Maritime Gewalten - Sarah von Hagen - E-Book

Maritime Gewalten E-Book

Sarah von Hagen

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Beschreibung

Im langen 18. Jahrhundert bildeten sich Seeschlachten als zentrales Element militärischer Gewalt im atlantischen Raum heraus. In ihnen verdichteten sich spezifische Gewaltpraktiken wie Verbrennen, Entern, Jagen und Beschießen, die Form, Ablauf und Wahrnehmung des Gefechts maßgeblich bestimmten. Sarah von Hagen zeigt, wie diese Praktiken zwischen 1665 und 1783 in der britischen, französischen und niederländischen Seekriegsführung vollzogen, geregelt und gedeutet wurden und wie sich ihr Wandel aus dem Zusammenspiel von Raum, Technik und sozialen Ordnungen ergab. Im Zentrum dieser Dynamiken standen Kriegsschiffe, die als technisch funktionale, sozial strukturierte und kulturell codierte Räume sowohl Gefechtsfeld als auch Lebenswelt waren – Orte, an denen Gewalt organisiert, erfahren und erinnert wurde. Aus historisch-anthropologischer Perspektive eröffnen schriftliche, bildliche und literarische Auseinandersetzungen mit Gefecht, Verwundung und Tod neue Zugänge zur Erfahrungsdimension maritimer Gewalt. Mit ihrem maritimen Fokus eröffnet die Studie neue Perspektiven auf Schlachten, die in der deutschsprachigen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigt blieb.

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Seitenzahl: 1034

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sarah von Hagen

Maritime Gewalten

Die Schlacht in den atlantischen Seekriegen, 1665–1783

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Im langen 18. Jahrhundert bildeten sich Seeschlachten als zentrales Element militärischer Gewalt im atlantischen Raum heraus. In ihnen verdichteten sich spezifische Gewaltpraktiken wie Verbrennen, Entern, Jagen und Beschießen, die Form, Ablauf und Wahrnehmung des Gefechts maßgeblich bestimmten. Sarah von Hagen zeigt, wie diese Praktiken zwischen 1665 und 1783 in der britischen, französischen und niederländischen Seekriegsführung vollzogen, geregelt und gedeutet wurden und wie sich ihr Wandel aus dem Zusammenspiel von Raum, Technik und sozialen Ordnungen ergab.Im Zentrum dieser Dynamiken standen Kriegsschiffe, die als technisch funktionale, sozial strukturierte und kulturell codierte Räume sowohl Gefechtsfeld als auch Lebenswelt waren – Orte, an denen Gewalt organisiert, erfahren und erinnert wurde. Aus historisch-anthropologischer Perspektive eröffnen schriftliche, bildliche und literarische Auseinandersetzungen mit Gefecht, Verwundung und Tod neue Zugänge zur Erfahrungsdimension maritimer Gewalt. Mit ihrem maritimen Fokus eröffnet die Studie neue Perspektiven auf Schlachten, die in der deutschsprachigen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigt blieb.

Vita

Dr. Sarah von Hagen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorbemerkung

1.

Fremde Gezeiten. Einführung in das »Age of Fighting Sail«

1.1

Hölzerne Welten. Ordnung, Funktion und Aufbau

1.1.1

Anderthalb Weltmeere. Räumliche Eingrenzung

1.1.2

Anderthalb Jahrhunderte. Zeitliche Eingrenzung

1.2

In unterschiedlichen Fahrwassern. Wege der Forschung

1.3

Dead Seamen tell no tales? Quellen

1.4

Maritime Kriegstheater. Historischer Kontext

2.

Fragmentiertes Beschreiben. Zugänge zur Seeschlacht

2.1

Seeschlacht als Praxisform. Analytische Perspektiven

2.2

Perspektive, Komplexität, Überlieferung. Drei Missverständnisse

2.3

Idealtypisch. Eine heuristische Ordnung der Seeschlacht

3.

Kämpfen auf See. Praktiken und Technologien

3.1

Verbrennen

3.1.1

Gewalt entzünden. Zwei Seeschlachten des Sommers 1666

3.1.2

(Un)kontrollierbar? Ambivalente Dynamik

3.1.3

Steigerungslogiken. Ostentative Eskalation

3.1.4

Tat-sächliche Transformation. Die Schlacht von Solebay 1672

3.2

Entern

3.2.1

Gewalt verdichten. Zwei Gefechte aus den 1690er Jahren

3.2.2

Weibliche Schiffe – männliche Gewalt? Intimisierung

3.2.3

Seeschlacht à la française? Maritime Gewaltkultur(en)

3.2.4

Produktive Distanz. Die Kaperung der Scarborough 1710

3.3

Jagen

3.3.1

Gewalt projizieren. Die Seeschlachten des Jahres 1759

3.3.2

Interpunktionen. Wie eine Jagdschlacht begann

3.3.3

Zwischen Papier und Pulver. Kodifizierung

3.3.4

Ambige Signale. Die Schlacht von Havanna 1748

3.4

Beschießen

3.4.1

Gewalt entladen. Zum Vollzug einer formativen Praktik

3.4.2

Soundscapes. Akustische Ordnungen und Irritationen

3.4.3

Lärm und Linie. Strukturmerkmale frühneuzeitlicher Seeschlachten

3.4.4

Auf ganzer Linie? Die Schlacht von Chesapeake Bay 1781

3.5

Eine Grammatik maritimer Gewalt. Fazit

4.

(K)eine Zeit zu sterben? Folgen

4.1

»The only things I’ve ever lost are this eye and this arm«. Verwundung

4.2

Über Bord. Tod im Gefecht

4.3

Verwundete Segel. Schiffe als quasi-lebendige Objekte

4.4

Gebraucht, Verbraucht, Verletzt, Vernutzt. Fazit

5.

Zwischen Erfahrung und Imagination. Repräsentationen

5.1

Nach-richten: Relationen

5.2

Erzählen: Selbstzeugnisse

5.3

Rechtfertigen: Gerichtsakten

5.4

Inszenieren: Visuelle Darstellungen

5.5

Verdichten: Literarische Verarbeitungen

5.6

Komplementäre Fragmente. Fazit

6.

Maritime Gewalten: Materialitäten – Wahrnehmungen – Signaturen

Danksagung

Anhang

Glossar nautischer Begriffe

Liste der Seeschlachten

Siglen

Abkürzungen

Abbildungsverzeichnis

Quellen und Literatur

Quellen

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

Online Quellen

Literatur

Unveröffentlichte Studien

Register

Vorbemerkung

Sprache

Die Beschäftigung mit Seeschlachten hat ihre eigene Sprache. Um dieser gerecht zu werden und zugleich die Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, wird auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen nautischer Fachsprache und Verständlichkeit geachtet; an einigen Stellen wird daher auf nautische Fachbegriffe verzichtet. In den meisten Fällen erfolgt jedoch eine erläuternde Ergänzung sowohl im Text als auch in Zitaten. Die wichtigsten Begriffe sind in einem Glossar im Anhang verzeichnet. Rang- und Funktionsbezeichnungen der Marinen werden vereinheitlicht, sofern eine deutsche Entsprechung existiert; andernfalls wird die originalsprachliche Bezeichnung beibehalten. Schiffsnamen werden nicht angepasst, bei einem Wechsel der Marinezugehörigkeit jedoch entsprechend gekennzeichnet.

Der englische Begriff naval wird in dieser Arbeit nicht ins Deutsche übersetzt. In der begrifflichen Unterscheidung zu maritime verweist naval spezifisch auf militärisch-institutionelle Kontexte der Seekriegsführung, während maritime als weiter gefasster Begriff auch kommerzielle, soziale oder kulturelle Aspekte von Seefahrt und Meereswelt umfasst. Eine Übersetzung von naval mit »militärisch« greift dabei zu kurz, da sie den historisch eigenständigen institutionellen Kontext des Seekriegs ebenso wie seine disziplinären und epistemischen Spezifika verwischt. Da es im Deutschen keine terminologisch und konzeptionell gleichwertige Entsprechung für naval gibt, wird der Begriff in Zusammensetzungen wie Navalism, Naval Strategy oder New Naval History beibehalten. Im Fließtext wird je nach Kontext auf etablierte deutsche Begriffe wie Marine, Seestreitkräfte, Seekriegsführung oder maritime Gewalt zurückgegriffen.

Alle fremdsprachigen Quellen, einschließlich der englischen, wurden ins Deutsche übersetzt und in den Fußnoten im Original angegeben. Die Übersetzungen wurden selbst angefertigt und teilweise mit Hilfe künstlicher Intelligenz überprüft. Dies dient nicht nur der besseren Lesbarkeit, sondern auch der analytischen Vergleichbarkeit der drei untersuchten Sprachräume. Auch Zitate aus der Literatur wurden nach diesen Prinzipien behandelt.

Transkriptionsweise

Handschriftliche archivalische Quellen wurden originalgetreu transkribiert. Orthografische Modernisierungen, Glättungen oder stilistische Anpassungen erfolgen nicht. Offenkundige Lesefehler wurden stillschweigend korrigiert, unsichere Lesarten durch eckige Klammern kenntlich gemacht.

Geschlechtergerechte und diskriminierungssensible Sprache

Im gesamten Text wird der Gender-Doppelpunkt (z. B. Matros:innen, Soldat:innen) verwendet, um der historischen Präsenz von Frauen an Bord Rechnung zu tragen. Geschlechtergerechte Formulierungen kommen dort zur Anwendung, wo sie sachlich angemessen und quellenunabhängig möglich sind. Personenbezeichnungen folgen im Übrigen dem historischen Sprachgebrauch oder der Quellenlage. Grundsätzlich wird von Seeleuten, Besatzungsmitgliedern oder Personen an Bord gesprochen, um allen an der Seekriegsführung beteiligten Akteur:innen unabhängig von Geschlecht und Status gerecht zu werden. Aus Gründen der sprachlichen Konvention und Lesbarkeit wird für Schiffe das weibliche Pronomen verwendet.

Für schwarze Seeleute wird – sofern nicht von Selbst- oder Fremdbezeichnungen in den Quellen die Rede ist – die heutige Bezeichnung BPoC (Black and People of Color) verwendet. Diskriminierende oder koloniale Fremdbezeichnungen werden, wo nötig, kenntlich gemacht, aber nicht unkommentiert übernommen.

Datumsangaben

Alle Datumsangaben im Text entsprechen dem Gregorianischen Kalender. Abweichende Daten, z. B. aus Tagebucheinträgen, werden in den Fußnoten in ihrer ursprünglichen Form angegeben. Datumsangaben, die vom gregorianischen Kalender abweichen, sind entsprechend gekennzeichnet.

Entfernungen

Entfernungen werden in Seemeilen und ergänzend in Kilometern angegeben. Eine Seemeile wird hier mit 1,852 km angesetzt und entspricht damit der zeitgenössischen englischen Seemeile. Die niederländische mijl entsprach etwa vier englischen Seemeilen. In quellengebundenen Fällen wird auch die Maßeinheit Leuge verwendet, bezogen auf die englische Definition von drei Seemeilen (ca. 5,556 km). Die französische lieue existierte in mehreren regionalen Varianten und bemaß eine Entfernung von ca. 3,25 km bis 4,68 km. Für weitere historische Maßeinheiten wie Kabellänge wird auf das Glossar verwiesen. Wo eine exakte Umrechnung nicht möglich oder nicht sinnvoll erscheint, werden historische Maße als Quellenbegriff beibehalten.

Karten

Die verwendeten Karten sind selbst erstellt und beruhen auf eigenen Rekonstruktionen auf Grundlage der überlieferten Quellenlage. Genaue Positionsangaben historischer Gefechte sind dabei nur näherungsweise möglich. Maßstäbe und Projektionen richten sich nach dem Zweck der jeweiligen Darstellung.

Technik und digitale Hilfsmittel

Zur Unterstützung der Übersetzungsarbeit wurden punktuell digitale Werkzeuge wie DeepL und ChatGPT (OpenAI) eingesetzt. In allen Fällen erfolgte eine redaktionelle Überprüfung und Anpassung durch die Verfasserin. Die inhaltliche Verantwortung für alle Textfassungen liegt ausschließlich bei der Autorin.

1.Fremde Gezeiten. Einführung in das »Age of Fighting Sail«

»Wissen Sie […] was eine Seeschlacht ist? Ich werde es Ihnen sagen: Zwei Geschwader laufen aus zwei gegenüberliegenden Häfen aus; es wird manövriert, man trifft sich, feuert Kanonenschüsse ab, reißt ein paar Masten um, zerreißt ein paar Segel, tötet ein paar Männer; es wird viel Pulver und Kugeln verschossen; dann zieht sich jede der beiden Armeen zurück und behauptet, sie sei die Herrin [sic] des Schlachtfeldes geblieben; sie beanspruchen beide den Sieg für sich; auf beiden Seiten wird das Te Deum gesungen, und das Meer bleibt trotzdem salzig!«1 Mit diesen Worten beschrieb der französische Sectrétaire d’État à la Marine Jean Frédéric Phélypeaux, Comte de Maurepas (1701–1781) im Jahr 1745 in einem Bericht nach Versailles seine Vorstellung von einer Seeschlacht. Seine nonchalant anmutende Einschätzung – so viel sei vorweggenommen – dürfte jedoch von den Beteiligten einer Seeschlacht kaum geteilt worden sein. Denn nur wenige Jahre später berichtete ein britischer Oberstleutnant, er habe noch »nie zuvor eine solche Szene des Gemetzels gesehen« wie in der Seeschlacht von Quiberon im November 1759.2 Und auch der Seemann John Nicol (1755–1825) beschrieb nach einer Schlacht, ihm habe sich »ein wahrhaft fürchterlicher Anblick [geboten]. Die ganze Bucht war voll toter Leiber, verstümmelt, verwundet, verbrannt«.3

Die Diskrepanz zwischen den Darstellungen ist unverkennbar. Während Maurepas beinah abwertend von »einigen getöteten Männern« und einem »doch salzigen Meer« spricht, beschreiben der britische Oberstleutnant und der Seemann Nicol ein »Gemetzel« sowie eine Bucht »voller toter Leiber«. Doch nicht nur aufgrund der Abwesenheit der Brutalität einer Seeschlacht ist Maurepas Beschreibung bemerkenswert. Prägnant beschreibt er Räumlichkeit, Technik und Gewalt als wesentliche Konstituenten einer Seeschlacht. Der Marinesekretär bezog sein Wissen über Seeschlachten aus den regelmäßigen Berichten seiner Offiziere, die er zu einem zeitgenössischen Idealtypus verdichtete. Sein Bericht folgt einem spezifischen Skript militärischer Beschreibungskultur, das der Gewalt ihre Drastik nahm und damit den konkreten Erfahrungen der Beteiligten im kontingenten Geschehen entgegenstand.

Die an die höfisch-militärische Öffentlichkeit gerichtete Erklärung referiert auf zeitgenössische Normen und Erwartungen an die Darstellbarkeit von Schlachten und ermöglichte es den Rezipient:innen, das Beschriebene in ihr kulturelles, soziales und praktisches Wissen einzuordnen. Maurepas Beschreibung verweist damit auch auf die Schwierigkeit, das Geschehen an Land zu fassen – nicht nur in seinem Ausgang. Denn allein die Tatsache, dass ein solcher Bericht des Marinesekretärs nach Versailles existiert, macht die Erklärungsbedürftigkeit von Seeschlachten deutlich. Obwohl es sich bei Seeschlachten um ein häufiges Phänomen handelte,4 waren diese an Land nur schwer zugänglich und wurden erst durch mediale Vermittlung überhaupt greifbar. Bereits zeitgenössisch wurde daher versucht, das Gewaltgeschehen auf See aufzuschlüsseln und zu verstehen. Nimmt man nun die in der Beschreibung der Schlacht von Quiberon als »Gemetzel« sowie die in Nicols Beschreibung der verstümmelten, verwundeten und verbrannten Körper deutlich werdenden Drastik der Gewalt hinzu, ist das Thema der vorliegenden Studie bereits umrissen: Untersucht werden Seeschlachten unter Beteiligung englischer/britischer, französischer und/oder niederländischer Seestreitkräfte im Nordatlantik und in der Nordsee zwischen 1665 und 1783. Leitend ist dabei die Frage, wie sich militärische Gewalt – verstanden als physische Gewalt im Sinne von Verletzungsmacht5 – unter den spezifischen räumlichen6 und technischen7 Bedingungen auf See ausbildete, welche Folgen sie hatte und wie sie schriftlich und visuell verarbeitet wurde.

In der deutschsprachigen Gewalt- und Militärgeschichte sind Seeschlachten bislang auf eher geringes Interesse gestoßen. Auch die anglo-amerikanische Forschung hat sich kaum mit der tatsächlichen Gewalt in Seeschlachten beschäftigt. Gleichzeitig steht die internationale Forschung zu frühneuzeitlichen Seekriegen vor dem Problem, deutlich sichtbare Veränderungen in den Seeschlachten vom späten 17. bis zum späten 18. Jahrhundert nur unzureichend erklären zu können.8 Weder mit den technologischen Entwicklungen noch den Veränderungen in der Sozialstruktur der Seestreitkräfte in diesem Zeitraum lässt sich der Wandel in der Seekriegsführung vollumfänglich erklären. Schiffe, Besatzungsstrukturen, und eingesetzte Technologien blieben über den angelegten Untersuchungszeitraum weitgehend konstant.9 Und dennoch unterschied sich eine Seeschlacht im späten 17. Jahrhunderts deutlich von einer Seeschlacht im späten 18. Jahrhundert.

Wenn die Elemente einer Seeschlacht, allen voran Schiffe, Besatzungen und Geschütze, weitgehend unverändert bleiben, kann nur ein Blick auf die praktische Umsetzung von Gewalt diesen Wandel erklären. Die historisch-anthropologische Analyse des atlantischen Seekriegs aus praxistheoretischer Perspektive10 wird zeigen, dass in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums Gewaltakte die Bilder und Wahrnehmungen von Seeschlachten dominierten, die auf eine möglichst spektakuläre Zerstörung oder Inbesitznahme gegnerischer Schiffe abzielten. Dabei wurde auf den massenhaften Einsatz von Schiffen und Besatzungen gesetzt. In der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums dominierten dagegen Gewaltakte, die eine hohe Geschlossenheit der Flotten erforderten und auf die Erschöpfung der gegnerischen Flotte setzten. Um diese Veränderungen besser nachvollziehen und erklären zu können, wird im Folgenden auf der Grundlage von Selbstzeugnissen, offiziellen Berichten, Gerichtsakten und visuellen Darstellungen von Seeschlachten eine Grammatik maritimer Kriegsgewalt entwickelt.11 Die Untersuchung folgt dabei der These, dass es in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit eine spezifische maritime Gewalt gab. Diese maritime Kriegsgewalt ist einerseits in ihrer Repräsentation, Formalisierung und Ordnung im Gesamtzusammenhang frühneuzeitlicher Kriegsgewalt und ihrer diskursiven und normativen Entwicklung zu verorten. Andererseits zeichnete sie sich durch eine gewisse Alterität und spezifisch Logik aus. Sie manifestierte sich, wie zu zeigen sein wird, in einem Spannungsfeld von Nähe und Distanz sowie in einer eigenen Materialität und Technologie, die über das Schiff als Kriegsgerät hinausging.

Damit eröffnet sich eine neue Perspektive auf die atlantischen Seekriege des langen 18. Jahrhunderts, die Impulse sowohl für die historische Gewaltforschung als auch für die internationale Erforschung frühneuzeitlicher Seestreitkräfte verspricht. Die Analyse maritimer Gewalt erweitert das in der deutschsprachigen Forschung bislang kaum in den Blick genommene Bild frühneuzeitlicher Seekriege und vertieft durch die in einer praxeologisch operationalisierten Grammatik maritimer Gewalt herausgearbeiteten Spezifika und Gemeinsamkeiten mit kriegerischer Gewalt an Land das Verständnis frühneuzeitlicher Kriegsgewalt insgesamt.

1.1Hölzerne Welten. Ordnung, Funktion und Aufbau

Seeschlachten und maritime Kriegsgewalt wurden in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit mit der Herausbildung professioneller und permanenter Seestreitkräfte zu einem ständig präsenten Element in der atlantischen Welt.12 Sie bedrohten und kosteten Menschenleben, generierten Machteffekte und waren Katalysator für die Entwicklung von Kriegsschiffen als den teuersten und fortschrittlichsten Waffen13 und von Marinen als den größten Organisations- und Verwaltungseinheiten ihrer Zeit.14 Zentrale Akteure der maritimen Machtprojektion auf den Atlantik und die Nordsee waren vor allem die englischen/britischen15 und die französischen Seestreitkräfte sowie die niederländischen16 Seestreitkräfte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ihre Gewalthandlungen stehen im Zentrum der Untersuchung.17

Die Institutionalisierung ständiger, gemeinschaftlich organisierter Seestreitkräfte, deren Entwicklung in England und den Vereinigten Niederlanden im 16. Jahrhundert und in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts begann, war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen.18 Dies bedeutet nicht, dass im 18. Jahrhundert keine institutionellen Entwicklungen und Verstetigungen von Marinen mehr zu beobachten wären – im Gegenteil: die Marinen wuchsen in diesem Zeitraum stark an (vgl. Abb. 1). Es lässt sich aber, salopp formuliert, festhalten, dass spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts deutlich wurde, dass die maritime Machtprojektion der europäischen Mächte, die expansive und überseeische Ambitionen pflegten und umsetzten, vor allem durch und mit permanenten, bürokratisierten und zentralisierten Seestreitkräften erfolgen würde.19

Abbildung 1:Entwicklung der Seestreitkräfte im 17. und 18. Jahrhundert anhand der Gesamtzahl ihrer Schiffe

Daten nach Glete, Navies and Nations, S. 550–553, 575–579, 639–641

Das charakteristische Merkmal dieser Seestreitkräfte und das wesentliche technische Artefakt20 maritimer Gewaltanwendung war das Kriegsschiff. Aufgrund seiner spezifischen Funktion unterschied es sich in Konstruktion, Einsatz und Symbolik deutlich von den bewaffneten Handelsschiffen, die vor allem in der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit für den Seekrieg eingesetzt wurden.21 Die heute gebräuchliche Bezeichnung ›Linienschiff‹ für die dreimastigen hölzernen Rahsegler, die mit 40 bis 130 Kanonen bestückt waren, findet sich als Quellenbegriff nur selten. Obwohl bereits seit 1706 überliefert,22 scheint sich seine Verwendung erst im 19. Jahrhundert retrospektiv durchgesetzt zu haben. Zeitgenössische Schiffslisten und Darstellungen bezogen sich vor allem auf den Rang23 und die Kanonenstärke des jeweiligen Schiffes.24 Auch im Folgenden wird der Terminus ›Linienschiff‹ nur dann verwendet, wenn die heute als Linienschiffe bekannten Schiffstypen dezidiert von anderen Kriegsschiffstypen abgegrenzt werden sollen. Den zeitgenössischen Konventionen folgend wird in den meisten Fällen die nominelle Geschützstärke der Schiffstypen angegeben. Die tatsächliche Geschützanzahl konnte von dieser Nominalstärke abweichen.25

Neben der Geschützstärke wird, soweit möglich, auch die nominelle oder tatsächliche Besatzungsstärke der Schiffe angegeben.26 Denn es waren die menschlichen Akteur:innen an Bord, die in den Seeschlachten Gewalt ausübten und erlitten. Mit der Angabe der Besatzungsstärke werden diese Menschen, die in vielen zeitgenössischen Überlieferungen hinter den Schiffsnamen verschwinden, wenigstens quantitativ sichtbar gemacht. Ein Kriegsschiff mit 80 Geschützen benötigte eine Besatzung von mindestens 600 Personen, von denen etwa ein Drittel erfahrene Seeleute sein sollten, d. h. Seeleute, die bereits mindestens ein Jahr, besser mehrere Jahre auf See gedient hatten.27 Der Bedarf an Seeleuten fluktuierte ständig. In Kriegszeiten stieg er deutlich an; in Friedenszeiten und während der Wintermonate – insbesondere bis in die 1690er Jahre – nahm er hingegen ab.28 Insgesamt aber wuchs der Bedarf an Seeleuten von den 1690er Jahren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts drastisch an und stellte alle Marinen vor große Herausforderungen. Die ersten verlässlichen Zahlen über die Gesamtstärke der Besatzungen der einzelnen Marinen stammen vom Beginn des Neunjährigen Kriegs (1688–1687): Die englische Marine verfügte im Jahr 1689 über etwa 22.300 Seeleute, die französische über knapp 30.000 und die niederländische Marine über 20.000–24.000.29 1782 war die britische Marine auf über 105.000 Seeleute angewachsen, die französische auf über 90.000.30 Die niederländische Marine wies einen Bedarf von 31.000 Seeleuten auf.31

Während Frankreich versuchte, seinen Bedarf durch ein Rekrutierungssystem für Männer im seetauglichen Alter in den Hafenstädten zu decken (dessen Listen allerdings selten mehr als 60.000 Personen umfassten)32, setzte Großbritannien auf Freiwillige und die so genannten press gangs.33 Diese Gruppen, die zum Teil selbst aus Seeleuten bestanden, suchten Häfen, Straßen und Schiffe nach erfahrenen Seeleuten ab. Sie wurden in der Regel von den Kapitänen einzelner Schiffe beauftragt und waren zwar eine akzeptierte Praxis und regelmäßig auftretende Institution, aber nicht als offizieller Teil der Royal Navy organisiert.34 Die Seeleute stammten zumeist – aber nicht ausschließlich – aus den unteren Bevölkerungsschichten. Die genaue Zusammensetzung und Herkunft der Besatzungen sind schwer zu rekonstruieren. Die Überlieferungen einzelner Seeleute wie Edward Barlow (1642–1706) , William Spavens oder John Nicol, die im Folgenden selbst zu Wort kommen werden, zeigen jedoch, dass alle drei aus ärmlichen, bäuerlichen Verhältnissen stammten.35 Sowohl hinsichtlich ihres Alters als auch ihrer Herkunft waren Schiffsbesatzungen heterogen. Schiffsjungen, die zum Teil nicht älter als fünf Jahre waren,36 befanden sich ebenso an Bord wie Männer im Alter von sechzig bis siebzig Jahren.37 Die Besatzungsmitglieder kamen aus verschiedenen europäischen Territorien: Seeleute aus Frankreich dienten in der britischen Marine ebenso wie Seeleute aus Schweden in der französischen Marine.38 Auch Frauen, versklavte Seeleute und Black and People of Colour39 dienten auf den Schiffen.40 Nur die wenigsten Besatzungsmitglieder waren ausgebildete Soldaten – aus der Perspektive der Landkriegsführung und der professionellen Armeen des 18. Jahrhunderts waren Seeleute streng genommen Nichtkombattanten.41

So bildeten die Seeleute innerhalb des Militärs eine spezifische Gruppe, die zwar für das Segeln der Kriegsschiffe und spätestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auch für die Bedienung der Geschütze an Bord hoch qualifiziert war,42 sie waren aber keine »Berufssoldaten«43 wie etwa die Infanteristen an Land. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verstanden sich die Seeleute der Marinen weniger als Teil des Militärs denn als Teil einer maritimen Gemeinschaft, die in ihrer kollektiven Identität kaum zwischen Marine und Handelsschifffahrt unterschied.44 Nicht zuletzt zeigt sich dies in der Abgrenzung zu den professionellen Soldaten der Marineinfanterie, deren Präsenz an Bord der Kriegsschiffe im Laufe des 18. Jahrhunderts zunahm und auf die noch einzugehen sein wird.45

Auch das Offizierskorps der Marine grenzte sich bis zu einem gewissen Grad vom Offizierskorps an Land ab. Als hochqualifizierte Experten der Seefahrt verfügten Marineoffiziere über eine geringere militärische Ausbildung als die Landoffiziere.46 Dennoch waren die Marineoffiziere Teil der allgemeinen militärisch-adeligen Offizierskultur, indem sie sich als Gentlemen verstanden und über einen an Land wie auf See geteilten Ehrenkodex verfügten.47 Das Seeoffizierskorps war nach militärischen Rängen gegliedert und entstammte den höheren Gesellschaftsschichten oder dem Adel.48 Der größte Teil der britischen Offiziere rekrutierte sich aus der gentry. Die französischen und niederländischen Offiziere rekrutierten sich ebenso überwiegend aus dem Landadel, wenngleich sich unter ihnen auch Hochadelige befanden. Wie die Seeleute waren auch die Offiziere der jeweiligen Marine hinsichtlich ihrer territorialen Herkunft heterogen.49 In der Schiffshierarchie unangefochten an erster Stelle stand der Kapitän als Repräsentant des jeweiligen Potentaten. Die Befehls- sowie disziplinarische Gewalt lagen allein bei ihm.50

Die Größe der jeweiligen Offizierskorps schwankte im Laufe des 18. Jahrhunderts entsprechend der Entwicklung der Marinen. Während das französische Offizierskorps in den 1710er Jahren über 900 Offiziere umfasste, schrumpfte es in den 1720er Jahren auf unter 600, erreichte im Siebenjährigen Krieg (1755/56–1763) mit über 1.500 Offizieren seinen Höhepunkt und umfasste zu Beginn des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs (1775–1783) wieder 900 Offiziere.51 Das britische Offizierskorps umfasste zu Beginn des 18. Jahrhunderts weniger als 600 Offiziere, wuchs aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf etwa 3.000 Offiziere an.52 Für die niederländische Marine liegen aufgrund ihrer spezifischen Organisation in fünf Admiralitäten sowie der Überlieferungssituation keine Zahlen zur Gesamtgröße des Offizierskorps vor. Britische und französische Offiziere wurden in Friedenszeiten nicht wie die einfachen Seeleute vollständig entlassen, sondern mit reduzierten Bezügen außer Dienst gestellt, sofern sie keine andere Anstellung in der Marine oder Marineverwaltung fanden;53 niederländische Offiziere erhielten ihre Bezahlung in der Regel fortlaufend.54

An Land bildeten Seeleute und Offiziere eigene soziale Gruppen.55 Vor allem die gemeinen Seeleute galten oft als besonders laut und gewalttätig.56 Schon äußerlich fielen viele von ihnen durch ihren Seemannsgang und teilweise fehlende Gliedmaßen oder andere sichtbare Verletzungen auf.57 Diese resultierten nicht nur aus Gefechten, sondern auch aus dem grundsätzlich gewalttätigen Alltag in der Marine, der mit dem gewaltsamen Pressen zum Dienst begann und sich mit disziplinarischer und alltäglicher Gewalt zwischen den Besatzungsmitgliedern an Bord fortsetzte. Das Bild autoritär herrschender, brutaler Kapitäne ist in der Forschung teilweise revidiert worden,58 ebenso das Bild einer nach modernen Maßstäben hoch disziplinierten Marine.59 Disziplin und Drill herrschten zwar auf den Schiffen vor, aber außergewöhnlich gewalttätige, ausbeuterische Kapitäne dürften in der Minderheit gewesen sein. Dennoch waren physische Gewalt und körperliche Züchtigungen – allen voran das Auspeitschen – ein zentrales Element des Lebens an Bord.60 Insbesondere von Besatzungsmitgliedern, die zum ersten Mal mit Gewalt an Bord konfrontiert waren, wurden diese Maßnahmen trotz grundsätzlicher Akzeptanz als brutal empfunden.61 Neben der disziplinarischen Gewalt finden sich zahlreiche Berichte über gewalttätige Freizeitaktivitäten, wie etwa Boxkämpfe, die sowohl disziplinierende als auch gruppenkonstituierende Funktionen erfüllten und eine zentrale Rolle bei der Herstellung einer spezifischen maritimen Männlichkeit spielten.62 Aus diesem grundsätzlich gewalttätigen Alltag ragte die in den Schlachten erfahrene Kriegsgewalt als besonders eindrückliche Erfahrung heraus.63 So berichtete der Seemann John, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gedient hatte, dass er nach einem Gefecht an Deck gegangen sei, »um zu sehen, wie es dort nach einem großen Seegefecht aussah; doch [ihm] fehlten die Worte, das Blutbad und die allgemeine Verwüstung zu beschreiben.«64

Ausgehend von der Frage, wie sich diese von Nicol angesprochene Gewalt in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit in ihrer spezifischen Räumlichkeit und Materialität konstituierte, rücken vier zentrale Gewaltpraktiken der frühneuzeitlichen Seekriegsführung in den Fokus: das Verbrennen, das Entern, das Jagen und das Beschießen gegnerischer Schiffe. Sie bilden den analytischen Kern der Untersuchung und werden – nach der methodisch-theoretischen Verortung in Kapitel 2 – jeweils einzeln betrachtet. Im Anschluss daran geraten jene Folgen der Gewalteinwirkung in den Blick, die Nicol nicht in Worte fassen konnte: Verwundung, Tod und die Beschädigung der Schiffe. Den Abschluss bildet die Analyse der schriftlichen und visuellen Repräsentationen maritimer Gewalt am Beispiel von Relationen, Selbstzeugnissen, Gerichtsakten, Bildern und Romanen. Sie eröffnen nicht nur einen Zugang zum Geschehen, sondern prägen auch das Bild maritimer Kriegsgewalt von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart.

1.1.1Anderthalb Weltmeere. Räumliche Eingrenzung

Geographisch stehen der Nordatlantik und die Nordsee mit dem Ärmelkanal im Fokus der Untersuchung. Gemeint ist damit der Raum nördlich des Äquators bis zum Polarkreis, vom Golf von Mexiko und der Karibik bis zum Skagerrak zwischen Jütland, der Südküste Norwegens und der Westküste Schwedens sowie der Straße von Gibraltar (vgl. Abb. 2). In der Atlantic History wird dieses Gebiet als ein Raum begriffen, dessen Geschichte über nationale und imperiale Grenzen hinaus verläuft.65 Zahlreiche Studien haben sich mit seiner Geschichte befasst; immer wieder wurde dabei auch der Atlantik selbst als strukturierende Kraft hervorgehoben.66 Neben Handel, Migration und Umweltbedingungen spielte der europäische Seekrieg eine zentrale Rolle für die Herausbildung dieses transozeanischen Zusammenhangs.67

Abbildung 2:Karte mit der geografischen Verteilung der im Rahmen dieser Studie analysierten Seeschlachten.

Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts weiteten sich die maritimen Kriegsschauplätze europäischer Konflikte aus. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums prägten Schlachten großer Flotten in den europäischen Küstengewässern – insbesondere im Ärmelkanal – das Bild, etwa während des Zweiten Englisch-Niederländischen Krieges (1665–1667). Im Neunjährigen Krieg und im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) verlagerte sich die militärische Auseinandersetzung zunehmend auch in die Gewässer vor Amerika und in die Karibik. Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der Nordatlantik schließlich zu einem der wichtigsten Kriegsschauplätze. Zwar fanden die Gefechte meist nicht im offenen Ozean statt, doch lagen sie mitunter bis zu 300 Kilometer (rund 160 Seemeilen) von der Küste entfernt – außerhalb des Sichtfelds vom Land.

Mit dieser geographischen Ausdehnung ging ein Bedeutungswandel einher: Seekriege wurden nicht länger nur als Hilfsmittel des Landkriegs verstanden, sondern etablierten sich als eigenständige Sphäre der Kriegsführung.68 Der europäische Seekrieg prägte so den atlantischen Raum – und wurde zugleich von ihm geprägt. Diese enge Wechselwirkung unterscheidet den Nordatlantik von anderen maritimen Räumen wie dem Mittelmeer oder dem Pazifik, in denen geographische Bedingungen und konkurrierende, oft außereuropäische Seemächte die Handlungsspielräume europäischer Marinen stärker begrenzten.69 Im atlantischen Raum hingegen lässt sich für den Zeitraum zwischen 1665 und 1783 eine weitgehende europäische Dominanz beobachten – nicht zuletzt aufgrund des Fehlens anderer hochseetauglicher Flotten.70 In dieser Konstellation bietet der gewählte geographische Fokus besondere Möglichkeiten, die spezifischen Signaturen maritimer Gewalt und die Logik westeuropäischer Seekriegsführung in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit herauszuarbeiten.

1.1.2Anderthalb Jahrhunderte. Zeitliche Eingrenzung

Damit ist auch der zeitliche Rahmen umrissen, in dem sich die Untersuchung bewegt. Eingeleitet wird dieser durch den Zweiten Englisch-Niederländischen Krieg, abgeschlossen durch den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Beide Konflikte können als genuine Seekriege gelten und markieren markante Eckpunkte in der taktischen Entwicklung wie auch in der Wahrnehmung frühneuzeitlicher Seekriegsführung.71

Zwei Faktoren prägen diesen Zeitraum in besonderer Weise: die Einführung der Linienformation im Zweiten Englisch-Niederländischen Krieg, die in der Forschung als charakteristisch für das Zeitalter gilt, sowie das Ende des maritimen Mächtegleichgewichts nach dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Mit der Linienformation verband sich die Vorstellung, dass sich die Schiffe einer Flotte bei Annäherung an den Gegner in Kiellinie – also hintereinander – aufstellten, um die Schiffsbatterien optimal zur Wirkung zu bringen.72 Diese Anordnung war keine zwangsläufige Folge technologischer Entwicklungen, sondern Ausdruck einer spezifischen Vorstellung von Ordnung im Krieg, beeinflusst von den Normen der zeitgenössischen Landkriegsführung.73 In der Gefechtspraxis erwies sich die Linienformation als brüchig.74 Erlebnisberichte von Schlachtteilnehmenden lassen erkennen, dass sie nur selten konsequent durchgehalten wurde. Der Untersuchungszeitraum ist daher geprägt von dem Versuch, maritime Gewalt entlang normativer Idealvorstellungen zu strukturieren und gleichzeitig auf ihre situativen Herausforderungen zu reagieren – unter den Bedingungen eines relativen, jedoch instabilen Mächtegleichgewichts zur See. Denn trotz wachsender zahlenmäßiger Überlegenheit der britischen Marine seit Beginn des 18. Jahrhunderts blieb eine klare Vorherrschaft aus; die Kräfteverhältnisse blieben umstritten und verschoben sich je nach Kriegskonstellation zwischen britischen, französischen und phasenweise auch niederländischen Flotten. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen und Improvisationen, die in den Kriegen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gesammelt worden waren, kristallisierte sich bis zum Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs eine eigene Form der Seekriegsführung heraus.

Erst mit den Koalitionskriegen der 1790er bis 1810er Jahre setzte eine dauerhafte britische Hegemonie zur See ein, zugleich begann die strategische Bedeutung des Seekriegs insgesamt zurückzugehen.75 Der Untersuchungszeitraum von 1665 bis 1783 wird damit durch zwei historische Konstellationen gerahmt, in denen der Seekrieg nicht nur entscheidend geführt, sondern auch grundlegend neu gedacht wurde – und die damit den Rahmen für die Analyse der spezifischen Signaturen maritimer Kriegsgewalt im atlantischen Raum bilden.

1.2In unterschiedlichen Fahrwassern. Wege der Forschung

Das Meer ist als Erfahrungs-, Kommunikations- und Interaktionsraum in den letzten Jahren verstärkt in das Interesse von (Frühneuzeit-)ean:innen gerückt.76 Forschungen zu frühneuzeitlichen Handelskompanien und Kaufleuten widmen sich beispielsweise Fragen nach der Entstehung maritimer Handelsnetzwerke, der Zunahme und Form von Mobilität und Transport über See sowie ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen. Die deutschsprachige Forschung konzentriert sich dabei vor allem auf die Nord- und Ostsee,77 während die transatlantische Forschung die wirtschaftlichen, politischen, aber auch konfessionellen Beziehungen zwischen Europa und dem amerikanischen Kontinent in den Blick nimmt.78

Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie das Meer zwar als gewaltgeprägten Raum charakterisieren, Gewalt selbst in ihren Untersuchungen aber kaum explizit thematisieren. Gewalt wird vornehmlich im Zusammenhang mit Piraterie genannt und in erster Linie aus rechtshistorischer Perspektive betrachtet, indem nach der Sanktionierung illegitimer Gewalt auf See ebenso wie nach der Monopolisierung maritimer Gewalt gefragt wird.79 Neben der Piraterie steht auch das frühneuzeitliche Kaperwesen im Mittelpunkt des Interesses wirtschaftshistorischer Arbeiten, die sich mit den ökonomischen Auswirkungen von Gewaltakten auf See beschäftigen.80 Darüber hinaus bilden die Biographien einzelner, besonders ›herausragender‹ Kaperfahrender und Pirat:innen einen Fokus der Forschung.81 Ihre Taten bieten einen Zugang zu individuellen Gewalttaten, eine systematische Einordnung fehlt jedoch bislang. Strukturelle Gewalt auf See ist Gegenstand von transatlantischen Erforschung der Sklaverei82 sowie von Arbeiten in marxistischer Tradition über die Lebenswirklichkeit von Seeleuten.83 Damit sind der Atlantik und die Nordsee zwar grundlegend als Gewalträume beschrieben, die Gewalt selbst bleibt aber eine Blackbox.84 Gefechte, Überfälle und Kaperungen waren prägende Erfahrungen vieler Atlantikfahrer:innen;85 Herrschafts- und Handelskonflikte wurden in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit zunehmend auf See ausgetragen. Militärische Gewalt wurde mit ihnen zu einem wesentlichen Element der atlantischen Welt.

Die Seeschlachten dieser Konflikte sind ebenso wie Landschlachten zu einem rein historischen Phänomen geworden. Für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung hat dies den Vorteil, dass die Historizität des Ereignisses leichter zu fassen ist und Fragen nach den spezifischen Signaturen der Gewalt auf See sowie ihrer Funktion präziser gestellt werden können. Für die Untersuchung maritimer Kriegsgewalt kann dabei auf Ansätze der soziologischen Gewaltforschung zurückgegriffen werden, die sich bereits in der Auseinandersetzung mit der Kriegsführung an Land finden lassen. Im Unterschied zu anderen Gewaltkontexten erweisen sich strukturelle, symbolische und sprachliche Gewaltformen für die Analyse von Seeschlachten als methodisch wenig produktiv. Ein enger Gewaltbegriff – wie er auch in der Untersuchung von Landschlachten Anwendung findet – bietet hier den analytisch sinnvolleren Zugang.86

Gewalt begegnet in Schlachten vor allem als physische Gewalt im Sinne einer Verletzungsmacht (Heinrich Popitz), die von Körpern ausgeübt und erfahren wird.87 Eine solche Eingrenzung des Gewaltbegriffs entspricht der seit den 1990er Jahren dominierenden praxeologisch orientierten Gewaltsoziologie. Arbeiten in dieser Tradition untersuchen, wie räumlich und zeitlich, kulturell und sozial situiertes Handlungswissen über die Welt von Akteur:innen in Gewalt übersetzt wurde und wie dieses Wissen wiederum aus der (Gewalt-)Praxis heraus entstand. Sie fragen also danach, welche Gewaltformen und -akte zu welchem Zeitpunkt als legitim und welche als illegitim galten, welche Waffen und Artefakte wann und wie eingesetzt wurden und welche Formen von Verletzungen und deren Folgen sich nachweisen lassen.88 Ziel solcher Untersuchungen ist es nicht, Fragen nach dem Warum von Gewalt zu beantworten, vielmehr steht das Wie im Vordergrund des Interesses.

Entscheidende Impulse gingen dabei von der mikrosoziologischen Gewalttheorie Randall Collins aus, der sich aus emotionssoziologischer Perspektive mit konkreten Gewaltsituationen und ihren spezifischen Dynamiken auseinandersetzt.89 In jüngster Zeit ist die diesem Ansatz zugrunde liegende Emotionstheorie zunehmend in die Kritik geraten. Plädiert wird stattdessen für eine prozesssoziologische Gewaltforschung, die stärker auf die Verkettung von Ereignissen fokussiert.90 Diese Forderung korrespondiert mit neuen Tendenzen der mikrosoziologischen Gewaltforschung, die durch dichte Beschreibungen Erklärungen für Gewaltphänomene liefern wollen, indem sie die zeitliche Dimension von Gewalt einbeziehen.91 Für die Erforschung militärischer Gewalt bietet eine solche ›kontextsensible‹, performative Mikrosoziologie der Gewalt vielversprechende Ansatzpunkte.92 Ein solcher Zugang ermöglicht es, die intrasituativen Eigendynamiken von Gewalt in Schlachten mit den transsituativen Prozessen des Kriegsverlaufs zu verbinden.93 Darüber hinaus lehnt die aktuelle Gewaltsoziologie ein Verständnis von physischer Gewalt als rein destruktiv ab und betont die ordnungsstiftenden Elemente von Gewalt sowie ihre Funktion als Kommunikationsmittel, die stets an Beobachtungs- und Deutungsprozesse gebunden ist.94 Für die Analyse militärischer Gewalt auf See bedeutet dies, dass Repräsentationen von Gewalt explizit einbezogen werden müssen. Seeschlachten fanden oft ohne viele Zeug:innen abgesehen von den Teilnehmenden selbst statt. Es sind daher die zeitgenössischen schriftlichen und visuellen Verarbeitungen, die der Gewalt auf See eine sinnstiftende Form gaben und darüber hinaus den Zugang zu ihr erst ermöglichen.

Wie fruchtbar Ansätze der (historischen) Gewaltsoziologie für die Erforschung von Schlachten sind, hat bereits die kulturgeschichtliche Beschäftigung mit dem Landkrieg gezeigt, die der fehlenden Beschäftigung mit Seeschlachten florierend gegenübersteht. Die Gewalterfahrungen der Soldat:innen werden hier ebenso untersucht wie die Wahrnehmungen und Auswirkungen von Plünderungen, Fouragierung und Überfällen auf die Zivilbevölkerung.95 Angestoßen von John Keegans Face-of-Battle-Ansatz hat sich eine Kulturgeschichte der (Land-)Schlacht etabliert, die aus einer konsequenten Akteursperspektive individuelle und kollektive Wahrnehmungen, Verarbeitungsmuster und Repräsentationen von Schlachten unter Einbezug vielfältiger Faktoren wie Topographien der Schlachtfelder oder Witterungsverhältnisse untersucht.96 Seeschlachten wurden in diesen Untersuchungen bislang ausgeklammert;97 auch ein von Keegan selbst verfasstes Pendant zu seiner wegweisenden Studie, in dem er seinen breit rezipierten Ansatz auf Seeschlachten anwendet, hat in der Forschung kaum Anknüpfungspunkte gefunden.98 Eine Ausnahme bildet in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung die Seeschlacht von Lepanto (07. Oktober 1571) zwischen der Heiligen Liga und dem Osmanischen Reich im Mittelmeer, die in zwei umfangreichen Studien aus kultur- und mikrohistorischer Perspektive in Form einer dezentrierten Geschichtsschreibung untersucht wurde.99

Die weitgehende Nicht-Thematisierung militärischer Gewalt auf See bleibt auch mit einem Blick auf die internationale Forschung evident.100 So hat sich die anglo-amerikanisch geprägte New Naval History101 in den letzten Jahrzehnten von der älteren operationsgeschichtlichen Tradition der Marinegeschichte emanzipiert, und zunächst vorwiegend als Sozialgeschichte konstituiert.102 Mit der Erweiterung des Themenspektrums und der Anwendung neuerer methodisch-theoretischer Ansätze gelang es der New Naval History, wichtige Beiträge zu größeren Themenkomplexen der Frühneuzeitforschung zu leisten.103 Zu nennen sind hier in erster Linie Untersuchungen zur Rolle der Seestreitkräfte in den Staatsbildungsprozessen der Frühen Neuzeit.104 Damit hat sie auch den anwendungsorientierten Anspruch der national geprägten Marinegeschichte mit ihrem Fokus auf einzelne ›Entscheidungsschlachten‹ und ›große‹ Befehlshaber105 überwunden und sich an die allgemeinen Tendenzen der geschichtswissenschaftlichen Forschung angegliedert.106 Nicholas A. M. Rodger, Richard Harding, Sam Willis und Alan James haben in diesem Zusammenhang auch neue Maßstäbe für die operationsgeschichtliche Betrachtung der Seestreitkräfte gesetzt, indem sie die Entwicklung der Seekriegsführung in vergleichender Perspektive (Harding und Alan)107 bzw. für die britische Marine (Rodger)108 sowie in Abgrenzung zur theoretischen Betrachtung die praktische Umsetzung des Kampfes auf See (Willis)109 untersuchen. Diese Arbeiten bilden zentrale Bezugspunkte auch für die folgende Analyse, konzentrieren sich jedoch auf strategische und taktische Entwicklungslinien und lassen die Dimension des konkreten Gewalthandelns und -erleidens weitgehend unberücksichtigt.

Das späte 17. und 18. Jahrhundert gilt in diesem Zusammenhang gemeinhin als Phase der Etablierung, Professionalisierung und Institutionalisierung europäischer Seestreitkräfte.110 Die historiografische Beschreibung dieser Epoche war lange Zeit von einem linearen Aufstiegsnarrativ geprägt, das den Weg der Royal Navy zur dominierenden Seemacht nachzeichnet und parallel den Niedergang der französischen Marine (La Royale) erzählt. Dieses Deutungsmuster stützt sich nicht zuletzt auf einen retrospektiven Navalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der die Schlacht von Trafalgar (21. Oktober 1805) zum Ausgangspunkt einer triumphalistischen Erzählung britischer Seeherrschaft machte.111 In dieser Perspektive erscheint die britische Vormachtstellung als Resultat kapitalintensiver, langfristiger Investitionen im Sinne des Fiscal-Military State, wie ihn John Brewer beschrieben hat.112 Sie habe eine nachhaltigere Kriegsführung und eine bessere materielle Ausstattung der Streitkräfte ermöglicht. Im weiteren Zusammenhang wurde die Rolle der Kriegsschiffe als Schlüsseltechnologie immer wieder mit dem »Aufstieg des Westens« und der globalen Dominanz europäischer Imperien in Verbindung gebracht.113 In den letzten Jahrzehnten ist dieses teleologische Narrativ überzeugend in Frage gestellt worden. Neuere Studien betonen stattdessen die komplexen Verflechtungen europäischer Marinen in einer kosmopolitischen maritimen Welt, die sich imperialen Grenzziehungen ebenso entzog wie simplen Aufstiegs- oder Niedergangsmodellen.114

In diese Bewegung der Abkehr von nationalen Deutungsmustern und linearen Aufstiegs- oder Niedergangsnarrativen reiht sich auch die vorliegende Untersuchung ein. Im Rahmen einer maritimen Militärgeschichte, die an kulturgeschichtliche Ansätze zur Erforschung von Landschlachten anknüpft, wird auf die Vorstellung vermeintlich homogener nationaler Gewaltkulturen verzichtet.115 Stattdessen steht die Idee einer gemeinsamen atlantischen Grammatik maritimer Gewalt im Zentrum – eine geteilte Sprache und Logik des (west-)europäischen Seekriegs, die sich über nationale Grenzen hinweg artikulierte und in konkreten Praktiken niederschlug.

1.3Dead Seamen tell no tales? Quellen

Eine solche geteilte Sprache findet sich – buchstäblich und gattungsspezifisch – auch in den drei zentralen Quellengruppen der Untersuchung: individuelle und offizielle Erfahrungsberichte, Gerichtsakten und visuelle Darstellungen. Diese heterogene Quellenbasis folgt dem Ziel einer möglichst breit gefächerten, multiperspektivischen Betrachtung, sowohl mit Blick auf die drei Marinen als auch auf unterschiedliche soziale Schichten, Rollen und Beobachtungsradien im Gefecht. Die Gewalterfahrungen der Offiziere auf dem Achterdeck unterschieden sich von jenen der Besatzungsmitglieder in den Pulverkammern, die vom unmittelbaren Kampfgeschehen weitgehend abgeschnitten waren, ebenso wie von denen der an den Kanonen unter Deck stationierten gemeinen Seeleuten und Offiziere. Ebenso unterschieden sich die Gewaltwahrnehmungen von Schiffsjungen, die in Versklavung lebten, von zwangsverpflichteten Seeleuten oder ausgebildeten Soldaten. Dieser Vielfalt an Perspektiven wird im Rahmen des Möglichen Rechnung getragen – auch wenn der Zugriff auf sie durch die Überlieferungssituation eingeschränkt ist.

Die Überlieferungslage variiert erheblich zwischen den drei untersuchten Seestreitkräften. Für die englische/britische und die französische Marine liegen in den jeweiligen Nationalarchiven umfangreiche Bestände offizieller Dokumente und Berichte vor – in Großbritannien stellenweise nahezu lückenlos. In den Niederlanden hingegen wurde ein großer Teil der archivalischen Überlieferung durch Brände in den Jahren 1771 und 1844 zerstört. Die Quellenbasis ist hier entsprechend schmaler, was sich auf die Tiefe und Dichte der Analyse auswirkt.116 Individuelle Erfahrungsberichte einfacher Seeleute sind nahezu ausschließlich auf britischer beziehungsweise englischsprachiger Seite überliefert. Zu den zentralen Quellen zählen die edierten Tagebücher und Memoiren von Edward Barlow aus den englisch-niederländischen Kriegen, William Spavens aus dem Siebenjährigen Krieg sowie John Nicol und Joshua Davis aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.117 Die im Vergleich zu Frankreich und den Vereinigten Provinzen stärkere Fokussierung auf die Marine führte in Großbritannien bereits im 19. Jahrhundert zu einer spezialisierten Editionspolitik, die vor allem durch die 1893 gegründete Navy Records Society vorangetrieben wurde. Vereinzelt finden sich in den britischen Publikationen auch englischsprachige Berichte von Besatzungsmitgliedern anderer Seestreitkräfte, wie etwa des schwedischen Leutnants Malmsköld, der während des Siebenjährigen Kriegs in der französischen Marine diente.118 Trotz der einseitigen Überlieferungslage in Bezug auf die Provenienz zeigt sich – vor dem Hintergrund der geringen Alphabetisierungsrate unter einfachen Seeleuten und der hohen materiellen Verlustrisiken auf See – eine bemerkenswerte Dichte an Selbstzeugnissen gerade dieser Gruppe. Die vorhandenen Quellen erlauben damit eine multiperspektivische Betrachtung, sowohl hinsichtlich der sozialen Herkunft als auch der unterschiedlichen Stationierung an Bord. Deutlich seltener überliefert sind hingegen Berichte von Schiffsärzten und Kaplänen, obwohl diese auf größeren Kriegsschiffen regelmäßig präsent waren; lediglich zwei nennenswerte Ausnahmen lassen sich identifizieren.119

Überlieferungen von Frauen, die eigene Erfahrungen in Seeschlachten schildern, liegen nach aktuellem Kenntnisstand nicht vor.120 Umso bemerkenswerter ist die Autobiographie von Olaudah Equiano (ca. 1745–1797), der als versklavter, schwarzer Schiffsjunge am Siebenjährigen Krieg teilnahm – eine der wenigen bekannten Quellen dieser Art.121 Auf britischer Seite sind umfangreiche Bestände an Briefen und Tagebüchern von Offizieren in der Caird Library des National Maritime Museum (NMM) in Greenwich (London) erhalten. Ergänzend stehen offizielle Berichte, Zeitungsmeldungen, Flugblätter und Verwaltungsschriften zur Verfügung. Weitere zentrale Quellen – darunter Schlachtenberichte, Logbücher und Schiffstagebücher – finden sich in den National Archives (TNA) in Kew (London) sowie in der British Library (BL) in London.

Die französische Überlieferung ist ähnlich reichhaltig, allerdings weniger systematisch erschlossen. In den Archives Nationales (AN) in Paris sind sowohl Briefe als auch Verwaltungsdokumente überliefert; Memoiren und Tagebücher finden sich darüber hinaus in der Bibliothek der Bibliothèque nationale de France (BNF) sowie in deren Onlineplattform Gallica. Für die niederländische Marine stehen zumindest Teilbestände offizieller Berichte im Nationaal Archief (AN) in Den Haag zur Verfügung. Einige ergänzende Materialien aus der Regierungszeit Wilhelms III. (1689–1702) befinden sich in der British Library.

Die Überlieferungsdichte nimmt gegen Ende des 18. Jahrhunderts erwartungsgemäß zu – nicht zuletzt durch die gestiegene Alphabetisierungsrate unter Seeleuten und eine wachsende Kultur des Briefschreibens, die auch »untrainierte Schreiber« erfasste.122 Die insgesamt oft zufällig erhaltenen Tagebücher und Briefe – von einfachen Seeleuten wie von Offizieren – bieten Einblicke in zeitgenössische Narrative, Topoi sowie in Praktiken der Sinnstiftung und Wahrnehmung im Kontext maritimer Gewalt.123

Ergänzt werden diese Überlieferungen durch serielle Gerichtsakten, in denen die Nachbereitung von Seeschlachten institutionell gerahmt wurde. Solche Verfahren wurden vor allem dann eingeleitet, wenn Gefechte nicht das erhoffte Ergebnis erbracht hatten – etwa bei Schiffsverlusten, disziplinarischen Verstößen oder dem Verdacht auf ›Feigheit‹. In diesen juridisch-administrativen Dokumenten finden sich detaillierte Beschreibungen des Kampfgeschehens aus der Perspektive zahlreicher Besatzungsmitglieder, auch niedrigerer Ränge. Rechtfertigungsnarrative, Schuldzuweisungen, Fragestrukturen und Darstellungsformen eröffnen einen Zugang zu ansonsten kaum greifbaren Wahrnehmungs-, Deutungs- und Ordnungsmustern im Kontext maritimer Gewalt. Der heuristische Zugriff auf diese Quellen zielt nicht auf ein vermeintliches »wie es eigentlich gewesen«, sondern auf die Rekonstruktion sozialer Wissensbestände, die sich in den Protokollen sedimentiert haben.124

Für die britische Marine sind die Gerichtsakten der Courts Martial von 1680 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums nahezu lückenlos im britischen Nationalarchiv überliefert. Die für diese Analyse besonders relevanten Anklagekategorien – »Loss of Ship«, »Cowardice« und »Misdemeanour in Action«125 – basieren auf den Articles of War, die erstmals 1652 erlassen und ab 1661 regelmäßig von der Krone promulgiert wurden.126 Für die niederländische Admiralität liegen einige Gerichtsakten in publizierter Form vor; zur französischen Überlieferung ist der Forschungsstand unsicher.127

Als dritte Quellengruppe werden visuelle Darstellungen von Schlachten und Gefechten herangezogen. Sie eröffnen einen Zugang zu zeitgenössischen Normvorstellungen, ästhetischen Idealen und den imaginierten Erwartungen an eine Seeschlacht. Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich die Marinemalerei – insbesondere die Darstellung von Seeschlachten – zu einem eigenständigen Genre, dessen führende Vertreter im 17. Jahrhundert vor allem in den Vereinigten Provinzen und im 18. Jahrhundert insbesondere in Großbritannien aktiv waren.128 Umfangreiche Sammlungen von Gemälden, Zeichnungen, Drucken und Stichen sind heute etwa im National Maritime Museum in London, im Yale Center for British Art in New Haven, im Rijksmuseum und im Scheepvaartmuseum in Amsterdam überliefert. Ein deutlich kleinerer Bestand an Seeschlachtendarstellungen zum atlantischen Seekrieg befindet sich im Musée National de la Marine in Paris sowie in Toulon, Brest und Rochefort.

Die visuellen Quellen eröffnen damit nicht nur Einblicke in zeitgenössische Vorstellungen von Seeschlachten, sondern ergänzen die textbasierte Überlieferung um eine ikonografisch aufgeladene Dimension maritimer Gewalt. Um die unterschiedlichen Quellengattungen – bildliche, narrative und administrative – vergleichbar analysieren zu können, wird auf sprachlicher Ebene eine Vereinheitlichung angestrebt. Die Übersetzung aller Originalzitate ins Deutsche folgt dabei nicht nur pragmatischen, sondern auch methodischen Überlegungen: Sie schafft eine gemeinsame begriffliche Grundlage und verhindert, dass die sprachliche Dominanz einzelner Überlieferungstraditionen analytisch wirksam wird.

1.4Maritime Kriegstheater. Historischer Kontext

Der angelegte Untersuchungszeitraum ist durch eine allmähliche Ausweitung maritimer Kriegsschauplätze gekennzeichnet, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer Veränderung der geographischen Logik der Seekriegsführung führte.

Konflikt

Nordsee

Atlantik

Karibik

Mittelmeer

Pazifik und Indischer Ozean

Zweiter Englisch-Niederländischer Krieg (1665–1667)

7

1

2

0

0

Dritter Englisch-Niederländischer Krieg (1672–1674)

4

0

2

0

0

Neunjähriger Krieg (1688–1697)

5

5

0

0

0

Spanischer Erbfolgekrieg (1701–1714)

2

3

1

2

1

Österreichischer Erbfolgekrieg (1739/40–1748)

0

2

2

1

1

Siebenjähriger Krieg (1755/56–1763)

0

4

3

1

3

Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg (1775–1783)

3

11

8

0

5

Gesamtzahl der Schlachten

21

26

18

4

10

Tabelle 1:Räumliche Verteilung der Seeschlachten im angelegten Untersuchungszeitraum.

Der Zweite Englisch-Niederländische Krieg markiert dabei den Beginn des Untersuchungszeitraums und konzentrierte sich – abgesehen von einzelnen Gefechten in Nordamerika und der Karibik – noch weitgehend auf europäische Küstengewässer. Insgesamt fanden sieben größere Seeschlachten im Ärmelkanal sowie in den englischen und niederländischen Küstenzonen statt. Drei davon wurden mit Flotten von jeweils über hundert Schiffen geführt und galten in der Wahrnehmung der Zeitgenossen vor allem wegen des gezielten Einsatzes von Brandern als besonders eindrücklich. In der Forschung wird insbesondere der Schlacht bei Lowestoft am 13. Juni 1665 zentrale Bedeutung beigemessen, da sie als Beginn der Linienformation in der niederländischen Flotte gilt.129 Zeitgenössische Berichte hingegen betonen weniger die taktische Formation als vielmehr den Nahkampf zwischen einzelnen Schiffen und die Versuche, gegnerische Einheiten in Brand zu setzen.130 Der englische Angriff auf ein vor Terschelling ankerndes niederländisches Geschwader im August 1666 sowie der niederländische Angriff auf die englische Flotte im Medway im Juni 1667, bei denen jeweils große Teile der gegnerischen Schiffe verbrannt wurden, stehen exemplarisch für eine Kriegsführung, die bewusst auf Zurschaustellung von Gewalt und demonstrative Überlegenheit setzte. Diese Praxis setzte sich auch im nur wenige Jahre später ausgetragenen Dritten Englisch-Niederländischen Krieg (1672–1674)131 fort.

Diese auf Masse angelegte Gefechtsführung spiegelte sich auch in der Größe der beteiligten Flotten wider. Im Zweiten Englisch-Niederländischen Krieg verfügte die englische Marine mit insgesamt 143 Schiffen über einen leichten zahlenmäßigen Vorteil gegenüber der niederländischen Marine mit 115 Schiffen.132 Vor Beginn des Dritten Englisch-Niederländischen Kriegs drehte sich das Verhältnis um: Mit 129 gegenüber 104 Schiffen war nun die niederländische Flotte zahlenmäßig überlegen (vgl. Abb. 1). Die reine Anzahl von Schiffen markiert jedoch nur einen Indikator für die Stärke und Schlagkraft maritimer Gewalt und lässt sich nicht unmittelbar in hegemoniale Seemacht (seapower) übersetzen.133

Weder der Zweite noch der Dritte Englisch-Niederländische Krieg verliefen für die englische Marine günstig. Der Versuch Karls II. von England, den für England ungünstigen Frieden von Breda aus dem Jahr 1667 durch die Provokation eines neuen Kriegs zu seinem Vorteil zu verändern, scheiterte.134 Die insgesamt vier Seeschlachten zwischen der niederländischen und der englischen Flotte verliefen weitgehend zu Ungunsten Englands, und das Parlament zwang Karl II. im Februar 1674 zum Abschluss des Friedens von Westminster. Parallel hatte auch Frankreich im März 1672 den Vereinigten Niederlanden den Krieg erklärt. Im sogenannten Holländischen Krieg (1672–1678)135 trafen die niederländische und die zahlenmäßig überlegene französische Flotte auch in zwei Gefechten in der Karibik aufeinander.

Auch in den beiden folgenden Konflikten blieb der Seekrieg ein zentrales Mittel der Machtprojektion. Während des Neunjährigen Kriegs136 zeichnete sich ein Wandel in der Praxis der Seekriegsführung ab: Der Schwerpunkt verlagerte sich von Schlachten mit großen Flotten hin zu einer stärker individualisierten Form der Kriegsführung, getragen von kleineren, nur lose in die Flottenstruktur eingebundenen Geschwadern, deren Ziel in erster Linie die Kaperung gegnerischer Schiffe war. Der in dieser Phase beobachtbare Übergang vom guerre d’escadre zum guerre de course ist in der Forschung vielfach diskutiert worden. Besonders die Zerstörung von zwölf französischen Kriegsschiffen durch englische Brander in den Schlachten von Barfleur und am 29. Mai und 4. Juni 1692 wurde als Wendepunkt gedeutet und zum Beleg für den vermeintlichen Niedergang der französischen Marine herangezogen.137 Da Frankreich nach diesen Verlusten nicht mehr in der Lage gewesen sei, eine ausreichend starke Flotte aufzustellen, habe es sich notgedrungen auf den Kaperkrieg verlegt.138

Diese Interpretation greift jedoch zu kurz. Der Wandel in der Seekriegsführung des Neunjährigen Kriegs beschränkte sich nicht auf den Rückgriff auf Kaperfahrten, sondern zeigte sich ebenso in der veränderten Struktur der Flottenschlachten. Zwar blieb die Gesamtzahl der eingesetzten Schiffe im Vergleich zu früheren Konflikten zunächst relativ konstant (vgl. Abb. 1), doch standen sich in den meisten der insgesamt zehn großen Seeschlachten deutlich kleinere Verbände gegenüber – vielfach weniger als zwanzig, teils sogar weniger als zehn Schiffe.139 Ziel war nicht mehr primär die Vernichtung der gegnerischen Flotte, sondern die gezielte wirtschaftliche Schwächung durch die Kaperung von (Handels-)Schiffen. Mit den Gefechten in der Bay of Fundy (1696) und in der Hudson Bay (1697), in denen französische und niederländische Geschwader aufeinandertrafen, weitete sich das Kriegsgeschehen erstmals deutlich auf nordamerikanische Küstengewässer aus.140 Der Friede von Rijswijk beendete im Oktober 1697 den Konflikt. Doch bereits drei Jahre später führte der Tod Karls II. von Spanien erneut zum Ausbruch eines europäischen Kriegs, in dem sich die reduzierte, stärker auf Einzelaktionen konzentrierte Seekriegsführung zunächst fortsetzte. Der Fokus auf Operationen einzelner Schiffe – etwa durch Brander oder Kaperfahrten – blieb bestimmend. Die Dominanz individueller Gewalthandlungen bestimmte die maritime Kriegsführung noch bis in die 1740er Jahre, ehe koordinierte Flotteneinsätze sie zunehmend ablösten.

Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714)141 verlagerte sich das Kriegsgeschehen verstärkt in das Mittelmeer sowie in den Nordatlantik und die Karibik. Zu Beginn des Kriegs verfügte die englische Marine mit 177 Schiffen über die größte Flotte, gefolgt von Frankreich mit 146 und den Vereinigten Provinzen mit 113 Schiffen. Insgesamt kam es zu neun größeren Seeschlachten zwischen der englisch-niederländischen Allianz und der französisch-spanischen Flotte.

Es folgten weitere Konflikte mit Seeschlachten im Mittelmeer und in der Ostsee. Der nächste Krieg, der sich bis in den Nordatlantik ausdehnte – oder, je nach Lesart, in den nordamerikanischen Kolonien begann und auf Europa zurückwirkte – war der Österreichische Erbfolgekrieg mit dem War of Jenkins’ Ear (1739/1740–1748).142 In der Karibik und vor der nordamerikanischen Küste trafen britische, französische und spanische Schiffe in insgesamt vier größeren Schlachten aufeinander. Zwei weitere Seeschlachten fanden im Mittelmeer und im Indischen Ozean statt.

In diesen Gefechten trat ein verändertes Muster der Seekriegsführung zutage: Die Kohäsion der Flottenverbände wurde enger, die Signal- und Kommunikationssysteme komplexer, und das gezielte Jagen gegnerischer Schiffe entwickelte sich zu einem zentralen Bestandteil der Schlacht.143 Eine erste Ausprägung dieses Typs lässt sich bereits 1718 im Mittelmeer während des Kriegs der Quadrupelallianz beobachten;144 doch erst in den letzten Jahren des Österreichischen Erbfolgekriegs wurde die Jagdschlacht zur dominierenden Form, die auch den nur sieben Jahre später beginnenden Siebenjährigen Krieg145 prägen sollte. In zwei großen und sieben kleineren Seeschlachten standen sich britische und französisch-spanische Flottenverbände gegenüber. Zu Kriegsbeginn 1755 verfügte die britische Marine über 216 Schiffe, darunter 117 ›Linienschiffe‹; die französische Marine über 98 Schiffe, davon 57 ›Linienschiffe‹. Nach dem Friedensschluss von Paris und Hubertusburg (1763) verfestigte sich dieses Kräfteverhältnis zunächst: 1765 zählte die britische Flotte 266 Schiffe (davon 139 ›Linienschiffe‹), die französische 103 Schiffe (davon 59 ›Linienschiffe‹). Die Flotte der Vereinigten Provinzen verfügte mit insgesamt 59 Schiffen, darunter 30 ›Linienschiffe‹ (1755: 54/29), über deutlich geringere Kapazitäten (vgl. Abb. 1).

Doch bis zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs im Jahr 1775 hatte sich ein neues, relativ ausgeglichenes Mächteverhältnis zur See herausgebildet. Als letzter genuiner Seekrieg des 18. Jahrhunderts markiert dieser Konflikt, der in der älteren Forschung häufig als Archetyp frühneuzeitlicher Seekriegsführung bezeichnet wurde,146 den Endpunkt der Untersuchung. Zwar stellte die britische Marine mit 227 Schiffen weiterhin die größte Flotte, doch erwiesen sich die französische (117 Schiffe) und die niederländische Marine (64 Schiffe) im Gefecht weitgehend ebenbürtig – in einzelnen Konstellationen sogar überlegen. Insgesamt kam es zu 24 größeren Schlachten und Gefechten zwischen europäischen Marinen, ergänzt durch Auseinandersetzungen mit der sich formierenden amerikanischen Marine.147

Auf den ersten Blick scheint sich mit dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg der Kreis zu schließen: Schlachten großer Flotten dominierten das Geschehen, und selbst die Brandschiffe, deren Bedeutung im 18. Jahrhundert stark abgenommen hatte, wurden wieder vermehrt eingesetzt.148 Doch bei genauerem Hinsehen tritt ein verändertes Bild zutage – geprägt von stärker formalisierten Abläufen und einem kollektiveren Agieren im Gefecht. Um diese Entwicklung analytisch zu erfassen, richtet sich der Blick der folgenden Untersuchung auf den praktischen Vollzug maritimer Gewalt, ihre räumlichen und materiellen Bedingungen sowie ihre Wahrnehmung und Repräsentation. Den methodisch-theoretischen Rahmen dieser Herangehensweise skizziert das nächste Kapitel.

2.Fragmentiertes Beschreiben. Zugänge zur Seeschlacht

Die Untersuchung folgt einem dreistufigen Zugriff auf die Praxis maritimer Gewalt in den atlantischen Seeschlachten zwischen 1665 und 1783. Im Zentrum stehen dabei jene spezifischen Gewaltformen und Technologien, die Gefechte zur See prägten (3): das Verbrennen, das Entern, das Jagen und das Beschießen gegnerischer Schiffe. Jede dieser Praktiken wird exemplarisch an zwei Fallbeispielen analysiert, die sowohl eine dichte Überlieferungslage als auch ein hohes Maß an Beobachtbarkeit im Gefecht aufweisen. Die Auswahl folgt einer chronologischen Ordnung, beginnend mit den Branderangriffen im Zweiten Englisch-Niederländischen Krieg (1666) (3.1), über Entergefechte der 1690er Jahre (3.2) und Jagdschlachten im Siebenjährigen Krieg (1759) (3.3), bis hin zur Analyse des Beschießens in der Schlacht von Ouessant (1778). Aufgrund seiner allgegenwärtigen Präsenz im Gefecht lässt sich das Beschießen nicht sinnvoll an einem einzelnen Fallbeispiel untersuchen. Stattdessen wird es querschnittartig im Rahmen mehrerer zuvor untersuchter Seeschlachten analysiert (3.4). In der Zusammenschau ergibt sich so eine Grammatik maritimer Gewalt, die nicht nur die Formen des Gefechts, sondern auch dessen taktische, materielle und soziale Logik sichtbar macht (3.5).

Mit dem Blick auf Verwundung, Tod und Schiffsverluste verschiebt sich die Perspektive von der Praxis der Gewalt zur Erfahrung ihrer Folgen – und damit zu einer anderen Dimension der Seekriegsführung (4). Im Vergleich zum Landkrieg lassen sich im Umgang mit den Verletzten und Toten an Bord spezifisch maritime Routinen, Zumutungen und Bedeutungszuschreibungen beobachten, die Rückschlüsse auf die soziale und kulturelle Rahmung maritimer Gewalt erlauben. Der Blick auf die materiellen und symbolischen Konsequenzen des Gefechts ermöglicht zugleich eine erneute Zuspitzung des zuvor herausgearbeiteten Wandels in der Seekriegsführung.

Mit den Repräsentationen rückt die dritte Dimension maritimer Gewalt in den Fokus: ihre mediale Rahmung und visuelle wie narrative Verdichtung (5). In schriftlichen, bildlichen und erzählenden Darstellungen spiegeln sich nicht nur Wahrnehmungen und Deutungsmuster von Seeschlachten, sondern auch Erwartungen, Ordnungsvorstellungen und Ästhetisierungen. Die Analyse dieser Quellen reflektiert die medialen Zugriffsweisen der Forschung ebenso wie die Voraussetzungen des historischen Erzählens selbst – insbesondere mit Blick auf jene Gewaltszenen, die in im dritten Kapitel analytisch ausdifferenziert wurden, in der Überlieferung jedoch häufig als verdichtete Gesamtdarstellungen erscheinen. Der Perspektivwechsel von der ausgeführten zur dargestellten Gewalt eröffnet eine andere Form historischer Erkenntnis und erlaubt es, die Entwicklung maritimer Kriegsführung im langen 18. Jahrhundert abschließend in veränderter Perspektive zu konturieren.

Den Abschluss bildet eine Zusammenschau der zuvor getrennt analysierten Ebenen, die eine übergreifende Perspektive auf maritime Kriegsgewalt im langen 18. Jahrhundert eröffnet. Ausgehend von den materiellen Grundlagen der Gewaltpraktiken, den Wahrnehmungen der Beteiligten und den daraus hervorgehenden Signaturen des Gefechts werden zentrale Linien verdichtet, ohne die situative Offenheit und Wandelbarkeit maritimer Gewalt aus dem Blick zu verlieren.

2.1Seeschlacht als Praxisform. Analytische Perspektiven

Seeschlachten waren in hohem Maße kontingente Phänomene, deren Verlauf und Ausgang kaum kontrollierbar waren. Umwelteinflüsse, die Unberechenbarkeit der Umgebung und technische Faktoren bestimmten das Geschehen; Schiffe und Besatzungen waren Meer und Wind ausgeliefert, Manöver und Bewegungen nur schwer planbar.149 Die Schlachten fanden in der konturlosen Weite des Meeres und damit in einem scheinbar unbegrenzten Raum statt, der jedoch durch Riffe, Untiefen und Sandbänke, die zum Teil nicht sichtbar und bestimmbar waren, stark eingeschränkt werden konnte. Dieser vermeintlichen Unbegrenztheit stand die räumliche Abgeschlossenheit der Schiffe als ›schwimmende Festungen‹150 gegenüber, die sich auf einem dynamischen Untergrund in ständiger Bewegung befanden.151 Diese spezifische Räumlichkeit des Geschehens prägte ebenso wie seine Kontingenz die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Beteiligten und erforderte eigene (improvisierte) Taktiken der Bewältigung: Vermeintliche technologische Überlegenheit und taktisches Know-how waren keine Garanten für strategische Vorteile und militärischen Erfolg. Technologische und operationale Entwicklungen, etwa in Form von Schiffstypen oder einer veränderten Strategie, mussten sich auf See bewähren – Notwendigkeiten für Veränderungen ergaben sich aus konkreten Gewalterfahrungen. Erklärungen und Ansätze, die sich vor allem auf technische Entwicklungen und taktische Faktoren fokussieren, sind folglich nicht ausreichend, den Wandel von Seeschlachten und der frühneuzeitlichen Seekriegsführung zu erklären. Nur ein Zugang, der Gewalt praxistheoretisch operationalisiert und Seeschlachten als Praxisform begreift, kann der Bedeutung von Räumlichkeit und Kontingenz ebenso gerecht werden wie Technologien und Taktiken und der Ergebnisoffenheit des Geschehens Rechnung tragen.

Praktiken lassen sich verstehen als »situierter Vollzug von Sprechakten und Handlungen im Zusammenspiel von Dingen und körperlichen Routinen von Akteuren«.152 Sie zeichnen sich durch Regelhaftigkeit, Körperlichkeit, Materialität und Situationsgebundenheit aus und folgen in ihrer Verkettung bestimmten Eigenlogiken.153 Wenn sich mehrere Praktiken zu einem komplexen Geschehen verbinden, kann das entstehende Gebilde als Praxisform bezeichnet werden. Praxisformen lassen sich ebenso wie Praktiken als Geschehensformen nur in ihrem Vollzug beobachten; sie sind nicht dauerhaft, haben einen bestimmbaren Anfang und ein bestimmbares Ende, und müssen durch die Verdichtung von Praktiken immer wieder neu bestätigt werden.154 Jede Praxisform folgt ihrer eigenen Logik und fordert spezifische Praktiken. Sie vollzieht sich in immer ähnlicher, aber nicht immer gleicher Weise und wirkt damit über die spezifische Situation hinaus. Für eine Seeschlacht bedeutete dies, dass sie erst durch die Verbindung unterschiedlicher (Gewalt-)Praktiken wie das Abfeuern von Kanonen, das Hissen bestimmter Signalflaggen und das (versuchte) Entern gegnerischer Schiffe hervorgebracht und damit in ihrem Vollzug sichtbar wird.155 Die Verbindung dieser Praktiken ist dabei nicht willkürlich, sondern folgt bestimmten Regeln und Konventionen; ihr konkreter Vollzug und Gewichtung unterscheidet sich jedoch von Seeschlacht zu Seeschlacht. Als Praxisform aktualisieren Seeschlachten wiederum die Praxisformation Seekrieg, die selbst die »Weichen für die Entstehung neuer Praktiken stell[t]«,156 indem er Ressourcen und Schemata als »Gruppen von kulturell geteilten Konzepten, Überzeugungen und anderen Einstellungen, die es uns ermöglichen, Informationen zu interpretieren und zu organisieren und Handlungen, Gedanken und Affekte zu koordinieren« bereitstellt.157

Ergänzt um Elemente der Science and Technology Studies (STS)158 betrachtet ein solcher Ansatz menschliche, technische und natürliche Akteure symmetrisch.159 Denn zeitgenössische Überlieferungen machen deutlich, dass Menschen zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine Seeschlacht waren: Verlauf und Ausgang einer Schlacht wurden ebenso von Wetterbedingungen, Windrichtung, Wellengang, eingesetzten Schiffen, verfügbarem Schießpulver, naturräumlichen Gegebenheiten und zahllosen anderen Faktoren bestimmt wie von menschlichen Entscheidungen und Handlungen. So finden sich auch in der eingangs zitierten Beschreibung einer Seeschlacht des Comte de Maurepas zwar implizit menschliche Handlungen, explizit thematisiert werden aber vor allem Masten, Segel, Pulver, Kanonenkugeln und nicht zuletzt das Meer – und damit technische wie natürliche Akteure der Schlacht.160

Der gewählte akteur-netzwerktheoretische Ansatz ermöglicht es, die tragende Rolle der Technik in einer Seeschlacht sowie ihre übersituative, praxisstabilisierende Wirkung zu betonen, ohne in technikdeterministische Narrative zu verfallen. In Anlehnung an Stefan Kaufmann wird Technik dabei nicht nur als »die Dinge selbst« verstanden, sondern insbesondere als das, »was im griechischen Begriff der techné impliziert ist: die Kunst, mit den Dingen umzugehen«.161 Im Vordergrund steht also die Betrachtung von Technik als Nutzungsfiguration, die erst im praktischen Vollzug umfassend analysiert werden kann.162 Während technikdeterministische Positionen die Entwicklung der Seekriegsführung vor allem aus einer utilitaristischen und vermeintlich militärisch-rationalen Perspektive betrachten und fast ausschließlich die Entwicklung neuer Schiffstypen und Technologien als Motor des Wandels sehen,163 bietet eine praxeologische Operationalisierung unter Einbeziehung der STS den Vorteil, technische, soziale, kulturelle und situative Faktoren gleichermaßen berücksichtigen zu können.164 Denn technologische Entwicklungen allein erweisen sich als unzureichend, um Veränderungen in der Seekriegsführung zu erklären. Zwar wird der Untersuchungszeitraum maßgeblich durch die Entwicklung und den Einsatz spezifischer Kriegsschiffe bestimmt, doch waren dem technischen Artefakt ›Linienschiff‹ eine Vielzahl potenzieller Handlungsoptionen eingeschrieben. So war z. B. die Aufstellung in Linienformation vor dem Hintergrund zeitgenössischer Ideale und Normen eine logische Form der Kriegsführung, aber keineswegs eine notwendige Konsequenz technologischer Entwicklungen.165 Vielmehr lässt sich die Prävalenz der Linienformation maßgeblich auf soziokulturelle Normen und Konventionen zurückführen, die diese Art der Kriegsführung als manifeste Affordanzen aus den allgemeinen, latenten Affordanzen der technischen Artefakte herauslösten und schließlich situativ aktualisierten.166 Verkürzt zusammengefasst stellte der Einsatz von Kriegsschiffen in Linienformation lediglich eine von vielen Möglichkeiten dar, die Kriegsschiffe einzusetzen. Sie ergab sich nicht zwingend aus der Bauweise der Kriegsschiffe, sondern wurde zeitgenössisch aufgrund von kulturellen, räumlichen, technologischen und sozialen Faktoren bevorzugt. Ähnlich lässt sich der Umgang mit Geschützen, Munition oder Werkzeugen wie Enterhaken beschreiben. Die Anordnung in Linienformation erforderte zudem ein spezifisches Bedienungswissen sowie ein komplexes kulturelles Wissen über Nutzungskonventionen.167 Schiffsbesatzungen und Kommandanten mussten über das Wissen verfügen, wie Schiffe, Segel und Geschütze zu bedienen waren, um sie in Linienformation anzuordnen und Breitseiten abzufeuern. Ebenso war ein Bewusstsein dafür erforderlich, wann und wie die Umsetzung der Linienformation erwartet wurde – auch dann, wenn sich Kommandanten explizit gegen sie entschieden. Technische Artefakte wie Schiffe, Munition und Geschosse hatten dabei eine praxisstabilisierende Funktion. Sie bildeten »mit der Macht des Faktischen ausgestattete sozial-kulturelle Orientierungskomplexe« und »wirkungsvolle Form[en] des Kontingenzmanagements«.168 Die Kriegsschiffe determinierten die Umsetzung der Linienformation in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit nicht, aber verstärkten und verstetigten sie über die spezifische Situation hinaus, indem sie diese Anordnung im Gefecht privilegierten. Mit Bernhard Waldenfels unterwarfen sie die Körper der Besatzungsmitglieder »nachhaltig einer techno-logischen, zeitlich-räumlichen Ordnung«, indem sie ihre Bewegungen, Sprechakte und Wahrnehmungen »technologisch infizierte[n]«.169 In anderen Worten: Die Linienformation war nicht die einzige und notwendige Form der Gefechtsführung – die Anordnung der Geschütze an Bord legte sie aber nah und prägte damit die Bewegungsabläufe der Besatzungsmitglieder an Bord. Diese wiederum wirkten auf die Vorstellungen der Seekriegsführung sowie den Schiffsbau zurück und führten zu einer vermehrten Konstruktion der Linienschiffe.