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Klaus-Rainer Martin

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Beschreibung

Im März 2018 jährt es sich zum sechzigsten Mal, dass ich im Alter von 19 Jahren und sechs Monaten die DDR verlassen musste und ich mit einem Male ganz auf mich allein gestellt war. Man nannte damals in "Westdeutschland", wie man die am 24. Mai 1949 gegründete Bundesrepublik bezeichnete, bevor Walter Ulbricht das Kürzel "BRD" in Umlauf brachte, die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR offiziell als "sowjetisch besetzte Zone (SBZ)", in der Bevölkerung kurz als "Ostzone" bezeichnet. Und ich war über Nacht zum "SBZ-Flüchtling" geworden. Ich hatte damals nicht nur meine Familienangehörigen und Freunde ohne Abschied zurücklassen müssen, sondern alle meine sozialen Bezüge abbrechen müssen, beispielsweise zur Jungen Gemeinde, zum Laienspielkreis der Jungen Gemeinde, zum Posaunenchor, zum Kirchenchor, zu den Nachbarn und mir bekannten Menschen in dem erzgebirgischen Kleinstädtchen, zu meinen Arbeitskollegen, zu meiner Brieffreundin, zu welcher sich gerade zarte Bande begannen anzubahnen. Und ich habe alle meine Habseligkeiten, die ich mir in den letzten Jahren mühsam erarbeitet und angeschafft hatte, zurücklassen müssen, wie beispielsweise mein mühevoll erworbenes Moped, mein über Bezugschein erworbenes Radio, meine Trompete, meine Kleidung und meine diversen Bücher. Zudem habe ich die soziale Sicherheit aufgeben müssen, welche man als "Werktätiger" unbewusst genießt. Denn man war automatisch Mitglied der "Sozialversicherungskasse (SVK)". Mit dem Mitgliedsbüchlein der SVK konnte man ohne jeden Formalismus jeden Arzt oder Zahnarzt aufsuchen. Das alles tauschte ich ein gegen den Status "SBZ-Flüchtling".

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Klaus-Rainer Martin

März 1958

ein Monat, der mein Leben veränderte

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

März 1958

ein Monat, der mein Leben veränderte

 

Im März 2018 jährt es sich zum sechzigsten Mal, dass ich im Alter von 19 Jahren und sechs Monaten die DDR verlassen musste, und ich mit einem Male ganz auf mich allein gestellt war. Man nannte damals in „Westdeutschland“, wie man die am 24. Mai 1949 gegründete Bundesrepublik bezeichnete, bevor Walter Ulbricht das Kürzel „BRD“ in Umlauf brachte, die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR offiziell als „sowjetisch besetzte Zone (SBZ)“, in der Bevölkerung kurz als „Ostzone“ bezeichnet. Und ich war über Nacht zum „SBZ-Flüchtling“ geworden. Ich hatte damals nicht nur meine Familienangehörigen und Freunde ohne Abschied zurücklassen müssen, sondern alle meine sozialen Bezüge abbrechen müssen, beispielsweise zur evangelischen Jugendgruppe Junge Gemeinde, zum Laienspielkreis der Jungen Gemeinde, zum Posaunenchor, zum Kirchenchor, zu den Nachbarn und mir bekannten Menschen in dem erzgebirgischen Kleinstädtchen Hartenstein, zu meinen Arbeitskollegen, zu meiner Brieffreundin, zu welcher sich gerade zarte Bande begannen anzubahnen. Und ich habe alle meine Habseligkeiten, die ich mir in den letzten Jahren mühsam erarbeitet und angeschafft hatte, zurücklassen müssen, wie beispielsweise mein mühevoll erarbeitetes Moped, mein über Bezugschein erworbenes Radio, meine Trompete, meine Kleidung und meine diversen Bücher. Zudem habe ich die soziale Sicherheit aufgeben müssen, welche man als „Werktätiger“ unbewusst genießt. - In der DDR gab es nicht wie in Westdeutschland Arbeiter, Angestellte, Beamte und Selbständige, sondern nur Werktätige, Bauern und einige selbständige Handwerker. Ab der 1950er Jahre wurden die Bauern "freiwillig", aber mit öffentlichem Druck in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) gedrängt, und ab der 1970er Jahre die Handwerker in handwerkliche Produktinsgenossenschaften (PGH).  Und diese waren alle automatisch Mitglied der „Sozialversicherungskasse (SVK)“. Damit war diese soetwas wie eine "Bürgerversicherung", welche siebzig Jahre später in der Bundesrepublik diskutiert wird. Mit dem Mitgliedsbüchlein der SVK konnte man ohne jeden Formalismus jeden Arzt oder Zahnarzt aufsuchen.

 

Es fiel mir nicht leicht, mein Elternhaus zu verlassen, in welchem ich eine glückliche Kindheit und harmonische Jugendzeit verlebt hatte. In jener Nacht begann für mich das Erwachsenendasein. Und ich hatte meine Heimat verloren. Das wurde mir schlagartig bewusst. Bisher war mir Heimat eine Selbstverständlichkeit gewesen, so selbstverständlich, dass ich nie darüber nachgedacht hatte. Doch mit einem Male war Heimat etwas geworden, das ich verloren habe und wahrscheinlich nie in meinem Leben wieder bekommen werde.

 

Bei den Eltern lebten von uns fünf Jungen nur noch mein jüngerer Bruder Andreas und ich. Dieter, unser ältester Bruder, war im Frühjahr 1945 als Fünfzehnjähriger noch zum Militär eingezogen worden, um den "Endsieg" mit herbeizuführen. Er war unmittelbar nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 mit seinem Kompaniechef in die britische Besatzungszone geflohen, um nicht in die Hände der Roten Armee der Sowjets zu fallen und lebte nun in Nordrhein-Westfalen. Er studierte an der Sporthochschule in Köln. Ekkehard studierte in Ost-Berlin Theologie. Albrecht studierte an der Bau-Ingenieurschule in Glauchau und kam nur ab und zu an den Wochenenden nach Hause.

 

Doch ich will meinen Bericht von vorn beginnen.

 

Da ich an der Bergbauingenieurschule „Georgius Acricola“ im sächsischen Zwickau, in welcher ich studierte, exmatrikuliert, das heißt vom Studium ausgeschlossen worden war, arbeitete ich ab 10. Dezember 1957 wieder in meiner bisherigen Brigade unter Tage als Hauer im Steinkohlenbergwerk „Deutschland“ in Oelsnitz im Erzgebirge. Natürlich musste ich meinen Kollegen mehr als einmal erzählen, weshalb ich von der Ingenieurschule „geflogen“ sei. Ich wollte mich mit dieser Entscheidung der „Zentralen Schulgruppenleitung (ZSGL)“ nicht zufriedengeben und schilderte dem damaligen Vorsitzenden der Volkskammer Johannes Dieckmann von der LDP (Liberaldemokratische Partei), und nicht von der SED, schriftlich die Ereignisse. Doch auch die LDP gehörte dem Parteienbündnis „Nationale Front“ an. Er antwortete mir daraufhin, ich sei ein „Zweifler an der Richtigkeit der Politik der DDR“ und solle deshalb Reue zeigen, indem ich mich freiwillig für vier Jahre zum Dienst in der Volksarmee melde. Danach könne ich wieder studieren.

 

Die Kumpel meiner Brigade, die mich zum Studium delegiert hatten, forderten bei der Betriebsleitung die Einberufung einer Betriebsversammlung. Diese fand schließlich am 7. März 1958 vor Schichtbeginn der Spätschicht statt, welche dadurch die Arbeitszeit unter Tage um eine Stunde verkürzte. Auf dieser Betriebsversammlung sollte ich vor allen Kumpeln der Spätschicht darlegen, weshalb ich vom Studium ausgeschlossen worden sei. Mein Bericht über den Ausschluss aus der Ingenieurschule und mein Schriftwechsel mit dem Volkskammerpräsidenten rief bei den Kumpels tumultartigen Unmut über das Verhalten der Schulleitung und des Volkskammerpräsidenten hervor. Während der anschließenden Arbeit unter Tage bat mich Steiger Kühnl von unserer Abteilung, nach Schichtende bei ihm einen Urlaubsschein zu beantragen und „weit weg zu fahren“. Ich verstand, was er damit sagen wollte.