Martialische Ästhetik - Anders Engberg-Pedersen - E-Book

Martialische Ästhetik E-Book

Anders Engberg-Pedersen

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Beschreibung

Das einundzwanzigste Jahrhundert ist Zeuge einer Militarisierung der Ästhetik, bei der Militäreinrichtungen die kreative Weltgestaltung der Kunst vereinnahmen und sie mit den zerstörerischen Kräften der Kriegsführung verschmelzen. In Martialische Ästhetik untersucht Anders Engberg-Pedersen die Ursprünge dieser Allianz und zeigt auf, dass die heutige kreative Kriegsführung lediglich eine historische Entwicklung fortsetzt. Die Entstehung der Kriegsästhetik geht auf eine Reihe von Erfindungen, Ideen und Debatten im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert zurück. Schon damals übernahmen militärische Denker und Erfinder Ideen aus dem Bereich der Ästhetik über das Wesen, den Zweck und die Kraft der Kunst und formten sie zu innovativen Militärtechnologien und -theorien um. Krieg wurde nicht nur als praktische Kunst, sondern auch als ästhetische Form konzipiert. Das Buch zeigt, wie militärische Diskurse und frühe Kriegsmedien wie Sternkarten, Horoskope und das preußische Kriegsspiel mit Ideen von Kreativität, Genie, Philosophie und ästhetischen Theorien (von Denkern wie Leibniz, Baumgarten, Kant und Schiller) verwoben wurden, um die Entstehung einer kriegerischen Ästhetik nachzuzeichnen. Mit seinem historischen und theoretischen Ansatz bietet Martialische Ästhetik eine neue Perspektive für das Verständnis des Krieges im einundzwanzigsten Jahrhundert.

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Seitenzahl: 353

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Anders Engberg-Pedersen

MARTIALISCHE ÄSTHETIK

Wie Krieg zu einer Kunstform wurde

Aus dem Englischen übersetzt von Till Bardoux

Konstanz University Press

Titel der Originalausgabe: Martial Aesthetics: How War Became an Art Form

by Anders Engberg-Pedersen published in English by Stanford University Press. © 2023 by the Board of Trustees of the Leland Stanford Junior University. This translation is published by arrangement with Stanford University Press, www.sup.org.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Konstanz University Press 2024

www.k-up.de | www.wallstein-verlag.de

Konstanz University Press ist ein Imprint der

Wallstein Verlag GmbH

Umschlagabbildung: Vricon 3D visualization of Damascus, Syria

Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz

ISBN (Print) 978-3-8353-9176-5

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-9770-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-9771-2

Im Gedenken an Mette Teilmann Nielsen

* 12. April 1979, Roskilde † 17. Januar 2014, Kabul

»Es ist ein unnützes, selbst verkehrtes Bestreben, aus Widerwillen gegendas rohe Element [des Krieges] die Natur desselben außer acht zu lassen.«

                                                                                      Carl von Clausewitz

Inhalt

Vorwort

Dank

Einleitung: Kreative Kriegsführung

Martialische Ästhetik

1. Astrologische Kriegsmedien

Kontingenzmedien

Die Macht der Vorhersage: Kepler gegen Wallenstein

Die große Kluft: Krieg und philosophische Ästhetik

Schillers ästhetische Theorie

Von Kriegsmedien zu reiner Ästhetik

Für Ästhetik sterben

2. Das Artefakt des Krieges

Martialische Genesis

Optimum bellum: Der Beste aller möglichen Kriege

Krieg visualisieren

Technologien der Emotion

Emotionen trainieren

3. Operative Ästhetik

Ästhetische Kraft

Liminaler Krieg

Emotionen bewältigen

Virtuelle Aisthesis: Die militärische Aufteilung des Sinnlichen

Ästhetisches Training und hässliches Denken

Erzeugung martialischer Welten

Artifizielle Zukünfte

4. Die Kriegskünstler

Die Kunst-oder-Wissenschaft-Debatte

Clausewitz: Über Ästhetik

Der Schönheitssinn

Falsche Analogien

Martialische Ästhetik und ästhetischer Martialismus

Alles, was du sein kannst

5. Krieg designen

Eine kurze Geschichte des militärischen Designs

Die intellektuelle Geschichte des Designs

Subjektives Design

Objektives Design

Martialische Ästhetik und ontogenetische Kriegsführung

Epilog: Versagen der Imagination

Anmerkungen

Vorwort

Im 21. Jahrhundert ist eine tiefgreifende Militarisierung der Ästhetik zu beobachten. Westliche Militärinstitutionen haben die kreative Erzeugung von Welten aus Kunst und Ästhetik aufgegriffen und mit den destruktiven Kräften der Kriegsführung zusammengeführt. Diese ungewöhnliche Verschmelzung hat sowohl im materiellen Bereich der Medien und Technologien als auch im theoretischen Bereich der militärischen Ideen und Doktrinen stattgefunden. Künstliche ästhetische Welten wie 3D-Geländesimulationen und synthetische Trainingsumgebungen durchdringen zeitgenössische Kriegsbestrebungen, und Denker unter mehreren führenden westlichen Militärs haben ästhetische Schlüsselkonzepte aus dem Designdiskurs übernommen. Heute bilden Militärinstitutionen eine unerwartete Avantgarde in beiden Bedeutungen des Wortes: als die militärischen Vorreiter für eine neue operative Ästhetik.

Wie gehen wir um mit dieser merkwürdigen Überschneidung zweier Phänomene, die anscheinend zwei komplett unterschiedlichen Bereichen und Ordnungen der menschlichen Erfahrung angehören? Wie sind das brutale Geschäft des Krieges und seine desaströsen Auswirkungen auf das Leben der Menschen mit Künstlertum, Kunstwerken und kreativer Welterzeugung verknüpft? Und wann begannen Militärdenker, in der Sprache von Kunst und Ästhetik zu sprechen? Martialische Ästhetik. Wie Krieg zu einer Kunstform wurde untersucht die Ursprünge dieses zugleich seltsamen und unheimlichen Phänomens. Es zeigt, dass die kreative Kriegsführung des 21. Jahrhunderts eher das jüngste Moment in einer historischen Entwicklung ist, die lange vorher begann. Tatsächlich geht das Aufkommen der martialischen Ästhetik auf eine Reihe von Erfindungen, Ideen und Debatten aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert zurück. Schon damals übernahmen Militärdenker und -erfinder Ideen aus dem Feld der Ästhetik zu Wesen, Zweck und Kraft der Kunst und rüsteten sie um zu innovativen militärischen Technologien und zu einer neuen Theorie, die Krieg nicht mehr nur als eine praktische Kunst, sondern als eine ästhetische Kunstform konzeptualisierten. Mit seinem zugleich historischen und theoretischen Ansatz zeigt das Buch, wie frühe Kriegsmedien (von Sternkarten und Horoskopen bis zum preußischen »Kriegsspiel«) und militärische Diskurse (von Kepler bis Clausewitz) mit klassischen Vorstellungen aus Philosophie und ästhetischer Theorie (von Denkern wie Leibniz, Baumgarten, Kant und Schiller) verwoben waren und verfolgt so die martialische Ästhetik zu ihren Ursprüngen zurück. Vor diesem historischen Hintergrund präsentiert das Buch auch einen neuen theoretischen Rahmen für den Krieg im 21. Jahrhundert. Es vertritt die Auffassung, dass wir, so kontraintuitiv das auch erscheinen mag, die konstitutive Rolle der Ästhetik im Krieg erkennen müssen. Das Militär ersann und gestaltete erwünschte Zukünfte wie Kunstwerke und war somit lange bestrebt, den Krieg in einen Kontext von kreativer und künstlerischer Aktivität zu stellen. Das Buch verweist jedoch auch auf die Gefahren eines solchen Bestrebens. Martialische Ästhetik ist nicht nur die Bezeichnung für eine Reihe von Erfindungen und Ideen, die von militärischen Institutionen in den letzten 250 Jahren hervorgebracht wurden. Sie bezeichnet auch das systematische Auslöschen von Brutalität, Leiden und Tod sowie die beunruhigende Verklärung kollektiver Gewalt zum freien und edlen Unterfangen der Kunst – die Verzauberung des Krieges in eine Kunstform.

Dank

Für diese deutsche Ausgabe möchte ich Albrecht Koschorke, Bernd Stiegler und Alexander Schmitz von Konstanz University Press sowie Till Bardoux für seine Übersetzung herzlich danken.

Teile meiner Lektüre von Harun Farockis Werk wurden ursprünglich an anderer Stelle veröffentlicht (»Technologies of Experience: Harun Farocki’s Serious Games and Military Aesthetics«, in: boundary 2 44, Nr. 4 (Herbst 2017), S. 155–78). Ein Teil des ersten Kapitels erschien als separater Artikel mit dem Titel »Wallenstein’s Contingency Media« in Romanticism 24, Nr. 3 (2018), S. 231–44. Ich danke den Herausgebern• beider Zeitschriften für ihre Erlaubnis, das Material wiederzuverwenden, und Antje Ehmann für ihre Hilfe bei der Bereitstellung der Bilder aus dem Archiv von Harun Farocki.

Außerdem kam mir erneut der großartige, vom Dänischen Ausbildungs- und Forschungsministerium verliehene EliteForsk-prisen zugute.

Wie immer gilt mein innigster Dank Kristine, Benjamin und Ingrid.

Einleitung

Kreative Kriegsführung

Das erste Mal starb Watson auf einem sanft abfallenden Hügel, umgeben von dunstverhangenen Bergen. Es war im Oktober 2009, und seine Kameraden• vom First Tank Batallion Scout Platoon des US Marine Corps lenkten ihren Panzer durch die Wüstenlandschaft. Vor ein paar Minuten hatte ein Helikopter weit voraus in der Ferne einen Panzer außer Gefecht gesetzt, und die Truppe erwartete einen gewaltsamen Zusammenstoß mit feindlichen Kräften. Der Fahrer scherte von der asphaltierten, schnurgerade durchs Tal ziehenden Straße aus und stieß den Hang hinauf. Als sie oben angekommen waren, gab der Ausblick, der sich zu ihren Füßen unter dem grauen Himmel eröffnete, etliche Aufständische zu erkennen, die bald zu schießen begannen. Oben auf dem Panzer hockend, erwiderte Watson, der Bordschütze, das Feuer. Als sich langsam der Rauch seiner knatternden Schnellfeuerpatronen hob, klarte die Szene auf. Alle Angreifer waren tot. Weiter weg, auf der anderen Seite der Straße, tauchten unerwartet zwei neue Aufständische auf. Ein weiterer Panzer links von Watson eliminierte sie umgehend. Doch wie Watson bald feststellen sollte, war die Gefahr nicht vorüber. Der Geschützturm des Panzerfahrzeugs bot zwar etwas Schutz, doch im offenen Gelände blieb er äußerst exponiert. Plötzlich ploppten zwei trockene, kaum hörbare Töne in schneller Abfolge. Der zweite Schuss traf Watson und ließ ihn kopfüber zu Boden stürzen. Er war augenblicklich tot. Aber es war nicht zwangsläufig das letzte Mal, dass er an diesem Tag sterben würde.

Durch die Verwendung der Trainingssoftware Virtual Battle Space 2 (VBS2) war Watson mit einer Simulation konfrontiert, die entwickelt wurde, um Soldaten eine immersive virtuelle Kriegserfahrung zu verschaffen, bevor sie tatsächlich in den Kampf zogen. Sicher und bequem befand sich Watson in der Basis des Marine Corps in Twentynine Palms, Kalifornien, im dortigen Battle Simulation Center, wo er auf einem virtuellen Gelände entlangfuhr, das auf wirklichen kartographischen Daten einer potenziellen Kampfzone basierte. Mit dem Spielen eines »serious game« waren Watson und seine Kameraden• in eine halb imaginierte, halb reale Welt eingetaucht, in der zwischen den spielerischen Ereignissen in VBS2 und den Hirnen der Aufklärer vom Scout Platoon des First Tank Battalion einiges an Austausch und Transfer stattfand.

Diese hochdramatische und zugleich gänzlich ereignislose Szene entfaltet sich ihrerseits in einer Installation des deutschen Dokumentarfilmers Harun Farocki. Serious Games I-IV ist der Titel einer Serie von Videokunstwerken, die erstmals 2010 auf der Biennale von São Paulo präsentiert und seither in Kunstgalerien auf der ganzen Welt gezeigt wurden. Auf vier separaten Bildschirmen abgespielt, untersuchen sie die komplexe Maschinerie, die solchen Simulationen zugrunde liegt und sie organisiert. Während Watson und die anderen Mitglieder seines Aufklärungszugs das Spiel spielen, baut gleichzeitig ein Ausbilder die simulierte Welt auf, in der sie sich umherbewegen, und ersinnt die Gefahren, denen sie ausgesetzt werden. Der Ausbilder, ebenfalls sichtbar für die Betrachter•, wählt verschiedene Typen von Sprengkörpern und Vorlagen von Feinden aus einem Drop-down-Menü aus und platziert sie mit ein paar Mausklicks auf strategischen Positionen. Watson Is Down, die erste von Farockis vier Installationen, zeigt, wie diese Erzeugung einer martialischen Welt – mit ihren imaginierten Objekten und potenziellen Ereignissen – später zu den tödlichen Schüssen führt, die das Spielen Watsons zu einem zwischenzeitlichen Ende bringen. Als er auf dem Bildschirm vor ihm seinem eigenen imaginierten Tod zusieht, schiebt sich Watson mit einem genervten Seufzer von seinem Laptop weg.

Watsons Tod führt uns direkt in einen Komplex von Institutionen, Technologien und Repräsentationen, die inzwischen maßgeblich daran beteiligt sind, die Kriegsführung im 21. Jahrhundert zu gestalten. In den letzten Jahrzehnten ist der Krieg gründlich von imaginären Welten durchdrungen worden, in Form von Simulationen, virtuellen Szenarien, ernsten Spielen und synthetischen Trainingsumgebungen, die zwischen verschiedenen Kriegsbereichen merkwürdige Korridore, Überschneidungen und Reibungen geschaffen haben. Tatsächliche Operationen, imaginierte Welten und ästhetische Repräsentationen sind zu eigenartigen hybriden Gebilden gebündelt worden, die verschiedene Modalitäten zusammenführen und vermischen. Allein in dieser kurzen Szene stirbt Watson auf vielerlei Weise zur gleichen Zeit: Er erleidet einen rein imaginären Tod im Spiel, einen potenziellen künftigen Tod im »ernsten Spiel« und einen ästhetischen Tod in Farockis Installation – einem Kunstwerk, das das paradoxe Wesen der gesamten Anordnung hervorhebt, indem es Watson zugleich tot und lebendig zeigt.

Die seltsame Verquickung der Kriegsführung mit dem Imaginären, dem Virtuellen und der Kunst wird nicht weniger skurril, wenn wir uns von Medien und Technologie hin zu Ideen wenden. In den letzten Jahren haben Denker• aus dem Militär in steigendem Maße die Sprache von Kunst und Ästhetik übernommen, wenn sie über das Wesen der zeitgenössischen Kriegsführung theoretisierten. Kreativität, Imagination, Kunstsinn und sogar Genius sind in Militärkreisen zu modischen Schlagwörtern geworden, zu neuen Werkzeugen, um die Komplexitäten der globalen Kriegsführung im 21. Jahrhundert zu handhaben; und Soldaten• wird gesagt, sie müssten lernen, ihr kreatives Potenzial freizusetzen, um erfolgreich Krieg zu führen. 2008 und 2009, während der Kriege in Afghanistan und im Irak, verlieh die höchste Befehlsebene des US-Militärs diesen Ideen ihre Zustimmung, als General James Norman Mattis zwei Memoranden herausgab, die einen Wandel im US-amerikanischen Verständnis von Krieg anordneten.[1] Mattis argumentierte, dass in einem Umfeld von extremer Unbeständigkeit (volatility), Ungewissheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity) – im Militärjargon »high VUCA« – ältere Doktrinen wie Effects-Based Operations (EBO, »Wirkungsorientierte Operationen«) oder Operational Net Assessment (ONA, »Operative Netzauswertung«) nicht länger funktionieren. Entwickelt für ein militärisches Weltbild, das weitgehend von relativ klaren Ursache-Wirkung-Beziehungen und einem hohen Grad an Vorhersagbarkeit bestimmt war, schienen diese traditionellen Ideen keine nützlichen Leitfäden für die Komplexitäten moderner nichtlinearer Kriegsführung zu sein. Stattdessen warb Mattis mit einem Fokus auf »schöpferische Imagination« für eine Bandbreite von Konzepten aus dem Reich der Künste. Und seither haben ästhetische Termini wie artworks, artists, artistry, intuition, creativity und creative imagination in Handbüchern, Dokumenten zur Militärdoktrin, militärischen Theorien und Lehrmaterialien an Militärakademien Einzug gehalten. In anderen Worten: Der militärische Diskurs des Krieges hat die Figur des Künstlers• übernommen und aktiv als ein Ideal für den zeitgenössischen Soldaten• beworben.

Martialische Ästhetik

Farockis Installation Serious Games und Mattis’ Memoranden zur schöpferischen Imagination offenbaren, wie die zeitgenössische Kriegsführung zwei Erfahrungsbereiche miteinander vermischt, die üblicherweise als recht deutlich voneinander getrennt angesehen werden: Kriegsführung und Ästhetik. Traditionell hat sich die Disziplin der philosophischen Ästhetik selbst mit der Natur der Kunstwerke, mit ihrer Konstruktion, ihren Regeln und ihrer Bedeutung befasst, ebenso wie mit der subjektiven Erfahrung von Kunstwerken durch ihr lesendes, zuschauendes oder zuhörendes Publikum. Was ist die Funktion eines Kunstwerks? Welches sind die Parameter realistischer Repräsentation? Wie erfahren wir ein Theaterstück? Wann ist ein Gemälde schön oder erhaben? Und zuallererst: Mit welchen ästhetischen Kategorien beurteilen wir ein Kunstwerk? Solche Fragen bilden die Crux ästhetischer Debatten von Platon und Aristoteles über Kant und Schiller bis hin zu John Dewey und Sianne Ngai.

Allerdings ist bereits der Begriff Ästhetik selbst schwer zu fassen. Heutzutage wird er auf vielfältige Weise benutzt, sowohl innerhalb der Bereiche von Literatur-, Kultur- und Musikwissenschaften, Philosophie, Architektur und vielen anderen als auch fachbereichsübergreifend, und es herrscht wenig Konsens über grundlegende Definitionen. Die Laientheorie der »Ästhetik« ist oftmals vage mit Schönheit und vielleicht mit Kunst assoziiert, und der Begriff hat immer noch genügend Prestige, um alles von Kleidung bis Autos zu vermarkten. In den letzten Jahren hat allerdings in einigen akademischen Disziplinen ein besonderes Verständnis der Ästhetik Oberhand gewonnen. Es ist ein Verständnis, das die Ästhetik über die Grenzen der Kunst, auf die sie traditionellerweise beschränkt ist, ausdehnt. Mit Verweis auf ihre griechische Etymologie (aisthesis für Empfindung und Wahrnehmung) bezeichnet »Ästhetik« in diesem Sinne Formen der Empfindsamkeit, die konstituierend sind für die geteilte Erfahrung sowohl unserer gemeinsamen Welt als auch der Repräsentationen von Kunst. Obwohl die Grundlage für dieses Ästhetikverständnis bis zu Alexander Baumgarten, dem Gründer der philosophischen Disziplin der Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, zurückverfolgt werden kann, ist es Jacques Rancières, der sie in letzten Jahren am stärksten entwickelt hat. Indem er die Ästhetik wieder auf Verteilungen und Beziehungen des sinnlich Wahrnehmbaren hin ausgerichtet hat (eine Rück- und Neuorientierung gleichermaßen), brachte er sie auch in engen Kontakt zum Politischen und Sozialen. Wenn wir tatsächlich gerade einen aesthetic turn erleben, oder wenn, wie Mark Foster Gage behauptet hat, Ästhetik gerade als »eine neue intellektuelle Grundlage« zahlreicher Disziplinen etabliert wird, dann schließt das eine Abwendung von ihrer traditionellen Assoziation mit der Schönheit ein.[2] Entgegen einem nonutilitaristischen reinen Ästhetizismus, der mit Oskar Wilde proklamiert, dass alle Kunst »ziemlich nutzlos« sei, hat die Ästhetik im 21. Jahrhundert den Komfort des Elfenbeinturms hinter sich gelassen, um sich den Zwangslagen und Konflikten unserer kollektiven und politischen Existenz zu stellen.

Diese Verschiebungen haben neue Möglichkeiten eröffnet. Indem Kunst unsere Wahrnehmung sozialer Beziehungen neu organisiert, Raum für mehr Stimmen auf der Bühne der Öffentlichkeit schafft und sichtbar macht, was an die Ränder unseres gemeinsamen Sichtfelds gedrängt wurde, wird sie zunehmend als ein Argument, eine ästhetische Intervention in die politische Debatte gesehen. Doch diese vermeintliche Macht der Ästhetik kann auch auf den Kopf gestellt werden – anders gesagt, das Potenzial, das Rancière, der Philosoph der Emanzipation und des Dissenses, in der Ästhetik findet, kann auch zu anderen Zwecken aufgegriffen und umgeleitet oder anderen Logiken subsumiert werden. Tatsächlich hat die Ästhetik sowohl als Fundgrube auf theoretischer Ebene als auch bei der Erzeugung und Organisation von Formen der Empfindsamkeit in den letzten Jahren einen immer zentraleren Platz in westlichen Militärverbänden eingenommen. Diese haben durch die Umfunktionierung etablierter ästhetischer Kategorien und das Propagieren kreativer Gewalt auf theoretischer Ebene sowie durch die Erfindung lebensnaher digitaler, imaginärer Kriegswelten, die den Wahrnehmungsapparat des Soldaten• formatieren und zunehmend in wirkliche Operationen übergehen, die Ästhetik in ein mächtiges Werkzeug der Kriegsführung verwandelt. Die militärischen Institutionen haben die Ästhetik einer Optimierungslogik unterworfen und sie auf der Ebene der Imagination für die Suche nach dem besten aller möglichen Kriege rekrutiert, der, bevor er in der Realität umgesetzt wird, als eine erfahrbare Tatsache indoktriniert werden soll. Dadurch ist das Militär zum Durchführenden einiger der radikalsten Experimente in zeitgenössischer Ästhetik geworden. Es ist als eine unerwartete Avantgarde aufgetaucht, in der die Ästhetik mit dem militärischen Sinn des Avantgardebegriffs verschmolzen ist, um bei der Erzeugung, der Verwaltung und dem Denken des Krieges die vorderste Front zu bilden. Dieser Verschmelzungsprozess, die Erzeugnisse, die er hervorbringt, und die Ideen, die ihn bestimmen, sind das, was ich unter dem Begriff Martialische Ästhetik versammle.

So bizarr und unheimlich all das auch klingen mag, so ist es doch nicht neu. Watsons vielfache Tode und Mattis’ »schöpferische Imagination« mögen uns ins Zentrum der zeitgenössischen martialischen Ästhetik führen, doch sie bilden auch ein Prisma, durch das auf viel tiefer reichende Geschichte geblickt werden kann. Denn wenn es auch die Militärinstitutionen des 21. Jahrhunderts waren, die Krieg und Ästhetik verschmolzen haben, so erleben wir damit doch eher die zeitgenössische Entwicklung und Vervollkommnung eines Prozesses, dessen Ursprünge mehrere hundert Jahre zurückreichen. Das Aufkommen einer martialischen Ästhetik – betrachtet sowohl als ein technologisches Artefakt als auch als eine Idee innerhalb der Militärtheorie – geht zurück auf das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert mit der Erfindung des modernen Kriegsspiels und der ersten nachhaltigen theoretischen Konzeptualisierung der Kriegsführung als einer Kunstform. Diese Periode markiert einen entscheidenden Übergang von einer Reihe noch älterer, vormoderner Kriegsmedien und -ideen, die die Kriegsführung von der Antike bis zur frühen Neuzeit bestimmt haben. Um das Aufkommen, die Entwicklung und die ethischen Fallstricke der martialischen Ästhetik zu begreifen, ist daher eine tiefe historische Perspektive wesentlich.

Hierzu beginnt das Buch in seinem ersten Kapitel, uns weit zurück in die Zeit mitzunehmen, um eines der wichtigsten vormodernen Kriegsmedien zu untersuchen – die Himmelskörper. Über zwei Jahrtausende lang formten astrologische Kriegsmedien die Kriegsführung. Militärbefehlshaber verließen sich auf imaginierte Zukünfte, die Astrologen aus Astrolabien, Horoskopen und Sternkarten herausarbeiteten. Ersonnen als Werkzeuge zur Handhabung ungewisser Zukünfte und als Richtlinien zur Entscheidungsfindung im Reich des Militärs, standen diese Kontingenzmedien auch im Mittelpunkt hitziger Debatten. Ein berühmter Wortwechsel zwischen Johannes Kepler und Albrecht von Wallenstein, dem damaligen Oberbefehlshaber der Truppen des Heiligen Römischen Reiches, bringt die Meinungsverschiedenheiten über Reichweite und Stärke solcher projektiven Imaginationen und die ihnen zugrunde liegenden Medien zur Sprache. Mit Schillers Kriegsstück Wallenstein als Ausgangspunkt schildert Kapitel 1 den Aufstieg und Niedergang astrologischer Kriegsmedien parallel zum Aufkommen einer Reihe von Ideen in der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert, die die Kunst wirksam von jedweder praktischen Beschäftigung mit der Kriegsführung entkoppelten. In Kants berühmter und etwas uneleganter Formulierung ist Kunst deshalb Kunst, weil sie eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« an den Tag legt und außerhalb des Reiches der Kunst selbst von keinem praktischen Nutzen ist.

Während jedoch Theoretiker und Philosophen der hohen Kunst bestrebt waren, die Ästhetik als in sich geschlossenes, autonomes Reich abzuriegeln, erfand eine Gruppe von Militärdenkern ein in sich geschlossenes Artefakt, dessen imaginäre Szenarien und Projektionen potenzieller Zukünfte dem praktischen Zweck dienten, Krieg zu führen und zu optimieren – das Kriegsspiel. Indem sie grundlegende Ideen aus der Ästhetik ins Reich des Krieges übertrugen, strebten diese Erfinder danach, Kreativität, Spiel, sinnliche Wahrnehmung und kognitive ebenso wie emotionale Interpellationen in einem autonomen Artefakt zu vereinen, einer in sich selbst geschlossenen imaginären Welt, die es ihnen erlauben würde, den optimum bellum zu erfinden, zu testen und realisieren – den besten aller möglichen Kriege. Kapitel 2 zeichnet ihre Anstrengungen nach, als sie beginnen, ästhetische Konzepte und Objekte ins Feld des Krieges einzubeziehen. Durch ihre Bemühungen und scheinbar wunderlichen Erfindungen hat das Militär als erstes eine martialische Ästhetik entwickelt, die sich seither durch den Angebotscharakter zeitgenössischer digitaler Technologien in neue Formen verwandelt hat.

In Kapitel 3 zeige ich, wie sich militärische Erfinder• und Designer• an die Spitze einer neuen operativen Ästhetik stellten. Indem sie die Mauer niederreißt, die Philosophen der Ästhetik zwischen Kunst und Handwerk, zwischen Autonomie und Funktionalität und zwischen dem Imaginären und dem Realen zu errichten bestrebt waren, bewirkt die operative Ästhetik einen Kollaps ebendieser Distinktionen. Die neuen, artefaktischen militärischen Welten, die genau an der Schwelle zu jeder der beiden Seiten situiert sind, überspannen Krieg und Ästhetik und vereinen sie als ein Schwellenphänomen. Sie bilden den Ort für eine demiurgische Erzeugung von Krieg, für die Erfindung und Implementierung artifizieller Zukünfte in einem Prozess der Erzeugung martialischer Welten.

Während uns die ersten Kapitel des Buches in die von alten und neuen Medientechnologien generierten, virtuellen militärischen Welten führen, nehmen uns die weiteren Kapitel direkt ins militärische Gehirn mit. Der zweite Teil des Buches untersucht im Bereich der Militärtheorie die provokante Idee, dass Krieg eine Kunstform sei. Kapitel 4 befasst sich eingehend mit den Ursprüngen dieser Behauptung, indem es die Werke von Carl von Clausewitz und von Otto August Rühle von Lilienstern einbezieht. Clausewitz und Rühle von Lilienstern bringen nicht nur einfach die alte Idee vor, dass Krieg eher eine praktische Kunst als eine von Gesetzen regierte, präzise Wissenschaft sei (wie es beispielsweise auch von dem berühmten, gemeinhin Sunzi zugeschriebenen, altertümlichen chinesischen Militärtraktat in seiner ungenauen, aber weithin bekannten englischen Übersetzung, The Art of War, nahegelegt wird).[3] Vielmehr betrachten sie die Kriegsführung als eine eigenständige ästhetische Form. Die Schriften von Clausewitz und Rühle von Lilienstern über Ästhetik und Krieg bewerkstelligen einen Transfer von Konzepten aus dem Bereich der Kunst in den militärischen Bereich. Sie beginnen damit, Genie, Kunstfertigkeit, Virtuosität, Intuition und Kreativität ebenso mit Soldaten wie mit Künstlern zu assoziieren. Tatsächlich entwerfen sie Offiziere und Feldherren als »Kriegskünstler« und den Krieg selbst als ein »Kunstwerk«. Das Kapitel zeichnet die Entwicklung dieser ästhetischen Theorie des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert nach und diskutiert die epistemologischen und ethischen Dilemmata, die mit der Verklärung kollektiver Gewalt zu einer Kunstform einhergehen.

Diese Dilemmata sind wegen der ästhetischen Kontextualisierung des Krieges im 21. Jahrhundert umso bedeutsamer. Im Anschluss an General Mattis’ Übernahme des Vokabulars von Kreativität, Genie und Virtuosität hat sich im Militär eine Bewegung von Denkern•, Ausbildern• und Wissenschaftlern• herausgebildet, die diese Ideen rund um den Globus unter dem Deckmantel eines neuen Diskurses über »militärisches Design« fördern. Design-Denken durchdringt jetzt das Militär von Großbritannien bis Dänemark, von Australien bis Kanada. Kapitel 5 untersucht zeitgenössisches militärisches Denken und die von ihm betriebene ästhetische Rahmung. Militärisches Design, vordergründig eine Methode zur Problemlösung und zur Handhabung der Komplexität zeitgenössischer Kriegsführung, schreibt sich in einer tieferreichenden historischen Linie als die aktuelle Manifestierung der ästhetischen Theorie des Krieges ein. Militärisches Design, nach dem Vorbild des freien künstlerischen Genies modelliert, projiziert eine Vision befreiender Selbstverwirklichung und kreativer Erzeugung martialischer Welten, die dem Krieg die Aura einer edlen, sogar erstrebenswerten Aktivität verleiht.

Kurzum, aus einem zeitgenössischen Blickwinkel verfolgt Martialische Ästhetik, wie Erfinder und Denker aus dem Militär ästhetische Artefakte und Konzepte aufgegriffen haben. Indem das Buch dieses unheimliche und finstere Phänomen durch mehrere historische Manifestationen hindurch erfasst, versucht es, von diesen historischen Beispielen einen theoretischen Rahmen zu extrahieren, der zu einem besseren Verständnis des wahrhaft seltsamen Charakters des zeitgenössischen Kriegswesens führen könnte. Anders gesagt, ich habe dieses Buch in dem Glauben geschrieben, dass es tatsächlich aus unserer gewaltsamen Vergangenheit etwas zu lernen gibt, das von unmittelbarer Bedeutung für unsere gewaltsame Gegenwart und für die noch kommende Gewalt ist.

Martialische Ästhetik ist die Fortführung einer breiter angelegten Untersuchung zu Krieg und seiner Rolle in der Wissensgeschichte. Mein vorheriges Buch, Empire of Chance:The Napoleonic Wars and the Disorder of Things (Harvard University Press, 2015), analysierte die Verschiebung in der Epistemologie des Krieges vor dem Hintergrund der Führung von Massenkriegen. Aus synoptischer Perspektive schilderte ich das Aufkommen des Zufalls als allgegenwärtiges Problem quer durch Literatur, Geschichtsschreibung, Militärtheorie, Spiele und die Kartierungsversuche in dieser folgenreichen historischen Periode. Ich zeigte, wie militärische Denker, literarische Autoren, Spieleentwickler und Kartographen in ihren Versuchen der Verwaltung von Chaos und Kontingenzen – was sie als Wesen der modernen Kriegsführung diagnostizierten – neue Repräsentationsformen und neue Wissensmodelle erfanden, um mit der Ungewissheit zurechtzukommen. Martialische Ästhetik untersucht auf ähnliche Weise Krieg als Wissensgebiet, doch verfolgt es dabei die konstitutive Rolle der Ästhetik in Militärwissenschaft und -technologie. Damals wie heute ist das Feld militärischen Wissens von ästhetischen Artefakten und Konzepten durchsetzt, die den Krieg in einen Rahmen stellen, in dem er einer Kunstform gleichkommt, und eine historische Darstellung der Geburt der martialischen Ästhetik könnte ein neues Licht auf die mächtigen digitalen Werkzeuge und Ideen werfen, die dem Krieg gegenwärtig Gestalt geben.

Ein derartiges Buch hat viele Beschränkungen. Zuallererst gibt es nicht vor, eine allumfassende Darstellung der vielfachen Überlappungen und Schnittstellen von Krieg und Ästhetik zu bieten. Eines der markanteren Aufeinandertreffen, das bereits gut dokumentiert ist, fand im frühen 20. Jahrhundert statt, als die künstlerische Avantgarde den Krieg zum Motor einer radikal neuen Ästhetik machte. Selbst nach der sinnlosen Massenabschlachtung des Ersten Weltkriegs rebellierte der Futurist Filippo Tommaso Marinetti weiter gegen die Idee, dass Krieg »antiästhetisch« sei. In seinem Manifest von 1935, estetica futurista della guerra, insistierte Marinetti auf der Schönheit von Flammenwerfern, Gasmasken, Panzern und sogar des Verwesungsgeruchs, und er wiederholt, fast wie eine Inkantation, »la guerra ha una sua bellezza« (Krieg hat seine eigene Schönheit). Indem er das Konzept der Schönheit ausweitete und in einen neuen Rahmen stellte, versuchte Marinetti, den Krieg als validen und erstrebenswerten Gegenstand der Darstellung in Kunstwerken geltend zu machen.[4] Walter Benjamin reflektierte über Marinettis Credo im Jahr darauf in »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In einem nicht minder berühmten Statement argumentierte Benjamin, dass der Faschismus Politik in ein ästhetisches Spektakel verwandle – ein Prozess der Ästhetisierung, der nur im Krieg gipfeln könne. Aus Benjamins Sicht verwirklicht die Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus die futuristische Vision, da es den Krieg ins ultimative Kunstwerk transformiere. Tatsächlich wird für Benjamin die faschistische Kriegsführung zur »Vollendung des l’art pour l’art«.[5]

Marinettis Konzeption der Ästhetik als einer Sache der Schönheit und Benjamins Analyse der Ästhetisierung der Politik sind emblematisch für ein ganzes Recherchefeld, auf das ich gelegentlich zurückkommen werde. In Martialische Ästhetik versuche ich jedoch, die Ästhetik von ihrer traditionellen Assoziierung mit »Schönheit« und sogar von der Kunst selbst wegzuführen, um die Militarisierung der Ästhetik zu untersuchen. Das schließt eine Umkehrung der Perspektiven ein. Die Frage ist nicht die der Futuristen• – wie Krieg für die Ästhetik in Anspruch genommen werden könnte – sondern, wann und wie die Ästhetik vom Militär in Anspruch genommen wurde. Anders gesagt, die hier verfolgte Untersuchungsrichtung setzt ihren Fokus auf die Medien und Konzepte der kreativen Welterzeugung, die von den Militärs als Werkzeuge zur Planung, Übung und Führung von Kriegen entwickelt wurden. Krieg ist nicht nur ein ästhetisches Phänomen, weil er, wie von Marinetti getan, in die Kategorie des Schönen eingeordnet werden kann, sondern auch, weil Militärinstitutionen ästhetische Produkte und Konzepte importieren, um Soldaten• für den Krieg zu trainieren, und weil der Akt der Kriegsführung selbst in den Kontext einer eigenständigen künstlerischen Disziplin gestellt wird.[6]

Diese ästhetische Annäherung an das Militär selbst ist eine Abweichung von einigen vorherrschenden Denkweisen. In den letzten Jahrzehnten haben Kunsthistoriker•, Literatur- und Filmwissenschaftler• einen reichen Fundus an Analysen entwickelt über die vielfältigen Wege, auf denen Krieg individuelle Kunstwerke geformt hat. Wie beispielsweise die moderne Malerei und Skulptur als Antwort auf den Ersten Weltkrieg eine besondere ästhetische Sprache entwickelte. Oder wie die Kriege im Irak, in Afghanistan und in Syrien ihren Stempel in den Repräsentationsmustern hinterlassen haben, von denen die Literatur zu diesen jüngsten Kriegen durchzogen sind.[7] Solche Zugänge zu kulturellen Produkten betrachten Krieg im Allgemeinen als die ursprüngliche Wirkmacht, deren oft verheerende Konsequenzen anschließend in Kunstwerken aufgezeichnet und gebrochen werden. Implizit gibt es in vielen dieser Schilderungen eine Auffassung vom Krieg als einer historischen Kraft, die ihrer ästhetischen Darstellung in der Kunst vorausgeht und sie beeinflusst.

Zur gleichen Zeit haben andere Gelehrte die Geschichte militärischer Repräsentationsmedien und -technologien untersucht und dabei die Mutationen der Kriegsspiele, des Kartographierens und diverser optischer Medien erfasst. Paul Virilio zum Beispiel schilderte bekanntlich die »Logistik der Wahrnehmung« und die Überlappung bildgebender Techniken (oder »Sehmaschinen«, wie er sie einst nannte) mit der militärischen Aufklärung. In seiner Darstellung markiert das parallele Aufkommen von Kino und Luftfahrt einen Wendepunkt, als durch die Kamera medial vermittelte Repräsentationen den Charakter der Kriegsführung transformierten und die unmittelbare Wahrnehmung der martialischen Welt durch eine Welt von Bildern ersetzt wurde.[8] Im Anschluss an Virilio hat Antoine Bousquet in jüngerer Zeit die tieferen technowissenschaftlichen Grundlagen der allmählichen Konvergenz von Wahrnehmung und militärischer Aufklärung zutage befördert.[9] Währenddessen hat der Medientheoretiker Friedrich Kittler fast über seine gesamte wissenschaftliche Karriere hinweg argumentiert, dass der Krieg die Triebkraft der Technologie gewesen sei – dass die Medien und Technologien, die heute unser ziviles Leben nachhaltig prägen, Beiprodukte militärischer Erfindungen seien und somit ihre Existenz den Erfordernissen bewaffneter Konflikte verdanken würden.[10] Auch für Kittler war der Krieg eine, wenn nicht die Primärkraft, die den Medien und den Lebensformen der Zivilgesellschaft Gestalt verleiht.

Gemeinsam haben diese Anstrengungen erheblich dazu beigetragen, unser Verständnis sowohl der Ästhetik als auch der Technologien zu bereichern. Doch die allgemeine Trennung von Kriegsführung und Ästhetik in zwei deutlich verschiedene Bereiche und das Primat, das den militärischen gegenüber den zivilen Technologien zugesprochen wird, lassen unberücksichtigt, auf welche Weise sich Krieg, Ästhetik und Technologie häufig überkreuzt und verflochten haben, um dicht gewebte Strukturen zu bilden, innerhalb derer kreative, techno-ästhetische imaginäre Welten direkt in die Kriegsbemühung integriert werden.[11] Künstlern• ist lange die Position als nachträgliche Betrachter• der Schrecken und Verheerungen des Krieges zugewiesen worden, doch diese Konstruktion hat ebenso lange verdeckt, wie kreative imaginäre Welten ihrerseits als Motoren für Gewalt und Zerstörung gedient haben. Martialische Ästhetik bringt diese kreative Dimension des Krieges in ihrer doppelten Manifestierung zutage, sowohl in einer Reihe von Medien und Technologien als auch in der ästhetischen Selbstinszenierung des Militärs, wenn es seine eigenen gewaltsamen Aktivitäten in einen Zusammenhang stellt, in dem sie als kreative Kunstform erscheinen sollen. Anders gesagt versucht dieses Buch, die kriegerische Kraft der Ästhetik ans Licht zu bringen – d. h. die transformative, operationale Macht, die ästhetische Artefakte und Konzepte erlangen, sobald sie an den militärischen Apparat angeschlossen werden. Und es weist nachdrücklich auf die Dilemmata hin, die auftreten, wenn Krieg erst einmal zu einer Form gewaltsamer Schöpfung wird.

Der letzte Punkt ist wichtig. Innerhalb der deutschen Medienwissenschaften ist es eine lange anerkannte, doch unangenehme Wahrheit gewesen, dass Friedrich Kittlers Schriften eine obsessive Fixierung auf Krieg und seine Medien aufweisen, die mitunter in eine fetischistische Verehrung für den Krieg als Triebkraft der Geschichte und in ein aktives Anpreisen militärischer Medien und Technologien umzuschlagen scheinen.[12] Obwohl militärische Medien und Ideen oft als geschlossene Systeme dargestellt werden, die sich mit bewundernswerter technologischer und konzeptueller Ausgeklügeltheit brüsten können, liegt ihr Endpunkt und letzter Zweck außerhalb dieser Systeme – in einer Welt von Gewalt, Vertreibung und Brutalität. Selbst die abstrakte und oftmals abstruse Sprache der militärischen Doktrin ist ein Instrument der Macht, das direkt in Verwundung und Tod umgesetzt wird. Das Thema einer martialischen Ästhetik anzuschneiden schließt daher eine achtsame Balance der Perspektiven mit ein. Einerseits argumentiere ich, dass es beim Krieg eine ästhetische Dimension gibt, die wir nicht einfach ignorieren können. Um sie zu erfassen, müssen wir ihre verschiedenen historischen Erscheinungsformen nachverfolgen. Ich lege aber auch dar, dass die Militarisierung der Ästhetik eine Anzahl von fatalen, doch uneingestandenen ethischen Konsequenzen hat. Hier lässt sich ein im Hintergrund lauernder ästhetischer Martialismus finden, der Krieg als ein ästhetisches Phänomen anpreist.

Tatsächlich besteht ein zentrales Anliegen von Martialische Ästhetik darin, die düstere Seite einer Deutung des Krieges als eine Kunstform augenscheinlich zu machen. Als der deutsche Komponist Karl-Heinz Stockhausen sein berüchtigtes Statement abgab, 9 /11 sei »das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat«, mag er sich durchaus auf eine satanische Figur in einem persönlichen künstlerischen Schöpfungs- und Zerstörungsmythos bezogen haben. Und im gleichen Interview versicherte er dem Interviewer, dass ein solches satanisches Kunstwerk, das tausende Menschenleben kostete, offensichtlich ein Verbrechen gewesen sei.[13] Dessen ungeachtet verursachte dieses spontane Statement einen weltweiten Aufschrei der Empörung und führte zu einer öffentlichen Entschuldigung. Währenddessen treffen die derzeit innerhalb des Militärs stattfindenden, viel tiefgreifenderen und systematischeren Versuche, Krieg mit Begriffen des Künstlertums und der Kreativität einen neuen Rahmen zu geben, kaum auf irgendeine Form von Kritik.[14] Dieser still und fernab vom Auge der Öffentlichkeit florierende, weitaus einflussreichere Diskurs beinhaltet eine inhärente Rechtfertigung von Krieg, und er formt die Art und Weise, wie von vielen militärischen Institutionen der Gebrauch von Gewalt verstanden wird. Martialische Ästhetik versucht, diesen Diskurs publik zu machen und eine nüchterne Einschätzung der historischen Entwicklungen mit einer kritischen Außenperspektive zu ergänzen. Die Historisierung und Theoretisierung der martialischen Ästhetik könnte ein erster Schritt sein, um der Fetischisierung von Kriegsmedien und der Erhebung des Kriegs zur Kunstform entgegenzutreten.

Mein Ansatz bezieht seine Inspiration von mehreren Denkerinnen und Denkern, die den kritischen Apparat aus den Geisteswissenschaften mitgebracht haben, um ihn auf zentrale Anliegen innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft anzuwenden. Eyal Weizman hat zum Beispiel die Architektur als Strategie der Besatzung untersucht, und er hat den historischen Hintergrund und die philosophischen Untermauerungen des Humanitarismus herausgearbeitet, der die Wahrnehmungen militärischer Intervention seit dem Kalten Krieg beherrscht hat. Insbesondere für seine Würdigung der performativen Rolle philosophischer Konzepte in militärischen Organisationen bin ich ihm verpflichtet.[15]Martialische Ästhetik baut ebenfalls auf Elaine Scarrys klassischer Studie über die Folter, The Body in Pain, und auf ihren Überlegungen zu »Verweltlichung und Entweltlichung« auf, weil dies uns in die Lage versetzt, die besondere Natur der zeitgenössischen Erzeugung martialischer Welten hervorzuheben.[16] Um die den Medien und Technologien inhärenten Wirkungen zu ermessen und die zugrundeliegenden Ideologien herauszuarbeiten, folge ich dem Beispiel von Gelehrten wie Hans Belting, Pasi Vähliaho und Jonathan Crary, die konkrete Objekte und Erfindungen in größere Zusammenhänge von Ereignissen, Institutionen und Macht stellen. Wie Crary im Hinblick auf die optischen Medien schreibt, sind sie »Schnittpunkte, an denen philosophische, wissenschaftliche und ästhetische Diskurse mit mechanischen Techniken, institutionellen Erfordernissen und sozio-ökonomischen Kräften zusammentreffen.«[17] Indem ich Kriegsmedien in einen breiteren Kontext von Institutionen, Wissensbereichen und Ästhetik stelle, analysiere ich nicht nur die Formen der Erzeugung martialischer Welten, die in ihren je besonderen Konfigurationen implizit enthalten sind, sondern auch die expliziten Debatten um sie. Daher diskutiere ich eine vielfältige Bandbreite von Texten und Materialien: Klassikern der Philosophie und der ästhetischen Theorie – unter anderen Leibniz, Baumgarten, Kant und Schiller – werden eine Reihe von Kriegsmedien von vormodernen Horoskopen über frühe Kriegsspiele bis hin zu aktuellen digitalen Szenarien und synthetischen Trainingsumgebungen zur Seite gestellt, die ihrerseits zu militärischen Texten – von Clausewitz und Rühle von Lilienstern bis zu Militärdoktrinen und Armeehandbüchern aus dem 21. Jahrhundert – in Beziehung gesetzt werden. Die Methode besteht anders gesagt darin, drei Erzählungen miteinander zu verflechten und in Einklang zu bringen: eine der Ästhetik, eine der Medien und eine der Militärtheorie.

Dieser Ansatz bringt das Buch in die Nähe der Arbeit von Ryan Bishop und John Phillips. In ihrer Untersuchung der »technologischen Mediation der Wahrnehmung« setzen sie moderne Avantgarde-Ästhetik in Beziehung zur Militärtechnologie des 21. Jahrhunderts.[18] Die ungewöhnliche Annäherung zwischen scheinbar getrennten Welten strukturiert auch Martialische Ästhetik. Doch während Bishop und Phillips die Widerständigkeit des ästhetischen Denkens gegenüber der Logik militärisch-technologischer Entwicklung und den Abstand zwischen beiden zeigen, verfolgt meine Studie ihre wachsende gegenseitige Infiltrierung.[19] Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Fülle an radikalen ästhetischen Experimenten seitens mehrerer künstlerischer Avantgarden zu beobachten war, wird in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts solches ästhetisches Experimentieren unter der Ägide des Militärs durchgeführt.

Indem Martialische Ästhetik diese Verstrickung nachzeichnet, folgt es Joseph Vogls genealogischer Kritik der Formen des zeitgenössischen Kapitalismus, lenkt diese aber auf ein anderes Feld um. Über mehrere Bücher hinweg hat Vogl gezeigt, wie seit Adam Smiths »unsichtbarer Hand« ökonomische Theorien durch philosophische und moralische Bildwelten strukturiert wurden und wie tief das derzeitige, die Weltwirtschaft regierende Finanzregime mit einem Gespensterheer von Fiktionen, imaginierten Szenarien und projizierten Zukünften verflochten ist und weitgehend von diesem konstituiert wird.[20] Der Bereich des Krieges ist, wie ich in diesem Buch darlege, auf ähnliche Weise von mächtigen kreativen Bildwelten geprägt, die grundlegend die militärische Praxis und Theorie gestalten. Im Bereich des Krieges sind diese imaginären Welten ebenfalls alles durchdringend und performativ. Alles andere als Luftgespinste, machen und gestalten sie die Kriege, die Militärs zu realisieren trachten. Sie sind die kreativen Dämonen, die jetzt die Kriegsmaschine bewohnen, der Ästhetik ihre diabolische Kraft weit über ihre vorherige Reichweite hinaus verleihen und den Krieg von heute in ein verlockendes ästhetisches Phänomen verwandeln.

1 Astrologische Kriegsmedien

Im Winter 1634 lief in der böhmischen Stadt Pilsen Albrecht von Wallenstein, damals Generalissimus des Heiligen Römischen Reiches und Oberbefehlshaber der Truppen der Habsburger Monarchie, in seinem Zimmer auf und ab, während er über seine militärischen Optionen grübelte. Es war ein entscheidender Moment des Dreißigjährigen Krieges. Der schwedische Feind rückte näher; Wallenstein verlor mehr und mehr das Vertrauen seines Arbeitgebers, des Habsburger Kaisers Ferdinand II.; und selbst in den Reihen seines eigenen Heeres begannen Stimmen laut zu werden, die seine Führerschaft hinterfragten. All diese Bedrohungen spitzten sich zu, und Wallenstein war es deutlich bewusst, dass er handeln musste. In seinem Zimmer ersann er eine militärische Strategie nach der anderen, bis er mit einem ganzen Aufgebot potenzieller strategischer Szenarien jonglierte. Er musste nur eine auswählen. Doch welche?

Um Entscheidungshilfe zu erhalten, wandte sich Wallenstein an die Sterne. Seit alten Zeiten, angefangen in Mesopotamien, hatte die Wissenschaft der Astrologie einen integralen Bestandteil der militärischen Planung gebildet, und Wallenstein ist der letzte Befehlshaber, von dem bekannt ist, dass er die Astrologie in Kriegsangelegenheiten konsultierte. Sein Zimmer war vollgestopft mit Sternkarten, Quadranten, Globen und anderem astrologischen Gerät. Irgendwann blieb Wallenstein vor einem sogenannten speculum astrologicum stehen, einer schwarzen Tafel, die die Positionen der Planeten oder »Wandelsterne«, wie sie seit der Antike genannt wurden, anzeigte. Im Einklang mit der Wissenschaft der Astrologie glaubte Wallenstein, dass die Himmelskonstellationen – die besondere Position der Planeten zu einer bestimmten Zeit – Ereignisse der unmittelbaren Zukunft auf der Erde offenbarten. Während er das speculum astrologicum inspizierte, bemerkte er plötzlich, dass sich die Sterne in einer verheißungsvollen Konstellation aufgereiht hatten, und er rief aus: »Glückseliger Aspekt!« Die Zeit des Handelns war gekommen.

Diese Szene ist vollkommen ausgedacht. Sie erscheint in Friedrich Schillers dreiteiligem, 1799 abgeschlossenem Drama Wallenstein.[21] Schiller konzentriert sich auf die letzten Tage in Wallensteins Leben, bevor er Ende Februar 1634 ermordet wurde. Doch wie Schiller sehr wohl wusste, hat die Szene einen berühmten geschichtlichen Hintergrund. Nicht nur war der historische Wallenstein tatsächlich der Wissenschaft der Astrologie sehr verbunden; er hatte auch eine berühmte Korrespondenz über Wesen und Macht der Astrologie mit einem der damals führenden Wissenschaftler begonnen – mit Johannes Kepler. 1608 hatte Kepler ein Horoskop für Wallenstein angefertigt.

Wallensteins Horoskop ist in zwölf aneinanderliegende Dreiecke unterteilt, die die Häuser des Tierkreises darstellen. Die räumliche Anordnung des Horoskops zeigt die genaue Position von Sonne, Mond und Planeten zur Zeit von Wallensteins Geburt. Aus der Beobachtung der verschiedenen Positionen und Konstellationen der Planeten kam Kepler zur Vorhersage einer Reihe von Ereignissen in Wallensteins Leben. Er kam zu dem Schluss, dass das Horoskop »nicht eine schlechte Nativität sei, sondern hochwichtige Zeichen habe«.[22] Wallenstein war aber nicht zufrieden. Mit den Jahren fühlte er, dass das Horoskop mit den Ereignissen in seinem Leben immer weniger synchron lief. Einige der vorhergesagten Lebensereignisse geschahen zu früh, andere zu spät. Darum bat er Kepler, das ursprüngliche Horoskop auf den aktuellen Stand zu bringen. Und nun verlangte Wallenstein neue und sehr konkrete astrologische Vorhersagen, basierend auf einer sorgsamen Neuberechnung und Korrektur des Originalhoroskops.[23]

Kepler weigerte sich. Oder er weigerte sich, das von Wallenstein verlangte Maß an Details anzubieten. In einer gewundenen Antwort belehrte Kepler Wallenstein über die Grenzen des astrologischen Wissens. Astrologie, schreibt er, könne nur allgemeine Tendenzen vorhersagen, keine bestimmten Ereignisse. In seinen Worten heißt das: »Darum ist es ein irriger Wahn, dass man meinen will, es sollen solcherlei Accidentia, welche meistenteils aus der Menschen willkürlichen Werken herfolgen, auf gewisse aufgerechnete himmlische Vertagungen ganz richtig und genau eintreffen, und also vorgesagt werden«.[24] Trotz seiner Vorbehalte ließ sich Kepler allerdings tatsächlich darauf ein, Wallensteins Horoskop zu aktualisieren. Er fuhr fort, etliche Ereignisse vorherzusagen, bemerkenswerterweise bis zum Winter 1634 mit den, wie er schrieb, dann drohenden »schrecklichen Landverwirrungen«.[25]

Diese Diskussion über die Kraft und Reichweite astrologischer Kriegsmedien ist es, die Schiller im Jahr 1799 heraufbeschwört, wenn er Wallenstein vor der schwarzen Tafel mit den Planetenaspekten platziert. In Schillers Stück beherzigt Wallenstein jedoch Keplers Warnungen über die Beschränkungen der astrologischen Wissenschaft nicht. Als er die günstige Konstellation der Sterne an der Tafel vor ihm bemerkt, ist er von dem wissenschaftlichen und metaphysischen Rückhalt für seinen Handlungsplan überzeugt. Endlich ist die Zeit gekommen, seine zahlreichen potenziellen Szenarien in eine aktuell verwirklichte Entscheidung umzuwandeln.

ABBILDUNG 1.1 – Das Horoskop, das Kepler 1608 für Wallenstein anfertigte. Quelle: Johannes Kepler, Die Astrologie des Johannes Kepler: Eine Auswahl seiner Schriften, hg. von Heinz Artur Strauß & Sigrid Strauß-Kloebe, München u. a. (Oldenburg) 1926, S. 185.

Doch Wallenstein tut nichts. Er grübelt, er überlegt, er versucht, die Bandbreite seiner imaginären Zukünfte abzuschätzen. Doch er weigert sich, zu handeln. Seine Zeit wird langsam knapp, seine militärischen Ratgeber drängen ihn, eine Entscheidung zu treffen, doch vergebens. Wallenstein denkt weiter nach. Später flehen ihn mit wachsender Verzweiflung sein Hausastrologe und seine engsten Verwandten und Vertrauten an, zu handeln, doch Wallenstein denkt einfach weiter nach. Bereits früh im Stück reicht es seiner Schwägerin, Gräfin Terzky, und sie ruft aus:

Der Augenblick ist da, wo du die Summe

Der großen Lebensrechnung ziehen sollst,

Die Zeichen stehen sieghaft über dir,

Glück winken die Planeten dir herunter

Und rufen: es ist an der Zeit! Hast du

Dein Lebenlang umsonst der Sterne Lauf

Gemessen? – den Quadranten und den Zirkel

Geführt? – den Zodiak, die Himmelskugel

Auf diesen Wänden nachgeahmt, um dich herum

Gestellt in stummen, ahnungsvollen Zeichen

Die sieben Herrscher des Geschicks,

Nur um ein eitles Spiel damit zu treiben?[26]

Diese kuriose Szene, in der der Meisterdenker der militärischen Strategie von seinen Angehörigen inständig gebeten wird, imaginierte Zukünfte in konkretes Handeln umzuwandeln, wirft einige grundlegende Fragen über die Kriegsmedien auf. Schillers Stück, das in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts spielt, markiert das Ende eines Glaubenssystems, das etwa zwei Jahrtausende lang die Kriegsführung geprägt hatte. Die Anfänge der Ära, die Wallensteins Untergang zu einem Schlusspunkt bringt, können bis zum assyrischen Herrscher Sargon II. im 8. Jahrhundert v. u. Z. zurückverfolgt werden. Laut den historischen Aufzeichnungen ist Sargon II. (König von 721–705 v. u. Z.) der erste assyrische Monarch, von dem überliefert ist, dass er in Kriegsangelegenheiten den Himmel konsultiert habe. Vor einem seiner Feldzüge wandte er sich an seinen Astrologen, der ihn darüber informierte, dass Nabû (Merkur), Marduk (Jupiter) und Magur (der Mond) in eine günstige Konstellation getreten seien und von der Zerstörung des Feindes zu künden schienen. Sargon schritt rasch zur Tat. Er schrieb: »Auf den wertvollen Zuspruch des Kriegers Shamash [der Sonne] hin, der auf die Eingeweide der Opfertiere ermutigende Omen schrieb, dass er an meiner Seite marschieren würde, […] versammelte ich mein Heer.«[27] Mit der Erfindung des Horoskops im 5. Jahrhundert v. u. Z. schuf die Einbeziehung von Medien, Wissenschaft und Krieg ein mächtiges astrologisches Kriegsimaginarium, das die militärische Entscheidungsfindung tiefgreifend beeinflussen würde.[28]

Zentral für diese imaginierte Welt war eine besondere Modalität der Ereignisse. Als er bei den Himmelskörpern die Zukunft seines Königs und seines Reiches erspähte, hatte es Sargons Astrologe mit Ereignissen zu tun, die weder unmöglich noch notwendig waren. Aristoteles würde später in Peri hermeneias ein solches Ereignis endechomenon nennen – das heißt, ein Ereignis, das »eintreten oder nicht eintreten könnte«.[29] In Boethius’ Übersetzung De interpretatione aus dem frühen sechsten Jahrhundert wird der lateinische Begriff für ein Ereignis, das weder unmöglich noch notwendig ist, das stattfinden oder nicht stattfinden könnte, zu contingens, und heute sind solche Ereignisse in der Pluralform als futura contingentia