Manfred – Bekenntnisse eines Außerirdischen - Thomas Lehr - E-Book

Manfred – Bekenntnisse eines Außerirdischen E-Book

Thomas Lehr

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Beschreibung

Über die Grenzen menschlicher Erkenntnis – ein irrwitziger Roman von Thomas Lehr

Manfred ist ein höchst durchschnittliches Exemplar der Gattung Homo sapiens. Anfang 30, blass und schmerbäuchig lebt er einsam im Homeoffice. Und dennoch löst er intergalaktischen Alarm aus. Wieso sollte gerade er – wie vor ihm Descartes oder Einstein – die Fähigkeit haben, die Existenz der Außerirdischen zu entlarven? Der Außerirdische Zorrgh ergreift Besitz von Manfreds Bewusstsein, um den Grund herauszufinden. Er boostert Manfred und schon bald nimmt dieser Kontakt zu seiner – nicht ganz so harmlosen – Jugendliebe Sabine auf. Bis hin zu einem furiosen Finale ahnt Zorrgh nicht, wie nah ihn die beiden an seine eigenen Grenzen bringen werden. Der irrwitzigste Roman, den Thomas Lehr je geschrieben hat.

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Das ist das Cover des Buches »Manfred« von Thomas Lehr

Über das Buch

Über die Grenzen menschlicher Erkenntnis — ein irrwitziger Roman von Thomas LehrManfred ist ein höchst durchschnittliches Exemplar der Gattung Homo sapiens. Anfang 30, blass und schmerbäuchig lebt er einsam im Homeoffice. Und dennoch löst er intergalaktischen Alarm aus. Wieso sollte gerade er — wie vor ihm Descartes oder Einstein — die Fähigkeit haben, die Existenz der Außerirdischen zu entlarven? Der Außerirdische Zorrgh ergreift Besitz von Manfreds Bewusstsein, um den Grund herauszufinden. Er boostert Manfred und schon bald nimmt dieser Kontakt zu seiner — nicht ganz so harmlosen — Jugendliebe Sabine auf. Bis hin zu einem furiosen Finale ahnt Zorrgh nicht, wie nah ihn die beiden an seine eigenen Grenzen bringen werden. Der irrwitzigste Roman, den Thomas Lehr je geschrieben hat.

Thomas Lehr

Manfred

Bekenntnisse eines Außerirdischen

Roman

Hanser

Für Dorle

Kann etwas schmerzen,

außer: Mensch zu sein?

Lord Byron

Je verständlicher das Universum erscheint, desto sinnloser erscheint es auch.

Steven Weinberg

1.

Der Eintritt

1.

Wir haben den Manfred in einem fürchterlichen Zustand vorgefunden. Sein einziger Kopf lag auf der Tastatur einer klappbaren Rechenmaschine, sein Atem erschien Uns faulig, Bartstoppeln hatten sein Kinn in eine rötliche Kaktee verwandelt. Um ihn nicht zu verstören oder durchgehen zu lassen, öffneten Wir nur den Spion. Er erwachte dadurch, wurde in die Höhe gerissen und starrte in seine erbärmliche Behausung, als sehe er sie zum ersten Mal.

Das Entsetzen, das er nun verspürte, hatte er sich selbst zuzuschreiben. In der Zeit Unseres letzten Einsatzes nannte man eine derart verwilderte Menschlingshöhle wohl eine Junggesellenwohnung. Wir fanden auf dem klebrigen Küchentisch eine Zeitung, das hiesige Provinzialblatt. War sie von heute, dann schrieb man einen Freitag am Ende des zweiten Jahrzehnts des so genannten einundzwanzigsten Jahrhunderts der Menschlinge.

Zunächst ließen Wir den Manfred zwischen seinen vier schlecht dekorierten Wänden umherhasten, als hätte er etwas Wertvolles verloren und müsste es in größter Eile wiederfinden. Dabei entdeckten Wir keine Anhaltspunkte für ein großes Talent, eine besondere Fähigkeit, einen höheren Sinn. Man hat noch Bücher in seiner Zeit, aber das spärlich gefüllte Regal, das der Manfred für Uns hastig und willenlos durchstöberte, enthielt nur traurig geistloses Schrifttum. Ausnahmen stellten Werke zur Ökonomie und eine Handvoll zerlesen erscheinender Fachbücher zur Abrichtung von Rechnern dar, in denen der Manfred nun wühlte, als hätte er darin einen Geldschein versteckt — damit Wir sehen konnten, von welcher Qualität seine handschriftlichen Anmerkungen waren. Von mäßiger, muss man sagen.

Auch als Wir ihn dazu veranlassten, seine Tagebücher und persönlichen Aufzeichnungen, seine Studiennotizen und einen Schuhkarton mit an ihn gerichteten Briefen und Postkarten durchzugehen, fanden Wir keinen Hinweis auf besondere Geistesgaben oder originelle Züge seines Charakters. Dasselbe gilt leider auch für seine Korrespondenten. In einer blauen Metallkassette entdeckte er seine Geburtsurkunde, um beim Anblick des Datums zu erbleichen. Ja, er hatte allen Grund sich zu schämen! Als Fünfunddreißigjähriger lebte er schlampig und improvisiert, ohne Zeichen größeren Wohlstandes oder guten Geschmacks.

Noch nicht einmal sein körperlicher Zustand gereichte einem biologischen Männchen seiner Art zur Ehre. Wir stießen ihn in sein enges Badezimmer, vor einen schmalen, aber hohen Spiegel, der — ungeputzt und schlecht ausgeleuchtet — sein stockfleckiges Ganzkörperporträt zeigte, nachdem Wir ihm den dringlichen Impuls eingegeben hatten, sich die Kleider vom Leibe zu reißen. Beim Anblick seines tränensackigen Gesichts, der hängenden Schultern, des unwürdigen Bauchansatzes, der dünnen Arme und Beine, der seltsam nach außen gedrehten übergroßen Füße vermeinte man, die unrechtmäßig in den Vordergrund gerückte Randfigur eines apokalyptischen Gemäldes vor sich zu haben, einen krummen Sünder, dessen lasterhafte Gepflogenheiten den an sich noch jungen, im Grunde nicht unbrauchbaren Körper geschwächt und verunstaltet hatten, zu nichts anderem gut, als von einer Engelsfigur in die Hölle gestoßen oder von einem roten Teufel auf eine Gabel gespießt zu werden. Wir denken an den Fall Hieronymus Bosch zurück, den Wir mit schier unendlicher Geduld auf zivile, jedoch finale Weise lösten im sechsundsechzigsten Lebensjahr des Meisters. Bei dem Manfred allerdings scheint sich kein visionärer Funken durch den Heuhaufen des Gehirns zu bewegen, welchen Wir vielleicht einmal werden entzünden müssen, um die möglicherweise darin verborgenen Gestalten ans Licht zu treiben.

An dieser Stelle, in den Augenblicken der erzwungenen ungeschminkten Selbstwahrnehmung vor dem Badezimmerspiegel, muss der Manfred sich eingebildet haben, eine höhere und bessere Instanz in seinem Gehirn sei erwacht und jäh zu der Entscheidung gelangt, ihn mit der ganzen Jämmerlichkeit seiner Existenz zu konfrontieren. Ecce homo. Wir brachten ihn dazu, die Nüstern zu blähen und die Lippen zu schürzen, um seinen unerfreulichen Zahnstatus zu begutachten. Dann stießen Wir ihn unter die Dusche und brausten seinen Armer-Sünder-Körper erst heiß und anschließend so lange eiskalt, bis die Trübung des pochenden Gehirns nachließ und Uns schärfere Konturen geliefert wurden. Du musst deine Zähne bleichen, Manfred!

2.

Wir senden keine Nachrichten nach Hause. Sonst würden Wir Uns nach einigen weiteren Umdrehungen des Planeten um die eigene Achse und einer kleinen Reihe nicht-invasiver Untersuchungen des Manfred gezwungen sehen, dem Äußeren Rat mitzuteilen, dass der Grund des Alarms noch nicht vorzufinden war. Er mag in den tieferen Schichten des Manfredischen Gehirns verborgen liegen, deren Inspektion Wir noch ausgespart haben, um das Objekt nicht vorzeitig zu beschädigen. Sehr ungern erinnern Wir Uns an frühere Fälle von so genanntem Wahnsinn oder gar an Selbsttötungen infolge illuminierter Raserei. Seit Wir ihn touchiert, ihn per Spion vorsichtig sondiert, ihn gleichsam auf die Koppel geführt und mit einer leichten Satteldecke versehen haben, befindet sich der klägliche Menschling in der Lebenskrise, für die es langsam Zeit wurde. Denn ganz gleich, ob der Manfred selbst den Alarm auslöste oder ein Element seiner sozialen Umgebung — in seinem eingetrübten und vergifteten Zustand ist er noch nicht einmal als Instrument zu gebrauchen. Also putzen Wir ihn, wie es in der Pferde-Abrichtesprache heißt, welche Uns so köstliche Bilder leiht, um die Zurichtung der Menschlingsexemplare zu beschreiben, die notwendige zoologische Dressur ausgesuchter Vertreter einer Gattung, die sich selbst immer mehr zu Beherrschern anderer Lebensformen aufgeschwungen hat.

Im Rahmen des Putzvorgangs befreiten Wir den Manfred von seiner Nikotinsucht, an der er, wie zahllose seiner Artgenossen in den vergangenen einhundert Erdenjahren, in fortgeschrittenem Lebensalter elendiglich zugrunde zu gehen drohte. Wir beseitigten auch sämtliche alkoholischen Getränke in seiner Behausung und einen Karton mit offensichtlich missbräuchlich verwendeten Pharmaka. Darüber hinaus zerstörten Wir durch die Peitsche entsetzlicher Gewissensbisse jeglichen Versuch der Wiederbeschaffung unangebrachter Drogen. Jeder Gentleman weiß, dass man allenfalls ein Eimerchen Pfefferminzlikör bei seltenen Gelegenheiten zu sich nimmt. Zwei, drei Wochen lang litt der Manfred, heulte, brabbelte wirr, war zu nichts zu gebrauchen. Dass er keiner geregelten Arbeit in Abhängigkeitsverhältnissen nachging, sondern als abgebrochener Student und Kleinunternehmer mit Computer-Gelegenheitsarbeiten ein schwaches Einkommen erzielte — einige seiner Kunden riefen an und beschimpften seinen Telefonsprachspeicher — und das kleine Erbe seiner verstorbenen Mutter (von einem Vater war keine Spur in seinen Unterlagen zu finden) für seinen unstrukturierten und belanglosen Lebenswandel verzehrte, ließ gewisse Freiräume in seiner Existenz und half Uns sehr beim Anlegen des Zaumzeugs und beim Einführen der Trense. Der Manfred muss Uns tragen lernen.

Als er sich mit einem Mal, an einem sonnigen Apriltrag, ungeheuer stark, frei und wie neu geboren fühlte, gaben Wir ihm Auslauf in der Agglomeration oder Civitas. Wir finden mitunter seltsame Wortdinge in seinem Gehirn, angeschimmeltes Latein etwa und Trümmer eines biederen Schulfranzösisch sowie das zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts wohl epidemisch verbreitete Amerikanischenglisch mit einer gar nicht so schwachen Lexik, jedoch ohne jede Geschmeidigkeit oder rhetorische Eleganz. Der Manfred hat wohl einiges gelesen, aber wenig gespürt. Zögernd entließen Wir ihn aus seiner mittlerweile säuberlich gereinigten und aufgeräumten Behausung und longierten ihn vorsichtig durch die Straßen der Stadt, in der er geboren wurde und in der er schier sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, als wäre er ein Baum. Allerdings scheint der Manfred noch nicht einmal für eine bescheidene luftverbessernde Photosynthese zu taugen.

Wir spotten und sollten es doch nicht, solange Wir das Objekt nicht tatsächlich eingeschirrt und gesattelt haben. Beim mehrtägigen Longieren durch die Areale seiner Herkunft und seines dauerhaften Aufenthalts konnten Wir weiterhin nicht den geringsten Hinweis dafür entdecken, dass der Manfred sich mental oder physisch einem Alarmzustand oder alarmierenden Punkt genähert haben könnte. Seine Heimatstadt R. erscheint selbst manfredisch. Sie besitzt einen grünlich-grauen Fluss, der sich unschlüssig dahinwindet, faserige Neubausiedlungen am Rand und einen öden Gürtel von Familienhäusern mit Gartenflecken, dazu einen von einer absurden Kraftwagendichte wie ein verkalktes Hirn vernebelten und verstopften Altstadtkern mit gotisch-romanischen Klerikalgebäuden unterdurchschnittlicher Bedeutung und sinnlos hoher Anzahl. Denkmale kleinerer Mordbefehlshaber und lokaler Herrscher vergessener oder geringerer Bedeutung zieren die Stadt. Man findet einen Bahnhof mit sechs Gleisen, etwas Leichtindustrie, Rudimente von Kurort-Hotellerie aus besseren Tagen, Symptome erlahmten Tourismus, eine Universität schließlich, die sich seit vierhundert Jahren zu überschätzen pflegt. Deren zwölftausend mustergültige Studenten erscheinen wie eine Armee von Manfreds, wäre Letzterer nicht auf eine geradezu erfrischende Art verwahrlost gewesen und hätte man ihn nicht nach achtzehn Semestern vor die Tür der sauermilchigen Alma mater gesetzt.

Erneut fühlen Wir Uns zu Spott gereizt und sollten doch stattdessen bekümmert sein, wie unergiebig die Musterung der vertrauten Umgebung des Manfreds ausgefallen ist. Erneut — wie mittlerweile in einem guten Dutzend der Uns zugeteilten Fälle — scheint Uns die Unschärfe der Platzierung sehr weit entfernt vom eigentlichen Ziel, dem Auslöser des Alarms, abgesetzt zu haben. Nach Abschluss Unserer Mission werden Wir Uns erlauben, den Äußeren Rat erneut auf den erschreckenden Grad der Abweichung von der Zielperson hinzuweisen, auch wenn Uns die aus mathematisch-physikalischen Gründen gegebene Unvermeidlichkeit von Fehlsteuerungen bewusst ist. Jedenfalls werden Wir noch einige Zeit benötigen und den Manfred durch etliche krumme und finstere Gassen begleiten und führen müssen, um verdächtige Anzeichen zu entdecken.

3.

Da auch zu Beginn ihres einundzwanzigsten Jahrhunderts die Menschlinge weit davon entfernt sind, die

Erste Qualifikation

Bedingungslose Garantie von komfortabler Wohnung, variantenreicher Kleidung und anspruchsvoller Ernährung nebst kommodem Taschengeld für ausnahmslos jedes Mitglied der Zivilisation!

zu erfüllen, verspürte der Manfred allmählich den Zwang, seine Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Einige Semester seines Studiums, in denen er auf seine laxe Art den Lehrstoff aufzunehmen versuchte, haben ihn, wie schon angemerkt, in die Lage versetzt, bezahlte Arbeiten an Rechengeräten zu verrichten, wozu sowohl das bloße Installieren und Herumschrauben gehören als auch das Programmieren von Bestell- und Werbeseiten für Kleinkaufleute und bescheidene Händler der Stadt. (Mittlerweile sind die Menschlinge in der Lage, sich über den ganzen Planeten hinweg mit Hilfe elektronischer Netzwerke rasch zu adressieren und per Buchstabe, Ton oder Bild mitzuteilen, auch wenn sie davon am liebsten unsinnigen, obszönen oder Grauen erregenden Gebrauch machen.)

Um dem Alarmpunkt, dem Gehirn der eigentlich kritischen Person, näherzukommen, begleiteten Wir den Manfred bei seinen Kundenbesuchen. Es war prinzipiell möglich, dass sich schon unter seiner näheren Bekanntschaft ein Menschling befand, dessen Fähigkeiten sich so weit über den trüben Durchschnitt seiner Gattung hinaushoben, dass er imstande gewesen war, die Pforte zu erahnen oder gar für Sekunden hindurchzusehen und eine kurze, blendende Vision zu empfangen. Im letzten Fall würde allerdings nicht nur das Signal ausgelöst, sondern auch der Sehende lebenslang gezeichnet werden. Leicht schaudernd denken Wir an die enorme Folge sinnverdrehter und verworrener Gesichte, jene bewaffneten Rieseneier, gepanzerten Vögel, blauen und grünen Hunde oder malvenfarbenen Dämonen, die Heerscharen menschlicher Körper durchbohrten, spießten, zernagten oder sonst wie folterten, vom Maler aus Bosch ein Leben lang manisch auf die Leinwände gebracht, bis er die verräterische Grenze überschritt und Wir ihn gnädig im Maul einer dunklen Muschel verschlossen.

Die Kunden des Manfred enttäuschten zumeist auf den ersten Blick. Sie empfingen ihn reserviert oder mit Vorhaltungen, einige beklagten sich bitter, dass er Termine versäumt und Absprachen nicht eingehalten habe. Wir gaben ihm ein, von einer plötzlichen Erkrankung zu sprechen, um die Beurlaubung von fünf Wochen zu erklären, seinen Rückzug von den lästigen Pflichten und schauderhaften Ritualen (etwa das so genannte Kartendreschen und das stillose Herunterkippen von Bieren in schlechter Gesellschaft) seines törichten Alltags, der für Unsere ersten pflegerischen Maßnahmen nach dem Eintritt in sein nichtswürdiges Dasein erforderlich gewesen war.

Immerhin entging kaum einem seiner Geschäftspartner die positive Veränderung, die Wir durch den Entzug von Drogen und die Schärfung der Selbstwahrnehmung an der Gestalt des Manfred bewirkt haben. Wir erreichten in der Regel eine Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen. So konnten Wir die Klienten weiterhin im Augenschein behalten, um womöglich doch auf ein alarmierendes Talent oder eine konspirative Tätigkeit zu stoßen, die das Signal ausgelöst haben könnten. Die enervierenden Unterhaltungen mit örtlichen Möbelverkäufern, Bierbrauern, Gastwirten, Spielhöllenbesitzern und Änderungsschneiderinnen, denen der Manfred bei der Verbreitung ihrer Angebote im internationalen Rechnernetz (so genanntes Internet) hilft, waren zumeist ohne Belang. In zwei Fällen allerdings öffneten Wir den Spion, durch welchen Uns die Empfindungen und trüben Gedanken des Manfred besser zugänglich werden, während er selbst Unserer Präsenz in Form einer in ihm auferstehenden höheren Instanz, einer Art freudianischen Über-Ichs (wie gerne erinnern Wir Uns an den Wiener Meister!) gewahr wird, bei zu viel Nachdruck allerdings rasch umschlagend in den Dämon eines beginnenden Wahns.

In den besagten Fällen ging es um Fähigkeiten oder tiefsitzende Angewohnheiten der Menschlinge, die Uns auch nach zahlreichen Einsätzen staunen lassen oder anrühren. Zum einen stoßen Wir auf ihre unglaubliche Fähigkeit der Tonkunst, der so genannten Musik, in der sie auf eine Weise brillieren, die auch in Unseren Höhen selten ist. Zum anderen handelt es sich um ihre verblüffende Art sich fortzupflanzen, die Uns in ihrer Kombination von roher Mechanik und fintenreicher oder gar sublimer Methodenvielfalt der Balztechniken durchaus imponiert, vielleicht wie Vögel, die ihren Kot aus der Luft fallen lassen — und doch fliegen. Wenn sogar jemand wie Lady Lovelace (deren Gehirn sich im Vergleich zum Manfredischen ausnimmt wie ein herrlich schimmerndes Rassepferd neben einem struppigen Maulesel) beinahe süchtig danach wurde, dann gibt Uns das allen Anlass, das Leben alarmverdächtiger Personen auf ihre Fortpflanzungstätlichkeiten hin zu untersuchen.

Bei der verdächtigen Begegnung Nummer eins wurden Wir gleich hellhörig durch die dicken roten Ohren des Manfred, da sich Ton- und Sexualkunst zu einer interessanten Vereinigung zusammenzufinden versprachen. Dies lag vor allem an der außerordentlich glückverheißenden und selbstvergessenen Weise, in der sich die etwa vierzigjährige, mittelgroße, mediterrane Erscheinung der Geigenlehrerin Donatella Ernst vor der Kamera des Manfred beim Darbieten von Bach-Partiten bewegte. Soweit Wir bis dahin feststellen konnten, unterhielt der Manfred ganz allein geschlechtliche Beziehungen zu sich selbst und auch dies auf hastig-nachlässige Weise. Seine Musikalität ist dagegen nicht gänzlich unentwickelt, denn obgleich er kein Instrument beherrscht, zeigte er Feingefühl beim Herstellen der filmischen Schnipsel, die er von Donatellas Geigenspiel anfertigte, um für sie eine Hausseite im Internet zu basteln. Wir gingen so weit, ihm einige ganz neue Fragen an Donatella einzugeben, um etwas über ihr Privatleben (Geburtsort, Hobbys, geistige Krankheiten, physiologische Abnormitäten, seltsame Beziehungen) in Erfahrung zu bringen. So wissen Wir nun von ihren vier Kindern, ihrer extremen Furcht um die Unversehrtheit ihrer Hände und von ihrem Ehemann, dem Ernst. Der Ernst soll als Ingenieur arbeiten, was Uns etwas neugierig im Hinblick auf das Signal machte. Um Donatella nicht misstrauisch zu stimmen, konzentrierten Wir Uns dann wieder auf ihr wundervolles Spiel. Die Komplimente des von Uns hygienisch und modisch beachtlich aufgebesserten Manfreds reicherten Wir um einige Ideen zum Lob ihrer Phrasierung, ihrer Melodiedynamik und polyphonen Technik an, womit Wir sie für eine erste Sondierung genügend erregt hatten. Das nächste Mal, so nahmen Wir Uns vor, würden Wir stärker in Richtung ihres Mannes vortasten.

Dem Äußeren Rat werden Wir bei Unserer Rückkehr wohl ein weiteres Mal die Problematik des Fensters zur Kenntnis bringen. Da Wir Unser Transportmittel, das Arbeitspferd, also den einzigen und stupiden Manfred in diesem Fall, zu Beginn nur durch den engen Spion beobachten können, haben Wir weder Zugriff auf seine Erinnerungen noch verfügen Wir über eine zuverlässige und erschöpfende Bilanz all seiner Fähigkeiten und möglichen verborgenen Talente. Wir benötigen Zeit, weitere lange Tage oder gar Wochen, bis Wir Unseren Träger hinreichend durchmessen haben, indem Wir seinem Leben zuschauen, ohne ihn von Unserer Anwesenheit mehr spüren zu lassen als den sanften, aber unerbittlichen Druck im Nacken, den er mit einer neuen, überraschenden und immer stärker wirkenden Aktivität seines Über-Ichs oder seines jäh erwachten Gewissens verwechseln kann, etwas aus seinem verbummelten und unachtsamen Dasein zu machen. Das Fenster dagegen, mit seiner fatalen Transparenz in beide Richtungen, würde Uns zwar sogleich ein präzises Bild liefern und Gewissheit darüber verschaffen, ob der Träger selbst die Gefahr darstellt oder nur dazu gebracht werden kann, Uns in die Nähe der eigentlichen Alarmquelle zu befördern. Jedoch löst der Rückblick oder Wechselblick eines Manfredigen oder Manfredartigen auf Uns, den Zorrgh, in aller Regel so fürchterliche Schockzustände aus, dass drastische Reaktionen, vom dauerhaften Wahnsinn bis zum sofortigen Suizid, die Folge sein können. Ein semipermeables Fenster, ein genügend großer Spiegel mit Durchsicht nur von einer Seite her, scheint Uns nach wie vor eines der dringendsten technischen Probleme der zeitgenössischen Astro-Zoologie wie Wir sie betreiben. Beklagenswert erscheint auch der sehr eng gesteckte Rahmen der Observation und der Reitstunden, wie Wir die Phasen der sinnreichen Verwendung der Menschlinge seit Unseren köstlichen Tagen der Fuchsjagden und Horseraces gerne zu bezeichnen pflegen. Bereits nach wenigen Meilen Ausritt ist der Manfred, wie jeder andere Träger auch, von dem unsichtbaren, konturlosen, inneren Aufsitzen Unserer Person so erschöpft, dass man ihn für Tage schonen muss (in denen er sich zumeist sinnlos irgendwohin entwickelt wie ein von der Reitbahn gescheuchtes Pferd), während Wir auch umgekehrt durch die ungeheure Einschränkung Unserer Gestalt, Unserer geistigen Aktivität und Unserer Ausdrucksmöglichkeiten völlig zerschlagen und ausgelaugt heimkehren müssen oder in das Dunkel der temporären Nicht-Existenz stürzen wie ein Reiter, der vom Sattel in einen nicht enden wollenden Abgrund fällt und dabei rasch das Bewusstsein verliert.

Natürlich wissen Wir — allerdings doch sehr abstrakt —, dass Uns in diesen Pausen der Dunkelheit die höchsten Güter wiedergegeben werden. Wir kehren zu Unseren Kollegen von der Astrozoologischen Fakultät zurück (nehmen Wir an), Wir sehen Unsere Freunde und Geliebten wieder, Wir lustwandeln in den Gärten des Krasschgathors, die Uns in der irdischen Enge des Manfredhinterkopfes nur noch als rätselhafter leerer Begriff einer paradiesischen Region erscheinen — so wie man Uns ja auch beinahe jegliche Erinnerung an Unser wahres Leben, an Unsere tatsächliche Gestalt, an das Aussehen Unserer Artgenossen, Unserer Stadt, Unseres Landes und Planeten nehmen muss, damit Wir in der Kerkerzelle Unseres Reittierspatzenhirns nicht vor Sehnsucht und Begierde in wenigen Tagen den Verstand verlieren. Irgendwann allerdings im Laufe Unserer Untersuchungen, kann es dazu kommen, dass der Manfred Uns sieht, und Wir werden dann, für eine Sekunde wenigstens, im Schimmer seines erstarrenden Auges den Umriss Unserer wahren Gestalt erahnen können.

4.

Wir müssen von der zweiten Begegnung berichten, die Unser Interesse erregte, traf sie den Manfred und Uns selbst doch gleichermaßen mit einer gewissen Heftigkeit. Denn wo er eine großgewachsene Frau mit langem dunklen Haar erblickte, eine Schönheit wohl, am menschlichen Maß der Einköpfer, Zweiarmer und Zweibeiner gemessen, eine Dame mit hoher Stirn, großen ovalen Augen, feiner langer Nase, delikatem kleinen Mund und ausdrucksvollem Kinn, eine Bekannte, seine einstige Schulkameradin und Kommilitonin, ehemalige Freundin, ja womöglich auch zeitweilige Geliebte Sabine (mit jeder Näherung seiner Erinnerung beschleunigte sich sein Puls um zehn Schläge, so dass er bald herzrasend vor ihr stand wie ein biologisches Metronom im Allegro-Takt), die ihn — zu seiner großen Überraschung (weitere zehn Schläge), gut gelaunt und offen grüßte, einen etwas verwirrend mit Büchern, Blumen und Gemüse bepackten Strohkorb im Arm. Wir dagegen sahen, durch die bedauerliche Enge des Spions — Ada Lovelace, wie leibhaftig, Lady Augusta Ada Byron King, die Countess of Lovelace, als wäre sie durch einen Reifen mehr als einhundertachtzig Jahre weit in die Zukunft gesprungen, als Dreißigjährige in voller Blüte! Sie hatte nur die phantasievollen floralen Bauschbögen ihres weiß-rosafarbenen Lieblingskostüms mit der herben zeitgenössischen Frühjahrstracht vertauscht, bestehend aus kurzen Stiefeln, enger langer Hose und blauem Pullover, als machte die Lady sich zum Ausritt bereit.

Während der Manfred noch erregt nach Gesprächsthemen suchte, um die Sabine in seiner Nähe zu halten, wurde Unsere Erinnerung in die historische Ferne zurückgeschickt, zu jenen Herrenhäusern von London und auf die nassen grünen Felder von Kirkby Mallory. Die erstaunliche Ähnlichkeit dieser Frauen sog Uns regelrecht wieder hinein in das wild industrielle, kohlefressende und rußdampfende England Unseres damaligen Einsatzes, als hätte Lady Lovelace den Zeittunnel, durch den sie gesprungen war, nicht ordnungsgemäß hinter sich geschlossen (etwas, das allerdings nur Unsereinem passieren kann). Doch Wir mussten Uns an die Gegenwart krallen, damit Wir das ungleiche Gespräch (rot verfärbter, stotternder Manfred — kühl und mitleidig lächelnde Sabine) nicht versäumten. Es drehte sich um gemeinsame Bekannte, einen gewissen Ronald, mit dem die Sabine mittlerweile verheiratet war, einen gewissen Axel, dem der Manfred etwas schuldig sei und der vermisst, verschwunden, ja wie vom Erdboden verschluckt wäre.

»Ich … fände es schön, wenn … wenn wir beide … uns nicht gleich wieder aus den Augen verlieren würden«, brachte der Manfred schließlich hervor, als hätte er ein schweres Gewicht gestemmt.

Zurzeit käme sie öfter in die Stadt, weil sie einen Sprachkurs besuche, französische Konversation, erklärte Sabine und wollte wissen, ob der Manfred sich noch daran erinnere, dass sie einmal gemeinsam einen solchen Kurs hatten besuchen wollen. Der heftig bewegte Träger, das struppige Reittier Unserer Intelligenz nickte nur eifrig, und noch bevor er einen Haken, eine Öse, einen Henkelgriff in ihrer Rede entdeckte, etwas, an dem er sie hätte festhalten können, um den Glanz ihrer Erscheinung und die unerwartete Freundlichkeit, mit der sie ihn behandelte, weiterhin zu genießen, verabschiedete sich seine Bekannte mit einem überraschend lang anhaltenden Druck ihrer großen, jedoch schmalen weißen Hand.

Trotz des Störfeuers Unserer aufgewühlten Erinnerung konnten Uns die beiden wesentlichen Elemente dieser Zufallsbegegnung nicht entgehen. Zum einen erstaunten die Bücher in dem seltsam inhomogen bestückten Korb der Sabine, bei denen es sich nicht etwa um Unterrichtswerke zum Französischen handelte, sondern um profund erscheinende Einführungen in die Quantentechnologie (eine der frühen Dampfmaschinenmethoden des einundzwanzigsten Jahrhunderts vergleichbar der lochkartengesteuerten Webstuhltechnik zu Adas Zeiten). Zum anderen machte Uns ein psychologisches Element stutzig, für das Wir aber selbst die Verantwortung trugen: Der Sabine waren die wenigen positiven Veränderungen, die Wir mittlerweile an der Erscheinungsform des Manfred bewirkt hatten, scharf ins Bewusstsein getreten. Man (vielleicht sogar Manfred) konnte ein Zögern, ein leichtes Schwanken in der resoluten Form ihres Abschieds spüren, ein kleines Anzeichen einer gewissen Hinneigung, die womöglich mit früheren gemeinsamen Erfahrungen zusammenhingen. Dort werden Wir suchen müssen, da erscheint eine Kerbe, in die Wir schon sehr bald fröhlich zu hauen gedenken.

5.

Das Ausreiten mit Unserer Präsenz im Nacken oder vielmehr im engen Hirnkasten erschöpft den Manfred so sehr, dass er anschließend ruhen, also schlafen oder auch ungezügelt durch die grausige Prärie seiner Heimatstadt traben dürfen muss, während Wir untätig zurücksinken. Zieht sich die Ruhephase länger hin, dürfen Wir selbst ein kreatives Nickerchen einlegen oder eine Meditation beginnen über gewisse numerische oder philosophische Probleme, die unmöglich in den Käfig der Menschlingshirne gepresst werden können. Auch sentimentale Betrachtungen sind gestattet, um Auffälligkeiten und Kongruenzen zwischen den Missionen zu entdecken, so die von der verblüffenden Ähnlichkeit der beiden Frauen ausgehende melancholische Erinnerung an Ada Lovelace, die Zentralgestalt eines Unserer reizvollsten, wenn auch erschütterndsten Fälle.

Ihr liederlicher, aber bemerkenswerter Vater wachte eines Tages auf und war berühmt. Aber nicht er war es, der den Alarm auslöste, obgleich er mit einer Glückshaube zur Welt kam, gleichsam wie Unsereiner als Astronaut auf diesen wunderbaren und erschreckenden Planeten, den gesamten Kopf umgeben vom transparenten, blutig geäderten, den Schein der ringsum verteilten Öllampen wiedergebenden Spiegel seiner eigenen Fruchtblase. Man entdeckte bald auch einen Klumpfuß. So schien er zu Höhenflügen (den Spasmen seiner zynisch-romantischen Gedichte) und plumper Erdenschwere (seine Spasmen auf all den Frauen und Männern, über die er herfiel wie ein hungriger Hamster) zugleich geboren, und sein Erbe ging letzten Endes auf die Tochter über, mit fürchterlicher Konsequenz, ganz wie es ihre gleichfalls bemerkenswerte Mutter immer befürchtet hatte.

Die Alarmglocken schrillten in dem Augenblick, in dem jene resolute Mutter Annabelle die bis dahin übervorsichtig und harsch behütete Ada voranschob, in den Salon des Charles Babbage, den Hunderte von Kerzen (sechshundertvierundzwanzig, um genau zu sein) festlich erleuchteten. Livrierte Diener bewegten sich gekonnt zwischen den Gästen und servierten vom Gastgeber persönlich ausgesuchte Weine aus dem Rheingau und dem Burgund. Wir strandeten im Kopf der gerade siebzehnjährigen, aufgeputzten, mit Schleifen und Rüschen, Blüten und Spitzen wie ein wandelnder glockenförmiger Seerosenteich übers Parkett schreitenden jungen Frau, sacht und für diese unmerklich, wie üblich ohne die geringste Vorbereitung. Dass sie das unmittelbare Ziel sein konnte, war zu bezweifeln, auch wenn Uns die äußerst rasche und durchdringende Art, ihre Umgebung aufzunehmen, sogleich entzückte (dagegen schleppt sich das Gehirn des Manfred geradezu molchhaft am Boden dahin), und sie sich inmitten der festlichen Abendgesellschaft von etwa zweihundert Personen (einhundertsiebenundachtzig in diesem Augenblick), von haubenverzierten, ihre Fächer spreizenden Damen in Abendroben und würdigen Herren im Frack, Mitglieder der besseren Gesellschaft offenbar, sehr kontrolliert und klug berechnend bewegte, während sie sich im Geist an der Vorstellung labte, über all die Köpfe einfach hinwegzufliegen und sich einen Weg zwischen den Kronleuchtern zur eigentliche Attraktion des Abends zu bahnen.

Wir entdeckten in der aufblitzenden Erinnerung der jungen Frau Skizzen der interessanten Flugapparate, die sie in den beiden vergangenen Jahren leidenschaftlich angefertigt hatte, besessen davon, für die Menschheit einen neuen, unermesslichen Verkehrsraum zu eröffnen. Sie hatte Vogelschwingen erwogen, starre Gleitsegel, surrende Libellenflügel aus dünnem Leder, von Pumpmaschinen betriebene Lufträder. Unzählige Konstruktionszeichnungen bedeckten die heimischen Tische, Schränke und schließlich auch den Boden ihres Zimmers. Man musste befürchten, dass sie nicht eher ruhen würde, bis sie, vom nächsten Grashügel aus, wenn nicht von einem Brückengeländer oder gar Hausdach herab, wenigstens eine ihrer verrückten Flugideen in die Tat umgesetzt hatte.

Es war deshalb gut möglich, dass ihre Mutter Annabelle den Salon des Charles Babbage nicht nur ausgesucht hatte, um eine möglichst hochadelige Partie für die geistig überhitzte Tochter zu finden, sondern auch, um sie auf neuartige Gebiete zu führen, in der Absicht, sie von den obsessiven Flugträumen zu befreien. Der Hausherr pflegte den interessierten Gästen leidenschaftlich gerne seine berühmte Rechenmaschine vorzuführen, und Ada brannte auf eine solche Demonstration, ganz wie ihre Mutter erhofft hatte. Wie Uns unmittelbar einsichtig wurde, hatte diese auch zu Recht vermutet, dass nur jahrelanger, streng getakteter, erschöpfender Unterricht, insbesondere in der Konzentration und Hingabe erfordernden Mathematik und den stark abkühlenden und ernüchternden Naturwissenschaften, die natürliche oder besser gesagt väterliche Impulsivität und heftige sinnliche Neugierde der Tochter in Schach halten (wenn auch nicht auslöschen) konnte. Beinahe jeder attraktive Mann zwischen zwanzig und fünfzig wurde durch die blitzschnell arbeitende Registratur der Siebzehnjährigen vermessen, taxiert, in seiner spezifischen Qualität und seinem eigenen Aroma bestimmt und gewürdigt. (Welch eine große Botanikerin des männlichen Geschlechts hätte sie werden können!). Als der Hausherr auf sie zutrat, im dunklen Frack, mit blütenweißem Stehkragen, den eine schwarze Trauerbinde einfasste, und einer grauen Weste, auf der formelartige goldene Stickereien prangten, welche dem Träger einige seiner berühmten Scherzworte (Wissen Sie, ich notiere hier die Nullstellen von besonders interessanten Funktionen …) erlaubten, war die junge Ada durchaus auch von den rein männlichen Qualitäten des Gastgebers angesprochen (Wir schüttelten gleichsam den Kopf in ihrem Kopf, denn der rustikale Babbage hatte allenfalls den Sex-Appeal eines verkleideten Flussschiffers).

Ihre Mutter stimmte lebhaft zu, als der Babbage ihnen die Teilnahme an einer sogleich stattfindenden Vorführung seiner allgemeines Aufsehen erregenden Maschine anbot. Man begab sich in ausgewählter kleiner Gesellschaft (vierzehn Personen) in einen kleineren Raum, den die Diener sorgsam ausgeleuchtet hatten. Babbages so genannte Differenzmaschine Nummer eins stand auf einem Schreibtisch, von der Größe eines ausgefahrenen Akkordeons. Drei Hauptsäulen aus übereinandergestapelten Zahnrädern, auf denen silberfarbene Scheiben mit aufgeprägten Ziffern saßen, eingefasst von schlankeren vertikalen Bronzesäulen, endeten in größeren Zahnrädern, die waagerecht gleichsam das Dach der Maschine bildeten. Eine Handkurbel, wie man sie von Kaffee- oder Getreidemühlen her kannte, wurde vom Hausherren schwungvoll betätigt, woraufhin die gestapelten Zahnräder, elegant klackernd, fast schnurrend ineinandergriffen und die Zahlenstaffel der Räder ihrer Ausgangsreihe über die vermittelnden Zahnräder der Mitte zur neuen Zahlenstaffel der Endreihe verwandelt wurde, dem Ergebnis der Rechenoperation.

Die Gäste waren hingerissen von dem uhrwerkhaft präzisen Ineinandergleiten der geölten Räder und vom Humor des Babbage, der selbstbewusst verkündete, dass sich seine Maschine entweder verklemme und dann gar nichts liefere, oder laufe und dann stets nur das korrekte Ergebnis anzeige. Wenige der Anwesenden hörten und sahen noch genau hin, als der Babbage, gefragt, was und wie genau das Gerät nun rechne, auf einem bereitliegenden großen Zeichenblatt darlegte, dass die Maschine allein mit Hilfe von Additionen kompliziertere Rechenarbeiten erledigen könne. Nähme man als einfaches Beispiel nur einmal das Quadrieren natürlicher Zahlen. Man betrachte die ersten Ergebnisse, also 1, 4, 9, 16, 25, 36, dann stelle man fest, dass der Unterschied dieser Ergebnisse zunächst verschieden sei, also 3, 5, 7, 9 und 11 betrage, die Differenzen der Unterschiede jedoch konstant 2. Würde man nun auf der rechten Zahlensäule der Maschine stets die zweite Differenz, nämlich 2, eintragen und auf der mittleren Säule die jeweils erste Differenz, also 3, 5, 7, 9 und so fort, dann könne man sehen, dass man durch die Addition der ersten und zweiten Differenz stets die erste Differenz der nächsten Quadratzahl gewinne, zu der man nur das Quadrat der vorherigen, also das Ergebnis der letzten Operation, dazuaddieren müsse, um die nächsthöhere Quadratzahl zu erhalten. So ergäben 3 und 2 eine 5, und 5 plus 4 dann die dritte Quadratzahl, nämlich 9, und danach addierten sich die 5 und die 2 zu einer 7, die 7 mit der 9 zu einer 16, also dem Quadrat von 4. Nur die ersten Ergebnisse müsse man errechnen und auf den Säulenrädern einstellen, dann aber ergäben sich alle weiteren Quadrate rein mechanisch, durch bloßes Drehen der Kurbel.

»Nacheinander!«, sagte Ada rasch.

»Nacheinander, gewiss«, bestätigte der Babbage.

»Wenn sich das erste Rad immer zurückdreht auf die Zwei und die Ziffern auf der jeweils nächsten Radsäule gegenläufig aufgeprägt sind.«

»Genau«, sagte der Babbage vergnügt.

»Und man könnte auch höhere Potenzen berechnen? Etwa x hoch sieben, wofür man dann aber sieben Säulen bräuchte oder vielmehr acht?«

»Und weiter«, sagte der Babbage. »Jedwedes Polynom nämlich wie etwa 16 x hoch 5 plus 5 x hoch 4 minus 32 x hoch 2 plus 6.«

Ada glänzte so erfreut zu ihm zurück, wie er zu ihr hin glänzte. An diesem Punkt der Unterhaltung waren sie und der Babbage gewissermaßen allein im Raum mit Uns, während sich die übrigen zwölf Personen verlegen anschauten. Wir konnten spüren, dass dieser bronzene Tempel der Zahnräder, Kurbeln und Hebel sich der jungen Ada so tief einprägte, als wäre sie eine daumengroße Figur und beträte die schnurrende und rotierende Zahlenkathedrale des Babbage leibhaftig mit ihrer ganzen Person. Etwas komplett Neues war in ihr Leben getreten, etwas, das im Gegensatz zu ihren Flugapparaten tatsächlich gebaut werden konnte, funktionierte und eine strikte mathematische Grundlage besaß. Der Babbage erklärte ihr rasch, dass man nicht nur jedes Polynom, sondern auch zahlreiche andere Funktionen der höheren Mathematik, wie etwa die für die Schifffahrt so wichtigen trigonometrischen Ausdrücke, ermitteln könne, sofern man Polynome finden könne, die sie befriedigend annäherten.

»Befriedigend annähern«, wiederholte Ada gebannt, mit einem Schimmer in den Augen, der erahnen ließ, dass sie bereits zu erstaunlicher Koketterie fähig war. Sie versicherte dem Babbage, mehr und mehr Mathematik lernen zu wollen, bis sie noch genauer verstand, was er im Sinn hatte, wenn er seine nächste, viel größere Maschine bauen würde, für die man hier nur ein handliches und sehr einfaches Modell vor Augen hatte.

Der Babbage sah auf dem Grund der Bitterkeit seines Lebens einen Funken aufsteigen, eine Flamme sich entzünden, mit dem Versprechen auf ein dauerhaft wärmendes Licht. Seine geliebte Frau war vor Jahren gestorben, drei seiner acht Kinder hatten das Jugendalter nicht erreicht. Vor kurzem war der Tod einer siebzehnjährigen Tochter hinzugekommen. Nur die erbitterte Arbeit an der großen analytischen Rechenmaschine, für die das akkordeongroße Modell werben sollte, endlos verzwickt und mit ihren zwanzigtausend präzise herzustellenden Zahnrädern und Hebeln voll mechanischer Tücken, hatte ihn abzulenken und zu trösten vermocht. Nun stand Ada eben im Alter seines jüngsten Verlustes vor ihm, enthusiastisch glühend und von einer solch stupenden Auffassungsgabe, dass er am liebsten sofort in die Details des Hauptprojektes eingestiegen wäre. Jedoch wurde die hübsche junge Frau mit den dunklen Locken und den vom heftigen Atem bewegten Rüschen und Blüten ihres Kleides von der Mutter gedrängt, auch anderen Gästen das Gespräch mit dem Erfinder zu ermöglichen. Noch bevor sie sich verabschieden musste, teilte Ada dem Babbage mit, dass es ihr mühsam erscheine, bei einer sehr großen Maschine alle Zahnräder der Anfangsdifferenzen mit der Hand einzustellen — und vielleicht könnte man ja auch das Ablesen des Ergebnisses vereinfachen? Sie verabredeten, sich zu schreiben, bevor Annabelle die Geduld verlor und Ada an der Schulter vom Gastgeber wegzog.

Weshalb, fragten Wir Uns in aufrichtiger Bewunderung, schlug sie ihm nicht gleich das Anbringen einer Tastatur und die Konstruktion eines mechanischen Nadeldruckers vor?

Der Auslöser des Alarms war auf jeden Fall das Zusammenstoßen dieser beiden Köpfe in dem von Kerzen und Öllampen unruhig erhellten Arbeitszimmer. Nur lag die Gefahr keineswegs in der vorhandenen oder irgendeiner utopischen Version der Rechenmaschine. Der Grund liegt immer nur in den Köpfen, zumindest beim gegebenen Stand der Technologie der Menschlinge, die im Zeitalter des Manfred, das Wir gerade betreten haben, allenfalls begonnen hat, dem Äußeren Rat Sorgen zu bereiten. Der Grund ist seit Jahrhunderten der Menschlingszeit immer derselbe, nämlich die Möglichkeit des ZUTREFFENDEN GEDANKENS. Anderenfalls hätten Wir nicht schon den Meister Hieronymus in Bosch besuchen müssen.

2.

Im Garten der Lüste

1.

Mittlerweile haben Wir den Manfred weiter aufgebessert. Als wichtige Maßnahme nach dem Drogenentzug sind die zweistündigen Ertüchtigungen zu erwähnen, die Wir ihm jeden Tag angedeihen lassen, als jagte ihn plötzlich der eiserne Wille, ein Sportsman oder Schauspieler-Schönling zu werden oder Damen weit oberhalb seiner Liga zu gefallen (wie es ihm einmal, vielleicht in den frühen Studientagen, bei jener Sabine gelungen zu sein scheint, die heute so bestechend Ada Lovelace auf dem Höhepunkt ihrer terrestrischen Anziehungskraft ähnelt). Für das Geraderücken und schmucke Bleichen seiner vorderen Zahnreihen durch einen vertrauenswürdigen Spezialisten benötigten Wir aber erkleckliche finanzielle Mittel, die dem Manfred nicht zur Verfügung standen.

Zur Aufstockung seiner Haushaltskasse (gerade einmal eine Art Studentenbeutel) wählten Wir kurze, unorthodoxe Wege. Wir gewahrten auf einer Geschäftsstraße seiner Heimatstadt Menschlinge mit größeren Geldscheinen in der Hand, die darauf wetteten, dass ihre Augen flinker waren als die Hände von Spielern, die ein Kügelchen unter drei gleichartigen Schächtelchen versteckten und diese dann so undurchsichtig durcheinandermanövrierten, dass es anderen Menschlingen beinahe unmöglich erschien, am Ende ihrer Operationen jene das Kügelchen bedeckende Schachtel zu bestimmen. Nach zehn Siegen in Folge hatte sich ein kleiner Auflauf um den Manfred und den sehr verstimmten Trickbetrüger gebildet (zwei seiner Kumpane näherten sich schon bedrohlich Unserem Gewinner). Deshalb brachen Wir die Serie mit einem gezielten Irrtum ab.

In einer nahe gelegenen Spielhalle investierten Wir Teile des gerade erworbenen Kapitals, bis Wir auch dort, infolge Unseres Gespürs für leichte Asymmetrien in der Mechanik der flackernden und piepsenden Automaten, mit enormen Gewinnen die Aufmerksamkeit auf Uns zogen. Draußen vor der Tür, es dämmerte schon, folgten dem Manfred zwei der Hütchenspieler, die ihn am Automaten wiedererkannt hatten, in eine Parkanlage. Wollten sie etwas über seinen Trick wissen? Nein, sie brannten vor Rachedurst und zückten ihre Messer. Als sie sich damit dem Manfred näherten, befiel Uns der unheimliche Gedanke, dass sich der Meister aus Bosch einen Scherz erlaubt hatte, indem er Jahrhunderte zuvor bereits ein Gemälde mit einem Hütchenspieler angefertigt hatte. Jener Mann mit dem dunklen Zylinder im mandarinenfarbenen Mantel! Sein großnasiges Gesicht mit dem fliehenden Kinn schien wie eine Maske direkt auf die Visage des als Erster angreifenden breitschultrigen Messerstechers gesetzt. Sogar die Waffe dieses Betrügers, erkenntlich an einem auf die Klinge geprägten »M« (wie Manfred), hatte der Hieronymus gemalt, gewaltig vergrößert allerdings, als monströse Strafapparatur, zwischen zwei wohl von ihr selbst abgeschnittenen Riesenohren wandelte sie unter den armen Sündern seiner Hölle. — Aber zurück zu Unseren Angreifern: Der Manfred wusste nicht, wie ihm geschah, oder vielmehr, wie er seine Notwehr geschehen ließ. Wir verfügen allerdings über die so genannte Kleine Zeitlupe, die Uns Bewegungen der scheinbaren wirklichen Welt der Menschlinge so geruhsam vorführt, dass Wir im vorliegenden Fall in aller Seelenruhe beiden Angreifern ganz furchtbar auf den Zinken hauen konnten, ohne Uns sonderlich beeilen zu müssen. Unnötigerweise lief der Manfred davon, als er die zu Boden gefallenen wimmernden Betrüger sah, die er durch eine ihm absolut unverständliche, vermeintlich reflexhafte, blitzschnelle Aktion außer Gefecht gesetzt hatte.

Einige Tage später fiel Uns an einer Straßenbahnhaltestelle die Werbung der staatlichen Spielbank ins Auge. Nachdem er sich ansprechende schwarz-weiße Kleidung gekauft hatte, im Glauben, einmal in die Oper gehen zu wollen, überkam den Manfred das ihn selbst sehr befremdende Bedürfnis, sein Glück im Casino Hedwigshöhe zu versuchen. Dort vermehrte er das bislang gewonnene und in Jetons verwandelte Bargeld in der Höhe seines bisherigen bescheidenen Monatseinkommens am Roulettetisch innerhalb von drei Stunden auf das Dreißigfache. Es ist offenkundig, dass Wir auch hier nur an einem einzigen Abend die extrem seltene Ausnahme von der Regel des statistisch garantierten Bankgewinns darstellen durften, indem Wir (da die Kleine Zeitlupe hier zu kritisch in der Anwendung gewesen wäre) das Kurze Looping nutzten, jenes knappe Vorgreifen in der Raumzeit, das Uns Agenten bei moderatem Gebrauch gestattet ist. Die Ziffer, in deren kleinen Schacht die Silberkugel bald ruhen würde, gaben Wir dem Manfred als Intuition ein, so plastisch, dass er keinen Fehler machen konnte. Allerdings begann er, sich durch verzückte Ausrufe über die Kraft seines Zahlengefühls so verdächtig zu machen, dass Wir ihn auch hier verlieren ließen und dann eben mit dem Siebenundzwanzigfachen seines üblichen Monatseinkommens nach Hause schickten. Dieses Mal keine Messerstecher beim Spaziergang durch den nächtlichen Park, vor dem sich der Manfred ängstigte. Aber er muss lernen, seiner neuen inneren Größe zu vertrauen.

Im Besitz eines nun ganz erklecklichen Startkapitals verspürte der Manfred die plötzliche und doch auch profunde Neigung, sich mit Aktien und Wertpapieren zu beschäftigen. Da sich das Kurze Looping nicht für Lotteriegewinne eignet, bei denen man seinen Tipp doch sehr frühzeitig abzugeben hat, mussten Wir einen anonymen und weniger Aufsehen erregenden Weg zu seiner Kapitalvermehrung finden. Mit leichter Hand legte sich der Manfred ein Online-Depot an. In zehn unerbittlichen Studientagen trichterte er sich dann das ABC des Börsenspekulanten ein, lernte, die Geschäftsmodelle von Unternehmen zu verstehen, ihre Produktqualitäten, ihre Reputation bei den Lieferanten, ihre Strategien, ihre Fremdkapitalquote abzuschätzen, sie in seine Tabelle der kommentierten Kurs-Gewinn-Verhältnisse einzutragen. Rasch verschlang er auch ein Dutzend einschlägiger Börsenratgeber, die natürlich wenig taugten, da sie sonst Tausende von Multimillionären produziert hätten. Dagegen war einige Weisheit aus den von Ghostwritern hingeschmierten Pseudo-Autobiografien publicitysüchtiger alter Börsenhaie zu ziehen (Greife nie in ein fallendes Messer! Packe stets das linke Horn des Stiers! Reibe den Dachs, solange er heiß ist! u.ä.).

Wir machten einige elementare und doch auch für Profis verblüffende Spekulationen, die in den kommenden Wochen und Monaten das Vermögen des Manfred dramatisch anschwellen lassen dürften. Wenn Wir ihn solcherart bereichern, dann doch mit zwei Einschränkungen. Zum einen können Wir dem Manfred nur so viel Erkenntnisse in kürzester Zeit zuteilwerden lassen, dass sie der bescheidene Acker seines Gehirns auch zu tragen vermag. Das tiefe Lernen, wie man es fachgerecht bezeichnet, bei dem etwa ein Menschling bis zu sechzehn Stunden am Tag Bücher, Zeitungen, Online-Informationen, Fachblätter und so fort in einem ihm selbst ungeheuerlich erscheinenden Tempo verschlingt, kann ihn über Gebühr erhitzen oder gar zwischen den Ohren durchschmoren lassen. Zum anderen benötigen Wir keinen grenzenlosen Reichtum für den Manfred, sondern nur genügend Ressourcen, um ihn in der hoffentlich kurzen Zeit, in der Wir ihn reiten, steuern und seiner Bestimmung zuführen, bestmöglich zu verwenden. Es genügt, ihn zu einer idealen Waffe zu machen, die ihren Gebrauch nicht zu überstehen braucht.

Nach wie vor scheinen Uns die geigende Donatella und die französisch parlierende Sabine als einzige Spuren, die in Richtung des Alarmsignals weisen. Folglich müssen Wir den Manfred so aufpolieren, dass er den Weibchen seiner Art durch das bescheidene Pfauenrad seines Äußeren, durch eine gediegene Kapitalausstattung, durch sein gentlemanhaftes Benehmen und subtiles Balzverhalten wesentlich stärker imponiert als bislang. Unter Unserer fachgerechten Lenkung erstand er nun auch zehn Flaschen besten Pfefferminzlikörs, deren Anblick ihn, nachdem er sie in eine atemberaubend eindrucksvolle Reihe gestellt hatte, schier verzweifelt grübeln ließ. An einem regengrauen Samstag veranlassten Wir ihn, zwei Bouteillen zu sich zu nehmen, während er auf seinem Sofa einen Großteil der Memoiren des so genannten Casanova durchpflügte, aus denen er immerhin lernte, dass der Erfolg auf Verwegenheit, Gelegenheit und Erkenntnis der prinzipiellen Verführbarkeit auch des scheinbar Anständigsten (Wir spezifizieren hier bewusst kein Geschlecht) beruht. Am Sonntag glaubte der Manfred, an Übelkeiten sterben zu müssen, aber Uns hat die kleine Dosis doch gutgetan. Bald schicken Wir Unser Reittier auf Wohnungssuche.

2.

Während der notwendigen Schonzeiten Unseres abgebrochenen Studenten und angehenden Millionärs, in denen nichts Wesentliches geschieht, außer dass er Immobilienanzeigen liest, ohne zu wissen, weshalb, und sich die Tentakel Unserer Aktienspekulationen in die irdische Welt ausstrecken, versinken Wir in Träumen, die Erinnerungen sein könnten. Das mit jenem provokanten »M« bezeichnete Messer und die bloße Gestalt des Hütchenspielers lenken Unseren Geist zurück, in jene lüstern-fromme, höllenbehagliche Zeit vor dem Anbruch des so genannten Goldenen Zeitalters. Plötzlich jagen Wir in hellsten herrlichen Farben im Kreis, in Gruppen zu fünft oder zehnt, auf dicht gedrängten edlen Reittieren, denen Wir nicht im Kopf, sondern — nackt und jubelnd — auf dem blanken, felligen Rücken sitzen. Ihre Hufe hämmern auf grünstem Grün, ihre Geweihe und Hörner ragen spitz zwischen Unseren perfekten Körpern auf. Wir sind Männherrh! und wild-bunte männherrh!liche Vögel und Fische sitzen und klemmen eng zwischen Unseren erregten Leibern. Verschmolzen zu jubilierenden phallischen Büscheln, zu galoppierenden spasmischen Trupps jagen Wir im Kreise, hier und da auf Unseren Pferden und Gazellen Pyramiden bildend, gekrönt von kopfstehenden Artisten, aufgespießten saftigen Riesenfrüchten, rammelstarken Hasen, emporgehievten fetten Haien, die den Kaviar aus den Bäuchen der Störe in ihren Mäulern fressen. Was Uns antreibt, ist die blanke Vorfreude, die Begeisterung, die Verzückung, welche Uns beim Anblick der wunderbaren Fr!auh!en überkommt, um deren kreisrundes himmelblaues Bassin, dem sie in ihrer unergründlichen Seelenruhe entsteigen, Uns die wilde Jagd immer herumführt. Die Weißen! Die Schwarzen! Die Staffelung ihrer Hinterteile! Die roten Äpfel und die schwarzen Raben auf ihren Köpfen! Der Fall ihres gekräuselten rotgoldenen Haars auf ihre blanke Hüfte! Bald werden Wir zusammenfinden, in herrlichen transparenten Kugeln und Blasen, vereint zu Paaren und Gruppen. Wir werden Uns die großen Erdbeeren reichen, schwerer als Melonen. Wir verschwinden hinter den fleischigen Planen eines lippenroten Zelts.

Die Gärten des Krasschgathors, in denen Wir Uns zu vergnügen pflegen, die Leichtlebigen für Jahre (elliptische Sonnenumfahrungen der irdischen Zeit), die ernsthafteren Gemüter, wie Wir, der Zorrgh und ähnlich vornehme Geister, nur für gewisse Stunden, dürften wohl in vielfacher Hinsicht den Visionen des Hieronymus aus Bosch ähneln. Es scheint, dass er, als Wir ihn bewohnten, einige Unserer träumenden Erinnerungen ins Menschgestalthafte und Menschlingsdenkbare übertrug, natürlich verzerrend und vereinfachend, transformiert und verschleiert. Die Blendung, die gnädige Chiffrierung, Kaschierung und Umformung Unserer Gedächtnisbilder, welche Uns Agenten schützt, wirkt auch in Unsere Traumgespinste hinein, um Uns vor der entsetzlichen Melancholie oder gar der tödlichen Nostalgie zu bewahren (einige Pioniere Unserer Zunft kehrten tatsächlich aus schauderhaft zerstörten Wirtsleibern zurück, die sie im ungeduldigen Heimweh gesprengt hatten).

Der Hieronymus, den so viele Bilder heimsuchten, entsprang einer vielköpfigen und -gliedrigen erfolgreichen Malerfamilie, die schon etliche Male an der Schwelle des Alarms gewirkt, sie aber niemals überschritten hatte. Erst als er selbst, im Alter von sieben Jahren, nach dem Kohlestift griff, nur dem Eifer gehorchend, etwas ähnlich Groteskes zu gestalten wie das Bildnis eines hockenden Dämons, das seine gleichfalls begabte große Schwester auf einem handtellergroßen Blatt rasch hingeworfen hatte, wurde der unendlich lange Klingeldraht, der Unsere Welten verbindet, von einem Signal durchlaufen. Wir beobachteten den Jungen, den jungen Mann, schließlich den Bräutigam einer reichen, etwas älteren Dame, deren gewaltigen Unterbau er schon Monate vor der Hochzeit durch ihre drei strengen Röcke erahnte und in hastig vernichteten heimlichen Visionen zu Papier brachte.

Doch auch nach der Hochzeit und den Heldentaten, die er lernte, an seiner geliebten Ehefrau Aleid zu verrichten, fand der Hieronymus keine Ruhe. Im Grunde glich er einem der Unsrigen, da er die Fantasie, die Begierde, die Zerknirschung und die Depression von Dutzenden seinesgleichen in einem einzigen gequälten Menschlingshirn und Herz unterbringen musste. Stets sah er sich von Myriaden von Gestalten bewohnt, ganz wie der große, traurige, weiße Baummensch, den er einmal so prominent auf die Leinwand brachte. Blaue Lüstlinge stiegen von hinten in seinen schaudernden Rindenleib, um dort bacchantische Orgien zu feiern, während auf seiner Schädelterrasse in Form eines Hubschrauberlandeplatzes der rote Sack blies, umtanzt von zwielichtigen Lüstlingen und scheinheiligen Jungfern mit spitzen Hüten.

Wir können Uns nicht ganz unschuldig fühlen an der Prozession seiner bizarren Gestalten. Der Einsatz in seinem Hirn erfolgte auf einer seltsam niedrigen Alarmstufe. Diese drohte allerdings in großer Breite überschritten zu werden, also von verblüffend zahlreichen Menschlingen der Sektion Europa, zu deren altgedienten Agenten Wir Uns doch mittlerweile zählen dürfen. Der Zustand einer gewissen Aufgewecktheit, Keckheit, der gesteigerten Gier und verbesserten Berechnung, welcher sein gesamtes Zeitalter zu charakterisieren schien, war gerade in den langweiligen, windzerzausten und platten Niederlanden in ihrer Vereinigung mit dem prunkvollen Burgund zu einem vorläufigen Höhepunkt herangeschwollen. Das Äußere Amt blieb daher sehr aufmerksam, nachdem man gerade das Wüten des Schwarzen Tods hatte registrieren müssen, wie die Menschlinge später jene fürchterliche Krankheitswelle nannten, die Millionen von ihnen mit Beulen und Gestank dahinraffte. Natürlich wäre es Uns ein Leichtes gewesen zu helfen, etwa indem menschlichen Doktoren durch die Äußerungen und Vermutungen agentenbesetzter Kollegen nahegelegt worden wäre, Kranke von Gesunden sorgfältig zu separieren und die Rattentiere zu jagen und in großem Umfange zu töten, da sie die Flöhe trugen, auf denen der Tod ritt — so erfolgreich, als hätten Wir ihn bewaffnet und in den Krieg geschickt.

Jedoch wird keine planetarische Siedlerschaft grundlos und schwellenlos (unterhalb der Schwelle der erfüllten Qualifikationen) von Uns gerettet. Und noch nie und schon gar nicht ist eine Zivilisation — und sei es die erbärmlichste, über zahllose Jahrhunderte oder gar Jahrtausende auf niedrigem Niveau dahinkriechende, sich heillos in Hass, Gewalt und Torheit verirrende und verstrickende — von Uns bekriegt, beseitigt oder ausgerottet worden.

Wir sehen, ohne zu ändern.

Wir protokollieren und warten.

Wir halten die Liste der Qualifikationen bereit.

Wir schützen die Pforte vor den Ausnahmen und Wir wahren die große Aufgabe für die allgemeine Regel: Nur, was von allen erreicht wird, kann die Gattung erheben, nur der an jeder Stelle beleuchtete Weg führt aus der Finsternis.

Als wollten sie Uns zugleich gehorchen und verspotten (und auch als könnten sie wie Unsereiner ihre Lebensspanne auf verschiedene Zeiten und Existenzformen verteilen), kultivierten die europäischen Menschlinge nun jene Aufmüpfigkeit, die sie Wiedergeburt