Marx' Reise ins digitale Athen - Ludger Eversmann - E-Book

Marx' Reise ins digitale Athen E-Book

Ludger Eversmann

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Beschreibung

Es wird höchste Zeit, dass wir uns die Digitalisierung sinnvoll zunutze machen – und zwar so, dass alle etwas davon haben! Denn dass der Kapitalismus seine Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat, darauf deutet vieles hin. Noch leben wir im Überfluss, aber das Versprechen auf immer mehr Wachstum, auf eine immer glänzendere Zukunft ist angesichts endlicher Ressourcen sowieso nicht einlösbar. Also, was tun? Der Philosoph und Wirtschaftsinformatiker Ludger Eversmann spürt auf dieser hochspannenden Gedankenreise der Frage nach, wie wir den technischen Fortschritt in den Dienst einer neuen ökonomischen Ordnung stellen können – und wie diese Ordnung jenseits der Systemfehler des Kapitalismus aussehen könnte. Im Dialog mit klassischen und zeitgenössischen Theoretikern – u. a. Marx, Rifkin, Brynjolfsson – sucht dieses Buch nach verständlichen Antworten auf ein komplexes Problem: Wie wird die Arbeit in Zukunft verteilt sein? Gibt es ein "digitales Athen", wo das Problem der (Über-)Produktion gelöst ist und Maschinen die Sklavenarbeit machen? Was machen dann die Menschen? Wem gehören die Maschinen? Wartet dort das "gute Leben"?

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LudgerEversmann

Marx’ReiseinsdigitaleAthen

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kulturmit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2019 Rotpunktverlag, Zürichwww.rotpunktverlag.ch

Umschlag: Ulrike Groeger

eISBN 978-3-85869-834-61. Auflage 2019

Inhalt

Einleitung

1.The Value of Everything

2.Die Metamorphosen des riesigen Automaten

3.Mehrwert, Banken und die großen Unternehmen

4.Der sechste Kondratjew

5.Megatrend Digitalisierung

6.Die Wurzel des Digitalen

7.No Capitalism in the Age of Robots

8.Smart City Utopia

9.Universalgeschichte

Anhang

Der Autor

Im Grunde ist die ganze Idee sehr einfach. Die ungeheure Warensammlung, die den Reichtum der kapitalistischen Produktionsweise ausmacht, wächst mit dem technischen Fortschritt, bis sie nicht mehr wachsen kann – weil die Menschen, in der Reihenfolge der Einkommensklassen von oben nach unten, lieber ihr Geld vermehren wollen, als Konsumgüter aufzuhäufen. Die Reichsten, die schon alles haben, haben dann nur noch von einem nie genug: vom Geld. Und bald sammelt und konzentriert sich das Geld in ungeheuren Massen und wird gefräßig wie ein schwarzes Loch.

Der technische Fortschritt beginnt aber nun, sich zu wandeln, ganz unbemerkt und hinter dem Rücken der Akteure. Er tritt ein in eine Metamorphose, an deren Ende die Maschinerie plötzlich keine Waren mehr ausspuckt, die in alle Ewigkeit zu immer mehr Geld werden sollen, sondern direkt die Dinge, um die es ja eigentlich geht: die Güter, die uns zum Gebrauch zur Verfügung stehen und die unseren Reichtum ausmachen. Dann beginnen »nimmermüde intelligente Maschinen den Volkswohlstand zu erwirtschaften«1 – der bald nicht mehr in Geld zu bemessen ist.

Wenn diese Sachen – die Gebrauchswerte – in die Hände der Menschen gelangen können, ohne sich vorher auf Märkten in Geld zu verwandeln, ist die Ära des Kapitalismus vorüber, und er hat seine Schuldigkeit getan. Die Fabriken mit ihren nimmermüden Maschinen – die dann programmierbare Automaten sind – müssen dazu der Gesellschaft als Ganzem gehören, dem ganzen Volk, dem Staat oder geeigneten öffentlichen Institutionen; sie müssen jedenfalls von diesen genutzt und gemanagt werden.

Und sie werden dann keine Waren mehr produzieren. Wie das zu schaffen ist, liegt mehr in der Natur dieser verwandelten Maschinerie als in der Natur der Menschen, die offenbar, trotz allen kulturellen Vor- und Rückschritts, einfach immer bleiben will, wie sie ist. Der Maschinerie ist der Fortschritt der letzten zweihundert Jahre jedenfalls ziemlich deutlich anzusehen, ganz im Gegensatz zur Menschennatur.

Zu dieser einfachen Sache muss man sich nun vorarbeiten. Dann beginnt man bei der Oberfläche der Erscheinungen, an der sichtbar wird, wie weit heruntergekommen der – so nennt man ihn wieder – Kapitalismus schon ist, wenn er sich seinen letzten Tagen annähert und seine neue Gestalt und Funktion noch nicht finden kann. Aber mit ein wenig Fantasie sind diese schon mit Händen zu greifen.

Mein Home ist kein Google-Home. Ich spreche auch nicht mit Alexa, der digitalen Assistentin von Amazon. Auch ich sage: Schnauze, Alexa.2 Ich will keine sprechenden Maschinen im Haus, von denen man nicht weiß, wofür sie sich insgeheim wirklich interessieren.3

Ich will keine sprechende Kaffeemaschine, die mir vielleicht Empfehlungen gibt, welche Sorte Bohnen ich verwenden soll. Ich will auch keinen Kühlschrank, der für mich einkauft. Und ich will keine privatisierte Smart City, die mein Schritttempo misst und daraus errechnet, wie hoch die Rate ist, die die private Krankenversicherung mir abknöpfen wird. Ich will nur einen Kühlschrank, der gut funktioniert, Strom spart, lange hält und nichts kostet. Und ich will eine Stadt, die das Leben leicht und bunt macht, und ich möchte mich in ihr sicher, bequem und kostenlos bewegen können. Ich möchte eine Stadt mit Kneipen, Cafés und Läden, und ich möchte die Auswahl haben zwischen Dingen, die von Maschinen gemacht sind und nichts kosten, und anderen Dingen, an denen Liebe von Menschenherzen und Schweiß von Menschenhänden kleben, die bunt, krumm, fantasievoll und voller Leben und Poesie sind. Mehr möchte ich ja gar nicht.

So soll meine Smart City aussehen: Es gibt einen Store, in dem ich Kleidung anprobieren kann. Ich kann Stoffe anfassen und begutachten, wie sie sich anfühlen und riechen, ob sie schwer und warm oder leicht und luftig sind, und dann stelle ich mich vor einen großen Spiegel und ziehe mir etwas an, was aus diesem Stoff gemacht ist – aber virtuell, nicht wirklich. Das wäre viel zu aufwendig und zu teuer: Man müsste die wertvollen Ressourcen dieser Welt verschwenden, nur damit ich etwas anprobieren kann. Es geht auch so, ich kann mich sogar von hinten sehen, wozu ich mich sonst vor dem Spiegel verrenken muss. Schließlich entscheide ich mich, bestelle, bekomme die Rechnung, und darauf steht: Dieser Anzug kostet 2 Euro. Na so was, schon wieder eine Preissenkung! Letztens waren es noch 2,50. Toll, das nenne ich Fortschritt. In zwei Tagen kommt mein Anzug, per fahrerlosem Service von der Bundespost, oder sogar mit Drohnen.

Der Laden und alles, was nötig ist, um Textilien zu produzieren, ist staatlich. Die Verstaatlichung wurde notwendig, weil sich ein Monopol fast die komplette Textilproduktion unter den Nagel gerissen hatte, und sobald die Konkurrenz ausgetrocknet war, wurden irre Monopolistenpreise fällig. Da gab es einen Aufstand! Nun ist alles so staatlich wie früher die Bundesbahn, und alles funktioniert so zuverlässig wie früher die Bundesbahn. Nur die Designs und Schnittmuster der Textilien kommen noch von privaten Modedesignern, oder man entwirft sie gleich selbst.

Ich gehe weiter und finde einen kleinen Laden für handgestrickte Schals, Pullover und Socken. Handgestrickte Socken zu meinem 2-Euro-Anzug sind sehr schick! Die handgestrickten Socken kosten zwar 150 Euro, aber sie sind ihr Geld wert. Ich weiß das, weil ich selber vieles mit der Hand mache. Sonst könnte ich mir das ja auch gar nicht leisten. Aber so macht alles Spaß – das Machen und das Kaufen. Müssen muss man ja nichts.

Um die Ecke sehe ich ein Möbelhaus. Auch hier stammen die Designs von privaten Möbeldesigern, die man aber in einem bestimmten Rahmen verändern und den individuellen Wünschen anpassen kann. Die Designs wiederum folgen Metadesigns, die an der Anforderung ausgerichtet sind, einfache, ansprechende und funktionale Möbel zu minimalen Kosten hochautomatisiert herzustellen. Und wer es wünscht, bekommt ein maschinengemachtes Büro oder ein Kinderzimmer oder eine Küche für, sagen wir, 25 Euro.

Das große Möbelhaus ist natürlich auch staatlich. Riesengroß, effizient, maximal automatisiert, und spottbillig. Für diese Billigmöbel hat es ein Monopol. Und so ist es mit allen wichtigen Grundgütern und Dienstleistungen, die die Menschen immer wieder zum Leben benötigen: Es gibt sie (fast) umsonst, einfach, aber in guter Qualität. Es gibt eine Menge Auswahl, und wer es will, ist gut bedient und braucht zum Leben kaum Geld.

Aber um Himmels Willen – staatliche Monopole? Wäre das nicht Sozialismus 2.0? Dann doch lieber Kapitalismus, wo alle doch recht gut leben?

Tatsächlich? Leben wir gut im ewig wachsenden Kapitalismus? Wir alle? Oder nur die Top-One-Percent? Jede kapitalistische Gesellschaft? Oder nur die Exportweltmeister? Kann der Kapitalismus noch funktionieren, wenn die Ressourcen zur Neige gehen, fossile Energien genauso wie wichtige Rohstoffe? Wenn die Schadstoffe, die beim Betrieb des renditegierigen Kapitalismus, beim Flug- und Autoverkehr und bei der Produktion der endlos wachsenden Güterberge entstehen, das Klima ruinieren? Wenn die Märkte zur Neige gehen? Wenn die Arbeitsplätze knapp werden – wobei es nach der Theorie ja überhaupt nicht sein kann, dass die Arbeitsplätze knapp werden. Aber wenn die Roboter kommen? Das zweite Maschinenzeitalter?4 Kann der Kapitalismus noch funktionieren im Zeitalter der Roboter? Können wir uns auf die Theorie, auf unser altvertrautes Wirtschafts-Einmaleins dann noch verlassen?

Erik Brynjolfsson, Professor an der MIT Sloan School of Management, und sein Co-Autor Andrew McAfee glauben, Kapitalismus herrsche auch im zweiten Maschinenzeitalter, wenn die »Androiden«, die menschenartigen Roboter, Einzug gehalten hätten, obwohl sie, wenn auch noch nicht in den nächsten Jahren, die meisten oder gar alle menschlichen Arbeitskräfte ersetzen könnten. Das sei so, weil der Kapitalismus gut funktioniere und weil wir mit Alternativen schlechte Erfahrungen gemacht hätten. Die Geschichte »strotze nur so von unbeabsichtigten und mitunter verhängnisvollen Nebenwirkungen wohlmeinender Sozial- und Wirtschaftspolitik«, und darum empfehlen sie: »Keine Politbüros, bitte!«5

Damit, dass die Erfahrungen mit Politbüros eher schlecht sind, haben sie ja ohne Zweifel Recht. Aber beweist das, dass der Kapitalismus ewig weiterleben kann, wird und muss?

Was ist Kapitalismus, in der Theorie? Brynjolfsson erklärt: »›Kapitalismus‹ steht hier für ein dezentralisiertes Wirtschaftssystem der Produktion und des Austauschs, in dem die meisten Produktionsmittel in privater Hand liegen (und nicht in staatlicher), in dem Austausch (durch Vertragsfreiheit) meistenteils auf freiwilliger Basis erfolgt und in dem die Preise für die meisten Güter nicht von einer Zentralstelle festgelegt, sondern durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt werden. All diese Aspekte zeichnen heute die meisten Volkswirtschaften der Welt aus.«6

Im Kapitalismus produzieren private Unternehmen Waren, die auf dem freien Markt zu frei gebildeten Marktpreisen verkauft werden, und weil die Unternehmen im Wettbewerb stehen, zwingen sie sich gegenseitig zu niedrigen Preisen und, für den Kunden, attraktiven Produkten. Na wunderbar, alle profitieren, Konsumenten, Arbeiter und die innovativen Kapitalisten.

Der Wettbewerb zwingt die Unternehmen dazu, die Kosten zu minimieren, und das lässt sich unter anderem dadurch erreichen, dass menschliche Arbeit durch Maschinenarbeit ersetzt wird, sobald die Maschinenarbeit gut und billig genug ist. Die Maschinenarbeit ist gewissermaßen ein Charakteristikum für den Kapitalismus: Ihn gibt es erst, seitdem es die großen Maschinen gibt, die so groß und teuer sind, dass sie in keine Handwerksstube mehr passen. Die Maschinen und die Menschen arbeiten zusammen und machen die Waren immer billiger. Weil die Menschen darum auch mehr davon kaufen, funktioniert der Kapitalismus ewig – in der Theorie. Es wird einfach alles immer mehr, die riesige Warensammlung wächst endlos.

Das Maß für den Anteil der Maschinenarbeit an einem Arbeitsprozess ist der Automationsgrad. Wenn bei einem Arbeitsprozess der Automationsgrad 100 Prozent erreicht hat, machen die Maschinen alles alleine – fast alles: Es fehlt nur noch jemand, der auf den Startknopf drückt. Wenn aber in den Fabriken lauter Maschinen stehen, und jeweils ein Mensch davor, der auf den Startknopf drückt, steigt die Produktivität der Fabriken ins Unendliche. Das ist simple Mathematik: »Je weiter der Automatisierungsgrad steigt, umso mehr vergrößert sich der ›Hebel‹ einer Automatisierung weiterer Prozessschritte, da jeder weitere Automatisierungsschritt einen größeren relativen Anteil der verbleibenden menschlichen Arbeit ausmacht. Folglich steigt das Produktivitätsniveau mit steigendem Automatisierungsgrad exponentiell an.«7

Na bitte: Das ergibt im zweiten Maschinenzeitalter unendliche Produktivität! Das müsste doch nun auch dem härtesten Kapitalismusverfechter einleuchten: Irgendwann muss dann Schluss sein mit Markt, Produktion im Wettbewerb und der riesigen Warensammlung. Weder die Aufnahmefähigkeit der Märkte noch die verfügbaren Rohstoffressourcen, noch die Belastbarkeit der Ökosysteme, noch die fossilen Energien sind unendlich.

Also dann – doch das Politbüro?

Nein, nicht das Politbüro. Der Kapitalismus brütet etwas Klügeres aus.

Der Kapitalismus funktioniert so, dass ein Unternehmen etwas produziert, worauf es spezialisiert ist, und dieses Etwas dann massenhaft auf den Markt wirft. Es kann sich dabei natürlich täuschen, und seine Produkte bleiben liegen – das kann teuer werden. Besser wäre es, es wüsste vorher, was die Kunden wünschen. Das ist bei jedem Handwerksbetrieb so, wo Dinge maßgefertigt werden, on demand, auf Bestellung, aber dann wird das Produkt teuer. Am besten könnte man hochindustrielle maschinelle Produktion und Maßanfertigung auf Bestellung kombinieren, und das sogar für ganz verschiedene Produkte. Dazu müssten die Maschinen aber ziemlich intelligent sein.

Aber wenn es so ist, dass der Kapitalismus am Ende seiner Entwicklungsmöglichkeiten die Fabriken dazu zwingt, genauso intelligent zu werden, weil die Menschen die Massenware satt sind und ständig etwas Neues verlangen? Dann braucht man nur ein wenig Fantasie und eine ziemlich intelligente Maschinerie – und schon braucht man kein Politbüro und keine Planpreise mehr, um den Kapitalismus sterben zu lassen.

Erik Brynjolfsson schreibt: »In einer fernen Zukunft, wenn die Roboter die meiste Arbeit übernommen haben werden, könnte unsere Gesellschaft einem digitalen Athen gleichen. Hier könnten wir uns auf Philosophie, Poesie, Spiel und Sport sowie zwischenmenschliche Beziehungen konzentrieren.«8 Das klingt interessant, aber wie stellt sich Brynjolfsson das vor? Die Roboter stehen in kapitalistischen Unternehmen, die Gewinne machen wollen und die Roboter darum zu Höchstleistungen anspornen, und die produzieren so viel und heizen dabei so sehr das Klima auf, dass bald nicht nur Malibu und Paradise, sondern die ganze Welt abbrennt – wie dies die düstersten Klimaprognosen ja schon prophezeihen.9

Im antiken Athen gab es keinen Kapitalismus, und die Roboter, die damals menschliche Sklaven waren, gehörten zum oikos, dem kleinen Bauernhof, um den das Leben damals geordnet war. Diese Sklaven produzierten genau das, was für die in diesem oikos lebenden Menschen zum Leben notwendig war, und nichts darüber hinaus: Sie produzierten auch gewissermaßen on demand. Es ging auch nicht ums Geld, um das Anhäufen endlosen Gold- und Geldreichtums, das wäre Chrematistik, eine Art von Ökonomie, die in der Ethik des Aristoteles als unsittlich galt. Sittlich gerechtfertigt war nur die Ökonomik, die Kunst der sparsamen Haushaltsführung. Die Menschen des antiken Griechenland strebten nicht nach materiellem Luxus, denn ihr Luxus war ihre Freiheit: eben die Freiheit, sich »auf Philosophie, Poesie, Spiel und Sport sowie zwischenmenschliche Beziehungen« zu konzentrieren.

Was können wir daraus lernen? Im Kapitalismus kann das nicht funktionieren – im Kapitalismus produzieren die Unternehmen um die Wette, so viel sie absetzen können, um im Wettbewerb mithalten zu können. Und je höher der Automationsgrad steigt, desto produktiver werden die Unternehmen; dann produzieren sie immer mehr und müssen unaufhörlich die Märkte mit ihren Gütern in unendlichen Mengen überschwemmen. All unsere Vorstellungen, die eine kapitalistische Ökonomie zu einer rationalen, wohlfahrtsdienlichen, effizienten und ressourcensparsamen Veranstaltung machen, wären auf den Kopf gestellt und ad absurdum geführt. Und die Idee, diesen immer chaotischer und giftiger werdenden Kapitalismus allen ein »Grundeinkommen« zahlen zu lassen, auf dass jeder das entstehende Chaos in Ruhe mitansehen kann, würde die Sache wohl nicht lange retten.

Wenn man aber davon ausgeht, dass die Maschinen so intelligent sind, dass sie auch nur das produzieren, was verlangt wird, bzw. das, was schon beauftragt worden ist? Wenn sie also auch on demand produzieren? Und nicht dem Kapital, sondern den Menschen selbst gehören?

Dies, die Produktion on demand, anstatt Produkte in Massen in den Markt zu pumpen, ist für eine moderne Industriefabrik eine gewaltige technische Herausforderung. Aber diese Transformation der Arbeitswelt findet gerade statt – und sie sei eine der größten in ihrer Geschichte, schreiben zwei philosophisch geschulte »Sozialinnovatoren«. Börries Hornemann und Armin Steuernagel beschreiben diese Transformation in dem von ihnen herausgegebenen Buch Sozialrevolution! sehr ausführlich: »Stellen Sie sich eine menschenleere Fabrik in Deutschland vor. Die schnell ineinandergreifenden Arme gehören Robotern, die rund um die Uhr in rasender Geschwindigkeit arbeiten. Einmal programmiert, vollbringen sie Bestleistung und entwickeln ihre Algorithmen dabei während des Betriebs stetig weiter. Sensoren und Kameras berichten selbstständig, wenn etwas hakt. Software-Probleme beheben die Algorithmen selbst. Wenn das nicht geht, klinken sich externe Programmierer aus anderen Erdteilen ein. Für mechanische Probleme ordert das System automatisch einen selbstständigen Spezialingenieur. Ein autonom fahrender LKW bringt die Rohstoffe und holt die fertige Ware ab. Die Produktion wird just in time angeworfen, wann immer Kunden eine Bestellung aufgeben. Es gibt keine Über- oder Unterproduktion. Die Produkte werden direkt vom LKW mit Drohnen zu den Kunden gebracht, die mit ihrem Smartphone signalisieren, wo sie sich bei Auslieferung befinden. Menschen braucht es hierzu nur als Konsumenten. Der Rest läuft von selbst. Was wie eine Zukunftsvision klingt, ist keine drei Schritte von uns entfernt – die Produktionsstätte der Zukunft.«10

Bitte – die Fabrik der Zukunft ist schon fast startbereit. Wenn diese Fabrik für die ganze Gesellschaft nützlich ist, um deren Konsumwünsche zu realisieren, dann kann diese die Fabrik offenbar besser selber betreiben, als eine Art umlagefinanziertes öffentliches, gesellschaftliches Produktionsmittel, etwa wie ein kommunales Elektrizitätswerk. Es entstünde eine Sharing Economy – aber eine für Produktionsmittel, nicht für Produkte.

Um die Produktionskosten möglichst niedrig zu halten, könnte man sich vorstellen, dass dezentrale Netze von Produktionssystemen entstehen, die zentral koordiniert sind. Sie produzieren dann keine Waren in unendlichen Mengen, um unendliche Gewinne zu generieren, sondern genau die Güter, die Konsumenten in Auftrag gegeben haben – und fertig. Und die Konsumenten sind am besten auch diejenigen, denen die ganze Sache gehört, sofern die Sache überhaupt jemandem gehören muss. Klar ist jedenfalls: Sie darf keinem Kapitalisten gehören, keinem rentseeker.

Für die Menschen bleibt die Arbeit, die die Automaten nicht tun können: eine Arbeit, die ihren Wert in sich selber trägt, den Menschen erhebt über das Funktion- und Sachesein und die seinem Dasein Sinn und Würde verleiht – so wie bei den Freien im antiken Athen. Die Maschinerie ist dann genau das, was im antiken Athen die Sklaven waren. Die Freien im antiken Athen haben die Sklaven nicht zur Arbeit geschickt, damit sie Geld verdienen und ihnen ein Grundeinkommen erwirtschaften. Die Sklaven haben im oikos direkt Gebrauchswerte erzeugt, also die Dinge, die die Menschen konsumieren wollten – gewissermaßen on demand. Das ist ein Unterschied, der Welten trennt: die Welt des gierigen, chrematistischen, geldgesteuerten Kapitalismus von der Ökonomie, wie Aristoteles sie verstand, nämlich als Kunst der sparsamen, bedarfsgesteuerten Haushaltsführung.

Es ist erst einmal nur eine Utopie, das digitale Athen, ein Wunschtraum. Kann es so etwas einmal geben, in Wirklichkeit? Einer der wenigen Ökonomen, die nach Marx eine Prognose wagten zur Zukunft des Kapitalismus, war Joseph Schumpeter. »Kann der Kapitalismus weiterleben?«, fragte er in Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie und gab die Antwort: »Nein, meines Erachtens nicht.«11 Der Kapitalismus werde sterben an seinem Erfolg: Wenn die Massenmärkte gesättigt sind, einer nach dem anderen, hat die »schöpferische Zerstörung« ihre Aufgabe erfüllt.

Arbeit sparenden technischen Fortschritt wird niemand aufhalten können, denn man kann nicht die Vergangenheit vor der Zukunft schützen.12 Doch weiteres die natürlichen Ressoucen verbrauchendes Wachstum ist nicht mehr möglich. Kriege sind sinnlos, weil keiner sie gewinnen kann. Kein Land kann ewiger Exportweltmeister sein, und wenn die Klasse der Reichen glaubt, sie sei nun endlich auf der Siegerstraße, wird ihr das Lachen bald vergehen, wenn bei der Klasse der Armen nichts mehr zu holen sein wird von dem, was sie als Einziges interessiert: vom Geld.13

Es wird sich eine Idee der politischen, sozialen, ökonomischen und technischen Vernunft als bewusster Inhalt einer politischen Bewegung artikulieren und als Wille zur Gestaltung Ausdruck finden müssen.

Der technische Fortschritt, die viel diskutierte Digitalisierung wird dazu ihren Weg aus der kommerziellen Gewinn- und Nutzenperspektive der Konzerne in die politische, nichtkommerzielle, an Werten orientierte Gewinn- und Nutzenperspektive zum Wohle aller Menschen dieser Erde finden müssen. Das wichtigste Produktionsmittel der nächsten großen Epoche wird dann nicht mehr die »Maschinerie« der privatkapitalistisch genutzten Industriefabrik sein, sondern öffentlich, von allen, von der Allgemeinheit genutzte, sehr intelligente, den general intellect, das Wissen nutzende maschinelle Infrastruktur. Die nächste Gesellschaft wird darum aber keine zentrale Planwirtschaft sein, sondern eher eine in staatliche, vernetzte, hoch automatisierte industrielle Strukturen eingebettete Marktwirtschaft, die schwach automatisiert ist und gering renditegetrieben.

Ein paar Sätze an dieser Stelle zu der Frage, wieso es ausgerechnet öffentliche Großstrukturen sein sollen, die uns vor dem Kapitalismus retten. Staatsunternehmen sind nicht gerade cool. Aber es gibt Aufgaben, die so wichtig sind, dass sie besser nur von solchen Organen oder Organisationen übernommen werden sollten, die nicht auf private Gewinne, sondern auf das Gemeinwohl verpflichtet sind. Der Kapitalismus hat nach zweihundertfünfzig Jahren geschafft, was er schaffen konnte – das ist die gute Nachricht. Aber nun sind Grenzen erreicht; die Einhaltung des Klimaabkommens ist heute wichtiger für das Überleben der Menschheit, als dass junge, vitale, kleine Unternehmen die Menschheit mit immer neuen Produkten beglücken.

Wenn Staaten so schwach geworden sind, dass sie ihren verfassungsgemäßen Auftrag nicht mehr wahrnehmen können, die Interessen der Allgemeinheit gegen die Profitinteressen der Monopole oder auch der Oligopole durchzusetzen, sind sie dem Schalten und Walten der Konzerne hilflos ausgeliefert. Thilo Bode, der in seinem Buch über die Diktatur der Konzerne diese Mechanismen so eindrucksvoll beschreibt, schwört dennoch heilige Eide, dass sein Buch nicht gegen die Marktwirtschaft, gegen Unternehmen und gegen Konzerne sei, denn wir brauchten die Konzerne.14 Richtig, wo sie noch Werte schöpfen können, brauchen wir sie noch. Aber sie schöpfen immer mehr nur noch Werte ab.

Wir, das Volk, der Souverän, werden die Politik zurückerobern müssen.15

Dies ist also die Vision, die in diesem Buch vorgeschlagen werden soll, in aller Kürze umrissen. Sie widerspricht fast allen Ideen, Vorschlägen und Konzepten, die gegenwärtig auf dem Markt der Ideen gehandelt werden. Ist sie trotzdem »richtig«, hat sie Hand und Fuß, auf welchen Werten beruht sie, und verbirgt sich dahinter vielleicht sogar Marx’ »Traum von einer Sache« – der nun Wirklichkeit werden kann?

»Das Totum des zuguterletzt Möglichen«

Wenn wir ganz von Grund auf beginnen wollen, müssen wir zu den Philosophen, um uns Rat zu holen. Vielleicht gehören schwere Arbeit, knappe Güter, Lebensnot und Mangel ja einfach zum Leben dazu? Ließe sich das begründen? Ein Buch, in dem alles steht und das man nur aufschlagen müsste, gibt es leider nicht, aber es gibt die gesammelten Schätze der Philosophie, und auch wenn noch nie jemand eine Welt (fast) ohne Arbeit und mit (fast) kostenlosen Gütern mit eigenen Augen gesehen und erlebt hat, müssen wir diese Weisheiten nicht verschmähen.

Die Philosophen haben schon immer die großen Fragen gestellt, nach dem Wesen des Menschen, seinen Anlagen und Möglichkeiten. »Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?« So beginnt Ernst Bloch das Vorwort zum ersten Band von Prinzip Hoffnung. Ganz ähnlich klingen die sogenannten Kant-Fragen: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Was ist der Mensch?

Die Philosophie kann nichts Konkretes und unmittelbar Umsetzbares über die nächste Gesellschaft mitteilen, aber sie kann uns helfen, uns über die Werte Klarheit zu verschaffen, die nicht Preise sind. Sie hilft uns, eine Antwort auf die Frage zu finden, an welchen obersten Ideen wir unser Handeln ausrichten und orientieren wollen. Seitdem wir nicht mehr Untertanen gottgesandter Fürsten sind, sondern uns mithilfe des eigenen Verstands und der Institutionen der parlamentarischen Demokratie selbst regieren, seitdem wir also mündig geworden sind und die göttlichen Glaubensinhalte zur Privatsache gemacht haben, wurden Autonomie, Mündigkeit und Menschenwürde zu unseren höchsten, anerkannten Wertideen.

Es klingt ein wenig philosophisch abgehoben, wenn man Kant befragt, aber Kant sagt eigentlich nur, was im Grundejeder aus eigener Erfahrung weiß: Niemandmöchte zu etwas gezwungen sein, weder von anderen Menschen noch von äußeren Umständen, also von der »Naturnotwendigkeit« an sich, und dazu hat der Mensch sozusagen ein hochheiliges Recht. Der Mensch ist zur Autonomie berufen – was allerdings auch an den Anspruch geknüpft ist, dass der Mensch seine Freiheit nicht missbraucht. Das meint Kant mit »sittlicher Autonomie«.

Kant versteht diese Idee der sittlichen Autonomie des Menschen als Gestaltungsauftrag, und zwar an den einzelnen Menschen und an die ganze Gesellschaft. Jeder Einzelne soll an sich arbeiten, dass er dieses Idealbild des mündigen autonomen Menschen auch ausfüllen kann. Was bedeutet das für die Gesellschaft? Wie ist die Gesellschaft diesem Auftrag folgend zu gestalten? Hier geht es auch zuerst um das Vermögen, sich selbst vorausschauend und verantwortlich zu steuern und zu organisieren, also sich selbst Gesetze nach Vernunftgesetzen zu geben. Aber es geht auch um die »Naturnotwendigkeit«: Der Auftrag lautet, die Naturnotwendigkeiten mehr und mehr aus der Erfahrungswelt zu verbannen.

Kant setzt die »Autonomie des Willens« gegen die bloße Naturnotwendigkeit, gegen die »Heteronomie der wirkenden Ursachen« und gegen die »Kausalität der vernunftlosen Wesen«. Die Menschenwürde gründet sich nach Kant auf die Fähigkeit, »gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke zu sein«. Der Gestaltungsauftrag wird also darin bestehen, diese naturwüchsig vorgefundenen Naturnotwendigkeiten in den Griff zu bekommen und technische Mittel so fortzuentwickeln, dass der Mensch »Herr im Reich der Zwecke« wird. Der Mensch ist in diesem Sinne nicht nur berechtigt, sondern sogar beauftragt, das »Problem der Ökonomie«1 eines Tages zu lösen – allerdings darf er den Rahmen des ökologisch Nachhaltigen und Erträglichen dabei nicht überschreiten und die Möglichkeit permanenten Lebens auf dieser Welt nicht zerstören.

Die Arbeit als gesellschaftliches, kulturelles und ökonomisches Projekt ist demzufolge offensichtlich nicht Selbstzweck, sondern verfolgt diesen geschichtlichen und endlichen Zweck. Man kann zwar bezweifeln, ob dieser Zweck jemals erreicht werden kann, aber man kann keinen anderen Zweck unterstellen, ohne die Arbeit zu sinnloser und quälender, zwanghaft um sich selbst kreisender Sisyphus-Arbeit erklären zu müssen.

Demzufolge dürfen wir durchaus hoffen auf Überwindung des »Reiches der Notwendigkeit« und die Eroberung eines »Reiches der Muße« – was nichts über die Möglichkeit aussagt, dies auch zu erreichen. Aber hoffen dürfen wir, und es komme sogar darauf an, das Hoffen zu lernen, schrieb Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung: Die »Arbeit des Hoffens« ist ins »Gelingen verliebt, statt ins Scheitern«. Die Hoffnung »erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen führt, in undurchschautes, gar jämmerlich anerkanntes«.

Bloch als Marxist glaubte, es gebe »seit Marx keine überhaupt mögliche Wahrheitsforschung und keinen Realismus der Entscheidung mehr, der die subjektiven und objektiven Hoffnungsinhalte der Welt wird umgehen können, es sei denn bei Strafe der Trivialität oder der Sackgasse. Philosophie wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit für die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben, oder sie wird kein Wissen mehr haben.«2 Angesichts der Trivialität, in der Philosophie und Wissenschaften im Zuge der Bologna-Reformen oft gefangen sind und in von Wirtschaftsunternehmen gesponserten oder gar gekauften Hörsälen stattfinden müssen, lässt die Größe dieses Gedankens geradezu erschauern: Philosophie als Gewissen des Morgen. Bloch erwartete für die Zukunft offenbar etwas sehr Großes, und was auch immer es ist, wird es anderes gewesen sein als ewiges wirtschaftliches Gütermengenwachstum; eine Idee, die an Trivialität schlechterdings nicht zu überbieten ist.

Aber ist es einfach Muße? Die Freien im antiken Athen haben sich ja nicht einfach der Muße hingegeben. Das »Reiten des Steckenpferdes«, Lustreisen um die Welt oder irgendein anderer banaler Zeitvertreib können auf die Dauer nicht Würde stiftende Inhalte darstellen. Die Freien im antiken Athen arbeiteten wertschöpfend, nur: Worin besteht der Wert, den freie Menschen schöpfen und erschaffen, wenn sie dabei vielleicht nicht nach dem Geld fragen, weil dieser Wert keine Ware ist? Kant sagt, das Leben in Würde und Anstand, als »gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke« leben zu dürfen, macht schon den eigentlichen Wert aus, also auch: nicht Maschine, nicht fremdbestimmt zu sein. Die Möglichkeit von Freiheit zu erweitern, sie als Option für die Menschen in die Welt zu tragen und so ein »Gewissen des Morgen« zu sein, ist wertschöpfende Arbeit.

So fragt auch die italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch mit dem Titel The Value of Everything, was Wert ist, wie er entsteht, und wie Wertschöpfung von Wertabschöpfung unterschieden werden kann.3 Die Dinge, aus denen die »ungeheure Warensammlung« besteht, haben Werte und Preise. Mazzucato zitiert den irischen Schriftsteller Oscar Wilde, der einen Menschen einen Zyniker nennt, der von allen Dingen den Preis kennt, aber von nichts den Wert. Wert ist etwas, was sich vom Preis unterscheidet und sich mit dem Preis nicht unbedingt decken muss. Von Dingen den Wert zu kennen und nicht nur den Preis, offenbart ein anderes Interesse, mit dem man auf die Dinge schaut. Der Zyniker ist nur am Geldwert interessiert; für ihn sind alle Dinge käuflich. Wert haben die Dinge für ihn nur, sofern sie Geldwert haben und sich daraus vielleicht mehr Geld machen lässt; Wert hat für ihn letztlich nur das Geld.

Wer aber den wahren Wert der Dinge kennt, hat eine Ahnung davon, dass die Dinge eine nützliche Funktion haben sollen in einem guten Leben und dass Freiheit, Autonomie und Würde eben dieses gute Leben ausmachen. Darin liegt der wirkliche Reichtum. Wertschöpfung bedeutet, die Möglichkeiten und den Reichtum des guten Lebens zu vermehren, und Wertabschöpfung bedeutet, ihn letztlich zu vermindern – um des abgeschöpften Geldwerts willen.

Der Wert des guten Lebens ist nun wie auch der Wert des Lebens an sich nicht zu quantifizieren. Der Wert des Lebens ist ein Absolutum, und wer versucht, ihn zu quantifizieren und zu relativieren, indem er ihm einen Marktpreis zuordnet, denkt und handelt zynisch. So ist es auch mit dem guten Leben: Es ist die Idee eines Zustands der Welt, der um seiner selbst willen wertvoll und erstrebenswert ist und der sich mit Marktpreisen und wirtschaftlichem Wachstum nicht erfassen lässt.

Philosophen haben sich seit Urzeiten bemüht, für diesen Zustand Worte und Begriffe zu finden. Platon hat versucht, einen idealen Staat zu konstruieren, der das gute Leben ermöglichen soll. Bei Aristoteles war er das »höchste Gut«, nach dem alles strebt. Die Weltreligionen haben diesen erträumten Zustand ins Jenseits verlegt, als Form eines höheren Lebens, das zu erreichen in dieser Welt nicht möglich sei. Die Utopisten der Renaissance, Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon, verlegten ihre Traumwelten ins Diesseits, aber an Nicht-Orte ferner, unbekannter Inseln und Länder. Allen diesen Beschreibungen eines erstrebenswerten guten Lebens gemeinsam ist, dass der materielle Reichtum zwar eine bedingende Rolle spielt, aber nicht den eigentlichen Inhalt und Sinn des guten Lebens ausmacht.

Seit Beginn der ökonomischen Klassik mit Adam Smith, David Ricardo, Jean-Baptiste Say und John Stuart Mill haben Ökonomen die Schöpfung von Wert in erster Linie in der Erweiterung der verfügbaren Menge von Gütern und Dienstleistungen und in deren effizienter Verteilung gesehen. Auch Mariana Mazzucato definiert Wert in diesem Sinne: »Der Wert kann auf unterschiedliche Weise definiert werden, im Kern geht es jedoch um die Produktion neuer Waren und Dienstleistungen. Wie diese Outputs produziert werden (Produktion), wie sie in der gesamten Volkswirtschaft verteilt werden (Verteilung) und was mit den Erträgen, die aus ihrer Produktion (Reinvestition) generiert werden, geschieht, sind Schlüsselfragen bei der Bestimmung des wirtschaftlichen Werts.«4 Einschränkend fügt sie jedoch hinzu: »Entscheidend ist auch, ob das, was gerade erstellt wird, nützlich ist.« Kriterium für Nützlichkeit ist etwa die Auswirkung der Produkte auf die Belastbarkeit des produktiven Systems der Umwelt. Diese Definition von Wert impliziert schon, dass die Produktion neuer Waren und Dienstleistungen nicht Selbstzweck sein kann, sondern dass ihr eigentlicher wertbildender Zweck außerhalb der Sphäre der güterproduzierenden Wertschöpfung liegen muss. Das Herstellen von Gütern im Hinblick auf die Ermöglichung eines guten Lebens ganz jenseits der Sphäre der Produktion als wertbildend zu erfassen und diesen Wert zu messen, bereitet den Ökonomen aber noch immer die größten Schwierigkeiten.

Es stellt sich die Frage, ob Staaten aktiv zur Wertschöpfung beitragen können oder ob man dies ganz den Märkten überlassen soll, die dann alles als wertschöpfend auszeichnen, was einen Marktpreis erzielt. In dieser Sicht gelten etwa die Aktivitäten großer Banken, die wesentlich an der Entstehung der Finanzkrise 2008 beteiligt waren, als wertschöpfend, sofern sie damit Profite erzielen konnten. So hat Lloyd Blankfein, damals CEO von Goldman Sachs, im Jahr 2009 behauptet, dass die Menschen von Goldman Sachs zu den produktivsten Menschen der Welt zählen, obwohl Goldman ein Jahr zuvor maßgeblich zur schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er- Jahren beigetragen hatte und die US-Steuerzahler 125 Milliarden Dollar aufbringen mussten, um das Geld zu retten. Trotz allem konnte Goldman Sachs zwischen 2009 und 2016 satte 63 Milliarden Dollar Nettogewinne erzielen – in den Augen von Lloyd Blankfein der Beweis, dass seine Bank äußerst produktiv gearbeitet habe.5

Marktpreis und abgeschöpfter Gewinn können also offensichtlich nicht das einzige Kriterium für Wertschöpfung darstellen; daran besteht, wie nicht nur dieser krasse Fall zeigt, kaum Zweifel. Staaten müssen also, wie Mazzucato sagt, steuernd, korrigierend und Investitionen lenkend mit dem Ziel der Förderung echter Wertschöpfung in die ökonomischen Prozesse eingreifen. Und dazu müssten sie eine Idee von diesem Wert haben, ja sie müssen beseelt und angetrieben sein von einer »Mission«; sie müssten an Großes denken (»think big«), wie etwa John F. Kennedy, als er 1962 die Mission verkündete, zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Menschen den Mond betreten zu lassen.

In den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren ging es im Kapitalismus immer wieder von Neuem um die Produktion neuer Güter und Dienstleistungen, um Produkt- und Prozessinnovationen, und der Kapitalismus war sehr erfolgreich damit. Aber nun scheint die Zeit ganz offensichtlich gekommen, dass das Große, das die Geister befeuern und zu großen Taten inspirieren kann, etwas anderes sein muss als nur das rastlose und zwanghafte Erfinden und Produzieren von immer neuen Produkten und Dienstleistungen.

Marx war der erste Ökonom, der versucht hat, den eigentlichen Wert der ökonomischen Wertschöpfung, ja der gesamten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte als abzielend auf die Herstellung eines Zustands von Lebenswelt jenseits der Sphäre der Güterproduktion zu denken: auf die Schaffung eines Reiches der Freiheit jenseits des Reiches der Notwendigkeit. Das war für ihn der Inhalt des value of everything: das Absolutum eines für alle Menschen erstrebenswerten Zustands von Lebenswelt, der um seiner selbst willen unermesslich wertvoll ist. Wir wissen heute, dass die materiellen Mittel zur Herstellung dieses Zustands noch nicht reif waren, als man diesen Versuch unternahm, und die Menschen, die diese Wertidee zu großen Opfern und Taten beflügelt hat, aber auch zu schrecklichen Gewalttaten, sind am Ende gescheitert. Gerade darum verbleibt die Aufgabe, dieses »Totum des zuguterletzt Möglichen«, wie Ernst Bloch es nannte, zu erfassen und zu beschreiben.

Alte und neue Aufgaben des öffentlichen Sektors

Mariana Mazzucato macht in ihrem Buch sehr schön deutlich, welche Aufgaben dem Staat unbedingt überlassen bleiben sollten – aus dem einfachen Grund, weil der Staat diese Aufgaben im Sinne der betroffenen Menschen und des ganzen Gemeinwesens sehr viel besser erledige als die Privatwirtschaft. Aber dennoch falle es schwer, für eine Ausweitung des öffentlichen Sektors einzutreten, »wenn der Begriff ›öffentlicher Wert‹ in der Volkswirtschaft noch nicht einmal existiert. Es wird davon ausgegangen, dass im privaten Sektor Wert geschaffen wird; bestenfalls ermöglicht der öffentliche Sektor den Wert.«6 Aber das ist ja nicht falsch: Der öffentliche Sektor kann den Wert ermöglichen, aber es ist ein Wert, der nicht Geldwert ist, und darum im BIP nicht auftauchen wird.