte beziehen

662

2. Arbeiten, die nicht unmittelbar auf den Staat bezogen sind

685

3. Arbeiten Pierre Bourdieus, auf die von den Herausgebern in den Anmerkungen verwiesen wird

691

Namenregister

698

Sachregister

704

11Notiz der Herausgeber

Zur Texterstellung der Vorlesungen, die Pierre Bourdieu am Collège de France gehalten hat, waren eine Reihe von editorischen Entscheidungen erforderlich. Diese Vorlesungen bilden ein Geflecht schriftlicher Texte, mündlicher Kommentare, mehr oder weniger improvisierter Überlegungen zum Vorgehen sowie zu den Bedingungen, unter denen die Lehrtätigkeit stattfand. Das Material, auf das Bourdieu sich dabei stützte, bestand aus handschriftlichen Notizen, Auszügen aus Vorträgen und Randnotizen in Büchern und auf Photokopien. Seine Bemerkungen über die Bedingungen der Rezeption seines Unterrichts vor einem großen und sehr heterogenen Publikum im »Grand Amphithéâtre« des Collège de France1 zeigen, daß die Manuskripte aus dem Nachlaß seine Vorlesungen nur unvollständig wiedergeben, insofern der Sitzungsverlauf je nach den Reaktionen der Hörerschaft, die er beachtete, unvorhergesehene Wendungen nehmen konnte.

Eine mögliche Lösung, die den vermeintlichen Vorzug der Neutralität und der formellen Treue gegenüber dem Autor gehabt hätte, bestand darin, eine wörtliche und unbearbeitete Transkription der Gesamtheit der Vorlesungen zu veröffentlichen. Doch es genügt nicht, die mündliche Rede zu reproduzieren, um die Eigenschaften der Mündlichkeit, nämlich die ganze pädagogische Arbeit, zu bewahren, die Bourdieu während jeder Sitzung leistete. Zudem ist der vorgetragene Text nicht derjenige der »publizierten« Fassung, wie man an einigen Vorlesungen überprüfen kann, deren Transkriptionen vom Autor gründlich durchgesehen und gelegentlich völlig umgearbeitet wurden, ehe sie als Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen. Tatsächlich steht die 12Form, die Bourdieu für seine Vorlesungen bewußt gewählt hat, der Logik der wissenschaftlichen Entdeckung näher als einer schriftlichen, perfekt geordneten Darstellung der Forschungsergebnisse.

Während die Herausgeber gewiß nicht den Platz des Autors nach seinem Tod beanspruchen und an seiner Stelle das Buch schreiben können, das er aus seinen Vorlesungen gemacht hätte, können sie doch dafür sorgen, daß die mit der Mündlichkeit der Darstellung verbundenen Eigenschaften soweit wie möglich erhalten bleiben – was voraussetzt, daß der Leser sie erkennen kann und bemerkt – und daß umgekehrt die eigentümlichen Wirkungen, die von der Verschriftung ausgehen, soweit wie möglich zurücktreten. Darüber hinaus müssen die Herausgeber berücksichtigen, daß diese Veröffentlichung, auch wenn sie diejenige nicht ersetzen kann, die dem Autor vorschwebte, mit aller Kraft und Stringenz die Arbeit in seinem Geiste fortführen muß. So versucht die Transkription zwei Klippen zu umschiffen: Literalität und Literarizität. Und wenngleich Bourdieu stets empfahl, zum Verständnis seiner mündlichen Äußerungen seine Schriften heranzuziehen,2 nutzte er doch auch den Auftritt als Redner und die Ausdrucksfreiheit, die der Vortrag vor einem Publikum bietet, von dem er wußte, daß es ihm zum großen Teil gewogen war, um unbemerkte Mißverständnisse zu beheben und die Argumentation und Darstellung weiterzuführen.

In einem Abschnitt von Das Elend der Welt mit dem Titel »Die Risiken der Niederschrift« analysiert Bourdieu den Übergang von der mündlichen Rede zum schriftlichen Text als »eine wirkliche Übersetzung«, ja »eine Interpretation«.3 Und er erinnert daran, daß »allein schon die Zeichensetzung, beispielsweise die Stelle, an der ein Komma gesetzt wird, […] über den gesamten Sinn eines Satzes entscheiden [kann]«. Die Edition der Vorlesun13gen bemüht sich daher, zwei konträre, wenn auch nicht kontradiktorische Ansprüche zu versöhnen: Treue und Lesbarkeit. Die unvermeidlichen »Treulosigkeiten«, die jeder Verschriftlichung (und, allgemeiner, jeder Veränderung der Vorlage) innewohnen, sind hier zweifellos wie in den Gesprächen, die Bourdieu analysiert hat, »die Bedingungen einer echten Treue«.

Die Transkription der Vorlesungen am Collège de France respektiert die Vorgaben, denen Bourdieu selbst folgte, wenn er Vorträge oder Seminare auf ihre Publikation hin durchsah: Sie nimmt leichte stilistische Korrekturen vor, glättet Unebenheiten der mündlichen Rede (Ausrufe, Wiederholungen usw.) und berichtigt einige unverständliche oder ungenaue Satzkonstruktionen. Wenn Abschweifungen das behandelte Thema weiterführen, wurden sie zwischen Gedankenstriche gesetzt; wenn sie einen Riß des Argumentationsfadens beinhalten, wurden sie in runde Klammern gesetzt; sind sie zu umfangreich, wurden sie zu einem eigenen Abschnitt. Die Einteilung in Abschnitte und Absätze, die Zwischentitel, die Zeichensetzung sowie Ergänzungen zur Verdeutlichung von Bezügen und Verweisen [in eckigen Klammern] stammen von den Herausgebern, ebenso wie das Namen- und Begriffsregister. Die bibliographischen Angaben in den Fußnoten stammen von Bourdieu; sie wurden gegebenenfalls vervollständigt. Einige Fußnoten wurden hinzugefügt, um das Verständnis des Vortrags zu erleichtern: Erläuterungen, Verweise, unausdrückliche oder ausdrückliche Bezüge auf Texte, die den Gedankengang fortführen.4 Im Anhang findet der Leser die Bibliographie der Artikel, Bücher und Dokumente, auf die sich Bourdieu während der gesamten Vorlesung stützte; sie wurde anhand seiner Arbeitsnotizen und seiner zahlreichen Exzerpte erstellt.

Teile dieser Vorlesungen wurden später von Bourdieu selbst umgearbeitet, erschienen als gesonderte Artikel oder gingen als Kapitel in Bücher ein. In solchen Fällen wurde dies jeweils angegeben. Den Vorlesungen folgen am Ende des Bandes die Zusam14menfassungen, die im Jahrbuch des Collège de France publiziert wurden.

Diese Vorlesungen über den Staat, die sich über drei Studienjahre erstrecken, eröffnen die Edition der Vorlesungen am Collège de France. Sie wurden ausgewählt, weil es sich – wie aus dem Text über die »Stellung der Vorlesung über den Staat im Werk Pierre Bourdieus« am Ende des vorliegenden Bandes hervorgeht5 – um ein wesentliches, als solches jedoch selten gewürdigtes Stück im Gebäude seiner Soziologie handelt. Weitere Bände zu jeweils eigenständigen Problemstellungen werden in den kommenden Jahren die Veröffentlichung der Vorlesungen schrittweise vervollständigen.

1

  

Siehe unten, S. 204f., 224, 314, 489.

2

  

Pierre Bourdieu, »Prolog«, in: ders., Soziologische Fragen, aus dem Französischen von Hella Beister und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 7.

3

  

Pierre Bourdieu, »Verstehen«, in: ders. und andere, Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens, Konstanz: UVK 1997, S. 797.

4

  

〈Fußnoten oder Teile von Fußnoten in spitzen Klammern wurden von den Übersetzern ergänzt.〉

5

  

Siehe unten, S. 653-661.

15Studienjahr1989-1990

17Vorlesung vom 18. Januar 1990

Ein undenkbarer Gegenstand. – Der Staat als neutraler Ort. – Die marxistische Tradition. – Kalender und Struktur der Zeitlichkeit. – Die staatlichen Kategorien. – Die staatlichen Akte. – Der Eigenheimmarkt und der Staat. – Die Barre-Kommission zur Wohnungspolitik.

Ein undenkbarer Gegenstand

Mehr noch als sonst müssen wir uns bei der Untersuchung des Staates gegen Vorbegriffe im Sinne Durkheims, gegen vorgefaßte Ideen und eine spontane Soziologie wappnen. Als Resümee der Analysen, die ich im Lauf der vergangenen Jahre angestellt habe, insbesondere der historischen Analyse der Beziehungen zwischen Soziologie und Staat, habe ich wiederholt darauf hingewiesen, daß wir andernfalls Gefahr liefen, ein Staatsdenken auf den Staat anzuwenden, und ich habe betont, daß unser Denken, daß sogar die Strukturen des Bewußtseins, mit dem wir die soziale Welt und jenes eigentümliche Objekt »Staat« konstruieren, sehr wahrscheinlich vom Staat hervorgebracht worden sind. Jedesmal, wenn ich mich auf einen neuen Gegenstand gestürzt habe, erschien mir, berufsbedingt, mein Vorgehen als methodisch besonders gut begründet; und ich würde sagen, je weiter ich in meiner Arbeit über den Staat vorankomme, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß die besondere Schwierigkeit, dieses Objekt zu denken, darin liegt, daß es – ich wäge meine Worte – beinahe undenkbar ist. Wenn es so einfach scheint, über diesen Gegenstand einfache Dinge zu sagen, so liegt das daran, daß wir von dem, was wir untersuchen sollen, in gewisser Weise schon durchdrungen sind. Ich hatte versucht, den öffentlichen Raum, 18die Welt der öffentlichen Verwaltung 〈service public〉 als einen Ort zu analysieren, wo die Werte der Uneigennützigkeit offiziell hochgehalten werden und wo die Akteure in einem gewissen Maße ein Interesse an der Interessenfreiheit haben.1

Diese beiden Themen [öffentlicher Raum und Interessenfreiheit] sind äußerst wichtig, weil sie meiner Ansicht nach zeigen, daß wir, ehe wir zu einem angemessenen Denken gelangen – sofern das überhaupt möglich ist –, einige Scheuklappen abnehmen, Vorstellungen zerstören müssen, denen zufolge der Staat – wenn er denn eine Existenz hat – ein Prinzip der Produktion und der legitimen Repräsentation der sozialen Welt ist. Wenn ich eine vorläufige Definition dessen geben sollte, was man »Staat« nennt, würde ich sagen, daß derjenige Sektor des Feldes der Macht, den man als »administratives Feld« oder »Feld der öffentlichen Verwaltung« bezeichnen kann, derjenige Sektor, an den man in erster Linie denkt, wenn man ohne nähere Präzisierung vom Staat spricht, sich durch den Besitz des Monopols der legitimen physischen und symbolischen Gewalt definiert. Ich habe schon vor einigen Jahren2 eine Ergänzung zu der berühmten Definition Max Webers vorgenommen, die den Staat als »Monopol der legitimen Gewalt«3 bestimmt, was ich berichtige, 19indem ich hinzufüge: »Monopol der physischen und symbolischen Gewalt«; man könnte sogar sagen: »Monopol der legitimen symbolischen Gewalt«, insofern das Monopol der symbolischen Gewalt überhaupt die Bedingung für das Innehaben des Monopols der physischen Gewalt ist. Anders gesagt, diese Definition scheint mir der Weberschen Definition zugrunde zu liegen. Doch sie bleibt noch abstrakt, vor allem wenn Sie nicht den Kontext kennen, in dem ich sie ausgearbeitet hatte. Es sind provisorische Definitionen, um zu versuchen, wenigstens eine Art vorläufiger Einigkeit über das, wovon ich rede, herzustellen, weil es sehr schwierig ist, über etwas zu reden, ohne zumindest zu präzisieren, wovon die Rede ist. Es sind provisorische Definitionen, die Abänderungen und Korrekturen unterliegen.

1

  

Die Interessenfreiheit war das Thema von Bourdieus Vorlesung des vorangegangenen Studienjahres (1988-1989), die unter dem Titel »Ist interessenfreies Handeln möglich?« in den Band Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, aus dem Französischen von Hella Beister, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 137-157, eingegangen ist. Siehe ebenso Pierre Bourdieu, »Das Interesse des Soziologen«, in: ders., Rede und Antwort, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 111-118.

2

  

Pierre Bourdieu, »Über die symbolische Macht«, aus dem Französischen von Günther Landsteiner und Alexander Mejstrik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8, 4, 1997, S. 556-564 [Original 1977].

3

  

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung), 2 Halbbde., 2., vermehrte Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925 [zuerst erschienen 1921/1922], Erster Teil, Kapitel I, § 17, »Politischer Verband, Hierokratischer Verband«, S. 29f.; ders., »Politik als Beruf«, in: Wissenschaft als Beruf/Politik als Beruf (Max-Weber-Studienausgabe (MWS), Bd. I/17), Tübingen: Mohr Siebeck 1992, S. 36 [zuerst erschienen 1919].

Der Staat als neutraler Ort

Der Staat kann als ein Orthodoxieprinzip definiert werden, das heißt als ein verborgenes Prinzip, das nur in den Erscheinungen der öffentlichen Ordnung zu erfassen ist, wobei man darunter nicht nur die physische Ordnung – als das Gegenteil von Unordnung, Anarchie, zum Beispiel Bürgerkrieg – verstehen darf. Faßbar wird dieses verborgene Prinzip in den Erscheinungen der öffentlichen Ordnung erst dann, wenn man sie zugleich im physischen und im symbolischen Sinne versteht. In den Elementaren Formen des religiösen Lebens trifft Durkheim eine Unterscheidung zwischen logischer Integration und moralischer Integration.4 Der Staat, so wie man ihn gewöhnlich versteht, ist die Grundlage der logischen Integration und der moralischen Integration der sozialen Welt. Die logische Integration im Sinne Durkheims besteht darin, daß die Akteure der sozialen Welt dieselben logischen Perzeptionen haben – daß sich eine unmittelbare Übereinstimmung herstellt zwischen Leuten, die über dieselben Kategorien des Denkens, der Wahrnehmung und der Rea20litätskonstruktion verfügen. Die moralische Integration ist die Einigkeit über eine bestimmte Anzahl von Werten. Man hat bei der Durkheim-Lektüre immer die moralische Integration betont und dabei vergessen, was mir als deren Grundlage erscheint, nämlich die logische Integration.

Diese vorläufige Definition bestünde also darin zu sagen, der Staat sei dasjenige, was den Grund für die logische und die moralische Integration der sozialen Welt legt – und damit für den fundamentalen Konsens über den Sinn der sozialen Welt. Dieser Grundkonsens ist die eigentliche Bedingung dafür, daß über die soziale Welt Konflikte entstehen können. Anders gesagt, damit der Konflikt über die soziale Welt überhaupt möglich ist, muß es eine Art Einigkeit über die Bereiche der Uneinigkeit und über die Ausdrucksformen dieser Uneinigkeit geben. So läßt sich zum Beispiel auf dem politischen Feld die Entstehung des Feldes der hohen Beamten – als Teiluniversum der sozialen Welt – als die fortschreitende Ausprägung einer Art Orthodoxie betrachten, einer Gesamtheit von weithin obligatorischen Spielregeln, aus denen sich innerhalb der sozialen Welt ein kommunikativer Austausch herstellt, der ein Austausch im und durch den Konflikt sein kann. Führt man diese Definition fort, kann man sagen, daß der Staat das Organisationsprinzip des Einverständnisses als Verbundenheit mit der sozialen Ordnung, mit den Grundprinzipien der sozialen Ordnung ist, daß er die Grundlage nicht unbedingt eines Konsenses, wohl aber der Existenz von Austauschbeziehungen darstellt, die zu einem Dissens führen.

Dieses Vorgehen ist ein wenig gefährlich, weil es so aussehen könnte, als kehrte es zu jener ersten Definition des Staates zurück, welche die Staaten von sich selbst geben und die in bestimmte klassische Theorien, etwa die von Hobbes oder Locke, aufgenommen wurde. Nach dieser anfänglichen Überzeugung handelt es sich beim Staat um eine Institution, die dazu bestimmt ist, dem allgemeinen Wohl zu dienen, und bei der Regierung um eine Einrichtung im Dienste des Volkswohls. In gewissem Maße wäre der Staat der neutrale Ort oder genauer – um die Leibnizsche Analogie zu verwenden, der zufolge Gott der geometrische Ort aller gegensätzlichen Perspektiven ist – jener aus21gezeichnete Standpunkt aller Standpunkte, der kein Standpunkt mehr ist, weil sich an ihm alle Standpunkte ausrichten: Er ist das, was den Standpunkt sämtlicher Standpunkte einnehmen kann. Diese Auffassung des Staates als Quasi-Gott liegt der Tradition der klassischen Theorie zugrunde und begründet die spontane Soziologie des Staates, die sich in dem äußert, was man gelegentlich Verwaltungslehre nennt, das heißt in dem Diskurs, den die Akteure des Staates über den Staat hervorbringen, eine echte Ideologie der öffentlichen Verwaltung und des allgemeinen Wohls.

4

  

Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, aus dem Französischen von Ludwig Schmidts, Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen 2007, S. 37 [Original 1912].

Die marxistische Tradition

Dieser gewöhnlichen Vorstellung, die meine Definition wiederaufzugreifen scheint – Sie werden sehen, daß es sich in Wirklichkeit ganz anders verhält –, setzt eine ganze Reihe von Traditionen, insbesondere die marxistische, eine antagonistische Vorstellung entgegen, welche die ursprüngliche Definition gewissermaßen umkehrt: Der Staat ist nicht ein Apparat, der sich am allgemeinen Wohl ausrichtet, er ist vielmehr ein Zwangsapparat, ein Apparat zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, freilich zugunsten der Herrschenden. Anders gesagt, die marxistische Tradition stellt nicht das Problem der Existenz des Staates; statt dessen löst sie es im Handstreich mit der Bestimmung der Funktionen, die er erfüllt. Von Marx bis Gramsci und Althusser, ja noch über diesen hinaus bemüht sie sich immer, den Staat durch das zu charakterisieren, was er tut, und durch die Leute, für die er tut, was er tut, ohne sich nach der Struktur der Mechanismen selbst zu fragen, die angeblich das hervorbringen, was ihm zugrunde liegt. Natürlich kann man den Akzent entweder auf die ökonomischen Funktionen des Staates oder auf seine ideologischen Funktionen legen; man spricht dann mit Gramsci von »Hegemonie«5 oder mit Althusser vom »ideologischen 22Staatsapparat«,6 doch immer liegt die Betonung auf den Funktionen, und man umgeht die Frage nach dem Sein und dem Tun dieses Etwas, das man als Staat bezeichnet.

Genau in diesem Moment stellen sich schwierige Fragen. Diese kritische Auffassung des Staates wird oft undiskutiert übernommen. Wenn es einfach ist, einfache Dinge über den Staat zu sagen, so deshalb, weil die Produzenten und Rezipienten von Diskursen über den Staat – ihrer Stellung entsprechend und traditionsgemäß (ich denke etwa an das berühmte Buch Le Citoyen contre les pouvoirs von Alain7) – oft ein wenig anarchistisch disponiert sind, eine gesellschaftlich instituierte Neigung zur Revolte gegen die Mächte haben. Ich denke zum Beispiel an bestimmte Arten von Theorien, welche die Disziplin und den Zwang anprangern und dabei sehr erfolgreich, ja sogar zu ewigem Erfolg verurteilt sind, weil sie sich mit der adoleszenten Auflehnung gegen die Zwänge, gegen die Disziplinen treffen und einer ursprünglichen Abneigung gegenüber den Institutionen entgegenkommen, einer »antiinstitutionellen Stimmung«,8 wie sie in bestimmten geschichtlichen Momenten und in bestimmten sozialen Gruppen besonders stark ist. Deshalb werden solche Theorien vorbehaltlos akzeptiert, während sie meiner Ansicht nach die gewöhnliche Definition eigentlich nur umkehren. Mit dieser haben sie gemein, daß sie die Frage des Staates auf die Frage der Funktion beschränken und den göttlichen Staat durch einen teuflischen ersetzen – den Staat als »Funktionalismus 〈mit der Tendenz〉 zum Besten«, als Instrument des Konsenses, als neutralen Ort, an dem sich die Konflikte bewältigen lassen, durch einen diabolischen Staat, diabolus in machina, einen »Funktionalismus zum Schlimmsten«,9 wie ich ihn nenne, im Dienste der Herrschenden, mehr oder weniger direkt und raffiniert.

23In der Logik der Hegemonie nimmt man an, daß die Akteure des Staates gleichsam im Dienst nicht der Allgemeinheit oder des allgemeinen Wohls stehen, wie sie behaupten, sondern im Dienst der ökonomisch Herrschenden und der symbolisch Herrschenden – und zugleich im eigenen Dienst; das heißt, daß die Akteure des Staates als Diener den ökonomisch und symbolisch Herrschenden und zugleich sich selbst zu Diensten sind. Was darauf hinausläuft, das, was der Staat tut und was er ist, aus seinen Funktionen zu erklären. Ich glaube, daß dieser – sagen wir: funktionalistische – Irrtum, den man auch bei den Althusserianern findet, die ja Strukturfunktionalisten waren und faktisch den Strukturfunktionalisten mit der Tendenz zum Besten – Parsons und seinen Nachfolgern – sehr nahestehen, bereits in der marxistischen Religionstheorie enthalten war, die eine Instanz wie die Religion anhand ihrer Funktionen beschreibt, ohne sich zu fragen, wie eine Struktur beschaffen sein muß, um solche Funktionen zu erfüllen. Anders gesagt, man erfährt nichts über den Mechanismus, wenn man sich nur nach den Funktionen fragt.

(Eine der Schwierigkeiten, denen ich begegne, wenn ich das, was man den Staat nennt, verständlich machen will, liegt in dem Zwang, etwas in hergebrachter Sprache auszudrücken, was der 24Metasprache zuwiderläuft, und einstweilen die hergebrachte Sprache mitzuschleppen, um das, was sie transportiert, zu zerstören. Würde ich sie jedoch durch die Lexik, die ich aufzubauen versuche, durchgängig ersetzen – Feld der Macht usw. –, wäre ich nicht mehr verständlich. Ich frage mich fortwährend, vor allem bevor ich diese Vorlesungen halte, ob ich denn niemals werde sagen können, was ich sagen möchte, ob es vernünftig ist, daran zu glauben … Es ist eine ganz besondere Schwierigkeit, die wohl für wissenschaftliche Diskurse über die soziale Welt charakteristisch ist.)

Im Sinne einer vorläufigen Synthese würde ich sagen, daß der Staat als Orthodoxieprinzip, als Prinzip des Konsenses über den Sinn der Welt, eines sehr bewußten Einverständnisses über den Sinn der Welt, bestimmte der Funktionen erfüllt, die ihm die marxistische Tradition unterstellt. Anders gesagt, als Orthodoxie, als kollektive Fiktion, als wohlbegründete Illusion – ich nehme die Definition auf, die Durkheim auf die Religion angewandt hat;10 es gibt beträchtliche Analogien zwischen Staat und Religion –, kann der Staat seine Funktionen der sozialen Konservierung, der Erhaltung der Bedingungen für die Kapitalakkumulation erfüllen – so wie manche zeitgenössische Marxisten sagen.

5

  

Antonio Gramsci, Gefängnishefte, herausgegeben von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, übersetzt von Klaus Bochmann, Bd. 6 (Hefte 10, 11) und Bd. 7 (Hefte 12, 13), Hamburg: Argument 2012.

6

  

Louis Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, revidierte Übersetzung von Peter Schöttler unter Mitarbeit von Klaus Riepe, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Westberlin: VSA 1977, S. 108-153.

7

  

Alain, Le Citoyen contre les pouvoirs, Paris: Sagittaire 1926.

8

  

Zu diesem Punkt siehe Pierre Bourdieu, Homo academicus, übersetzt von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 277.

9

  

Bourdieu bezieht sich in seinen Seminaren oft auf diesen »Funktionalismus 〈mit der Tend5nz〉 zum Schlimmsten« 〈fonctionnalisme du pire, in deutschen Bourdieu-Übersetzungen auch als »Funktionalismus des Schlimmsten« oder »Funktionalismus zum Schlechteren« wiedergegeben〉. Gemeint ist eine pessimistische teleologische Auffassung der sozialen Welt. Zu diesem Begriff siehe das Seminar von 1987, in: Pierre Bourdieu und Loïc J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, übersetzt von Hella Beister, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 133: »Ich halte sehr wenig von dem Begriff Apparat, der für mich das Trojanische Pferd des Funktionalismus zum Schlechteren ist: Ein Apparat ist eine für bestimmte Zwecke programmierte Höllenmaschine. (Das Phantasma von der Verschwörung, die Idee, daß ein dämonischer Wille hinter allem steckt, was in der sozialen Welt geschieht, geistert durch das ganze ›kritische‹ Denken.) Bildungssystem, Staat, Kirche, politische Parteien oder Gewerkschaften sind keine Apparate, sondern Felder. In einem Feld kämpfen Akteure und Institutionen […] nach den […] für diesen Spiel-Raum konstitutiven Regularitäten und Regeln […]. Diejenigen, die in einem gegebenen Feld herrschen, sind in der Position, es zu ihrem Vorteil funktionieren zu lassen, müssen aber immer mit dem Widerstand, dem Protest, den Forderungen, den ›politischen‹ oder auch nicht politischen Ansprüchen der Beherrschten rechnen.«

10

  

Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a.a.O., S. 43-76.

Kalender und Struktur der Zeitlichkeit

Mit anderen Worten, um vorab zu resümieren, was ich Ihnen darlegen werde, würde ich sagen, daß Staat der Name ist, den wir – um eine Art von deus absconditus zu bezeichnen – den verborgenen, unsichtbaren Prinzipien der sozialen Ordnung, der physischen und zugleich symbolischen Herrschaft sowie der physischen und symbolischen Gewalt verleihen. Um diese logische Funktion der moralischen Integration verständlich zu machen, werde ich einfach ein Beispiel entwickeln, das geeignet ist, das bisher Gesagte zu verdeutlichen. Es gibt nichts Banaleres als 25den Kalender. Der republikanische Kalender mit seinen gesetzlichen Fest- und Ferientagen ist etwas völlig Triviales, dem wir keine Aufmerksamkeit schenken. Wir akzeptieren ihn als selbstverständlich. Unsere Wahrnehmung der Zeitlichkeit richtet sich nach den Strukturen dieser öffentlichen Zeit. In Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen11erinnert Maurice Halbwachs daran, daß jede Vergegenwärtigung von Erinnerungen von den – wie er sagt – sozialen Rahmungen des Gedächtnisses abhängig ist, das heißt von den spezifisch sozialen Orientierungspunkten, anhand deren wir unser privates Leben organisieren. Es ist dies ein schönes Beispiel für das Öffentliche im Herzen des Privaten: Im Innersten unseres Gedächtnisses entdecken wir den Staat, die gesetzlichen (zivilen oder religiösen) Feiertage, und begegnen spezifischen Kalendarien unterschiedlicher Kategorien, dem Kalender der Schulferien oder dem des Kirchenjahres. Wir stoßen hier also wieder auf ein ganzes Bündel von Strukturen der sozialen Zeitlichkeit, markiert durch soziale Orientierungspunkte und kollektive Aktivitäten. Und man konstatiert diese sozialen Strukturen im Innersten unseres individuellen Bewußtseins.

Man könnte hier die alten, aber immer noch gültigen Analysen aufnehmen, die Pierre Janet zu den Verhaltensweisen beim Erzählen geliefert hat:12 Es liegt auf der Hand, daß wir uns, wenn wir von etwas erzählen, das eine zeitliche Dimension enthält, wenn wir Geschichte erzählen, an Kategorisierungen orientieren, die selbst das Produkt der Geschichte sind und sogar zu Prinzipien der Vergegenwärtigung der Geschichte geworden sind. Halbwachs notierte etwa die Unterhaltung zweier Personen, die sagen: »In jenem Jahr war ich in der Sexta, ich war in jener Stadt, wir waren Mitschüler …« Wenn zwei soziale Subjekte sich über ihre erlebte Zeit austauschen können, das heißt über eine Zeit, die nach bergsonscher Logik inkommensurabel und inkommu26nikabel ist, so ist das möglich auf der Grundlage dieser Einigkeit über die zeitlichen Orientierungspunkte, die in Form eines Kalenders von Festen, »Feierlichkeiten« und alljährlich wiederkehrenden Zeremonien in die Objektivität eingeschrieben sind, aber auch ins Bewußtsein, ins Gedächtnis der einzelnen Akteure. All das ist eng verbunden mit dem Staat. Revolutionen erneuern die offiziellen Kalendarien – »die offiziellen« soll heißen: die in den Grenzen einer bestimmten Gesellschaft allgemein gültigen, im Gegensatz zu den privaten. Wir können private Kalender haben, doch sie sind selber auf allgemeine Kalendarien bezogen; sie sind Einkerbungen in Intervalle, die vom allgemeinen Kalender innerhalb der Grenzen einer Gesellschaft markiert werden. Machen Sie einmal die amüsante Probe, nehmen Sie die Feiertage aller europäischen Länder: Die Niederlagen der einen sind die Siege der anderen … die Kalendarien sind nicht völlig deckungsgleich, die katholischen religiösen Festtage haben in den protestantischen Ländern weniger Gewicht …

Es gibt eine ganze Struktur der Zeitlichkeit, und ich denke, daß die Brüsseler Technokraten, wenn sie eines Tages ernsthafte Dinge tun wollen, unvermeidlich an den Kalendern arbeiten werden. Dann wird man bemerken, daß mit den Festen äußerst tief sitzende mentale Gewohnheiten verbunden sind, an denen die Leute sehr hängen. Man wird bemerken, daß diese Kalendarien, die selbstverständlich scheinen, mit sozialen Errungenschaften verbunden sind: Der 1. Mai ist ein Datum, das viele nicht so leicht aufgeben werden; für andere wird Himmelfahrt ein wichtiges Datum sein. Erinnern Sie sich an die Debatte, die durch das Vorhaben ausgelöst wurde, die Feier des 8. Mai zu streichen. Wir kaufen jedes Jahr einen Kalender, wir kaufen Selbstverständliches, wir kaufen ein ganz fundamentales Strukturierungsprinzip, das eine der Grundlagen der sozialen Existenz ist und zum Beispiel bewirkt, daß wir uns zu einem Treffen verabreden können. Gleiches kann man über die einzelnen Stunden des Tages sagen. Es ist Konsens, und ich kenne keinen Anarchisten, der nicht die Uhr umstellt, wenn wir zur Sommerzeit übergehen, der nicht ein ganzes Bündel von Dingen als selbstverständlich akzeptiert, die letztlich auf die Staatsmacht verweisen, wie man übri27gens sieht, wenn unterschiedliche Staaten bei einer scheinbar so harmlosen Sache im Spiel sind.

Dies ist eines der Dinge, die ich im Sinn hatte, als ich sagte, der Staat sei eines der Prinzipien der öffentlichen Ordnung und die öffentliche Ordnung sei nicht bloß Polizei und Armee, wie die Webersche Definition unterstellt – Monopol der physischen Gewalt. Die öffentliche Ordnung beruht auf Zustimmung: Die Tatsache, daß man morgens zu einer bestimmten Stunde aufsteht, setzt voraus, daß man die Uhrzeit akzeptiert. Die sehr schöne, rein intellektuelle Analyse Sartres »Ich bin frei, ich kann auch nicht zur Arbeit gehen, ich habe auch die Freiheit, nicht aufzustehen«13 ist falsch, wenn auch sehr verführerisch. Abgesehen davon, daß diese Analyse zu verstehen gibt, daß es jedermann freistehe, die Idee der Uhrzeit nicht zu akzeptieren, sagt sie auf einer tieferen Ebene, die Anerkennung der Uhrzeit sei bereits etwas ziemlich Außergewöhnliches. Nicht alle Gesellschaften in allen Ländern zu allen Zeiten hatten eine öffentliche Zeit. Doch wenn mehrere Städte sich verbündeten oder mehrere Stämme zusammenkamen, bestand einer der ersten Akte der zivilen Bürokratien, der Beamten, historisch darin, eine öffentliche Zeit zu schaffen; alle Staatengründer sind, wenn es denn möglich ist, durch anthropologische Vergleiche so weitreichende Genealogien herzustellen, mit diesem Problem konfrontiert. (Wenn man über Gesellschaften ohne Staat arbeitet, ohne dieses Etwas, das wir Staat nennen, die segmentären Gesellschaften etwa, in denen es Clans oder Gruppen von Clans, aber kein zentrales Organ gibt, das Inhaber des Monopols der physischen Gewalt wäre, und keine Gefängnisse, hat man es neben anderen Problemen mit dem der Gewalt zu tun: Wie ist die Gewalt zu schlichten, wenn es oberhalb der Familien, die in eine Blutrache verstrickt sind, keine Instanz gibt?)

Es ist in der Anthropologie Tradition, Kalendarien zu sammeln: den agrarischen Kalender der Bauern, aber auch den Kalender der Frauen, der jungen Leute, der Kinder usw. Diese Ka28lender sind nicht notwendig im selben Sinne wie unsere Kalender miteinander kongruent. Sie sind grob aufeinander abgestimmt: der Kalender der Kinderspiele, der Kalender der kleinen Jungen, der kleinen Mädchen, der Jugendlichen, der jungen Hirten, der erwachsenen Männer, der erwachsenen Frauen – Küche oder weibliche Tätigkeiten –, all diese Kalender stimmen im großen und ganzen miteinander überein. Aber niemand hat ein Blatt Papier genommen – der Staat ist an die Schrift gebunden –, um all diese Kalendarien miteinander in Einklang zu bringen und zu sagen: »Sieh mal, es gibt eine kleine Diskrepanz zwischen der Sommersonnenwende und …« Es gibt noch keine Synchronisierung aller Tätigkeiten. Nun ist aber diese Synchronisierung eine stillschweigende Voraussetzung für das gute Funktionieren der sozialen Welt; man müßte einmal all die Leute zählen, die von der Aufrechterhaltung der zeitlichen Ordnung leben, die an der Aufrechterhaltung der zeitlichen Ordnung interessiert sind, deren Aufgabe es ist, die Zeitlichkeit zu regeln.

Wenn Sie an sehr berühmte Texte zurückdenken wie das vorzügliche Buch von Lucien Febvre über Rabelais,14 werden Sie sehen, daß jene Periode, in der sich das herausbildet, was wir den Staat nennen werden, interessante Phänomene aufweist, die den sozialen Gebrauch der Zeitlichkeit betreffen: die kollektive Regulation der Zeit, die wir als selbstverständlich betrachten, mit Uhren, die beinahe gleichzeitig schlagen, mit Leuten, die alle eine Uhr tragen. All das ist noch nicht so lange her. Eine Welt, in der diese öffentliche Zeit noch nicht konstituiert, instituiert, garantiert ist, nicht nur durch objektive Strukturen – Kalender, Uhren –, sondern auch durch mentale Strukturen – Leute, die eine Uhr haben wollen und die es gewohnt sind, nach ihr zu sehen, die Verabredungen treffen und rechtzeitig da sind. Diese Art der Zeit-Buchführung, die zugleich eine öffentliche Zeit und ein öffentliches Verhältnis zur Zeit voraussetzt, ist eine vergleichsweise neue Erfindung, die mit dem Aufbau staatlicher Strukturen in Beziehung steht.

29Wir sind hier weit entfernt von den Gramscischen Predigten über den Staat und die Hegemonie. Das schließt nicht aus, daß diejenigen, die diese Uhren regulieren oder selbst von diesen Uhren reguliert werden, im Vorteil gegenüber denen sind, die weniger reguliert werden. Man muß zunächst diese anthropologisch grundlegenden Dinge analysieren, will man das eigentliche Funktionieren des Staates verstehen. Dieser Umweg, der wie ein Bruch mit der kritischen Gewalt der marxistischen Tradition aussehen mag, erscheint mir absolut unumgänglich.

11

  

Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, aus dem Französischen von Lutz Geldsetzer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 [Original 1925].

12

  

Pierre Janet hatte von 1902 bis 1934 den Lehrstuhl für experimentelle und vergleichende Psychologie am Collège de France inne. Bourdieu spielt wohl auf Janets Buch L’Évolution de la mémoire et de la notion de temps, Paris: Chahine 1928, an.

13

  

〈Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften, Bd. 3), übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 141.〉

14

  

Lucien Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, aus dem Französischen von Gerda Kurz und Siglinde Summerer, Stuttgart: Klett-Cotta 2002 [Original 1947].

Die staatlichen Kategorien

Gleiches kann man für den öffentlichen Raum zeigen, indem man ihm jedoch einen anderen Sinn gibt als den ziemlich trivialen, den Habermas ihm zuspricht und den alle Welt ihm nachspricht.15 Es wäre eine ganz grundlegende Analyse zu leisten zu der Frage, was die Struktur eines Raumes ist, in dem Öffentliches und Privates einander entgegengesetzt sind, in dem der öffentliche Platz dem Haus, aber auch dem Palast gegenübersteht. Es gibt Arbeiten über diese Differenzierung des städtischen Raums. Anders gesagt, was wir den Staat nennen, was wir undeutlich meinen, wenn wir an den Staat denken, ist eine Art Prinzip der öffentlichen Ordnung, nicht nur im Sinne seiner evidenten physischen Formen, sondern auch seiner unbewußten, scheinbar ganz und gar evidenten symbolischen Formen. Eine der allgemeinsten Funktionen des Staates ist die Produktion und Kanonisierung sozialer Klassifikationen.

Es ist kein Zufall, wenn es ein enges Band zwischen Staat und Statistik gibt. Die Historiker sagen, daß der Staat mit dem Auftreten von Volkszählungen beginnt, mit Erhebungen über den 30Besitz von Gütern – nach einer fiskalischen Logik, denn um Steuern zu erheben, muß man wissen, was die Leute besitzen. Ihr Ausgangspunkt ist das Verhältnis zwischen der Volkszählung (census) und dem censor, der die Prinzipien der legitimen Einteilungen aufstellt, die Kategorisierungsprinzipien, die so evident sind, daß sie nicht zum Gegenstand von Erörterungen werden. Man kann über die Teilung in soziale Klassen diskutieren, doch der Gedanke, daß es Kategorien gibt, steht nicht zur Diskussion. Die Aufschlüsselung der Berufsgruppen 〈catégories socio-professionnelles〉 zum Beispiel, die das INSEE16 vornimmt, ist ein typisches staatliches Produkt. Diese Berufsgruppen sind nicht bloß ein Instrument, das Messungen ermöglicht und somit den Regierenden erlaubt, die Regierten zu kennen, sondern auch legitime Kategorien, ein nomos, ein innerhalb der Grenzen einer Gesellschaft allgemein anerkanntes Kategorisierungsprinzip, über das man nicht diskutieren kann; man schreibt sie auf den Personalausweis, man findet sie auf dem Lohnzettel, »Lohnstufe 3«, »Besoldungsgruppe soundso«. Man wird also vom Staat quantifiziert, codiert; man hat eine staatliche Identität. Zu den Funktionen des Staates gehört natürlich die Schaffung einer legitimen sozialen Identität; das heißt, selbst wenn man mit diesen Identitäten nicht einverstanden ist, muß man sich mit ihnen arrangieren. Ein Teil der sozialen Verhaltensweisen, etwa die Revolte, kann von denselben Kategorien determiniert sein, gegen die der Revoltierende revoltiert. Das ist eines der großen Prinzipien soziologischer Erklärung: Diejenigen, die Schwierigkeiten mit dem Bildungssystem haben, werden oft von ebendiesen Schwierigkeiten geprägt, und manche intellektuelle Karrieren werden gänzlich von einem unglücklichen Verhältnis zum Bildungssystem bestimmt, das heißt, ohne es zu wissen, von der Bemühung, eine vom Staat auferlegte legitime Identität zu dementieren.

Der Staat ist diese wohlbegründete Illusion, dieser Ort, der wesentlich deshalb existiert, weil man glaubt, er existiere. Diese 31illusorische, doch vom Konsens kollektiv als gültig bestätigte Realität ist der Ort, auf den man verwiesen wird, wenn man eine gewisse Reihe von Phänomenen – Schulzeugnisse, Berufsqualifikationen oder Kalender – zurückverfolgt. Schritt für Schritt rückwärts gehend, gelangt man an einen Ort, der für all das grundlegend ist. Diese mysteriöse Realität existiert dank ihrer Effekte und dank des kollektiven Glaubens an ihre Existenz, eines Glaubens, dem diese Effekte zugrunde liegen. Sie ist etwas, das man nicht mit dem Finger berühren oder so behandeln kann, wie es der Vertreter der marxistischen Tradition tut, wenn er sagt: »Der Staat tut dies«, »der Staat tut das«. Ich könnte Ihnen Kilometer von Literatur nennen, in denen das Wort »Staat« als Handlungssubjekt, als Subjekt von Aussagesätzen, vorkommt. Dies ist eine ganz gefährliche Fiktion, die uns daran hindert, den Staat zu denken. Als Präambel wollte ich Ihnen also sagen: Achtung, alle Sätze, die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, daß sie falsch wären, insofern der Staat eine theologische Entität ist, das heißt eine Entität, die durch den Glauben existiert.

15

  

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962. 〈Habermas’ Begriff der »Öffentlichkeit« wurde in der französischen Übersetzung des Buches als espace public – und sogar als publicité – wiedergegeben: L’Espace public. Archéologie de la publicité comme dimension constitutive de la société bourgeoise, übersetzt von Marc M. de Launay, Paris: Payot 1978.〉

16

  

〈Das Institut national de la statistique et des études économiques(INSEE) ist in Frankreich das staatliche Amt für Statistik, das Volkszählungen durchführt und Konjunkturdaten erhebt.〉

Die staatlichen Akte

Um der Theologie zu entgehen, um dieses Haften an der Existenz des Staates, das in unsere mentalen Strukturen eingeschrieben ist, radikal kritisieren zu können, kann man den Staat durch Handlungen ersetzen, die man staatliche oder »Staats«akte nennen kann – mit »Staat« in Anführungsstrichen –, das heißt politische Akte, die den Anspruch erheben, in der sozialen Welt Wirkungen zu erzielen. Es gibt eine Politik, die als legitim anerkannt wird, und wäre es nur, weil niemand nach der Möglichkeit fragt, anders zu verfahren, weil sie nicht in Frage gestellt wird. Solche legitimen politischen Akte verdanken ihre Wirksamkeit ihrer Legitimität und dem Glauben an die Existenz des Prinzips, das sie begründet.

Ich nehme ein einfaches Beispiel: das eines Schulinspektors, der eine Schule besucht. Er hat eine Handlung von ganz besonde32rer Art auszuführen: Er wird inspizieren. Er repräsentiert die Zentralmacht. In den vorindustriellen Großreichen sieht man ganze Heerscharen von Inspektoren auftreten. Das Problem, das sich sofort stellt, lautet: Wer wird die Inspektoren inspizieren? Wer wird die Überwacher überwachen? Das ist ein Grundproblem aller Staaten. Leute werden beauftragt, im Namen der Macht Besuche zu machen; sie haben ein Mandat. Doch wer gibt ihnen dieses Mandat? Der Staat. Der Inspektor, der eine Schule besucht, hat eine Autorität, die seiner Person innewohnt. [Die Soziologen Philip Corrigan und Derek Sayer haben geschrieben:] »States state«17 – [die Staaten machen] statements, der Staat statuiert, stellt fest, der Inspektor wird eine Feststellung treffen.

Ich habe einmal den Unterschied zwischen einem beleidigenden Urteil, das von einer autorisierten Person geäußert wird, und einer privaten Beleidigung analysiert.18 In Schulheften geben Lehrer, die Grenzen ihrer Aufgabe vergessend, Urteile von sich, die Beleidigungen sind; sie haben etwas Kriminelles, weil es autorisierte, legitime Beleidigungen sind.19 Wenn man Ihrem Sohn, Ihrem Bruder oder Ihrem Freund sagt: »Du bist ein Idiot!« (»Idiot« von idios, Privatmann, Einzelner), so ist das ein einzelnes Urteil, das von einer einzelnen Person über eine einzelne Person geäußert wird, also ein reversibles Urteil. Wenn hingegen ein Lehrer in euphemisierter Form sagt: »Ihr Sohn ist ein Idiot«, so wird daraus ein Urteil, mit dem man rechnen muß. Ein autorisiertes Urteil hat die gesamte Macht der sozialen Ordnung, die Macht des Staates, auf seiner Seite. Eine der modernen Funktionen des Unterrichtssystems besteht darin, die soziale Identität zu patentieren, Zeugnisse für eine Qualität zu vergeben, die heute 33am meisten dazu beiträgt, die soziale Identität zu definieren, nämlich die Intelligenz – im sozialen Sinne des Begriffs.20

Das also sind Beispiele für staatliche Akte: autorisierte Handlungen, versehen mit einer Autorität, die nach und nach, über eine Verkettung von Delegationen, auf einen letzten Ort verweist, wie ihn der aristotelische Gott darstellt: den Staat. Wer bürgt für den Lehrer? Wodurch wird das Urteil des Lehrers verbürgt? Die gleiche Rückverweisung findet man auch in ganz anderen Bereichen. Noch deutlicher zeigt sie sich, wenn man Justizurteile betrachtet, das Strafmandat eines Polizisten, die von einer Kommission ausgearbeitete oder von einem Minister erlassene Verordnung. In all diesen Fällen hat man es mit Kategorisierungsakten zu tun; seiner Herkunft nach bedeutet das Wort »Kategorie« – von kategorein – öffentlich anklagen, sogar beschimpfen; das staatliche kategorein klagt öffentlich an, mit öffentlicher Autorität: »Ich bezichtige dich öffentlich, schuldig zu sein«; »Ich beglaubige öffentlich, daß du agrégé der Universität bist«; »Ich ordne dich einer Kategorie zu« (die Bezichtigung kann positiv oder negativ sein); »Ich unterwerfe dich einer Sanktion« mit einer Autorität, die zugleich das Urteil und natürlich die Kategorien autorisiert, nach denen das Urteil gebildet wird. Der Gegensatz intelligent/nicht intelligent bleibt dabei verborgen; die Frage, ob diese Opposition pertinent ist, wird nicht gestellt. Diese Art von Taschenspielertrick wird von der sozialen Welt ständig vollführt und erschwert dem Soziologen das Leben.

Aus der Theologie herauszukommen ist also sehr schwierig. Aber kehren wir zu den Dingen zurück, über die man einig sein muß. Die Beispiele, die ich angeführt habe, da werden Sie mit mir einig sein, sind staatliche Akte. Gemeinsam ist ihnen, daß es Akte sind, die von Akteuren ausgeführt werden, die mit einer symbolischen Autorität versehen sind, und daß sie Wirkungen nach sich ziehen. Diese symbolische Autorität verweist nach und nach auf eine scheinbare Gemeinschaft 〈communauté illusoire〉, einen 34letzten Konsens. Wenn diese Akte Zustimmung finden, wenn die Leute sich ihnen beugen – selbst wenn sie revoltieren, setzt diese Revolte eine Zustimmung voraus –, haben sie bewußt oder unbewußt an einer »scheinbaren Gemeinschaft« teil – ein Marxscher Ausdruck für den Staat21 –, an einer gemeinschaftlichen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die man Nation oder Staat nennen wird im Sinne einer Gesamtheit von Leuten, die dieselben allgemeinen Prinzipien anerkennen.

Es wäre auch über die verschiedenen Aspekte nachzudenken, die diese staatlichen Akte aufweisen: die Idee des Offiziellen, Amtlichen, Öffentlichen und Allgemeinen. Ich habe vorhin der Beleidigung das autorisierte und allgemeine Urteil gegenübergestellt – innerhalb eines Amtsbezirks, eines rechtlich definierten Zuständigkeitsbereichs, einer Nation, gewisser Staatsgrenzen. Dieses Urteil kann offen ausgesprochen werden, im Gegensatz zum Urteil als Beleidigung, dem nicht nur etwas Offiziöses, sondern auch etwas Verschämtes anhaftet, und wäre es nur, weil es gegen seinen Urheber gekehrt werden kann. Das autorisierte Urteil ist also in seinem Inhalt und in seiner Form gerahmt. Zu den Einschränkungen, denen die zu einem offiziellen Urteil Bevollmächtigten unterliegen, gehört die Notwendigkeit, die Formen zu beachten, die das offizielle Urteil erst zu einem wahrhaft offiziellen machen. Es wäre also über den bürokratischen Formalismus zu reden, den Weber dem magischen Formalismus gegenübergestellt hat, wie man ihn bei einem Ordal beachtet, indem man eine magische Formel spricht (»Sesam, öffne dich!«). Für Weber hat der bürokratische Formalismus nichts mit magischem Formalismus zu tun; er ist keine mechanische, arbiträre, willkürlich strenge Einhaltung, sondern die Wahrung einer Form, die autorisiert, weil sie mit den kollektiv stillschweigend oder ausdrücklich anerkannten Normen konform ist.22 Insofern befände sich auch der Staat auf der Seite der Magie (ich sagte vor35hin, daß nach Durkheim die Religion eine wohlbegründete Illusion ist), jedoch einer völlig anderen Magie als derjenigen, an die man gewöhnlich denkt. Ich möchte versuchen, diese Untersuchung in zwei Richtungen fortzuführen.

(Sobald man über ein Objekt der sozialen Welt arbeitet, begegnet man immer dem Staat und staatlichen Effekten, ohne daß man sie unbedingt gesucht hätte. Marc Bloch, einer der Begründer der vergleichenden Historie, sagt, um die Probleme der vergleichenden Geschichtsschreibung stellen zu können, müsse man von der Gegenwart ausgehen. In seinem berühmten Buch über den Vergleich zwischen dem französischen Lehnswesen und der englischen Grundherrschaft23 geht er aus von der Form der Felder in England und Frankreich und von Statistiken über den Bevölkerungsanteil der Bauern in Frankreich und England; und von dort aus stellt er eine Reihe von Fragen.)

Ich werde also zu beschreiben versuchen, wie ich in meiner Arbeit auf den Staat gestoßen bin; sodann werde ich eine Beschreibung der historischen Entstehung dieser geheimnisvollen Realität versuchen. Je besser man die Genese beschreibt, desto besser versteht man das Rätsel und sieht – wenn man vom Mittelalter ausgeht und das englische, französische und japanische Beispiel nimmt –, wie sich die Dinge herausgebildet haben. Ich werde mich für den Typ der historischen Arbeit, die ich Ihnen vorzuschlagen habe, rechtfertigen müssen, für eine Arbeit, die gewaltige Probleme stellt, die ich nicht naiv angehen will: Die methodologischen Vorbemerkungen werden im Verhältnis zur Substanz viel Zeit einnehmen. Und Sie werden sagen: »Er hat uns viele Fragen gestellt und wenig Antworten gegeben …«

Die Beispiele, die ich Ihnen bisher gegeben habe, ordnen sich einer ganzen Tradition der soziolinguistischen oder linguistischen Reflexion über performative Sätze ein; gleichzeitig laufen sie jedoch Gefahr, bei vorgefaßten Vorstellungen von dem, was hinter den Staatseffekten liegt, stehenzubleiben.24 Um zu versuchen, 36eine Vorstellung von diesen Mechanismen zu geben, die Staatseffekte erzeugen und die wir mit der Idee des Staates verbinden, möchte ich eine Untersuchung resümieren, die ich seit einigen Jahren über den Eigenheimmarkt unternommen habe, über die Produktion und Zirkulation des Hauses als ökonomisches Gut mit symbolischer Dimension.25 Ich möchte an diesem ganz konkreten Beispiel zeigen, in welcher Form sich der Staat manifestiert. Ich habe vorher lange gezögert, Ihnen dieses Beispiel zu geben, weil ich die ganze Vorlesung dieses Jahres dieser Untersuchung widmen könnte. In gewissem Maße ist der Metadiskurs, den ich über diese Arbeit führen werde, ein wenig absurd, weil er sie in ihren Einzelheiten und ihren Mäandern als bekannt unterstellt. Das sind die Widersprüche des Unterrichts … Ich weiß nicht, wie ich die Forschung, ihren Rhythmus und ihre Ansprüche mit der Lehre, die ich an der Forschung auszurichten versuche, verknüpfen soll.

17

  

Philip Corrigan und Derek Sayer, The Great Arch. English State Formation as Cultural Revolution, Oxford/New York: Blackwell 1985, S. 3.

18

  

Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, aus dem Französischen von Hella Beister, Wien: Braumüller 1990, S. 71-113; 2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2005, S. 99-139.

19

  

Pierre Bourdieu und Monique de Saint Martin, »Die Kategorien des professoralen Verstehens«, in: Bourdieu, Homo academicus, a.a.O., S. 353-393.

20

  

Zu diesem Punkt siehe Pierre Bourdieu, »Der Rassismus der Intelligenz«, in: ders., Soziologische Fragen, a.a.O., S. 252-256, und ders. und andere, Der Staatsadel, aus dem Französischen von Franz Hector und Jürgen Bolder, Konstanz: UVK 2004, insbesondere S. 172f.

21

  

Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in: dies., Werke(MEW), Berlin: Dietz 1956ff., Bd. 3, S. 73 [entstanden 1845-1846].

22

  

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Teil, Kapitel III, § 2, »Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft«, a.a.O., S. 124-126.

23

  

Marc Bloch, Seigneurie française et manoir anglais, Paris: Armand Colin 1960 [zuerst 1934].

24

  

Zum performativen Satz vgl. Pierre Bourdieu, »Die autorisierte Sprache. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Wirkung des rituellen Diskurses«, in: ders., Was heißt sprechen?, a.a.O., S. 73-83; 2. Auflage 2005, S. 101-109.

25

  

Siehe hierzu das Heft der Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 81-82, 1990, zu »Ökonomie des Hauses«; wieder in: Pierre Bourdieu, Les Structures sociales de l’économie, Paris: Seuil 2000. 〈Vgl. die Zusammenstellung der einschlägigen Texte in deutscher Übersetzung: Pierre Bourdieu und andere, Der Einzige und sein Eigenheim, herausgegeben von Margareta Steinrücke, übersetzt von Jürgen Bolder, Franz Hector und Joachim Wilke, Hamburg: VSA 1998, erweiterte Neuausgabe 2002.〉

Der Eigenheimmarkt und der Staat

Als ich diese Untersuchung über den Eigenheimmarkt in Angriff nahm, hatte ich ziemlich banale, ziemlich triviale Fragen im Kopf, wie sie von Forschern regelmäßig gestellt werden: Warum sind die Leute lieber Eigentümer als Mieter? Warum beginnen sie in einem bestimmten Moment lieber ein Haus zu kaufen als zu mieten? Warum beginnen soziale Kategorien, die früher nicht kauften, nun zu kaufen, und welche sozialen Kategorien sind das? Man sagt, daß insgesamt die Zahl der Eigentümer wächst, 37doch man achtet nicht darauf, wie sich im sozialen Raum die unterschiedlichen Wachstumsquoten je nach Klassen verteilen. Man muß zunächst beobachten, messen: Dafür ist die Statistik da. Man stellt eine Reihe von Fragen: Wer kauft, wer mietet? Wer kauft was? Wer kauft wie? Mit welcher Art Darlehen? Schließlich kommt man dazu, sich zu fragen: Aber wer produziert? Wie produziert man? Wie wäre zu beschreiben, was ich den Sektor nennen würde, der Eigenheime baut? Gibt es da kleine Handwerker, die im Jahr ein Haus fertigstellen, neben großen Gesellschaften, die eine gewaltige Bankenmacht hinter sich haben und jährlich dreitausend Häuser herstellen? Ist das dasselbe Universum? Gibt es eine echte Konkurrenz zwischen ihnen? Wie sehen die Kräfteverhältnisse aus? Also klassische Fragen. Die Forschungsprozesse waren außerordentlich vielgestaltig: Interviews mit Käufern – warum lieber kaufen als mieten? –, Beobachtungen, Tonbandaufzeichnungen von Verkaufsakten und Verhandlungen, Verträge zwischen Käufern und Verkäufern, Untersuchung der Verkäufer, ihrer Strategien, bis zum Anhören der Vorstellungen, die die Käufer bei den Verkäufern geweckt haben.

Interessant war nun, daß in einer Art Regression, die von der Logik der Untersuchung selbst erzwungen wurde, der Mittelpunkt der Untersuchung sich immer weiter verschob: Während es zunächst eine Studie über die Transaktionen war, über die Zwänge, denen die Transaktion unterliegt, die ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die für die Wahl bestimmend sind, und eine Suche nach einem System erklärender Faktoren für die Entscheidung, Mieter oder Eigentümer zu werden, Eigentümer eher von diesem als von jenem, Mieter eher von diesem als von jenem zu werden, trat diese Fragestellung nach und nach zurück, so sehr, daß sie im endgültigen Text nur noch fünf Prozent, das heißt ein Dutzend Seiten, ausmacht. Das zentrale Interesse der Untersuchung hatte sich zu den institutionellen Produktionsbedingungen zugleich des Häuserangebots und der Häusernachfrage verlagert. Sehr rasch zeigte sich, daß man – um zu verstehen, was bei dem Kaufabschluß zwischen einem einzelnen Verkäufer und einem einzelnen Käufer vor sich geht: eine letztlich 38scheinbar zufällige Konstellation – Schritt für Schritt zurückgehen mußte, und am Ende dieser Regression fand sich der Staat.

Auf die Eigenheim-Ausstellung in Paris kommt ein Käufer, ein wenig befangen, begleitet von seiner Frau, seinen zwei Kindern; er fragt nach einem Haus. Man kümmert sich freundlich um ihn, weil er eine Frau und zwei Kinder hat, er ist ein seriöser Klient … Wenn eine Frau ganz allein kommt, weiß man, daß sie sagen wird: Zur Besichtigung werde ich mit meinem Mann kommen, also reißt sich der Verkäufer kein Bein aus. Zu dem Paar sagt er: »Setzen Sie sich doch.« Man muß die Dinge im konkreten Detail aussprechen, um zu zeigen, daß der Staat dabei präsent ist. Ich hatte anfangs nicht vor, den Staat zu untersuchen: Er hat sich mir aufgedrängt. Um zu verstehen, was in dieser singulären Begegnung abläuft, mußte ich all das tun, woran ich eben rasch erinnert habe, und letztlich wäre es nötig gewesen, den französischen Staat bis zurück ins Mittelalter zu untersuchen …