Männer-Roulette - Lisa Moos - E-Book

Männer-Roulette E-Book

Lisa Moos

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Beschreibung

In 'Das erste Mal und immer wieder' erzählte Lisa Moos direkt und offen von ihren Erlebnissen als Prostituierte, von angenehmen und erschreckenden Erfahrungen aus dem Rotlichtmilieu und der Welt der käuflichen Liebe. Lisa Moos hat alle Spielarten der Leidenschaft erfahren, Perversion, Erniedrigung, aber auch Freundschaft, Hoffnung und Liebe in einer Welt, die ihren eigenen Regeln und Gesetzen folgt. Der großen Liebe wegen will sie all das endlich hinter sich lassen. Doch der Weg in eine unauffällige, bürgerliche Existenz erweist sich als schwierig. 'Männer-Roulette' ist die Fortsetzung der mitreißenden und spannenden Autobiografie einer Frau, die ihr Leben von Grund auf ändern will. Einfühlsam schildert Lisa Moos das Zerbrechen der Liebe, in die sie so große Hoffnung gesetzt hatte, Absturz und Überlebenskampf in einer Gesellschaft, deren heuchlerische Moral keinen Makel im Lebenslauf duldet und jeden Fehltritt mit Ausgrenzung bestraft. Trost sucht Lisa bei einem gut aussehenden Geschäftsmann, der sich jedoch als gesuchter Betrüger entpuppt. Zahllose kurze, aber heftige Affären folgen, doch sie sind alle zum Scheitern verurteilt. Auch finanzielle Sorgen belasten Lisa. Kann sie den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden, und möchte sie das überhaupt? Immer wieder stößt sie auf Hindernisse, die es schwierig machen, ein bürgerliches Leben zu führen, und mehr als einmal steht sie kurz vor dem Rückfall in ihr altes Milieu. Das rastlose, abwechslungsreiche und abenteuerliche Leben im Rotlicht erscheint ihr oft vertrauter und aufregender als der triste Alltag eines gesellschaftlich anerkannten Daseins. Lisa beginnt ihre Wünsche zu hinterfragen. Doch als ehemalige Hure hat Lisa Moos ganz eigene Vorstellungen von dem, was ihr zusteht und ihre Mittel und Wege, diese Ziele zu erreichen. Mit der ihr eigenen unkonventionellen Art und mitreißenden Lebenslust schildert Lisa Moos ihr Leben nach der Prostitution und ihre Suche nach Liebe und Glück. Bewegend, fesselnd und erotisch.

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Seitenzahl: 399

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Lisa Moos

Männer-roulette

Ein Leben nach der Prostitution

Schwarzkopf & Schwarzkopf

VORWORT

Mein Name ist Lisa Moos. Ich habe ein Buch über mein Leben im Rotlichtmilieu geschrieben. Viele Jahre habe ich dort verbracht. An diesen Orten hoffend zwischen Samt und Seide. Weinend zwischen Leder und Latex. Suchend zwischen Reich und Arm. Freiwillig bin ich diesen Weg gegangen, von dem ich keinen meiner Schritte ungeschehen machen kann. Tausende davon bin ich gern gegangen, andere habe ich – einfach nur irgendwie – überstanden.

In meinem ersten Buch habe ich offen und schonungslos von meinem Leben im Rotlichtmilieu erzählt. Wie ich mich zum ersten Mal verkauft habe, warum ich es immer wieder tat und wie mir schließlich der Ausstieg gelungen ist. Ich wollte mir mein Leben von der Seele schreiben, dabei musste ich ehrlich sein, sonst hätte es nicht funktioniert.

Danke an alle Menschen, die mir in unzähligen E-Mails und Briefen ihre Gedanken mitgeteilt haben. Eure Zeilen haben mich stolz gemacht, eure Wünsche mich begleitet. Euer Dank hat mich beschämt, eure Fragen haben mich gerührt.

Hier sind die Antworten, und alles ist wahr! Die Wahrheit zu sagen ehrt nicht immer, es machte mich angreifbar und verletzlich. Aber deswegen werde ich jetzt nicht lügen! Erst recht nicht, nachdem mir einige eindringlich dazu geraten haben.

In diesem Buch beantworte ich die Fragen nach meinem ersten Sohn Steffen. Warum ich ihn zur Adoption freigegeben habe, mein Leben mit dieser Entscheidung und wie es ihm ergangen ist.

Was hat sich nach meinem Ausstieg aus dem Milieu geändert und welche Abenteuer habe ich auf meiner Suche nach dem Traumprinzen erlebt?

Immer wieder werde ich nach meinen Erfahrungen mit der »anständigen Gesellschaft« gefragt und wie meine Mitmenschen mit meiner Vergangenheit umgehen. Denn diese hat mich nie losgelassen. Noch immer überfallen mich Panikattacken, lassen mich nachts schweißgebadet aufwachen und begleiten mich oft tagelang auf Schritt und Tritt.

Meine Vergangenheit ist wie ein Schleier, ein dunkler Schatten, der mich immer begleitet. Wie ein Kleidungsstück, das ich an keiner Garderobe der Welt abgeben kann. Einer leichten Gardine ähnelnd, die sich im Luftzug bewegt, umflattert dieser Schleier meine Worte und Gesten. Unbewusst und für mich selbst unlenkbar. Wenn er einmal in Bewegung ist, lässt er sich nicht mehr glätten, nicht mehr verbergen. Er drängt sich unsichtbar und wie von Geisterhand in das Bewusstsein meines Gegenübers. Erst dann wird er sichtbar! Er verdunkelt die Augen der anderen. Er verändert ihre Stimmen und verzerrt ihre Gesichter. Die Gesprächsthemen wandeln sich, die Menschen wenden sich befangen ab oder fangen an zu heucheln.

»Also ich finde, Prostitution ist ein ganz normaler Beruf«, höre ich sie sagen, oder »Wenn die Prostituierten nicht wären, gäbe es doch viel mehr Sexualverbrecher«.

Dabei lächeln sie mich an. Manche tätscheln meine Hand mit den Worten:

»Also ich habe da überhaupt kein Problem mit.«

Sobald ich jedoch aus dem Blickfeld bin, wird getuschelt, und ich glaube, am schlimmsten sind hierbei die Frauen. Die meisten von ihnen sehe ich danach nie wieder. Doch was so geredet wird, trägt man mir zu.

»Vielleicht wäre ich ja auch glücklicher gewesen, wenn ich mich auf die unterste Gesellschaftsschicht begeben hätte und als Bilanz zwei gescheiterte Ehen, eine gescheiterte Mutterschaft und sechstausendfachen Verkehr mit größtenteils widerlichen Männern vorzuweisen hätte.«

»Also ich würde meine Kinder niemals mit einer derartigen Hypothek belasten und dann auch noch große Töne von wegen Niveau spucken!«

»Unglaublich, was die sich in ihrer Geldnot, Labilität und Geilheit alles angetan hat.«

»Attraktivität hat etwas mit Ausstrahlung, Herzlichkeit und Niveau zu tun. Die hat doch von alledem nichts vorzuweisen.«

»Irgendwo hat die mal gesagt, dass sie sich für nichts zu schämen braucht. Wäre ich die, sähe ich das anders. Ich würde mich dafür schämen, dass ich meinem zweiten Kind kein stabiles Leben hätte bieten können, und ich würde mich noch viel mehr dafür schämen, dass durch ein von mir verfasstes Buch nun jeder weiß, wann ich welchen Finger und welchen Schwanz in meiner feuchten Ritze (wie die es zu nennen pflegt) hatte.«

Als dies das erste Mal passierte, erinnerte es mich an einen Schreckensmoment, als ich im Fahrstuhl eines Parkhauses stecken blieb. Es war Samstagnacht, ich war allein. Die Fahrstuhlkabine plötzlich stockdunkel. Dann gab es einen fürchterlichen Ruck und nichts bewegte sich mehr. Sofort riss ich die Arme hoch und stemmte sie seitwärts gegen die kalten glatten Wände. Halt suchend, als stünde ich auf einem schaukelnden Untergrund. Mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen lauschte ich angstvoll dem Knarren und Quietschen der Kabine. Ich fragte mich unweigerlich, ob die Seile wohl halten würden. Der Schreck fuhr mir als heiße Welle in die Glieder, überzog meinen Körper mit unangenehmen Schauern und ließ Gänsehaut zurück.

Genauso fühlt es sich für mich an, wenn sich die Gespräche der Menschen in meinem Beisein plötzlich verändern. Jedes Mal erschreckt es mich aufs Neue. Ihre Münder lächeln noch, aber man kann die Kälte schon fühlen. Als Frost zieht sie langsam von unten nach oben über ihre Gesichter. Ein scheuer Blick nach rechts und links, ob man vielleicht gesehen wurde und sich möglicherweise rechtfertigen muss. Warum war man mit »so einer« zusammen?

Zwanzig Jahre hatte ich angeschafft. Zwanzig Jahre hatte ich am Rande der Gesellschaft gelebt. Nun, am Ende dieser langen Zeit, machten die Menschen einfach ein »Ex« aus mir. Ex-Hure, Ex-Prostituierte, Ex-Domina.

Obwohl ich nicht mehr im Rotlichtmilieu arbeitete, blieb ich dennoch für viele eine Hure. Besonders in den Augen derer, die sich am liebsten Kulturfernsehen und das »Wort zum Sonntag« ansehen. Menschen, die keine Ahnung davon haben, dass ein heißes Date mehr ist als nur ein Abendessen beim Italiener. In der Meinung jener, die ihre Kühlschränke mit zehn Sorten Käse und Tomatensaft füllen, aber nie Bier und Cola im Haus haben. Der Menschen, die ihr Bett regelmäßig morgens um 6.30 Uhr verlassen. Ein Grund vielleicht, weswegen ich ihnen nicht früher begegnet bin.

Diesen tatsächlich bestehenden Unterschied zwischen der Gesellschaft und mir habe ich damals nicht sehen wollen.

Doch Studs Terkel sagte mal: »Die Hoffnung hat sich nie ihren Weg von oben nach unten gebahnt, sie ist stets von unten nach oben aufgestiegen.« Und genauso ist es eigentlich immer gewesen. Deswegen habe auch ich nie aufgegeben. Auch weil mir diejenigen geholfen haben, die an mich glauben. Die, die immer für mich da waren und es noch immer sind! Für euch ist dieses Buch.

ABSCHIED VON JOSCH

Die Beziehung mit Josch war spannend, aufregend und liebevoll. Josch arbeitete als Arzt in einer großen deutschen Stadt und kam fast jedes Wochenende nach Palma. Manchmal flog ich auch zu ihm. Dann trafen wir uns heimlich in einem Hotel in der Innenstadt. Schließlich lebte er mit seiner Familie zusammen. Natürlich gab es Gespräche über Trennung, denn glücklich war das Zusammenleben schon lange nicht mehr. Aber sie lebten noch immer in einer festen Gemeinschaft. Es war ein ewiges Auf und Ab, das mich zermürbte. Mal war ich voller Hoffnung, dann wieder verzweifelt. Es fiel mir schwer zu akzeptieren, dass »mein Freund« nicht einfach seinen Koffer packte und zu mir zog. Später, als Josch immer seltener kam und ich auch bei unseren Verabredungen in Deutschland immer öfter alleine in den Hotelzimmern saß, wurde mir klar, dass ich ihn verlieren würde.

Dabei hatte alles so schön angefangen! Wie viel Hoffnung hatte ich an diese Begegnung geknüpft! So sicher war ich mir, dass dieser Mann Antworten auf all meine Fragen hatte. Dass er der eine war, mit dem ich den Rest meines Lebens teilen würde.

Als Josch in mein Leben trat, war ich 33 Jahre alt. Er war 15 Jahre älter als ich und dies war vielleicht auch ein Grund, wieso ich mir seiner doch recht sicher war.

»Ein Mann in diesem Alter, dazu noch gebildet, sollte eigentlich wissen, was er verantworten kann.«

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte zu der einen oder anderen Freundin gesagt habe. Auch die Entfernung zwischen unseren Wohnorten spielte ich gern herunter: »Das stellt für uns kein Problem dar. Verbindungen von der Insel nach Deutschland gibt es täglich, und es wird immer möglich sein, ein paar gemeinsame Stunden zu verbringen.«

Josch saß an einem Donnerstag mit unserem gemeinsamen Freund Florian im Café Bosch am Plaza Rei Carles, direkt in Palma. Ein Ort, den ich eigentlich nicht mochte, denn dort bevölkern oberflächliche Wichtigtuer und notorische Schnorrer die Tische. Ein nicht nur auf der Insel vorkommender Menschenschlag, der gerne vorgibt, in jedem Hafen der Welt eine Yacht zu besitzen, aber nie Mücken für die Rechnung hat. Man kann sie gut erkennen. Vor ihnen liegen riesige, altmodische Handys auf dem Tisch. An ihren Füßen tragen sie abgelaufene Schuhe, die in der Farbe nie zur Garderobe passen und ihr Benehmen ist oft laut und aufdringlich. Meist haben sie gerade »ein großes Ding« an Land gezogen und sitzen deswegen »geschäftlich« zusammen. Alles leeres Gerede, Geschwätz, und am Ende kommt nichts dabei raus. Ein mallorquinisches Sprichwort besagt: »Hüte dich vor Sturm und Wind und den dreisten Dummköpfen, die auf Mallorca sind.«

An diesem Tag aber war alles anders. Es war mir egal, wo wir uns sehen würden. Auch wen ich da ertragen müsste, war unwichtig. Die wichtigste E-Mail des Jahres war angekommen:

»Liebe Lisa, ich fahre jetzt zum Flughafen. Nichts auf der Welt könnte mich davon abhalten, dich heute zu treffen, Josch.«

Unzählige E-Mails waren dieser einen vorausgegangen. Obwohl ich vorher kein Bild von Josch gesehen hatte, war ich mir doch sicher, dass er der Mann war, dem ich mein Herz schenken wollte.

Da ich meinen Lebensunterhalt als Hure und Domina verdiente, hatte Florian mir Wochen zuvor Joschs E-Mail-Adresse gegeben. Er schloss nicht aus, dass sein alter Jugendfreund aus Deutschland an solch kommerziellen Spielen Gefallen finden könnte.

Ich kontaktierte Josch per Mailbox. Sofort stellte sich heraus, dass Josch kein Interesse an ausgefallenen Sexpraktiken hatte. Aber an mir.

Wir schrieben und telefonierten und lernten uns langsam und intensiv kennen, ohne uns zu sehen. Es war sehr aufregend, oft konnte ich die Antwort kaum erwarten und meine Gefühle begannen geradezu verrückt zu spielen. Wir waren glücklich, hatten uns beschnuppert und wollten mehr. Also lud ich ihn ein, mich auf der Insel zu besuchen.

Ich erkannte ihn sofort, als ich mich im Café umsah. Er war schlank und sah in seiner Jeans eher sportlich als gediegen aus. Seine graublauen Augen musterten mich durch eine elegante goldene Brille. Voller Erleichterung stellte ich fest, dass ich ihm wohl gefiel. Und er gefiel mir auch, ausgesprochen gut sogar. Sein helles Haar war kurz geschnitten und seine Haut nur ganz leicht gebräunt. Da war er also leibhaftig, der Mann aus den E-Mails, der Mann, dessen Stimme ich unter hunderten wiedererkannt hätte. Er erinnerte mich an einen bekannten Schauspieler, auch dessen feingliedrige Hände hatte er. James Stewart. Ich war ein Fan des ausgeglichenen Helden aus den alten Western!

Er trug netterweise keinen Ring und stand sofort auf, als ich mich dem Tisch näherte. Der erste Kuss ging ganz zart auf meine Wange, doch mir war, als könnte ich ihn dort noch stundenlang spüren.

Später, in derselben Nacht, liebten wir uns das erste Mal. Zärtlich, fast schüchtern, hatten wir uns nach einer Menge Wein langsam angenähert. Wir hatten endlos geredet, gefühlt und ein bisschen geküsst. »Danach« standen wir auf der Terrasse seines Hotelzimmers.

Das Hotel Gran Meliá Victoria befindet sich direkt an der Hafenpromenade, in einer Bucht von Palma. Wir schauten abwechselnd aufs Meer und einander in die Augen. Er hielt meine Hand. Nein, ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, hier neben mir stand der Mann, den ich immer gesucht hatte. Er, auf den ich so lange gewartet hatte. Ich schloss die Augen ein wenig und atmete tief die salzige Luft ein, lauschte den Möwen und war mir sicher. Er ist verliebt, und ich bin es auch! Mein Herz jubelte und mein Kopf schwirrte vor Glück. Ich war zu Hause!

Josch war ein Mann, wie ich ihn mir damals erträumt hatte. Er war intelligent, lustig und rücksichtsvoll. Wenn er bei mir war, fühlte ich mich geborgen und sicher, fühlte ich mich verstanden. Das waren Dinge, die er mir leicht geben konnte. Er überforderte mich niemals in Gesprächen oder mit Handlungen, war sehr sensibel und vorsichtig. Was unserer Beziehung jedoch von Anfang an fehlte, war natürliche Leidenschaft und Gier. Starke körperliche Lust, dieses ungezügelte Verlangen nach dem anderen, welches einen einfach so überkommt, wenn man verliebt ist. Diese Hitze, die aus jeder Pore steigt, wenn man unendliche Sehnsucht nach den Berührungen des anderen hat, war einfach nicht vorhanden. Alles, was wir taten und spürten, fühlte sich höflich, zärtlich und auch kontrolliert an. Was ich bemerkte, war allenfalls ein angenehmes Flattern, das in mir hochstieg, wenn ich an ihn dachte. Derzeit psychisch müde und angeschlagen vom Leben, reichte mir das jedoch aus, und schon sehr schnell nach unserem ersten Kennenlernen konnte ich mir nicht mehr vorstellen, jemals wieder einen anderen Mann zu wollen.

Anfangs war Josch auch immer präsent. Wenn wir getrennt waren, schrieben wir uns E-Mails oder Handykurznachrichten und am Abend telefonierten wir stundenlang. Wir sprachen viel über mein Leben, er hatte Verständnis für alles. Er wurde nicht ein Mal böse oder gab sich intolerant. Er versicherte mir immer wieder seine Zuneigung und erlaubte mir, von einem gemeinsamen Morgen zu träumen!

Heute weiß ich, dass Josch vor allem aus seinem Leben ausbrechen wollte. Dies war der Gedanke, der ihn antrieb, nicht die Liebe zu mir. Ja, Josch mochte mich gern, aber auch für ihn waren es mehr freundschaftliche, unspektakuläre Gefühle, die er hegte. Aber das gaben wir anfangs beide nicht zu, wir wollten unseren Traum unter allen Umständen weiterleben. Hoffen, dass unser Leben zu wenden war.

In den folgenden Wochen malte ich mir immer wieder unsere Zukunft aus. Ein kleines Häuschen mit Garten und vielen Hunden darin. Das rauschende Meer hinter dem Hügel und abends ein Glas Rotwein am Grill. Ich, winkend an der Tür, morgens, wenn mein Mann in die Praxis fuhr.

Diese Tagträume waren schlimmer und kitschiger als alle Bergdoktor-Serien, die ich je gesehen hatte. Manchmal trug ich in ihnen sogar ein richtiges Hausfrauenkleid, geblümt und geschürzt, und musste am Ende doch selbst darüber lachen. Doktor Brinkmann und Lisa Moos – Eine Idylle am Mittelmeer –, eigentlich grotesk und undenkbar. Eines wurde mir allerdings dabei klar: Mein Leben hatte mich gefressen, die Kraftreserven waren aufgebraucht, und ich sehnte mich nach Ruhe und Frieden. Wäre der Preis dafür nur ein geblümtes Kleid gewesen, ich hätte es liebend gerne angezogen.

Für einen Mann alles aufgeben, das wollte ich niemals tun. Mein ganzes Leben umzustellen, es völlig in die Hände eines anderen zu legen, war für mich nach allem, was ich schon erlebt hatte, eigentlich undenkbar. Zu häufig hatte mich hinterher die Enttäuschung getroffen, zu oft hatte ich dabei jeden Boden unter den Füßen verloren. Zu diesem Zeitpunkt war ich auch ganz zufrieden mit meiner Situation. Ich verdiente ausreichend Geld, lebte mit meinem Sohn Christopher in einer wunderschönenWohnung auf Mallorca, hatte sehr nette Freunde und vermisste eigentlich nichts. Wenn meine Gedanken um mein Leben kreisten und ich mich fragte, was mir Sorgen machte oder was ich fühlte, blieben sie allerdings immer wieder an meinem Sohn Steffen hängen. Mein kleiner, dünner, vorwitziger, verlorengegangener Sohn. Verloren in meinem Leben, untergetaucht in den Irrungen und Wirrungen meines Schicksals. Allein gelassen, trotz Vater und Mutter, die ihn liebten. Sich selbst überlassen? Oh nein, hatte ich nicht alles getan, damit auch er Geborgenheit und Freude in seinem Leben empfinden konnte? Waren die »neuen« Eltern nicht die bessere Wahl für ihn gewesen? Jahrelang hatte ich das geglaubt. Vielleicht auch nur gehofft, denn konnte ich es wirklich wissen? Nein, ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war, und Zweifel wechselten sich mit Hoffnung ab, Wunschdenken kämpfte gegen Schuldgefühle und Ängste. Manchmal, in der Stille der Nacht, stellte ich mir ein Wiedersehen vor. Wie würde das wohl sein? Konnte ich ihm unter die Augen treten als das, was ich war? Schließlich würde auch er eine Vorstellung von mir haben. Und die sah ganz sicher anders aus. Es war nicht so, dass ich mich schämte! Im Gegenteil, ich war froh und dankbar, dass ich für mich überhaupt einen Weg gefunden hatte, um in dieser Welt zu existieren. Ohne Abhängigkeiten, meist sogar ohne Sorgen.

Aber dann schob ich diese Gedanken wieder auf die lange Bank, dachte, dass sich alles von alleine klären würde. Ich hatte in meinem Leben mit Zukunftsplänen keine guten Erfahrungen gemacht. Es kam immer alles anders, als ich dachte. So sah ich auch diesem Tag zwar etwas mulmig, doch ruhig entgegen. Denn wer konnte mir schon sagen, ob es diesen Moment des Wiedersehens überhaupt geben würde? Den Kontakt zu meinem Sohn hatte ich verloren, keine Ahnung, in welcher Stadt ich suchen sollte, keine Ahnung, ob das Jugendamt mir Auskunft geben würde. So beließ ich es – zu oft – bei der Sehnsucht, verdrängte und hoffte, beruhigte mich und lebte mein Leben weiter als das, was ich war, und was ich sein wollte.

Aber manchmal starrte ich auf sein Bild. Ein kleiner, blonder Junge, der auf einem riesigen Stein sitzt und vor Freude lacht. Tränen liefen mir dann oft ungehemmt übers Gesicht. In diesen Momenten spürte ich sein Fehlen mit brutaler Wucht. Es tat so weh, ich rief seinen Namen, schrieb Briefe an ihn:

»Lieber Steffen ...«, »... bitte verzeih mir ...«

Es war mein sehnlichster Wunsch, die Zeit zurückzudrehen und ihn wieder bei mir zu haben. Doch das war unerfüllbar. Wohin bloß mit meiner Liebe zu ihm? Der Mutterliebe, die in mir brannte und immer da war, obwohl einige fanden, sie stehe mir nicht zu. Hatte ich ihn doch schließlich »verstoßen«, aussortiert« und »abgegeben«. Wohl der Lust zuliebe, die mich von Männerkörper zu Männerkörper trieb. In ihren Augen war mein Leben ein einziges Laster und Leidtragende waren einzig meine Kinder. Viele Menschen konnten nicht verstehen, dass die Adoption auch einen Ausweg bieten kann. Eine Chance für Kinder, die sonst vielleicht keine hätten. So wie mein Steffen, der etwas anderes verdient hatte als das chaotische Leben, welches ich ihm bieten konnte.

Und doch saß ich da, fixierte ein Foto, ließ die Gedanken zurückschweifen in die Erinnerung – an die gemeinsame Zeit mit ihm. Und dann war ich mir sicher: Wir würden uns wiedersehen. Dann erst würde mein Leben sich beruhigen. Bei einem Mobile kann man auch kein Stück herausschneiden. Tut man es doch, wird das Gleichgewicht gestört und die Fäden hängen wirr durcheinander. Wie sollte es also funktionieren, für immer ohne ihn zu leben? So war ich sicher, dass nur ein Wiedersehen mit meinem Sohn Steffen alles in meinem Leben ins Lot bringen würde. Ich hatte derzeit keine Ahnung, wie schnell sich mein Wunsch erfüllen sollte. Leider auch nicht davon, wie enttäuschend es werden würde und wie wenig Steffen mich noch an den erinnerte, den ich einst verloren hatte. Mein blonder Prinz, den ich vor Jahren, wie ich glaubte, in gute Hände gegeben hatte. Liebevolle Eltern sollte er haben, Menschen, die ihm seine Wünsche und Träume erfüllten. Von den Wünschen und Träumen, die die Adoptiveltern ihrerseits hatten, hatte mir jedoch niemand etwas erzählt, und ich selbst hatte einfach nicht rechtzeitig daran gedacht!

Aber nun trat Josch in mein Leben und lenkte meine Gedanken in andere Bahnen. Er ließ meine Probleme schrumpfen und mein Selbstwertgefühl steigen. Mit diesem Mann an meiner Seite würde mir alles gelingen.

Von heute auf morgen stellte ich alle Aktivitäten meines Domina-Lebens ein. Die wenigen Male, die ich noch Kunden empfing, verliefen unbefriedigend und stockend. Meine Gedanken waren ganz woanders, in einem neuen, von Liebe und Vertrauen erfüllten Leben. Obwohl mich Josch keineswegs dazu gedrängt hatte. Natürlich war ihm klar, dass dieser Beruf mehr als nur »ein einfacher Job« war. Umso stolzer war er auf mich, als ich der Prostitution endgültig und so plötzlich »entkommen« war. Er sparte nicht mit Lob und Anerkennung.

Obwohl ich mich immer gut in mein selbst gewähltes Leben gefügt hatte, vermisste ich erst mal nichts. Josch glich alles aus, was mein altes Leben für mich beinhaltet hatte. Ich sagte mir, dass ich noch jung sei und mir die andere Seite des Lebens noch mal anschauen könnte. Auch der Gedanke, dadurch einen Schritt in Steffens Richtung zu machen, versüßte mir meinen Entschluss. Ich traf meine Entscheidung spontan, mit viel Energie.

Meinem erstgeborenen Sohn Christopher fiel ein Stein vom Herzen, ich konnte es beinahe hören. Ich erklärte ihm, dass ich nun etwas Normales arbeiten würde, wie andere Mütter auch. Obwohl ich nie sicher war, wie viel er genau wusste, war mir doch klar, dass ihn mein Lebenswandel belastete.

Christopher war der Inhalt meines Lebens. Ein Sohn, entstanden aus meiner verwirrten Geschichte. Aus meiner ersten großen Liebe zu Jörg, geboren, noch bevor ich volljährig war. Das Leben hatte uns zusammengeschweißt, wir waren eine Einheit. Er war mein ganzer Stolz, besuchte das spanische Gymnasium als guter Schüler und besaß einen großen Freundeskreis. Auf einen Mopedführerschein hatte er mir zuliebe verzichtet. Er wusste, dass ich tausend Ängste ausstand, wenn es um ihn ging. Es fiel mir an manchen Tagen mehr als schwer, ihn flügge werden zu lassen. Ihn geborgen und sicher zu wissen, bedeutete für mich mein größtes Glück! Nur dann konnte ich entspannen, nur dann fühlte auch ich mich richtig wohl und zufrieden. Obwohl er sich auch durch mein Leben gekämpft hatte, liebte er mich und war stolz auf mich. Er vertraute mir blind. Die vielen Schulwechsel hatte er klaglos ertragen. Sein Leben ohne Vater, in einem fremden Land, gespickt mit Vorwürfen gegen seine Mutter, sah er oftmals sogar als Herausforderung. Er stellte sich ihr und wuchs zu einem unkomplizierten, konservativen und hübschen jungen Mann heran. Alkohol und Nikotin waren für ihn Fremdwörter. Häufig beneidete ich ihn um die Leichtigkeit, mit der er durchs Leben ging. Dann dachte ich, dass ich nicht alles falsch gemacht haben konnte. Er würde in seinem Leben niemals kapitulieren, seine eigene Familie später nicht im Stich lassen oder gar verletzen, da war ich mir sicher. Füreinander da sein und Verantwortung tragen, egal, wie dicke es auch kommen mag, das hatte er mitgenommen aus unserer gemeinsamen Zeit. Es war mir gelungen, ihm dieses Urvertrauen ins Leben und die Liebe einzupflanzen. Das entschädigte mich für alles, ich liebte ihn. Mehr als einmal war er der einzige Mensch, der überhaupt in einer seelischen Verbindung zu mir stand.

Als ich ihm Josch vorstellte, war Christopher begeistert. Egal, welche Fragen Chrissie stellte, Josch kannte die Antworten. Er erzählte spannende Geschichten aus der Antike und alte Sagen, um das Lernen für meinen Sohn unterhaltsamer zu machen. Christopher war beeindruckt. Sie mochten sich. Aber auch hier war es eine höfliche Zuneigung, nicht emotionslos, aber auch nicht allzu liebevoll. Dennoch war mein Freund beeindruckt von meinem Sohn, und ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich sehr stolz war, als Josch mich fragte: »Sag mal, Lisa, wie hast du den bloß so hingekriegt, das ist ja phänomenal.«

Christopher war nicht nur mein Freund, mein Vertrauter und mein Sohn, nein, er war auch mein Ass im Ärmel, mein Trumpf. Was immer auch die Menschen erwarteten, wenn sie ihn kennenlernten, sie waren jedes Mal erstaunt. Solch einen Jungen konnte es eigentlich nur bei den Waltons geben, aber nicht in der harten Realität meines Lebens. Mein Erstgeborener war ein Orden, den mir das Leben verliehen hatte, auf dem stand: »Gut gemacht, Lisa!«

So gingen die Tage, an denen ich dachte, ich sei nun eine »Bürgerliche«, ohne Sorgen und Probleme ins Land. Ich genoss meine Stunden mit Josch, richtete mir meinen neuen Alltag ein und schlief traumlos und tief. Doch wieder drehte jemand an meinem Lebensrad und diesmal war es nicht das Schicksal. Es war Joschs Frau!

Obwohl Josch sich vorübergehend auch räumlich von ihr getrennt hatte und sie von unserer Beziehung wusste, ließ sie ihn nicht in Ruhe. Sie rief ihn an, von mittags bis nachts, meldete Notfälle im Haus und Krankheiten der gemeinsamen Kinder. Diese Katastrophen ereigneten sich nur, wenn er bei mir war und erforderten oft Joschs sofortige Rückkehr. Es wunderte uns beide, denn es gab schon lange einen neuen Mann in ihrem Leben. Aber die dicksten Fische sind bekanntlich diejenigen, die davonschwimmen, und so arbeitete sie beständig daran, Josch wieder unter ihre Fittiche zu bringen. Zu lange hatte Josch unter ihrer dominanten Art gelebt, als dass er sich nun auf die Schnelle aus dieser Ehe rauswinden konnte.

Es fiel ihm sehr schwer, sich zu widersetzen oder sich ausreichend von ihr zu lösen. Leider entwickelte sich dadurch unsere Beziehung in den nächsten Monaten in keiner Weise weiter. Ihm wurde langsam klar, dass unsere »Liebe« für ihn ein großes Risiko darstellte. Sein gefestigtes und organisiertes Leben zu verlassen, von heute auf morgen etwas Neues aufzubauen, dazu noch im Ausland, erschien ihm zu wagemutig. Ein Umzug nach Deutschland hingegen kam für mich nicht in Frage, er drängte mich auch nicht dazu. Zu sehr waren mein Sohn und ich in seinen Augen mit der Insel verwachsen, hier war unser Zuhause. Und es stimmte, ein Leben in Deutschland konnten wir uns beide nicht mehr vorstellen. Josch war das recht, denn auch nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte, regierte sie noch immer zu großen Teilen sein Leben. Diese Situation ließ auch gar nicht zu, dass wir gemeinsam in Deutschland hätten glücklich sein können.

Es kam, wie es kommen musste. Sagten alle, nur ich war blind und taub. Josch kam immer seltener, hatte immer andere Ausreden, warum das so war. Aber auch bei ihm dauerte es Monate, bis er bereit war, sich einzugestehen, dass wir in eine Sackgasse geraten waren, dass es keine Zukunft für uns geben konnte.

Obwohl ich spürte, dass mein Traum vom großen Glück verloren war, belog ich mich weiterhin, solange ich konnte, und am Ende weit darüber hinaus.

Mit ihm an meiner Seite hatte ich monatelang in Ruhe und Frieden gelebt. Ich fühlte mich nie allein oder in Not. Auch hatte ich durch Josch wieder gelernt, die schönen Seiten des Lebens zu genießen, hatte wieder ein Auge für die Natur und das Meer. Konnte ausruhen und Kräfte sammeln, konnte nachdenken über meine Zukunft. Fühlte mich ausgeglichen und hatte Gelegenheit, einiges zu verarbeiten und anderes zu vergessen.Aber irgendwann kam dann doch, was sich schon lange schleichend angekündigt hatte. In Form einer E-Mail teilte Josch mir mit, dass er zu seiner Frau zurückgehen wollte.

»Lisa, ich bin sicher, du kannst das verstehen.«

»... die Praxis, die Kinder und alles andere ...«

»Ich hatte mir auch alles anders vorgestellt ...«

»Das Leben ist eben nicht immer so, wie wir es gern hätten.«

»Es hat natürlich nichts mit deinem Vorleben zu tun!«

In Panik schrieb ich zurück, wählte hundertmal seine Nummer. Aber er ignorierte mein Antwortschreiben, ging nicht mehr ans Telefon. Er war fort!

Diese Erkenntnis fuhr wie ein Blitzschlag durch meinen Körper, kroch in mein Herz und verbreitete Schmerz und lähmende Hoffnungslosigkeit. Ich fiel in ein Loch der Verzweiflung, fühlte mich wie gelähmt, wurde krank und schützte mich so ein paar Tage vor der Wirklichkeit. Einfach die Zeit anhalten und warten. So ließ sich jede Realität ignorieren. Lange funktionierte das jedoch nicht.

Josch war aus meinem Leben verschwunden und hinterließ eine Lücke. Es erschien mir unvorstellbar, etwas zu finden, was diese wieder füllen könnte. Ich vermisste ihn unendlich! Ich tauchte ab, wendete dem Leben den Rücken zu. Die Menschheit konnte mich am Arsch lecken!

Um mich herum blieb nur meine kleine Wohnung, mein besorgter Sohn im Teenageralter. Ab und zu ein verschämter, schneller Gang in Jogginghose zum Supermarkt um die Ecke. Nur meine alten Filme, die ich den ganzen Tag auf meinem DVD-Player abspielte, beruhigten und begleiteten mich. Oft dieselben zehnmal und mehr hintereinander. Ich kannte jeden Dialog, war befreundet mit John Wayne und Marilyn Monroe, ließ mich von ihnen in den Schlaf geleiten und auch wieder von ihnen wecken. Mein Leben stand still, ich wagte kaum zu atmen. Luftholen bedeutet zu leben, aber ein Leben mit der schmerzenden Gewissheit, dass alles verloren war, konnte ich kaum ertragen. Alles war so endgültig. Wo, fragte ich mich, sollte ich meinen Lebenswillen jetzt hinlenken? Auf was konnte ich mich jetzt noch freuen? Wo lag überhaupt der Sinn des Ganzen?

Josch war nicht einfach nur ein Mann gewesen, in den ich mich verliebt hatte, nein, er war viel mehr für mich. Er war eine Verbindung zwischen mir und der Welt, er war ein Glied, welches mir geholfen hatte, »normal« zu sein. Nun war ich gescheitert. Mir war, als hätte ich einen Sprung aufs Festland gewagt und hinter mir auf einer Eisscholle trieb meine Vergangenheit. Meter für Meter weg von mir. Es wären vielleicht nur noch wenige Momente gewesen, bevor sie endgültig im Nebel verschwunden wäre. So dachte ich. Nun aber stand ich mutlos und alleine am Ufer, und der Gedanke daran, wieder zurückzuschwimmen, wurde immer mächtiger. Dahin, wo ich alles kannte. Dahin zurück, wo ich mir selbst helfen konnte. Dahin, wo ich nie alleine war. Die Angst war das Schlimmste. Hatte es an mir gelegen? War ich es nicht wert, ein Risiko einzugehen? Konnte ich kein vollwertiger Partner in einem ordentlichen Leben sein? Hatte Josch das erkannt? Meine Angst war lähmend und fraß sich bis ins tiefste Innere. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in diesem Zustand verharrte.

CAFÉ CON LECHE

Es war Maria, mit der ich zuerst wieder ein Wort sprach. Maria arbeitete in einer Kneipe. So eine typisch spanische Cafébar, mit zwei Spielautomaten darin, einem Deckenventilator, der zittrig knirschend einen leichten Luftzug erzeugte, sowie jeweils einer Toilette für den »Señor« und eine für die »Señora«.

Bier gab es an der Theke und nur aus der Flasche. Dort stand auch die riesige Kaffeemaschine, die ihren aromatischen Geruch durch die ganze Bar bis hin zur Tür verteilte und damit hin und wieder Vorübergehende hineinlockte. Direkt vor der Eingangstür war der Bürgersteig etwas breiter und bot Platz für zwei Tische, die unter einer alten, eingerissenen Markise standen.

Wenn ich gegenüber auf meinem kleinen Balkon im zweiten Stock stand, konnte ich darauf hinuntersehen. Ich beobachtete Maria oft, wie sie gegen 9 Uhr am Morgen das alte Rolltor vor der Eingangstür nach oben schob und abends gegen 23 Uhr das Tor wieder herunterließ. Das waren Geräusche, die fest zu meinem Alltag gehörten.

Gegen Mittag wurde sie abgelöst, aber am Abend kam Maria immer zurück, auch sonntags. Wenn kein Kunde da war, in der sehr spärlich frequentierten kleinen Bar, saß sie draußen, rieb sich ihre schmerzenden, geschwollenen Beine und sah nach oben. Sie winkte mir und machte Handbewegungen, die mich einluden, nach unten zu kommen. Anfangs ging ich dann immer rein, zog die Gardinen vor die kleine Glastür und legte mich wieder in mein Bett.

Ich versuchte zu vergessen, dass draußen eine Welt war, eine Welt, in der gelebt wurde, Menschen, die etwas taten, Menschen, mit denen ich sprechen könnte. Für mich gab es da draußen nichts, nichts auf der Welt konnte mir diesen Schmerz nehmen. Es war, als stünde ich auf einer Schiffsplanke, ich befürchtete, dass jeder weitere Schritt mich allenfalls ins Meer befördern würde. Gar nichts zu tun, bedeutete für mich in erster Linie, nichts Falsches zu machen.

Irgendwann später bin ich Marias Einladung doch gefolgt. Ich kämmte mir die Haare, zog etwas Zerknittertes aus dem Wäscheberg und ging einfach barfuß hinunter. Maria lächelte breit, als sie mich kommen sah.

»Hola«, sprach sie mich auf Spanisch an, »möchtest du einen Kaffee mit Eis?«

Wenn es sehr warm ist, trinken die Spanier Kaffee aus einer Tasse, die nicht größer als ein Schnapsglas ist, und lassen auch noch einen Eiswürfel mit hineinfallen. Eine Spezialität, mit der ich gar nichts anfangen kann. Daher verneinte ich und bestellte »lieber einen ohne Koffein mit viel Milch, gracias«.

Nachdem ich mich gesetzt hatte, sah ich die Straße rauf und runter. Es war sehr heiß an diesem frühen Abend, kein Mensch war zu sehen. Mir wurde plötzlich bewusst, wie unmöglich ich aussehen musste, und war froh, dass außer Maria niemand da war.

Maria selbst war üppig gebaut und hatte ganz kurze schwarze Haare. Ihr großer runder Hintern war in einen engen Jeansrock gepresst und ihr ausladend fleischiger Busen, kaum gebändigt durch dünnen Stoff, schaukelte beim Gehen hin und her. Sie trug eine Menge bunten Glasschmuck. Ihre Fingernägel, ganz kurz, aber dunkelrot lackiert, stachen mir wie kleine blutende Wunden in die Augen.

Maria war nett. Sie plapperte die ganze Zeit auf mich ein, nachdem sie den Kaffee serviert hatte, und wollte nicht mal Geld dafür. Froh über etwas Ablenkung servierte sie mir noch eine zweite und eine dritte Tasse, und tatsächlich fing ich an diesem Abend an zu reden.

Natürlich hatte Maria ihn gesehen. Hatte uns auf dem kleinen Balkon sitzen sehen, wie wir Wein tranken, wie wir grillten und wie wir uns küssten. Hatte uns Hand in Hand das Haus verlassen sehen, auf dem Weg zum Markt, denn Josch liebte frischen Fisch, den er selbst zubereitete. Eigens dafür hatten wir kleine Töpfe mit Gewürzpflanzen eingekauft, die nun schon lange total vertrocknet irgendwo in der Küche standen.

An diesem ersten Abend fand ich noch nicht den Mut, Maria zu sagen, dass Josch nicht mehr kommen würde. Nie mehr. Stattdessen hauchte ich meiner Beziehung mit dem Mann aus Deutschland wieder Leben ein. Erzählte Maria, wie wir uns kennengelernt hatten und ging dabei auf die Suche nach irgendetwas, um ihn zu mir zurückzuholen.

Erst viele Tage und viele Kaffees ohne Koffein später erzählte ich Maria in ihrer kleinen Bar die Wahrheit. Darüber, dass Josch nicht mehr kam, wer ich eigentlich war und was ich gemacht hatte.

Mit meinen Worten strömten auch die Trauer und die Starre aus mir raus. Ich redete wie ein Wasserfall. Meine Tränen suchten sich ihren Weg, tropften auf die Tischdecke, rannen in den Plastikfalten nach unten und verdampften darin, bevor sie den warmen Asphalt erreichten.

»¡Le hecho de menos, Maria!«

Ich weinte und schluchzte und wiederholte den Satz noch mal. Maria gab mir ein paar dünne Servietten aus der Plastikbox vom Tisch.

»Und«, fragte sie, »vermisst er dich auch?«

Ich ließ diesen Satz ganz langsam in mein Hirn sickern. Es dauerte Minuten, bis ich ihr einigermaßen gefasst antworten konnte: »Nein, Maria, nein, das tut er sicherlich nicht.«

Mit tropfender Nase biss ich in meine »Ensaimada«, das Lieblingsgebäck der Spanier.

Meine Augen brannten, waren geschwollen und nass, aber hinter der Sonnenbrille erholten sie sich und genauso wie das Jucken in ihnen langsamnachließ, wurde auch der brennende Schmerz endlich erträglicher. Als ich an diesem Abend ins Bett ging, blieb der DVD-Spieler aus.

»Josch wird mich nicht heiraten.« Es war an der Zeit, dies meinen derzeit engsten Gefährten mitzuteilen. Ich lächelte meine Plüschtiere an und gab meinen stillen Freunden einen Moment Zeit, die Information zu verdauen. Sie verzogen keine Miene.

»Obwohl ich keine Hure mehr bin!« Aber selbst dieser aufwühlenden Aussage schenkten sie keinerlei Beachtung.

»Verdammt noch mal, habt ihr überhaupt zugehört?« Ich wurde lauter, fast schrill. »Nichts ist mehr so, wie es war, keiner liebt mich, und ich hasse mein Leben!«

Donald Duck und Plüschkonsorten blickten weiterhin in sturer Gelassenheit an mir vorbei. Mit einem Ruck fegte ich die ganze Bande vom Bett und vergrub mich in den Kissen. Sicher gab es auf dieser Welt Tausende, die sich so fühlten, wie ich mich gerade fühlte. Identitätslos, ungeliebt und ohne Job. Der Gedanke tröstete mich ein wenig, doch ich fühlte mich ihnen dennoch nicht nahe. »Die«, das waren fremde, unbekannte Menschen, die mich verachteten, zu denen ich niemals gehört hatte, egal, wie tief sie selbst auf der sozialen Skala standen. »Die« alle waren immer etwas Besseres gewesen. »Die« sagten es, »die« dachten es, »die« ließen es mich spüren. Das hatten »die« immer getan und es war mir immer egal gewesen. Was scherten mich andere Leute? Ist es nicht so, dass Menschen sich gern die traurigen Geschichtchen anderer anhören, nur um für sich festzustellen, dass ihnen das nie passiert wäre? Hat man seinen Bekannten erst mal sein Leid geklagt, sagen sie gerne: »Also ich hätte ja ...« oder »Das kann ich nicht verstehen«. Auch die Variante »Wie konntest du nur so dumm sein?« hing mir derzeit wirklich zum Hals raus.

Während ich meine unverändert freundlich dreinblickenden Beobachter aus Fell und Glasaugen wieder auf die Decke sortierte, nahm ich mir vor, das Beste daraus zu machen. Die Welt und ihre Bewohner konnten mich doch mal kreuzweise! Angriff ist bekanntlich nicht die beste, aber recht häufig die einfachste Verteidigung. Es würde schon irgendwie weitergehen, das war es doch immer!

Im Wohnzimmer stand mein Laptop. Ich begann weiterzuarbeiteten, an meinem letzten Geschenk für Josch. Er hatte so viele Fragen über mein Leben gestellt, unzählige Stunden hatte ich damit verbracht, ihm von früher zu erzählen, alles, was mir passiert war. Irgendwann jedoch war ich es leid, immer nur von der Vergangenheit zu reden, und ich hatte ihm einen Brief angekündigt. Einen sehr langen Brief, in dem ich ihm mein Leben aufschreiben wollte. Als ich ihm das vorschlug, lachte er mich an.

»Lisa, das müsste ja schon ein ganzes Buch sein.«

»Okay, Josch, dann schreibe ich dir eben ein Buch!« Ich lachte glücklich zurück. Heute weiß ich, dass er das in dem Moment gar nicht ernst genommen hat. Josch traute mir genau genommen sehr wenig zu. Wann immer wir über die Möglichkeit einer anderen Arbeit sprachen, machte er zweifelnde Bemerkungen, die mich verunsicherten und letztendlich entmutigten. Manchmal kam es mir so vor, als sei er sich seiner nur sicher, wenn ich unsicher war.

Ich schrieb nun jeden Tag und mir graute ein bisschen vor der Stelle, wo es um Josch gehen würde. Ein Happyend würde es nicht geben. Damit hatte ich nicht gerechnet, als ich angefangen hatte, an ihn zu schreiben.

An manchen Tagen sprudelten die Worte nur so aus mir heraus, an anderen jedoch war ich deprimiert – seinetwegen und wegen der Ereignisse aus meiner Vergangenheit. Oft musste ich die voll getippten, ausgedruckten Seiten wieder in den Müll werfen.

In dieser Zeit weinte ich häufig und nachts konnte ich nur mit großer Mühe einschlafen. Mehr als einmal wollte ich alles hinschmeißen, mein Geschreibe einfach löschen. Zu sinnlos erschien mir das Ganze. Würde Josch das überhaupt lesen wollen? Aber einmal in Gang gesetzt, bahnte sich die Vergangenheit unaufhaltsam und unerbittlich ihren Weg in meine Gedanken, ließ mir keine Ruhe mehr und zwang mich immer weiterzuschreiben. Als ich nach wenigen Wochen mehr als dreihundert Seiten geschrieben hatte, war ich selbst ganz erstaunt. Und noch etwas war passiert: Ich fühlte mich befreit.

Ich rechnete gnadenlos ab mit allem und am meisten mit mir selbst. Ich nahm kein Blatt vor den Mund, schrieb meine Erlebnisse chronologisch und gewissenhaft auf, ohne mich oder andere dabei zu schonen. Ich wollte in dem Brief nichts beschönigen, mich nicht entschuldigen und nicht lügen. Josch war der erste Mann, den ich hatte haben wollen und nicht bekam. Er allein sollte alles von mir wissen, es war an der Zeit, die Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen. Zeit, den Dingen ins Auge zu sehen, und mit mir selbst ins Gericht zu gehen. Wer war ich, wo kam ich her, und wo zur Hölle wollte ich eigentlich hin?

Etwas Wertvolles zu verlieren, so schien es mir, hatte ich nichts mehr. Josch war schon gegangen. Aber den Brief, den sollte er noch bekommen.

EIN NEUER ANFANG

Als ich fertig war, fühlte ich mich ausgebrannt und erschöpft. Bis zu diesem Moment war es für mich immer leichter gewesen, einen Schritt zurückzugehen, dahin zurückzukehren, wo ich mich auskannte. Meine Lederschaftstiefel anzuziehen und wieder die zu sein, die ich respektierte. Die einzige Person, auf die ich mich verlassen konnte. Mandy, die Domina und Lisa, die Hure. Aber nachdem ich meinen Brief an Josch geschickt hatte, war ich dazu plötzlich nicht mehr in der Lage. Die Eisscholle, die ich die letzten Wochen nie aus den Augen verloren hatte, war weg. Ein Lebensabschnitt war zu Ende gegangen.

Josch hatte ich verloren und andere, die mir lieb und teuer waren. Meine Familie war zerstört, einer meiner Söhne war verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. Nicht, ob er je nach mir gerufen hatte, ob er einsam und alleine oder glücklich war. Ich gestand mir ein, dass ich nicht weiter davonlaufen konnte. Wie ein Bohrer in einen kaputten Zahn schraubten sich die Gedanken in mich. Steffen, mein Sohn, ich vermisste ihn furchtbar und gab mir endlich selbst das Versprechen, ihn wiederzufinden.

Schuld an allem war der Lebenswandel, den ich geführt hatte. Es gab kein Schicksal anzuklagen und auch die Fehler anderer konnte ich nicht für mein Tun verantwortlich machen. Ich alleine hatte meine Entscheidungen getroffen. Die Vergangenheit zu ändern, war mir verwehrt. Aber meine Zukunft lag noch immer in meinen Händen, jeden Tag aufs Neue. Diesmal wollte ich vorsichtig und bedächtig damit umgehen. Liebe und Vertrauen sollten darin an erster Stelle stehen. Und eine Partnerschaft sollte es geben, in einer wunderbaren Unendlichkeit, in der man sich nur verlieren kann, wenn man wirklich liebt und geliebt wird. Ich überlegte sehr lange, wie ich das möglich machen konnte. Alte Gewohnheiten waren schon immer mein ärgster Feind gewesen, aber diese Schlacht wollte ich unbedingt gewinnen!

Wenn ich geahnt hätte, wie naiv ich in diesen Tagen war! Wenn ich gewusst hätte, wie wenig sich das, was ich wollte, eigentlich von dem unterschied, was hinter mir lag! Meine Plüschfreunde wären ins Feuer geflogen, und ich, Lisa Moos, hätte im Latexkleid ein Tänzchen wie Rumpelstilzchen drumherum aufgeführt. Dazu hätte ich gesungen:

»Heut noch wollt ich’s, doch morgen schon irr ich und übermorgen sitz ich bis zum Hals ganz tief im verlogenen Morast der anständigen, sauberen Gesellschaft.«

Doch ich ahnte nichts! Ein neues Leben stand vor der Tür, ich brauchte sie nur zu öffnen, einen Knicks zu machen und es hereinzubitten. Mir war nicht klar, wie sehr mich der Wunsch, alles zu verändern, in die Knie zwingen würde. Vielmehr lächelte ich erwartungsvoll in mich hinein. Und endlich schlief ich das erste Mal wieder beruhigt und zufrieden ein. Mein Leben war noch nicht vorbei, und es müsste schon mit dem Teufel persönlich im Verbund stehen, wenn es mir nicht gelingen sollte, endlich Zucht und Ordnung hineinzubringen.

Zuerst brauchte ich einen Job. Noch vor wenigen Wochen hatte ich gedacht, ich hätte das Richtige für mich gefunden. Ich hatte meinen Domina-Lederrock gegen ein dezentes Kostüm getauscht und fuhr jeden Morgen ins Son Castello, ein Industriegebiet in der Nähe von Palma. Dort hatte ich über eine Zeitungsanzeige eine Anstellung in einer Internetfirma gefunden. Ich war mir damals sicher, ein richtiger Job würde mir in meiner neuen Beziehung zu Josch nur helfen, wollte nichts unversucht lassen, ihm zu zeigen, dass auch ich ein ganz normales Leben führen konnte.

Eingestellt hatte mich Svenja, eine Schwedin, deren Schwester als junges Mädchen ins Milieu abgerutscht war. Aus diesem Grund bemängelte sie weder meinen Lebenslauf noch meine fehlenden Qualifikationen für die ausgeschriebene Stelle. Ich hatte ihr ehrlich gesagt, wo ich herkam, und verschwörerisch teilte sie dieses Geheimnis mit mir. Das dachte ich zumindest!

Neben Svenja gab es noch Dan, meinen Chef, ebenfalls Schwede und aktiver Buddhist. In vier Büroräume waren jeweils zehn Mitarbeiter an zusammengestellten Schreibtischen verteilt. Die Nationalitäten waren gemischt, mehrere Schweden, einige Spanier, und auch etliche Deutsche. Es wurde nur englisch gesprochen, was mir anfangs wirkliche Schwierigkeiten machte. Bald aber gewöhnte ich mich daran und mit festem Willen, dort durchzuhalten, bekam ich es irgendwie in den Griff.

Als ich das erste Mal eine eigene Sozialversicherungskarte in den Händen hielt, kam ich mir vor wie eine Königin. Ich steckte sie in mein Portemonnaie, direkt in das Sichtfenster, und zeigte sie stolz jedem, den ich kannte. Da ich mit einem Halbtagsvertrag angefangen hatte, war mein Gehalt eher bescheiden. Ich glaube, in Deutschland würde man »Minijob« dazu sagen, hier aber war es ein vollwertiges Einkommen.

Gearbeitet wurde auf den verschiedenen Internetmärkten in Deutschland, England und Spanien. Das Thema war mir absolut nicht fremd, denn wir erstellten so genannte Sex-Starsites. Erstaunlicherweise fanden die Leute es anstößiger, eine Prostituierte zu kennen, als den ganzen Tag Bilder von nackten Frauen auf ihren Bildschirmen zu bearbeiten. Dazu wurden ansprechende Texte erstellt, wie beispielsweise: »Komm, ich blas dir das Hirn raus«, oder »Anal, eine Hintertür der Freude«.

So und anders dichteten und schrieben meine Mitarbeiter in allen Sprachen ihre Schlagzeilen. Wer hätte das gedacht, die »virtuelle Prostitution« tut anscheinend niemandem weh! Wir betreuten Internetseiten, hinter denen erotische Inhalte verborgen waren. Über Telefoneinwahlen konnte der User auf dieses Angebot zugreifen und sich massenweise Pornos, Bilder und erotische Geschichten ansehen. Gefunden wurde das Angebot mit Hilfe so genannter Banner und Verlinkungen im Internet. Auch über große Suchmaschinen konnte man auf die Seiten gelangen. Da natürlich auch diejenigen mitverdienten, die uns erlaubten, auf ihren Seiten Werbung zu schalten, waren minutiöse Abrechnungen über die gehaltenen Telefonverbindungen notwendig. Das erforderte den Einsatz von umfangreichen Statistikprogrammen – dies war meine Aufgabe. Jeden Morgen übertrug ich die Zahlen in große Tabellen und am Ende des Tages war ersichtlich, welcher Banner und welche Erotikseite am meisten Bares eingebracht hatte.

Alles in allem war das ein sehr einträgliches Geschäft und dementsprechend gut war die Stimmung in den Büros. Es wurde viel gelacht und gescherzt. Schnell wuchs ich in das Aufgabengebiet hinein und konnte meinen Halbtagsvertrag in eine gut bezahlte 40-Stunden-Woche umwandeln. Plötzlich hatte ich Arbeitskollegen in Jeans und Kostümen. Die Gespräche drehten sich um Alltäglichkeiten, Beziehungskrisen oder einfach nur um die Insel. Jeden Tag gab es Mittagspausen, die man gemeinsam verbrachte und jeder Geburtstag wurde ausgiebig in der Firma gefeiert. Ich begann mich wie alle anderen auf das Wochenende zu freuen und machte samstags meine Wocheneinkäufe. An »unserem« Tisch bildeten sich Freundschaften und ich genoss, dass ich dazugehörte. Zumindest dachte ich das.

SANTIAGO

»Hey, Lisa.« Malte, mein Arbeitskollege, winkte mir auf dem Parkplatz zu. »Sehen wir uns um 11 Uhr zum Kaffee drüben?«

Er deutete auf ein nahe stehendes Haus. Darin war eine große Bank, in deren Kantine wir immer zusammen Mittag machten.

»Aber logo«, ich lachte ihn an und winkte zurück. »Schließlich muss ich schauen, ob mein Lieblingsbanker da ist!«

Gut gelaunt schlenderte ich zu ihm rüber. Er schüttelte den Kopf.

»Ach, Lisa, den sprichst du ja eh nie an.«

Ich sah an mir runter. »Aber ja, du wirst schon sehen. Und wie du siehst, habe ich extra einen neuen Rock gekauft.« Ich drehte mich vor ihm hin und her. Anerkennend pfiff er durch die Lippen.

»Na denn, hau rein, da kann ja nichts schief gehen.«

Nein, auch ich war mir sicher, heute würde ich es tun. Das Objekt meiner Wünsche hatte ich bereits vor Wochen in der Cafeteria entdeckt. Einen Ring trug er nicht. Von verheirateten Männern hatte ich nach Josch genug, auf eine solche Geschichte wollte ich mich in keinem Fall mehr einlassen. Deshalb prüfte mein erster Blick nun immer die Hände.

Mein Bankangestellter trank jeden Tag zur gleichen Zeit mit seinen Kollegen Kaffee. Meist war ich mit Malte dort, wir arbeiteten eng zusammen und hatten uns angefreundet. Maltes Freundin war derzeit noch in Hamburg, eine Übersiedlung war aber schon geplant, und er konnte es kaum erwarten. Malte war gebürtiger Hamburger und sah auch genau wie einer aus. Er war groß, kräftig, blond und blauäugig und sehr nett. Ich hatte Malte eine Menge erzählt, von Josch und später auch von mir, und war erfreut, dass er keinerlei Anstoß daran zu nehmen schien. Das war nach Svenja und Maria die dritte positive Erfahrung dieser Art und langsam baute ich die Angst, weiterhin eine Ausgestoßene zu sein, ab. So wurde ich arglos und leichtsinnig, ein dummer Fehler!

Weder an diesem noch in den nächsten Tagen kam ich meinem Schwarm aus der Bank näher. Zwar sah ich ihn täglich am gewohnten Platz, doch leider war er nie alleine dort. Ständig ins Gespräch vertieft, nahm er nicht mal mein Lächeln in seine Richtung wahr. Er gefiel mir täglich besser. Er war sehr gut aussehend und schien Unabhängigkeit und Freiheit auszustrahlen. Auch wirkte er kommunikativ und weltoffen. Kurz gesagt, ich wollte ihn unbedingt kennenlernen.

Noch vor wenigen Monaten hätte ich gezögert, weil uns, wie mir schmerzlich beigebracht worden war, gesellschaftliche Welten trennten. Aber jetzt, in meinem neuen Business-Outfit, mit dunkelblond abgetönten Haaren und ausreichend Erfahrung im Büro-Smalltalk befand ich mich selbst für durchaus in der Lage, diesen Typen richtig anzugehen. Was fehlte, war nur der passende Moment. Ich beschloss nachzuhelfen.

»Quisiera abrir una cuenta.«

Die Dame am Schalter quittierte meinen Wunsch, ein Konto zu eröffnen, mit einem routinierten Lächeln.