Maria Montessori - Rita Kramer - E-Book

Maria Montessori E-Book

Rita Kramer

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Beschreibung

Die vorliegende kritische Auseinandersetzung mit Leben und Werk Maria Montessoris läßt erkennen, welchem historischen Zusammenhang sich ihre Ideen verdanken und mit welchem kämpferischen Mut sie sich für den sozialen Fortschritt eingesetzt hat. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Rita Kramer

Maria Montessori

Leben und Werk einer großen Frau

Aus dem Amerikanischen von Gudrun Theusner-Stampa

FISCHER E-Books

 

Mit einem Vorwort von Anna Freud

Inhalt

Die deutsche Ausgabe wurde [...]Für W.A.S. [...]DanksagungVorwort von Anna FreudVorwort der AutorinEinführungTeil I Die frühen Kämpfe1. Die politische Lage Italiens vor der Jahrhundertwende: Kindheit und Jugend Maria Montessoris2. Maria Montessori studiert als erste Frau Italiens Medizin3. Von der Medizin zur Pädagogik4. Maria Montessori arbeitet mit geistig zurückgebliebenen Kindern5. Arbeit an der Scuola Ortofrenica Geburt des Sohnes Mario und ein neues Studium: Pädagogik und PhilosophieTeil II Das Kinderhaus (Casa dei Bambini)6. Maria Montessori entwickelt ihre Methode bei der Arbeit mit Kindern des Elendsviertels »San Lorenzo«7. Ein umwälzendes Ereignis: Vierjährige lernen lesen und schreiben8. In ganz Italien entstehen »Kinderhäuser«9. Der internationale Durchbruch: Die »Methode« erobert sich die Welt10. Die Presse berichtet über das »Montessori-Phänomen« Amerika horcht auf11. Anhänger und Feinde – Mario tritt an die Seite seiner Mutter12. Die Reise nach Amerika (1913): Der Höhepunkt der »Karriere«13. Die zweite Amerikareise; Helen Parkhurst vertritt die »Dottoressa« in den USA14. Kritische Stimmen werden lautTeil III Die Methode und die »Bewegung«15. Die Montessori-Bewegung in England16. Die »Bewegung« erobert sich die Welt17. Das starre Festhalten an den »Prinzipien« führt in die Isolation18. Barcelona als »Stützpunkt« und viele Reisen – Mussolini wird aufmerksam19. Maria Montessori arbeitet unter dem faschistischen Regime20. Höhepunkt während der faschistischen Ära: XV.Internationaler theoretischer und praktischer Ausbildungskurs in Kindererziehung21. Europa vor dem »Sturm«: Die Verbindungen zwischen Montessori-Pädagogik und Freuds Psychoanalyse werden von den ersten Kinderanalytikern in Wien praktisch erprobt22. Maria Montessoris Lage in Spanien vor dem Bürgerkrieg und ihre Emigration über England nach Holland23. Die Jahre in Indien – Reisen, Vorträge und Publikationen24. Die letzten Jahre[Bildteil]NachwortAnmerkungenBildnachweisRegister

Die deutsche Ausgabe wurde geringfügig gekürzt und mit Kapitelüberschriften versehen.

Für W.A.S.

Danksagung

Der Erfolg eines Werkes, welches wie das vorliegende auf Quellenmaterial beruht, das vorher weder gesammelt noch veröffentlicht vorlag, ist weitgehend abhängig von der Mitarbeit anderer. An hervorragender Stelle unter denen, die es mir ermöglichten, zu erfahren, was ich wissen mußte, um diesen Bericht über Leben und Werk von Maria Montessori zu schreiben, waren Mario Montessori und seine Frau Ada Montessori-Pierson. Die Großzügigkeit, mit der sie mir dokumentarische Unterlagen verschafften und mir ihre Erinnerungen mitteilten, war ebenso ungewöhnlich wie die Freiheit, die sie mir bei der Verwendung dieses Materials zugestanden haben. Das heißt, ich konnte es verwenden, wie ich wollte und es nach meiner eigenen Anschauung interpretieren, die sich während des Forschens und Schreibens entwickelt hat. Im Lauf der Jahre, in denen ich an diesem Buch arbeitete, nahmen sie sich mehrmals die Zeit, in ihrem Haus in Holland mit mir zu sprechen. Sie erwiesen mir herzliche Gastfreundschaft und gaben mir nie das Gefühl, meine Fragen seien unangebracht. Mario Montessori sprach freimütig mit mir über die vielen Jahre, in denen er seiner Mutter bei ihrer Arbeit und ihren Reisen zur Seite stand, ebenso aber auch über seine eigenen Erlebnisse aus der frühen Kindheit und über das, was man ihm aus der Jugend seiner Mutter erzählt hatte. Ohne das, was er mir anvertraut hat, hätte ich mir kein vollständiges Bild von ihrem Leben machen können.

Dr. Mario Montessori jr., der Enkel Maria Montessoris, berichtete mir über seine Erinnerungen an seine Großmutter und teilte mir seine Ansicht von ihrer Arbeit mit, wie er sie als Psychoanalytiker sieht, der sich mit der kindlichen Entwicklung beschäftigt.

In der Zeit zwischen meinen Besuchen beantworteten Mario und Ada Montessori mir zahlreiche Briefe voller Fragen; sie gaben mir ausführliche Auskünfte, die sie aus eigenen Briefen und Dokumenten und aus Papieren entnahmen, die in den Archiven der Association Montessori Internationale (AMI) in Amsterdam aufbewahrt werden. Besonderen Dank schulde ich ihnen für die Erstellung einer ausführlichen Zeittafel von Ereignissen aus dem Leben der Eltern Maria Montessoris und aus den ersten Schuljahren Marias, die auf privaten Dokumenten beruht; ferner dafür, daß sie mich ein Buch mit Zeitungsausschnitten benutzen ließen – eine einzigartige Dokumentation der öffentlichen Auftritte im Leben Maria Montessoris in den Jahren von 1892–1900, das Alessandro Montessori im ersten Jahr unseres Jahrhunderts zusammengestellt hat. Außerdem gewährten sie mir freien Zugang zu den Zeitungsausschnitten und anderen Materialen, die in der AMI in Amsterdam aufbewahrt werden, dessen Sekretärin Nicolette VanderHeide-Verschuur mit in jeder Hinsicht hilfreich zur Seite stand. Sie stellten schließlich auch die meisten der Fotografien von Maria Montessori zur Verfügung, die aus Familienalben und aus den Archiven der AMI stammen und das vorliegende Werk illustrieren.

Die Familie Montessori stellte auch keine Bedingungen in bezug auf die Verwendung des zur Verfügung gestellten Materials. Die Ausführlichkeit und der Tiefgang der auf den ersten Seiten dieses Buches erzählten Geschichte sind vorwiegend ihnen zu danken; wenn sie Mängel hat, sind sie mir zuzuschreiben. Obwohl die Familie Montessori mich bei den Recherchen, auf denen dieses Buch beruht, unermüdlich unterstützte, ist es jedoch keineswegs eine »autorisierte« Biographie. Im Lauf der Jahre haben noch viele andere wertvolle Beiträge geleistet:

Cleo Monson von der amerikanischen Montessori-Gesellschaft hat mir ihre Archive zugänglich gemacht und mir großzügig Zeit und Anteilnahme gewidmet, und ihre Assistentin Judith Delman hat mir geholfen, viele der früheren Schüler Maria Montessoris in allen Weltgegenden aufzuspüren.

Viele alte Freunde und ehemalige Schülerinnen von Maria Montessori schilderten mir in Briefen und Interviews ihre Erlebnisse mit und ihre Eindrücke von ihr. Sie werden in den Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln erwähnt, in denen ihre Erinnerungen auftauchen, aber ich möchte besonders die Anteilnahme von Elise Braun Barnett, Catherine Pomeroy Collins, Maria H. Mills und Emma N. Plank erwähnen, die alle besondere Beiträge zu dem Montessori-Porträt geleistet haben, das durch dieses Buch entsteht.

Als erste hat meine Freundin Diane Ravitch die Anfangskapitel des Manuskripts gelesen, deren eigene Arbeit auf dem Gebiet der Geschichte der Pädagogik viele Ideen einbrachte, die ich verwendete, als ich über das Auf und Ab der Montessori-Bewegung schrieb. Sie ermutigte mich nicht nur, sondern half mir auf höchst praktische Weise, z.B. durch die Einladung, mit ihr zusammen am Teachers College eine Vorlesung von Lawrence A. Cremin über die Geschichte der amerikanischen Pädagogik zu besuchen. Die Vorlesung von Professor Cremin und sein Buch The Transformation of the School: Progressivism in American Education, 1876–1957 (New York, 1961) erhellten die sozialen und intellektuellen Strömungen, die herrschten, als Maria Montessori mit den pädagogischen Einrichtungen Amerikas in Berührung kam; sie erschlossen mir zahlreiche fruchtbare Möglichkeiten des Nachdenkens über das Wesen der Erziehung und die Rolle des Erziehers. Ich schulde ihm Dank für die Anregung zu vielen Arten von Fragen, die ein Biograph sich angesichts der historischen Daten stellen kann, um zu dem zu kommen, was er die »imaginative Rekonstruktion der Vergangenheit« nennt.

Professor Salvatore Saladino von der Fakultät für Geschichte des Queens College der City University von New York ergänzte das, was ich aus seinem Werk Italy from Unification to1919 (New York, 1970) gelernt hatte, großzügig in Gesprächen, die mein Verständnis jener Perioden der Geschichte Italiens förderten, in denen Maria Montessori aufwuchs und zur Schule ging und nach Italien zurückkehrte, um dort während der faschistischen Herrschaft zu arbeiten.

Dr. Bernard C. Meyer und die anderen Mitglieder der Studiengruppe, die sich unter den Auspizien des New Yorker Psychoanalytischen Instituts mit Biographie und Psychoanalyse beschäftigten, teilten mir ihre Gedanken über Charakter und Kreativität mit und hörten sich Teile des entstehenden Werkes mit dem Interesse an dem »Was kam dann?« an, das einen Autor am stärksten ermutigt.

Dankbar bin ich meinen gelehrten Freundinnen Perle Epstein, die Teile des Manuskripts las und eine Reihe mitleidloser und daher brauchbarer Vorschläge machte, und Louise J. Kaplan, Professor der Psychologie an der Universität New York, deren Kenntnisse der frühkindlichen Erziehung und deren leidenschaftliche Anteilnahme daran, wie Frauen ihr Berufsleben gestalten, sie zu einer anregenden Kritikerin der Frühfassung der Kapitel über die Jugend und die beruflichen Anfänge von Maria Montessori machten.

Margherita Repetto hat für mich viele wertvolle Nachforschungen in italienischen Archiven angestellt.

Noch einige persönliche Danksagungen stehen aus: Danken möchte ich meinem Mann Yale, der diesen Plan in jeder Weise unterstützt hat – angefangen damit, daß er es mir ermöglichte, dem Nachforschen und Schreiben drei Jahre lang meine ganze Zeit zu widmen, bis hin zu seiner unermüdlichen Anteilnahme an seinem Fortschreiten. Ebenso danke ich meiner Tochter Mimi, die nach ihrer Überzeugung handelte, man solle Mütter ermutigen, aus dem Haus zu gehen und selbständig etwas zu unternehmen; ferner habe ich meinem alten Freund, dem Architekten Lewis Davis, und seinen Partnern der Firma Davis, Brody & Teilhaber zu danken, die mir ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellten, wo ich mein Buch zusammenbauen konnte. Schließlich schulde ich meinem Verleger Walter Betkowski Dank, der als erster die Idee für dieses Werk hatte.

 

New York, August 1975

Rita Kramer

Vorwort von Anna Freud

Maria Montessoris Persönlichkeit und Verdienste berechtigen die eingehende, gewissenhafte Schilderung, die ihnen in diesem Buch zuteil wird. Wer bisher nur mit den Spätwirkungen ihrer Arbeit in Berührung war, sieht hier ihre Bemühungen in den historischen Zusammenhang eingereiht, dem sie ihren Ursprung verdanken, und kann den bitteren Kampf um sozialen Fortschritt verfolgen, dem nur ein starker Wille wie der ihrige gewachsen sein konnte. Von der Autorin in fesselnder Weise geführt, entsteht vor dem Leser das Bild Maria Montessoris, die als erste Frau Italiens 1896 Ärztin wurde, fasziniert von dem Ziel, das Los armer, zurückgebliebener, von Konstitution und Schicksal gleichermaßen benachteiligter Kinder zu verbessern. Was folgt und hier zum erstenmal voll verständlich gemacht wird, ist ihre Abwendung von der Medizin und Hinwendung zur Pädagogik, und gleichzeitig damit die Erweiterung ihres Wirkungskreises über das heimatliche Italien hinaus in alle Länder der Welt – ein schicksalsbedingter Schritt von ausschlaggebender Bedeutung für ganze Generationen normaler Kinder.

Als Zeitgenossin Maria Montessoris und ihrer Mitarbeiter kann ich aus eigener Erfahrung den in diesem Buch geschilderten dankbaren Enthusiasmus bestätigen, mit dem ihre Lehre an vielen Stellen und in vielen Städten empfangen und angewendet wurde. Sozialarbeiterinnen, Kindergärtnerinnen, Kinderpsychologen und Kinderanalytikerinnen waren sich einig in der Überzeugung, daß die Montessori-Methode in wichtigen Beziehungen alles dem Erzieher bisher Gebotene übertraf; daß in einem »Montessori-Haus der Kinder« (wie in dem in Wien geschaffenen) das Kind zum erstenmal Herr war im eigenen Haus; zum erstenmal sein Interesse an dem vorhandenen Material frei entfalten konnte, anstatt im üblichen Kindergarten in eine vorgeschriebene Gruppentätigkeit eingereiht zu werden; daß zum erstenmal nicht Lob und Tadel der Erwachsenen, sondern Freude am Erfolg der eigenen Arbeit als geeigneter Ansporn zu ihrem Recht kamen; vor allem, daß nicht autoritäre Disziplin, sondern Freiheit innerhalb sorgfältig gesteckter Grenzen das Erziehungsprinzip war.

Heute, 25 Jahre nach Maria Montessoris Tod, teilt ihre Lehre das Schicksal anderer, zur Zeit bahnbrechender Neuerungen, nicht immer in der reinen, von ihrer Urheberin selbst genehmigten Form angewendet zu werden, und sich Erweiterungen und Abänderungen gefallen lassen zu müssen. Auch teilen nur wenige der heute in Maria Montessoris Sinn Tätigen ihren eigenen religiösen oder sinnespsychologischen Hintergrund. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die wichtigsten Elemente der Montessori-Methode in der einen oder anderen Form in die moderne Pädagogik eingegangen und so zu einem unentbehrlichen, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Kleinkindererziehung geworden sind.

 

London 1977

Vorwort der Autorin

Dieses Buch ist ein Versuch, Leben und Werk Maria Montessoris zu betrachten, um herauszufinden, wer sie war, woher sie kam und was ihr widerfuhr: um die intellektuellen Einflüsse auf ihr Denken festzustellen und um anzudeuten, welche Rolle ihre Persönlichkeit in ihrer Arbeit gespielt hat, nicht um diese herabzusetzen, sondern um sie zu erklären – um zu zeigen, worin denn nun eigentlich ihre Originalität bestand. Alle Ideen bauen auf anderen Ideen auf. Das Interessante ist nicht diese Tatsache allein, sondern welche Ideen zugrunde lagen, wie sie benützt, verwandelt, kombiniert und zu etwas Neuem geläutert wurden.

Maria Montessori ist viel komplizierter und interessanter als die Gipsheilige, zu der ihre ergebenen Anhänger sie gemacht haben. Unter all der fast mystischen Verehrung, der Heiligenlegende, die als Biographie ausgegeben wurde, steckt eine zähe, intelligente Frau, die zumindest in ihrer Jugend Dinge dachte und tat, die niemand vorher in den Sinn gekommen waren.

 

Die Suche nach dieser Frau hat mich zu diesem Versuch bewegt, eine enge, huldigende Betrachtung ihrer Person und ihrer Leistungen zu sprengen und Maria Montessori denen vorzustellen, die sie noch nicht kennen oder die sie verkennen.

Diese Suche hat über mehrere Erdteile hinweggeführt, in vergessene Archive und in die Erinnerung von Männern und Frauen, deren Leben sie berührt und oft verändert hat. Sie offenbarte eine neue Frau – sowohl in dem Sinn, in dem Maria Montessori selber diesen Ausdruck gebrauchte als auch im Sinn der Biographin.

Biographien berühmter Männer und Frauen durchlaufen Phasen, die den gleichen Gesetzen unterworfen scheinen wie Ideen. Jede Generation besteht aus Revisionisten. Frühere Versuche, Fakten zu sammeln und zu interpretieren, werden unweigerlich durch Ansichten abgelöst, die auf neuen Entdeckungen, neuen Anschauungen beruhen.

Wenn diese Geschichte des Lebens und Wirkens der Maria Montessori dazu dient, weitere Untersuchungen ihrer Leistungen und neue Möglichkeiten ihrer Beurteilung anzuregen, so wird sie ihren Zweck erfüllt haben – nämlich neuen Generationen eine Lehrerin vorzustellen, von der sie viel gelernt haben und von der sie immer noch etwas lernen können – über Kinder, über Maria Montessori, über sich.

Einführung

Als die Cincinnati der Hamburg-Amerika-Linie an einem kühlen Dezembermorgen des Jahres 1913 in den Hafen von New York einlief, stand an der Reling eine stämmige, lächelnde Frau in Schwarz, mit Pelzen behängt, das dicke, kastanienbraune Haar hochfrisiert, bedeckt von einem großen schwarzen Hut mit Schleier. Sie stand dort regungslos von dem Augenblick an, in dem die Skylinie von New York sichtbar wurde, bis das Schiff angelegt hatte. »Ich muß alles sehen«, sagte sie zu einer Begleiterin. Sie hatte als Beobachterin angefangen, und die Gewohnheit des Beobachtens hatte sie zu diesem Augenblick geführt. Das Schiff machte fest und sie kam mit königlicher Selbstsicherheit die Gangway herunter, mit einem mütterlichen Lächeln für die Schüler und Würdenträger, die sie in sechsfachem Kreis umdrängten, sie umarmten, gestikulierten und alle auf einmal in aufgeregtem Italienisch durcheinanderredeten. Es war ein königliches Willkommen[1].

Als Maria Montessori gegen Ende des Jahres 1913 in Amerika ankam, war sie auf der Höhe ihres Ruhms – ja, sie war eine der berühmtesten Frauen der Welt. Die Zeitungen, darunter auch die erlauchte New York Times, widmeten den Interviews mit ihr ganze Seiten, und im redaktionellen Teil und in den Leserbriefspalten aller größeren Zeitungen tobte der Kampf der Meinungen über ihre Ideen. Die New York Tribune nannte sie die interessanteste Frau Europas. Der Brooklyn Daily Eagle bezeichnete sie als »eine Frau, die das Erziehungssystem der ganzen Welt revolutioniert hat …, die Frau, die Idioten und Irre lesen und schreiben gelehrt hatte – deren Erfolg so großartig war, daß sich die Montessori-Methode von einer Nation zur anderen bis nach Korea im Osten, bis nach Honolulu im Westen und im Süden bis in die Republik Argentinien verbreitet hat«. Selbst die konservative New York Sun nahm in Schlagzeilen von ihrer Ankunft Notiz, berichtete auch von der Tatsache, daß sie »einen neuen ›Schlachtplan‹ mitgebracht« habe.

Eine wißbegierige Öffentlichkeit wartete in Amerika auf Maria Montessori.

Zugleich mit der ersten Nachricht von ihrer Ankunft berichtete man auf der ersten Seite über die Taten von Pancho Villa in Mexiko, die Verhaftung der kämpferischen Suffragette Mrs. Pankhurst in England, über die Weigerung Präsident Wilsons in Washington, eine öffentliche Erklärung zum Frauenstimmrecht abzugeben und darüber, daß man in Italien die gestohlene »Mona Lisa« von Leonardo da Vinci wiedergefunden hatte. Für viele – sie wußten es nur nicht – war es das letzte gute Jahr, das Jahr vor dem ersten der Weltkriege, die Europa verwüsten und die Welt für immer verändern sollten. Frauen bewegten sich immer noch trippelnd in langen Röcken, der Bau des Panamakanals war im Gang, und in den Stellenanzeigen wurden Kammerdiener und Zofen gesucht. Nie zuvor hatten so viele Amerikaner ein bequemes Leben geführt, und wenn es auch noch nie dagewesene Mengen armer Einwanderer gab, so waren Privilegien doch auch noch begleitet von noblesse oblige. Die Angehörigen der Mittelschicht und die Reichen beschäftigten sich mit Erziehungsfragen – um das Leben ihrer eigenen Kinder reicher zu gestalten und um zur Zivilisierung und Amerikanisierung der neu angekommenen städtischen Massen beizutragen. Es schien, als brächte die Wunder wirkende Doktorin aus Italien eine Lösung für beide Probleme mit. Überall, wohin sie auch kam, wurde sie als Prophetin der Pädagogik und als Antriebskraft für tiefgreifende soziale Reformen begrüßt, und als ihr Schiff am Weihnachtsabend wieder zur Heimfahrt auslief, konnte man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, die amerikanischen Schulen würden von nun an nie mehr die gleichen sein wie vorher – zumindest aber, daß Maria Montessori auf die amerikanische Erziehung eine bleibende Wirkung ausüben würde.

Die Geschichte hat ihre eigene Art, Hoffnungen zu enttäuschen. Nach fünf Jahren hatte die amerikanische Öffentlichkeit Maria Montessori fast völlig vergessen. Zehn Jahre später kannte kaum jemand außer einigen Professoren der Pädagogik noch ihren Namen.

Und, während viele ihrer Ideen in England, in Europa und in Asien Wurzeln schlugen, wurden sie zum Heiligtum einer Bewegung, die immer mehr den Charakter eines besonderen Kults annahm, anstatt in die Hauptströmungen der pädagogischen Praxis und Theorie einzufließen. Maria Montessori arbeitete unermüdlich weiter, reiste durch ganz Europa und Asien, hielt Vorträge und schrieb, gründete Schulen und lehrte – bis sie im Alter von fast zweiundachtzig Jahren in Holland starb. Sie war eine grande dame geworden, ein Symbol für ihre ergebenen Anhänger, in der übrigen Welt nur wenig bekannt; man sah sie nicht mehr als einflußreiche Gestalt in der zeitgenössischen Pädagogik an, sondern nur noch als historisches Überbleibsel vergangener Zeiten. Als sie 1952 starb, wußten viele Leser ihrer Nachrufe entweder nicht mehr, wer sie war, oder sie waren überrascht, daß sie in den Nachkriegsjahren immer noch gelebt hatte und tätig gewesen war. Sie schien einer anderen Zeit anzugehören.

Ein Jahrzehnt nach ihrem ersten triumphalen Besuch in den Vereinigten Staaten, als das Pendel der Schulreform wieder zu ihrer Ansicht von der Natur und den Zielen des Erziehungsvorgangs zurückgekehrt war, wurde Maria Montessori wiederentdeckt.

Mit größerem zeitlichen Abstand wird immer klarer, wie genial sie war: ein echtes Original der pädagogischen Theorie und Praxis.

Teil I Die frühen Kämpfe

1. Die politische Lage Italiens vor der Jahrhundertwende: Kindheit und Jugend Maria Montessoris

Mehr als hundert Jahre bevor Italien 1870 eine geeinte Nation wurde, war es ein rückständiger Winkel Westeuropas gewesen. Die meisten Untertanen der verschiedenen Königreiche, Fürstentümer und Herzogtümer der Halbinsel, vor allem im bäuerlichen Süden, lebten in bitterer Armut, und nur in Portugal gab es noch mehr Analphabeten. Was sich an Neuem im Denken und in der Politik Europas entwickelte, kam gewöhnlich erst ein paar Jahre später und entstellt nach Italien, und die besten Neuerungen konnten oft nicht Wurzeln schlagen. Sozialreformen, die in anderen Ländern durchgeführt wurden, versuchte man in Italien erst gar nicht, wenn Berichte darüber überhaupt bis dorthin vordrangen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts beherrschten die Franzosen die Halbinsel, nach 1848 die Österreicher. Eine politische Bürokratie, die ständig über ihre eigenen Füße stolperte, machte jeden Fortschritt unmöglich. Es gab keine Bürgerrechte, keine freie Presse, das Schulsystem war hundert Jahre hinter der Zeit zurück; nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung ging überhaupt zur Schule; die Bauern waren abergläubisch und halb verhungert – dies alles erschien im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie ein Anachronismus, Intellektuelle wie Unternehmer wollten Italien in die moderne Welt einbeziehen, aber um das zu tun, mußte man zuerst die fremden Machthaber vertreiben und den Einfluß der katholischen Kirche beschneiden.

Wenn die Ursache der wirtschaftlichen und sozialen Rückständigkeit Italiens darin zu suchen war, daß es ein geteiltes, fremden Mächten unterworfenes Land war, konnte eine Reform nur dann durchgeführt werden, wenn Piemont und die Toscana, Parma und die Romagna, Umbrien und die Marken und beide Sizilien und all die anderen Teilstaaten sich vereinigten, um unabhängig zu werden und sich zu einer Nation zusammenzuschließen.

Die liberale Bewegung des Risorgimento brachte das erwachende Nationalbewußtsein der Italiener zum Ausdruck und rief nach Freiheit und Einheit. Es begann in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit den Ideen Mazzinis und den Waffen Garibaldis.

In den sechziger Jahren gelang es dem König von Sardinien, Vittorio Emanuele, und seinem Minister, dem Grafen Cavour, die Österreicher aus dem Land zu vertreiben; mit der Annexion des letzten päpstlichen Staates vereinten sie 1870 die ganze Halbinsel. Italien war eine territoriale Einheit, aber eine Nation mußte es erst noch werden.

Die Vereinigung hatte zwar die politische Ordnung verändert, jedoch die Sozialstruktur war nicht von Grund auf verändert: Nur eine winzige Minderheit – weniger als fünf Prozent der männlichen Bevölkerung – hatte das Wahlrecht; die ortsansässige Bürokratie wurde durch einen neuen Überbau von zentralstaatlichen Vorschriften nur verstärkt, und eine vorwiegend konservative Monarchie war an der Macht.

Die Bürger des neuen Landes waren noch immer zutiefst uneins. Reiche und Gebildete genossen Macht und Vorrechte, während die Arbeiter und die riesige Bauernschaft im gleichen Elend lebten wie bisher. Die Vereinigung hatte weder politische Demokratie noch soziale Revolution mit sich gebracht. Tatsächlich war das Problem der Gleichheit nie erwogen worden. Die unterschiedlichen Klassen waren starr geschichtet, und es gab scharfe Abgrenzungen zwischen Nord und Süd, städtischen Geschäftsleuten und ländlichen Gutsbesitzern, Monarchisten und Republikanern, den Befürwortern eines losen Staatenbundes und denen, die eine starke Zentralregierung wünschten – und außerdem bestand ein ständiger Konflikt zwischen Kirche und Staat, zwischen Katholiken und atheistischen Liberalen darüber, wer über die Jugenderziehung und folglich über den Geist der Jugend bestimmen sollte.

Das Papsttum rächte sich an der weltlichen Macht, die seine Ländereien annektiert hatte, dadurch, daß es den Gläubigen verbot, bei den Nationalwahlen zu wählen, und ein großer Teil der Bevölkerung nahm an der Politik auf nationaler Ebene bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht teil.

Mitte der siebziger Jahre ging die Regierungsgewalt von den Rechten an die Linken über, und aus einer neuen Zusammenarbeit von Liberalen und Konservativen ging ein als trasformismo bekanntes gemäßigtes Programm hervor, das grundlegende Reformen wie eine Erweiterung des Wahlrechts, die Herstellung der bürgerlichen Freiheiten, mehr Steuergerechtigkeit und die Unterstützung des öffentlichen Schulsystems zum Ziel hatte.

 

Selbst gemäßigte Reformer erkannten, daß der Schlüssel zu wirksamen Veränderungen im Erziehungswesen lag. Als Premierminister begann Cavour Schulen zu bauen, die unter staatlicher Aufsicht stehen und der kirchlichen entzogen sein sollten; die Kirche unterhielt jedoch weiterhin ihr eigenes, parallel laufendes Schulsystem. Die allgemeine Schulpflicht auf der Grundstufe – bis zum Alter von zehn Jahren – hatte man schon seit 1859 einführen wollen, aber man hatte die Durchführung nicht mit Nachdruck betrieben. 1860 konnten drei Viertel der Einwohner über zehn Jahre weder lesen noch schreiben; im Süden war der Analphabetismus am höchsten; wenn Eltern dort befanden, sie bräuchten ihre Kinder für die Feldarbeit, konnte und wollte niemand verlangen, sie sollten sie statt dessen zur Schule schicken. Textilfabriken konnten schon Neunjährige beschäftigen, und viele Eltern, deren bittere Armut das Essen wichtiger erscheinen ließ als Lesen und Schreiben, schickten ihre Kinder zur Arbeit.

1877 wurde ein neues Gesetz erlassen, um in allen achttausend Kommunen des italienischen Königreiches die Elementarschulpflicht für Jungen und Mädchen einzuführen, aber auch dieses wurde nur selten durchgesetzt.

Das neue öffentliche Schulsystem bestand aus vier Grundschuljahren, auf die vom Alter von zehn Jahren an die Sekundarschule folgte, von der es zwei Züge gab. Die klassische Form waren fünf Jahre ginnasio (Gymnasium, Unterstufe), auf die drei Jahre liceo (Oberstufe) folgten; dann war man auf den Eintritt in die Universität vorbereitet. Die Alternative war eine siebenjährige naturwissenschaftlich-technische Ausbildung, im Gegensatz zur klassischen höheren Schule »modern«.

Die Mädchenerziehung war herkömmlicherweise eine private Angelegenheit gewesen; sie lag in den Händen der Familie und der Kirche. Nun wurden öffentliche Mädchenschulen gegründet, zur gleichen Zeit auch Lehrerseminare für die Ausbildung weltlicher Lehrer für das neue öffentliche Unterrichtssystem. Auf die öffentlichen Schulen gingen jedoch weiterhin vorwiegend Jungen, während in den katholischen Privatschulen die Mädchen überwogen.

Gegen Ende des Jahrhunderts folgte auf die großen Hoffnungen der siebziger und achtziger Jahre allmählich Enttäuschung. Die Masse der Bevölkerung bestand weiterhin aus mittellosen Analphabeten. Arbeiter hatten bei der Landarbeit und in den Bergwerken durchschnittlich einen Zwölfstundentag, und in beiden Bereichen war Kinderarbeit allgemein üblich.

Die Regierung des Staatenbundes schränkte wiederholt die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit ein; Streiks waren verboten und in der Verwaltung blühte die Korruption. Die Begeisterung von 1870 wurde durch eine schleichende Apathie gelähmt, einen schwindenden Glauben an die Möglichkeit wirklicher Reformen angesichts der erstickenden Vorschriften einer starren Bürokratie und angesichts der Gleichgültigkeit auf seiten der reichen und mächtigen Schichten gegenüber der Erziehung der Armen. Sowohl die früheren Hoffnungen der Reformer als auch ihre spätere Enttäuschung hatten ihre Wirkung auf die Erziehung Maria Montessoris als Frau und auf ihre Laufbahn als Sozialreformerin.

 

Maria Montessori kam am 31. August 1870 in Chiaravalle in der Provinz Ancona zur Welt, im gleichen Jahr, in dem die neue Nation entstand. In der Hafenstadt Ancona holten die Frauen immer noch das Wasser in Krügen von der alten Quelle auf dem Hügel, von dem man auf die Adria sieht. Unterhalb lag die moderne Stadt, laut und überfüllt, mit ihren Werften und Lagerschuppen und ihren weit ausgebreiteten Mietshäusern. Hier sah man die zwei Welten Italiens, die alte und die neue. Maria Montessori gehörte beiden an; durch die Vergangenheit erzogen, stellte sie sich selbst die Aufgabe, zur Gestaltung der Zukunft beizutragen.

Der Geist des Risorgimento und der Geist der Oberschicht in den Jahren nach der Vereinigung war im wesentlichen antiklerikal und stark für die Naturwissenschaften engagiert. Der Geist der Aufklärung war wie alles andere erst spät nach Italien gekommen. Die Stimmung und Wirklichkeit des neugeeinten Italien während der Kindheit Maria Montessoris war zwar zunächst getragen von einem Impuls nachrevolutionären Optimismus und einer neuen Hoffnung für die Unterdrückten – die Armen und die Frauen. Allerdings zeichnete sich – ebenfalls als Wirklichkeit – ab, daß die Arbeits- und Lebensbedingungen der Landarbeiter im Süden ebenso wie die der neuen Schicht des städtischen Industrieproletariats, der Menschen, die vom Land in die Städte strömten, noch immer bodenlos waren. Das erwachende Bewußtsein der Arbeiterklasse stieß bei einigen auf Sympathie, aber die meisten Angehörigen der Mittel- und Oberschicht sahen es als eine Bedrohung des sozialen Gefüges an.

Als junges Mädchen konnte Maria Montessori die Regeln der Welt, in der sie sich bewegte, so weit umgehen, daß sich für sie selbst einiges veränderte. Sie begann damit, die herkömmlichen Schranken zwischen Jungen und Mädchen in der Schulerziehung niederzureißen, genauso, wie sie später die Schranken zwischen Lehrer und Schüler niederriß und dabei die Rolle beider neu definierte. Sie gestaltete ihre Laufbahn und ihre eigene Schulbildung durch ihre Einstellung: Veränderung sei möglich, und mit der Überzeugung, sie könne sie bewirken. Diese allgemeine Einstellung und diese persönliche Überzeugung setzte sie auch gegenüber den sozialen Problemen ein, mit denen sie sich allenthalben konfrontiert sah.

Alessandro Montessori, Marias Vater, war ein altmodischer Herr mit konservativem Naturell und militärischen Gewohnheiten. Als junger Mann war er Soldat gewesen, später wurde er Beamter. Er gehörte einer Generation an, die die Schaffung des neuen Italien begrüßte, sich aber durch viele der mit ihr verbundenen Veränderungen beunruhigt fühlte. Er trug seine Auszeichnungen einschließlich der eines Cavaliere mit Stolz; ebenso stolz war er auf seine hübsche Frau und ihre beachtenswerte Herkunft.

Er war im August 1832 in Ferrara als Sohn des Nicola Montessori zur Welt gekommen; dieser stammte aus Bologna, wo er vermutlich als mittlerer Angestellter in einer Tabakhandlung gearbeitet hatte. Alessandro studierte Rhetorik und Arithmetik, hatte eine schöne Handschrift und sprach nur Italienisch.[2]

In der Hitze der Revolution, die Europa 1848 durchglühte, schlossen Italiener aus den verschiedenen Königreichen und Fürstentümern, aus denen das noch ungeeinte Land bestand, ihre Kräfte in einem vergeblichen Versuch zusammen, das Land von der Herrschaft Österreichs zu befreien. An einer der frühen Befreiungsschlachten nahm der junge Alessandro Montessori teil und erhielt 1849 eine Kriegsauszeichnung. Im Jahr darauf trat er als Buchhalter in die Finanzabteilung des päpstlichen Staates ein; diese Stellung kündigte er 1853. Während der nächsten fünf Jahre war er bei den Salinen von Comacchio und Cervia angestellt, danach als Inspektor bei der Salz- und Tabakindustrie von Bologna und Faenza. 1859 wurde er Inspektor des Finanzministeriums; 1863 wurde er zum Bücherrevisor in den Abteilungen für Salz- und Tabakmanufaktur des Finanzministeriums. 1865 schickte man ihn nach Chiaravalle, einem Städtchen im fruchtbaren Tal des Flusses Esino, wo Tabak angebaut und verarbeitet wurde. In der Umgebung gab es außerdem Getreide, Wein und Oliven. Durch kleine Glas-, Keramik- und Lederwarenfabriken in der Stadt selbst kamen zu den Gutsbesitzern und Bauern Handwerker und Kleinindustrielle hinzu. Chiaravalle war eine typische Provinzstadt in einem Ackerbaugebiet, wahrscheinlich eine erdrückende Atmosphäre für jemanden mit unkonventionellen Interessen oder Bestrebungen.

Als Alessandro Montessori dorthin kam, war er 35 Jahre alt, ein erfolgreicher Staatsbeamter, der mit der finanziellen Verwaltung der vom Staat betriebenen Tabakindustrie zu tun hatte. Ungeachtet etwaiger revolutionärer Träume oder Erinnerungen war er zu einem achtbaren Mitglied der bürgerlichen Beamtenschaft geworden.

Zu dieser Zeit lernte er Renilde Stoppani kennen, die acht Jahre jüngere Tochter aus einer Gutsbesitzerfamilie. Für die damalige Zeit war sie ungewöhnlich gebildet; in einer Stadt, in der man stolz darauf sein konnte, seinen Namen schreiben zu können, war sie ein Mädchen, das Bücher verschlang! Sie war auch feurige Patriotin, den Idealen der Befreiung und der Einheit Italiens ergeben, und in Alessandro begegnete sie einem Mann, der im Gegensatz zu vielen katholischen Provinzlern ihre Ideale teilte.

Sie heirateten im Frühling 1866, und im folgenden Jahr führte seine Arbeit sie nach Venedig. 1869 kehrten sie nach Chiaravalle zurück, und im Jahr darauf wurde Maria geboren. Ein Finanzbeamter von Alessandros Rang führte ein unstetes Leben, da die Regierung ihn von Fabrik zu Fabrik in die verschiedensten Gegenden schickte, und als Maria drei Jahre alt war, zogen die Montessoris nach Florenz.

Sie waren ein anziehendes Paar: er mit lockigem, dunklem Haar und einem dunklen Schnauzbart, sie rundlich, wie es Mode war, dunkeläugig und mit sanften Zügen. Wenn sie in der Stadt spazierengingen, Alessandro in einem Straßenanzug, geschmückt mit einer baumelnden Uhrkette, und Renilde in wohlanständigem Schwarz, den Spitzenkragen mit einem kleinen goldenen Kreuz verziert und eine Rose in den auf dem Kopf hoch aufgetürmten Locken, erschienen sie wie ein Bild der Achtbarkeit und Prosperität.

1875, als Maria fünf Jahre alt war, wurde Alessandro wieder versetzt, diesmal als Revisor erster Klasse nach Rom. Es war der letzte Umzug. Die Montessoris blieben in Rom, Alessandro wurde weiterhin befördert und schließlich 1880 – als Maria zehn Jahre alt war – mit dem Titel eines Cavaliere des Ordens der italienischen Krone für seine langen Jahre treuer Dienste belohnt, und 1890, ein Jahr vor seiner Pensionierung, bekam er den Orden von St. Maurizio e Lazzaro. Im späten 19. Jahrhundert verlieh die Regierung den Titel cavaliere – ursprünglich dem Adelstitel des Ritters entsprechend – an Geschäftsleute wie an Politiker für viele Arten kleiner Dienste. Ein Premierminister sagte einmal: »Italien wird durch Auszeichnungen regiert«, und Viktor Emanuel II, pflegte zu sagen: »Das Kreuz eines Cavaliere oder eine Zigarre sind Dinge, die man niemandem abschlagen kann.«[3] Das Recht, diesen Titel zu führen, bedeutete eine gewisse gesellschaftliche Auszeichnung; zumindest hob es einen von der großen Masse ab.

Anfangs fiel es Alessandro Montessori nicht immer leicht, das Tempo zu akzeptieren, mit dem sich seine Welt veränderte, oder sich ihm anzupassen. Seine Frau war jedoch empfänglicher für die Aussicht auf Veränderungen; sie war ihr sogar willkommen, besonders für ihr einziges Kind.

Renilde Stoppani war eine Nichte von Antonio Stoppani, einem hervorragenden Gelehrten und Priester, dem die Universität von Mailand nach seinem Tod im Jahre 1891 ein Denkmal setzte. Er war Professor der Geologie, nicht nur als Naturforscher bekannt, sondern auch als liberaler Kleriker, der eine Wiederannäherung von Kirche und Staat unter dem neuen Regime befürwortete, das so viele orthodoxe Angehörige der katholischen Hierarchie in den zwei Jahrzehnten nach der Vereinigung mit bitterer Opposition bekämpften.

Stoppani war sowohl Autor zahlreicher wissenschaftlicher Werke als auch Dichter; er hatte eine liberale Zeitschrift gegründet, in der er versuchte, den Geist der Naturwissenschaften mit dem Geist der Religion in Einklang zu bringen. Il dogma e le scienze positive wurde veröffentlicht, als seine Großnichte Maria sechzehn Jahre alt war. Ein Dutzend Jahre später sprach sie sich dafür aus, diesen gleichen wissenschaftlichen Positivismus auf soziale Probleme in Italien abzuwenden.

Die Ansichten und Leistungen Stoppanis hatte Maria als Erbe ihrer Mutter übernommen. Ein weiteres Vermächtnis war eine Kindheit, die sie stark und selbstsicher genug machte, um ihr Leben nach einem solchen Vorbild zu gestalten und nicht nach der traditionellen Frauenrolle.

Über Maria Montessoris Kindheit ist nur wenig bekannt. Die meisten Aufzeichnungen sind anekdotischer Art, Geschichten, die ergebene Anhänger nach Jahren wiedererzählt haben, wenn sie sich an Ereignisse erinnerten, die sie ihnen beschrieben hatte. Nachdem die Montessori berühmt geworden war, sind die Erinnerungen allmählich verklärt worden, und so entstand – bewußt oder unbewußt – eine Legende, die ihre Wirkung, wie alle Geschichten aus der Kindheit eines Helden, aus der geschichtlichen Ironie bezieht: Was uns aus der Vergangenheit erzählt wird, bekommt seine Bedeutung nur angesichts dessen, was wir über den späteren Verlauf des Lebens bereits wissen.

Ihre lebenslangen Mitarbeiterinnen Anna Maccheroni und E.M. Standing[4] haben über ihre Kindheit in Memoiren berichtet, die viele Widersprüche, Auslassungen und irrtümliche Daten enthalten. Dennoch entsteht ein Porträt – eine Skizze, keine Fotografie, aber doch ein Individuum, das man wiedererkennen kann.

Renilde Montessori glaubte an Gott, trotz all ihrer liberalen Ideen. Man konnte antiklerikal und doch religiös sein. Sie glaubte auch, Kindern tue eine strenge Zucht not. Einmal, als die Familie von einem Ferienmonat in einen Haushalt zurückkehrte, der erst wieder in Ordnung gebracht werden mußte, klagte die kleine Maria, sie habe Hunger, und verlangte etwas zu essen. Renilde sagte, sie müsse eine Weile warten, aber Maria bestand darauf, sie müsse sofort etwas zu essen haben. Renilde fand ein vier Wochen altes Stück Brot im Schrank und sagte: »Wenn du nicht warten kannst, nimm dies.« Verwöhnung hatte keinen Platz in Marias Erziehung.

Man erwartete von ihr, daß sie weniger gutgestellten Nachbarn helfen solle, und sie mußte jeden Tag ein bestimmtes Pensum für die Armen stricken. Sie nahm sich eines buckligen Mädchens in der Nachbarschaft an und ging oft mit ihm spazieren, bis Renilde sich überlegte, der auffallende Gegensatz zwischen den beiden Mädchen könnte diese Ausflüge in die Öffentlichkeit für Marias Gefährtin eher unangenehm als vergnüglich machen, und es wäre vielleicht besser, sich andere Möglichkeiten der Hilfeleistung auszudenken.

Die kleine Maria verordnete sich selbst, immer eine bestimmte Zahl von Fliesen zu schrubben, wenn der Fußboden gereinigt werden mußte; es scheint, als habe sie daran Freude gehabt, und es erinnert auffallend an das, was später in der Montessori-Schule als »Übungen des praktischen Lebens« bekannt wurde.

In einer anderen Kindheitserinnerung geht es um Marias Rolle als Friedensstifterin zwischen ihren Eltern. Sie hörte sie streiten, zog sich einen Stuhl zu der Stelle, wo sie standen, kletterte hinauf, nahm die Hände beider und legte sie mit ihren Händen zusammen, und soll so die Familie versöhnt haben.

Die Montessoris zogen nicht, wie Standing später schrieb, nach Rom, als Maria zwölf Jahre alt war, »um ihrem einzigen Kinde eine bessere Schulbildung zu verschaffen, als sie in Ancona möglich war«[5], sondern weil Alessandro Montessori nach Rom versetzt wurde. Sie war damals in Wirklichkeit – wie gesagt – fünf. Selbst heute wäre es ungewöhnlich, wollte eine Familie in eine andere Stadt ziehen, nur damit ein fünfjähriges Mädchen eine bessere Erziehung bekommt. In der damaligen Gesellschaft wäre es einem Mann von Cavaliere Montessoris Temperament und Ansichten völlig absurd erschienen. Viel wahrscheinlicher ist, daß den Eltern eine Versetzung aus der Provinz in eine anspruchsvollere Umgebung willkommen war, ja, vielleicht haben sie sie sogar angestrebt. Gewiß hätte Renilde Montessori nicht übersehen, welche Vorteile Rom ihrer einzigen Tochter zu bieten hatte.

Zu der Zeit, als Rom 1870 durch Volksentscheid mit dem übrigen Italien vereinigt wurde, war es eine isolierte Stadt, eine urbane Insel im Meer der unberührten Landschaft, die man die römische Campagna nennt – mehr als 2000 Quadratkilometer unbestellten Weidelandes. Schafe und Rinder grasten noch im unbebauten weiten Hügelland, und die Malariasümpfe waren noch nicht trockengelegt. Im nächsten Jahrzehnt traten dramatische Entwicklungen ein. Als die Montessoris 1875 nach Rom kamen, waren sie Teil einer wachsenden städtischen Mittelschicht aus Adeligen und Landbesitzern, von denen viele Geld und Besitz verloren hatten und in die Städte gekommen waren, um zu heiraten und sich niederzulassen, während zugleich Bauern in die Städte drängten, auf der Suche nach etwas Besserem als der nackten Existenz, die ihnen das ausgelaugte Land gerade noch ermöglichte.

In der Stadt hat man schon immer etwas lernen können, und wenn die Montessoris auch nicht in erster Linie um ihrer kleinen Tochter willen nach Rom zogen, so ist doch nicht zu leugnen, daß sie davon Vorteile hatte. Maria sollte in der Hauptstadt aufwachsen, einem Kulturzentrum mit Universität, Bibliotheken, Museen – Einrichtungen, die in Ancona nicht bestanden. Außerdem gab es die geistig lebendige Atmosphäre, die in Theater, Oper und Cafés ihren Ausdruck fand, wo Intellektuelle, Journalisten und Künstler zusammenkamen. Es gab die verschiedensten Zeitungen und man konnte alle Arten von Menschen kennenlernen.

Wie die meisten römischen Familien bezogen die Montessoris eine Wohnung statt eines eigenen Hauses; das war ein weiterer Umstand, der für ein Kind freiere Kontakte mit anderen Menschen, den Nachbarfamilien und ihren Kindern, mit sich brachte. Mit sechs Jahren wurde Maria in der ersten Klasse der öffentlichen Schule an der Via di San Nicolo da Tolentino angemeldet. Sie hatte in Rom zwar sicher bessere Lehrer, anregendere Schulkameraden und ein moderneres Schulgebäude als in der Provinz, aber das gesamte Erziehungssystem des Landes, auch das der Hauptstadt, ließ trotzdem viel zu wünschen übrig.

Um die Jahrhundertwende konnte ein englischer Historiker über das moderne Italien schreiben: »Das Erziehungswesen ist das finsterste Kapitel in der italienischen Sozialgeschichte.«[6] Das neue Königreich hatte sich mit Eifer und guten Absichten an die Aufgabe gemacht, das rückständige Schulsystem zu reformieren, aber es unterlag einem System, in dem »Gesetze und Verordnungen und ministerielle Rundschreiben aufeinanderprallen und mit ihren ungeordneten Widersprüchen alle Stabilität erschüttern«.[7] Zwischen 1860 und 1900 gab es dreiunddreißig Unterrichtsminister, von denen jeder seine eigene Politik vertrat und keiner genug staatliche Mittel zur Verfügung hatte, um etwas erreichen zu können. Was sie hervorbrachten, war eine Unzahl von Gesetzen, Vorschriften und Rundschreiben, von denen viele einander widersprachen.

In Maria Montessoris Kindheit war die Grundschulerziehung eine lokale Angelegenheit, die in den Händen der Gemeinden lag. Die meisten Verwaltungsbeamten der Provinz waren Männer, deren Bildungsstand nur in einer Gemeinde Eindruck machen konnte, wo die Hälfte der Einwohner weder lesen noch schreiben konnte, und die für die offiziellen schulischen Entscheidungen Verantwortlichen hatten gewöhnlich keine Ahnung von Bildung, da sie selber wenig oder gar nichts davon genossen hatten – ihre Unwissenheit fiel daher mit ihren Vorurteilen zusammen. Sie brachten ihre Schulen in Stallgebäuden unter, und die Lehrer mußten monatelang auf ihr minimales Gehalt warten. Manche entließen ihre Lehrer lieber nach zwei Jahren, als ihnen die automatische Gehaltserhöhung zu gewähren, die das Gesetz vorsah. Oft stellten sie sie dann mit dem alten Gehalt wieder ein.

Die typische italienische Grundschule der damaligen Zeit war überfüllt und schmutzig; sie wurde von einem Schulmeister oder einer Schulmeisterin geführt, die etwa den Gegenwert von 500DM im Jahr verdienten – Frauen bekamen weniger als Männer. Die meisten Lehrer bemühten sich, aus dem Bauernstand herauszukommen und in der unteren Mittelschicht Fuß zu fassen. Sie wurden nicht nur elend bezahlt, sondern genossen auch in der Gemeinde wenig Achtung, die den Mangel an materieller Entschädigung hätte ausgleichen können. Oft mußten sie drei Jahrgänge von Mädchen und Jungen unterrichten, aber ihre eigenen Kenntnisse gingen selten weit über die Beherrschung von Lesen, Schreiben und Rechnen hinaus. Die am meisten angewandte Methode des Lernens war der Drill. Lehrer hatten vor allem dafür zu sorgen, daß die Schüler die erforderlichen Übungen machten; sie brachten ihnen weder Kenntnisse über die Ideen und Vorstellungen früherer Zeiten noch der zeitgenössischen Welt bei.

 

In den Schulen der kleineren Gemeinden, die nicht über das dritte Schuljahr hinausgingen, lernten die Kinder, die oft nur ihren heimischen Dialekt sprachen, Italienisch, die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens, einigermaßen rechnen und einige oberflächliche naturwissenschaftliche Fakten. In größeren Städten wie Rom, wo Maria in die weiterführende Schule ging, lernte man ein wenig Geschichte und Erdkunde, ein bißchen mehr elementare Naturwissenschaften und etwas Geometrie. Vom dritten Schuljahr ab wurden Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet.

Selten gab es genug Bücher, oft nicht einmal eine Landkarte von Italien, häufig weder Tinte noch Federn oder anderes Lehrmaterial. Religionsunterricht war nicht gesetzlich vorgeschrieben, wurde aber oft vom Pfarrer erteilt, besonders in den kleinen Orten, wo die Eltern ihn meist verlangten.

Selbst in den Schulen einer Stadt wie Rom war das System nicht dazu angetan, den Verstand der Kinder zu entfalten oder ihre Phantasie anzuregen.

Maria war kein frühreifes Kind. Nach Aussagen ihres Enkels wurde sie als ein liebes, nicht besonders aufgewecktes kleines Mädchen angesehen, und so schätzte sie sich auch selber ein. Ihre Mutter sah besondere Fähigkeiten in ihr, aber in ihren ersten Schuljahren tat sie sich nicht hervor. Im ersten Schuljahr bekam sie ihre erste Auszeichnung, ein Zeugnis für gutes Betragen, und im zweiten Schuljahr wurde sie wieder belohnt, diesmal für lavori donneschi [«weibliche Arbeiten«], womit Nähen und andere Handarbeiten gemeint waren. In akademischen Fächern scheint sie nicht ehrgeizig gewesen zu sein. Als sie eine Klassenkameradin weinen sah, weil sie nicht versetzt worden war, konnte Maria deren Gefühle nicht verstehen. Sie sagte zu der anderen, ihr sei ein Klassenzimmer so lieb wie das andere.

Eine Zeitlang wollte sie, wie viele kleine Mädchen, Schauspielerin werden. Nie dachte sie an eine akademische Laufbahn. Aber als sie merkte, daß sie leicht lernte und ihre Prüfungen gut bestand, kam sie zu dem Schluß, es »wäre Unsinn, es nicht zu tun«. Sie begann darauf mit solcher Zielstrebigkeit zu lernen, daß sie einmal, als sie mit ins Theater gehen durfte, ihr Mathematikbuch mitnahm und während der Vorstellung im Halbdunkel weiterstudierte.[8]

Zu ihrer Persönlichkeit gehörte schon früh eine gewisse Autorität. In Spielen mit anderen Kindern gab sie gewöhnlich den Ton an. Ihre Spielgefährten wehrten sich manchmal gegen die verächtliche Art, in der sie mit ihnen umgehen konnte. Sie hatte eine willensstarke, manchmal vorlaute Ausdrucksweise. Wenn sie andere ablehnte, entließ sie sie mit Worten wie: »Du! – du bist noch nicht einmal geboren« oder »Bitte erinnere mich daran, daß ich beschlossen habe, nie wieder mit dir zu reden!« Auch Erwachsenen gegenüber behauptete sie sich. Als eine Lehrerin etwas gegen den Ausdruck in »diesen Augen« einzuwenden hatte, reagierte Maria damit, daß sie in Gegenwart dieser Lehrerin nie wieder den Blick hob.

Bei einem Rückblick auf ihre Schulzeit erinnerte sich Maria Montessori an eine Lehrerin, die ihre Schülerinnen die Lebensgeschichten bedeutender Frauen der Vergangenheit auswendig lernen ließ und sie aufforderte, ihren Spuren zu folgen und selber eines Tages berühmt zu werden. Die kleine Maria hatte auf diese Ermahnung geantwortet, ihr täten die zukünftigen Kinder zu leid, als daß sie der Reihe der Biographien noch eine hinzufügen möchte.

Eine der Geschichten aus Marias Kindheit erzählte Anna Maccheroni, als sie selber schon sehr alt war: Als die zehnjährige Maria eines Tages schwer krank war, habe sie zu ihrer besorgten Mutter gesagt: »Mach dir keine Sorgen, Mutter, ich kann nicht sterben, ich hab’ noch zuviel zu tun.«

Diese Geschehnisse mögen sich so ereignet haben, wie Maria Montessori sich an sie erinnerte und wie ihre ergebenen Anhänger sie wiedererzählt haben – oder auch nicht. Aber sie teilen uns zumindest mit, wie sie sich als Kind selbst einschätzte und wahrscheinlich auch etwas darüber, wie sie auf andere wirkte. Das Mädchen, das durch diese Geschichten hindurchschimmert, ist selbstsicher, willensstark, ein wenig selbstgefällig. Sie hat jenes Pflichtgefühl, das manchmal zur Intoleranz gegenüber anderen führt. Kurzum, sie war die geborene Sozialreformerin und gewiß eine auffallende Einzelgängerin dort und damals.

Mit unbezähmbarer Begeisterung, die wahrscheinlich mehr auf die Anregung und Ermutigung durch die Mutter zurückging als auf irgend etwas, das sich in der Schule abspielte, las die kleine Maria Bücher, stellte Fragen und dachte an eine Fortsetzung ihrer Ausbildung. Mittlerweile hatte sie – möglicherweise durch den Beruf ihres Vaters beeinflußt – ein leidenschaftliches Interesse für Mathematik entwickelt; außerdem hatte sie sich eigene Gedanken über ihre Zukunft gemacht. Die meisten der relativ wenigen Mädchen, die damals im Rahmen des öffentlichen Schulsystems über die Grundschule hinausgingen, wählten das klassische Gymnasium. Maria beschloß mit zwölf Jahren, sie wolle eine technische Schule besuchen, und wie gewöhnlich setzte sie sich durch.

Diese Wahl erscheint seltsam und weckt eine Reihe von Fragen in bezug auf den Charakter dieser willensstarken Zwölfjährigen, wenn sich auch mehr Fragen erheben, als man mit einiger Zuverlässigkeit beantworten kann. Erfüllte sie die Wunschträume einer Mutter, die sich mit ihrem gelehrten Onkel identifizierte und das Gefühl hatte, ihr eigenes Leben sei unerfüllt? Lehnte sie sich gegen einen Vater auf, der versuchte, ihr allzu enge Bedingungen für die Erhaltung seiner Liebe und Zustimmung aufzuerlegen – sie solle nämlich eine musterhafte junge Dame ihrer Zeit sein und nicht ein »maskuliner« Erfolgsmensch? Ihre größte Stärke lag nicht darin, daß sie Kräfte und Fähigkeiten hatte, die bei weiblichen Wesen in ihrer Welt für gewöhnlich nicht gefördert wurden, sondern in ihrer Entschlossenheit, etwas aus ihnen zu machen, in einer Männerwelt ihren Weg zu gehen, unter Bedingungen, die damals ausschließlich auf Männer zugeschnitten waren. Als kleines Mädchen hatte sie die anderen gern herumkommandiert; jetzt war sie ehrgeizig geworden. Sie wußte, was sie gut konnte; Herausforderungen nahm sie gern an; sie schlug eher den schwierigeren Weg ein, als ihn zu meiden. Und sie wählte ihn zu ihrem eigenen Vergnügen – die Wahl gefiel gewiß keinem anderen Menschen, mit der einzigen und wichtigen Ausnahme ihrer Mutter.

Wir müssen hinzufügen, daß Maria zwar nicht in eine Welt hineingeboren worden war, die von ihr erwartete, sie solle sich durchsetzen, danach streben, eine Art Selbstverwirklichung zu finden, die für Frauen nicht vorgesehen war, daß es aber eine Welt war, in der dies nicht mehr unmöglich war.

Maria Montessori gehörte zu der ersten Generation, die in den Jahren nach der ›Vereinigung‹ aufwuchs. Sie war ein Kind, als die Hoffnungen des Risorgimento noch in Blüte standen, und ihr Charakter und ihre Lebensanschauung wurden schon geformt, ehe die Enttäuschung einsetzte. Ihr Selbstvertrauen, ihr Optimismus, ihr Interesse an Veränderungen und ihre Überzeugung von der Möglichkeit, sie zu bewirken, kamen sicher durch die Wechselwirkung ihrer robusten, aggressiven Anlagen und den Methoden der Kindererziehung zustande, die ihre Mutter praktizierte. Aber wenn ihr Grundgefühl in bezug auf das Leben durch jene früheste Beziehung bestimmt wurde, kann es durch das kulturelle Klima der Jahre nur verstärkt worden sein, in denen sie sich der Welt bewußt wurde, zur Schule ging, den Gesprächen der Erwachsenen lauschte und unter ihnen ihre Rollenvorbilder fand. Es war eine Zeit, in der die Leute gern den Staatsmann Massimo d’Azeglio zitierten: »Italien ist fertig; nun müssen wir die Italiener machen.« Ein Beobachter schrieb: »Unter der heutigen Generation von Italienern herrscht weithin die Überzeugung, sie alle hätten mehr oder weniger mit dabei Hand angelegt, ihr Land zu ›machen‹.«[9] Und ein amerikanischer Besucher stellte fest:

»… im neuen Italien ist man geradezu gierig auf Bildung«.[10] Das war in den Jahren nach der ›Vereinigung‹ die herrschende Stimmung im Lande, in den Jahren also, in denen Maria Montessori aufwuchs.

Mit dem allgemeinen Trend zur Liberalisierung sozialer Einrichtungen begann sich auch die Rolle der Frauen zu verändern. Ein Beobachter schrieb in den achtziger Jahren, als Maria Montessori ein Teenager war: »Die Praxis, zarte Mädchen im Kloster einzumauern, bis die Zeit kommt, sie einem Ehemann anzuvertrauen, den sie nie gesehen oder gehört haben, kommt rasch außer Gebrauch; und sehr verdienstvolle freie weltliche Institutionen für die Unterrichtung von Mädchen aller Schichten und Verhältnisse entstehen in fast allen bedeutenden Städten der Halbinsel.«

»… Dennoch herrscht fast überall noch die Meinung, das Haus der Mutter sei die beste Schule, in der ein Mädchen aufgezogen werden könne … ein Mädchen wird in Italien zu allgemein als das zerbrechlichste Stück Porzellan angesehen, das unter der leisesten Berührung einen Sprung bekommen könnte.«[11]

Bis weit in die neunziger Jahre hinein galt es nicht schicklich für eine Frau – selbst wenn sie verheiratet oder mittleren Alters war –, sich allein auf die Straße zu wagen, und junge Mädchen gingen niemals ohne Begleitung aus. Die legale Stellung der Frau war noch so primitiv, daß keine verheiratete Frau einen Scheck auf ihr eigenes Konto ausstellen konnte; alles Geld, das sie besitzen mochte, gehörte ihrem Mann. Sie konnte nur in seiner Gegenwart vor Gericht aussagen. Für die meisten Frauen der Mittelschicht war das Leben langweilig und leer. Eine Engländerin, die einen italienischen Adeligen geheiratet hatte und nun in einem Dorf an der Adriaküste lebte, unweit von Maria Montessoris Geburtsort, schrieb über die Bürgerfrauen in der italienischen Provinz: »Ein Lieblingsvergnügen bestand darin, eine Schachtel Zündhölzer nach der anderen anzuzünden; man gab zwar zu, daß es verschwenderisch sei, aber es ließ die Zeit vergehen.«[12]

Es war eine Kultur, in der Frauen Heilige sein durften, aber nicht Senatoren. Aber es gab in dem etwas nachgiebigerem Klima der Jahre nach der ›Vereinigung‹ einige Frauen, die die Schablone sprengten. Renilde Stoppani Montessori war eine Frau im Übergangsstadium. Ihr eigenes Leben war konventionell, aber sie ermutigte ihre Tochter, aus der stereotypen Rolle auszubrechen. Von dem wenigen, was wir von ihr wissen, bekommt man einen Eindruck von Stärke und Disziplin. Sie war keine Frau, die herumgesessen und Zündhölzer angezündet hätte, und als solche war sie für den konventionellen Cavaliere sicher eine Prüfung, wenn nicht gar eine Pein. Die von Maria Montessori Jahre später erzählte Geschichte, daß sie als kleines Kind auf einen Stuhl gestiegen sei, um die Hände ihrer Eltern ineinanderzulegen und den Frieden wiederherzustellen, als sie gestritten hatten, beweist die Tatsache, daß sie manchmal stritten. Man fragt sich, worüber? Über die Tochter? Es ist klar, daß die Eltern Montessori über das, was für ihre begabte, eigenwillige Tochter wünschenswert sei, nicht einer Meinung waren. Zwar blieb sie ihrem Vater nah bis zu seinem Tod, aber sie machte nie einen Hehl daraus, daß ihre Mutter sie in all ihren frühen Träumen und Bestrebungen ermutigt hatte, daß sie bis in die Nacht hinein mit ihr über ihre Arbeit und ihre Pläne gesprochen hatte, und wir können annehmen, daß sie an den Bemühungen und Erfolgen ihrer einzelgängerischen Tochter ihre Freude hatte, als seien es ihre eigenen.

Diese frühen Bemühungen – und besonders ihre Erfolge – müssen ihrem Vater unerhört vorgekommen sein. Ein römischer Beamter und Cavaliere im neunzehnten Jahrhundert wünschte – und erwartete – von seiner Tochter nichts anderes, als daß sie die gesellschaftlichen Fähigkeiten besitze, die die Allgemeinheit bewunderte. Intelligenz und Geist waren bewundernswerte Eigenschaften – am richtigen Platz. Und dieser Platz war in der Familie – zunächst in der des Vaters, dann in der des Ehemanns. Marias Interessen und Bestrebungen müssen ihn ebenso erschreckt haben, wie sie Renilde befriedigten.

Maria war beharrlich. Ihre Mutter fühlte mit ihr und war ebenso starrköpfig. Zusammen trugen sie den Sieg davon. Im Herbst 1883, als Maria gerade dreizehn geworden war, trat sie in die Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buonarroti ein.

Es war der nächste Schritt in eine Erziehungswelt, aus der sie sich nehmen sollte, was sie konnte, und gegen die sie sich später aus vielen Gründen auflehnen sollte.

Die technische Schule, in die Maria eintrat, war nicht befriedigender, als es ihr früherer Unterricht gewesen war. Wenn das italienische Grundschulsystem an einem Mangel einfallsreicher Methoden oder kompetenter Führung litt, die beide darauf zurückzuführen waren, daß die Schulen den Gemeindebehörden unterstanden, so litten das Sekundarschulsystem und die übrigen höheren Bildungsanstalten, die von der Landesregierung betrieben wurden, unter dieser entgegengesetzten Situation ebensosehr; sie waren übermäßig zentralisiert.

Nach der ›Vereinigung‹ hatte die italienische Regierung das französische System der politischen Verwaltung übernommen und die einzelnen Verwaltungsbereiche einer hochzentralisierten Regierung unterstellt. Die Sekundarschulen und Universitäten wurden, wie alles andere, was die Regierung verwaltete, durch eine allgegenwärtige und kopflastige Bürokratie und den unausrottbaren Amtsschimmel fast völlig stranguliert.

In den Sekundarschulen hatten damals die Vorschriften unumschränkte Gewalt. Ein einheitlicher Lehrplan wurde vom zentralen Erziehungsministerium für alle Schulen von einem Ende Italiens bis zum anderen vorgeschrieben.

Das Ministerium bestimmte, was gelehrt werden sollte; es stellte die Lehrer ein (nur selten fand es einen Grund, jemand zu entlassen) und stellte alle Prüfungen zusammen. Von den Prüfungen allein hing das Schicksal eines Schülers ab – ob er nun versetzt werden, sitzenbleiben oder – in Extremfällen – von der Schule verwiesen werden sollte. Sie waren der einzige entscheidende Faktor dafür, ob ein Schüler an die Universität gehen konnte, und entschieden daher über seine ganze Zukunft.

Am Ende des Jahres pflegten sich der Schüler im urbanen Norden und der im agrarischen Süden zugleich hinzusetzen, um die gleichen Fragen zu beantworten, die ein Beamter entworfen hatte, dem die Schule oder die Wohngemeinde des einen ebenso fremd war wie die des anderen. Ein zeitgenössischer Bericht über die Ergebnisse besagt, daß »das Ministerium mit so unwichtigen Einzelheiten überschwemmt wird wie dem Zustand der Pulte im Lyzeum zu Foggia oder der ungeeigneten Unterbringung des Pförtners in der technischen Schule in Udine, daß es wenig Zeit findet, an umfassende Reformpläne zu denken. Mit jedem neuen Erziehungsminister tritt eine Veränderung der Vorschriften und des Studienverlaufs ein. Man hat keine Zeit für wirkliche Reformen, aber ein Gegenstand wird an die Stelle eines anderen gesetzt; für Mathematik werden schriftliche Prüfungen eingeführt, in Griechisch werden sie abgeschafft; die Notenberechnung wird geändert – für die Dauer von sechs Monaten. Dann kommt eine Kabinettskrise, und der neue Minister kehrt zum alten Plan zurück oder führt irgendeine andere Neuheit ein, die ihrerseits von seinem Nachfolger wieder rückgängig gemacht wird«.[13]

Es war ein System, wie es gar nicht besser geeignet sein konnte, um Individualität zu unterdrücken, aber die Individualität Marias konnte es nicht zunichte machen. Und als sie ihre Aufmerksamkeit schließlich auf die Erziehung als solche richtete, gab ihr das System ein eindeutiges Beispiel dafür, wie eine Schule nicht sein sollte.

Die Sekundarschulen waren in den klassischen und den technischen Zweig geteilt. Der klassische bestand aus fünf Jahren ginnasio, das die Schüler von zehn oder elf Jahren an bis zum Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren besuchten, worauf drei Jahre liceo folgten; Literatur und Klassiker standen im Mittelpunkt. In den Klassen saßen die Schüler stundenlang bewegungslos und lernten ihr gehaßtes Griechisch und Latein auswendig, unter der Aufsicht tyrannischer Pedanten, bitterer und schlechtbezahlter Leute, und das alles um eines Diploms willen, das eine notwendige Voraussetzung für jede Weiterbildung, für jede zukünftige Karriere war.

Der technische Zweig bot sieben Jahre lang einen modernen Lehrplan. Diese Schulen boten einen dreijährigen Kurs mit Französisch, Arithmetik und Buchhaltung, Algebra und Geometrie, Geschichte, Erdkunde und einem Anflug von Naturwissenschaften. Darauf folgte der vierjährige Kurs am technischen Institut, das neben kommerziellen Fächern moderne Sprachen – Französisch, Deutsch und Englisch – und Mathematik anbot. Physik und Chemie gehörten auch dazu, nahmen aber im Lehrplan eine weniger wichtige Stellung ein.

In jedem Fach mußte ein Programm gelehrt werden, und der meiste Unterricht beruhte lediglich auf diesem gedruckten Text, den die Schüler auswendig lernen und wiederholen mußten. Es war Ketzerei, von den im Lehrbuch niedergelegten Ideen abzuweichen. Sogar ein Fach wie Botanik wurde aus dem Lehrbuch gelernt; die Schüler saßen in ihren Bänken und studierten die Abbildung eines Blattes; sie machten keine Naturbeobachtungen, man gab ihnen kein echtes Blatt in die Hand, das sie hätten ansehen und auseinandernehmen können.

Das Schuljahr dauerte von Mitte Oktober bis Mitte Juni. Die Schüler kamen gewöhnlich am Vormittag für drei Stunden in die Schule, gingen zum Mittagessen nach Hause und kamen noch einmal für zwei Nachmittagsstunden. Sie hörten Vorträge, wiederholten ihre Lektionen und legten die schriftlichen Übungsarbeiten vor, die sie zu Hause oder in der Bibliothek anfertigten. In der Klasse wurde keine wirkliche Arbeit geleistet.

Natürlich war das »Abschreiben« in einem System, in dem die Arbeit außerhalb der Schule getan wurde, allgemein verbreitet, und das Bestehen von Prüfungen war fast buchstäblich eine Frage von Leben und Tod.

Der regelmäßige Schulbesuch war Pflicht; die Schüler wurden zu körperlicher Unbeweglichkeit gezwungen; alle befaßten sich im gleichen Tempo und zur gleichen Zeit mit dem gleichen Material, und Wissen war etwas, das man passiv in sich aufnehmen mußte, nicht eine Frage von Ideen, die man bezweifeln oder diskutieren konnte. Die Schule lehrte ein Gefüge von Fakten, bestimmten Techniken und Fertigkeiten, und sie wurden in einer ständig von Strafen bedrohten Atmosphäre gelehrt. Nicht gelehrt wurde die Liebe zum Lernen oder selbständiges Denken.

Es war ein System, das vom ersten Schuljahr bis zum Universitätsabschluß vom Schüler nur forderte, gehorsam von einer Autorität Informationen entgegenzunehmen und dann seine Fähigkeiten zu beweisen, auf Befehl die Informationen in der gleichen Form wiederzugeben. In der Elementar- und Sekundarschule erwarb man eine Reihe von Fertigkeiten durch streng überwachten, alle Tage wiederholten Drill. An der Universität benützte man diese Fertigkeiten, um selbständig ein streng definiertes Wissensgefüge in sich aufzunehmen. Maria muß als Mädchen eine ungewöhnliche Fähigkeit gehabt haben, sich der Konformität zu widersetzen, sich ein eigenes Urteil zu bilden und das Vertrauen zu ihrer eigenen Ansicht von der Welt und ihrem Platz in ihr nicht zu verlieren. Nur eine gewisse geistige Exzentrizität und ein starker Charakter konnten ein solches System mit der Fähigkeit überleben, die Dinge unbefangen zu betrachten und die Elemente der Erfahrung auf neuartige Weise wieder zusammenzusetzen. Gewöhnlich nennt man das Genialität, und das ist es, was Maria Montessori besaß. Sie benützte sie, um zu zeigen, wie das System, das lehrte, aber nicht erzog, von Grund auf verändert werden konnte.

An der technischen Schule wußte niemand, was man in den Pausen mit den Schülerinnen anfangen sollte – sie konnten sich nicht unter die Jungen mischen und mußten vor Hänseleien geschützt werden –, also brachten sie die Pausen in einem Raum zu, in dem man sie absonderte. Maria wählte in ihrem ersten Jahr italienische Literatur, Geschichte und Erdkunde, Mathematik, Zeichnen und Schönschrift und bekam in allen Fächern gute Noten, wenn auch ihre besten Zensuren ihr Betragen angingen – im Zeichnen war sie nicht sehr gut – offenbar konnte sie sich darauf schwerer konzentrieren als auf die akademischen Fächer.

1886 im Frühling schloß sie die technische Schule mit guten Noten in allen Fächern ab; ihre Abschlußnote betrug 137 von 150 möglichen Punkten, ein beachtliches Ergebnis. Auch im Regio Istituto Tecnico Leonardo da Vinci, das sie von 1886 bis 1890 besuchte, kam sie gut voran. Sie studierte moderne Sprachen und Naturwissenschaften, aber ihr Lieblingsfach, in dem sie sich am meisten hervortat, war Mathematik. Ihr Vater hielt es immerhin für möglich, daß eine moderne Frau vielleicht Lehrerin werden könne, konnte sich aber keine bessere Rolle für sie wünschen, als die einer Frau und Mutter, und die Tatsache, daß es Maria einfallen könnte, das zu wollen, was so viele ihrer Mitschüler im technischen Institut vorhatten – nämlich Ingenieur zu werden, war für ihn fast unvorstellbar.

In der unerschütterlichen Weigerung der heranwachsenden Maria, den Lehrberuf als zukünftige Laufbahn auch nur zu erwägen, liegt eine großartige Ironie.

Als sie soweit war, daß sie am technischen Institut ihre Abschlußprüfung ablegen sollte, hatte sie den Plan, Ingenieur zu werden, wieder aufgegeben, aber wenn ihr Vater Erleichterung über ihren Verzicht auf diese unpassende Berufswahl empfand, war sie nur von kurzer Dauer. Sie hatte sich immer stärker für die biologischen Wissenschaften interessiert und wollte jetzt Medizin studieren – was in Italien bisher noch keine Frau getan hatte.

Ihrem Sinneswandel lag, wie ihre alte Freundin Anna Maccheroni Jahre später berichtete, ein gleichsam mystisches Erlebnis zugrunde: »Sie kann selbst nicht erklären, wie es zustande kam. Es geschah in einem einzigen Augenblick. Sie ging auf der Straße, als sie einer Frau mit einem Baby begegnete, das einen langen, schmalen, roten Papierstreifen in der Hand hielt. Ich habe Dr. Montessori mehrmals diese kleine Straßenszene beschreiben hören, ebenso den Entschluß, der ihr dabei in den Sinn kam. In solchen Momenten trat ein langer, tiefer Blick in ihre Augen, als suche sie nach Dingen, die weit über Worte hinausgingen. Dann pflegte sie zu sagen, ›Warum?‹, und mit einer kleinen ausdrucksvollen Handbewegung anzudeuten, daß seltsame Dinge in uns geschehen, die uns zu einem Ziel führen, das wir nicht kennen.«[14]