Materialfluss - Monika Dommann - E-Book

Materialfluss E-Book

Monika Dommann

0,0
22,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ohne Logistik ist unser tägliches Leben unmöglich geworden, ohne Logistik gäbe es keine Globalisierung. Doch wie ist sie zu dieser Materialflussmaschine geworden? In ihrer wegweisenden Studie untersucht Monika Dommann den Warenfluss aus überraschender, aus umgekehrter Perspektive. Von Situationen ausgehend, wo nichts mehr fließt, nimmt sie die Bedingungen des Fließens in den Blick: Vom Anschluss der Getreidesilos an die Eisenbahn im 19. Jahrhundert bis zu den Just-in-Time-Lieferketten der Gegenwart, von Standards wie Frachtbriefen oder Paletten zum Design von Hochregallagern oder Verpackungen, von der Planung mit Flowcharts bis zur EDV schreibt sie die besondere, immer auch politische Geschichte der Logistik – denn deren wahres Gesicht zeigt sich dort, wo der Fluss ins Stocken gerät. Fragen, die beantwortet werden, lauten unter anderem: Was fließt in der Logistik eigentlich und warum? Wie ist die Logistik zu jener Materialflussmaschine geworden, der gerade auch dann vertraut wird, wenn alles anders wird, als es einmal war? Welches Wissen steckt in diesen Maschinen? Und in welchen Kulturtechniken sind sie verankert? Ist die Logistik nicht auch inhärent politisch? Warum können Waren fließen, auch wenn Menschen stillstehen müssen? Und was geschieht an jenen Orten, wo alles stillsteht?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Dommann

Materialfluss

Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ohne Logistik ist unser tägliches Leben unmöglich geworden, ohne Logistik gäbe es keine Globalisierung. Doch wie ist sie zu dieser Materialflussmaschine geworden? In ihrer wegweisenden Studie untersucht Monika Dommann den Warenfluss aus überraschender, aus umgekehrter Perspektive. Von Situationen ausgehend, wo nichts mehr fließt, nimmt sie die Bedingungen des Fließens in den Blick: Vom Anschluss der Getreidesilos an die Eisenbahn im 19. Jahrhundert bis zum Transport von Kunst aus der Kolonialzeit bis heute, von Standards wie Paletten oder Containern zur Konstruktion von Rampen und Hochregallagern, von der Planung mit Flowcharts bis zur EDV schreibt sie die besondere, immer auch politische Geschichte der Logistik – denn deren wahres Gesicht zeigt sich dort, wo der Fluss ins Stocken gerät.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Monika Dommann, geboren 1966 in Walchwil, Schweiz, studierte Spanisch in Salamanca, Geschichte und Volkswirtschaft in Zürich und forschte und unterrichtete nach der Promotion an den Universitäten Zürich, Luzern, Basel sowie in Washington, Montreal, Wien und Berlin. Seit 2013 ist sie Professorin für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

1. Stillstand inmitten des Materialflusses: Zur Einleitung

Was erfahren wir aus den Medien über Logistik?

Welche Bedeutungen stecken im Wort Logistik?

Wie lässt sich Logistik historisch untersuchen?

2. Vom Zentrum der Industriestadt auf den grünen Acker: Das Warenlager

Lagerhäuser in den Zentren der Industriestädte

Neue Raumökonomien für Zweckbauten

Transiträume für neue Geschäftspraktiken

Getreideelevatoren als Symbole für Kapitalismuskritik und Icons einer neuen Industrieästhetik

Mechanical Handling als ingenieurwissenschaftliche Vision

Schablonen für Materialflusssteuerung

Materialflusssteuerung im Verteilzentrum

Das automatisierte Hochregallager

3. Vom Transportstandard zur wilden Infrastruktur: Die Europalette

Die Entgrenzung des Fließbands

»This is a Pallet!« Der Zweite Weltkrieg als Materialflusslabor

80 x 120 cm – ein neuer Industriestandard in Europa

Die Palettierung der Schweiz

»Be wise, palletize!«

Die Geburt der Europalette

Zweckentfremdungen und die Rückkehr der Vielfalt

Palettenmangel nach Brexit und Covid-19-Pandemie

4. Vom Frachtzeichen zum Haken: Die Verpackung

Frachtbriefe als Medien des Warentransports

Speditionshäuser als Transportvermittler

Verrechtlichung der Frachtnormen

Verpackungsnormen als soziale und mediale Normierung

Verpackungsmarkierungen im Dienst der Beschleunigung

DIN 55402 – Markierungszeichen für nicht gefährliche Güter

Normierung der Produktverpackungen

5. Von den Kanban-Karten zu den Lieferketten: Just in Time

Das Inventar

Hand-to-mouth buying nach dem Ersten Weltkrieg

Operations Research und Toyota-Produktionssystem (TPS)

JIT-Managementlehren und Geopolitik

Von den Kanban-Karten zum integrierten Informationsnetzwerk

Kanban zur Selbstoptimierung

6. Am Ende der Lieferketten: Zum Schluss

Es gibt kein Ende der Lagerhäuser

Was fließt da eigentlich?

Materialfluss, nach dem Stillstand

Dank

Archive, Bibliographie und Filmographie

Archive

Bibliographie und Filmographie

Bildnachweise

Register

1. Stillstand inmitten des Materialflusses: Zur Einleitung

Bild 1: Das blockierte Containerschiff Ever Given am Suezkanal, 29. März 2021.

März 2016. Die deutsche Tageszeitung Die Welt interviewte den Manager Klaus-Michael Kühne.[1] Im Jahr zuvor hatten sich Hunderttausende von Menschen vom Nahen Osten aus über die Balkanroute auf den Weg nach Europa gemacht. Der Verwaltungsratspräsident und Mehrheitsaktionär von Kühne + Nagel (K+N), der auch eine Universität für Logistik (Kühne Logistics University) in seiner Heimatstadt Hamburg gegründet hat, äußerte sich im Interview zur »Flüchtlingskrise«, zu Nationalismus und zu Europa. Kühne präsentierte sich als distanzierter Betrachter der Politik. Selbstverständlich unterstütze er das Projekt »eines geeinten Europas«. Der Unternehmer, dessen Firma Seefrachten vermietet (ohne Schiffe zu besitzen) und Lieferketten bewirtschaftet (ohne dass ihm Fabriken gehören), sagte, dass Deutschland versuchen müsse, den Zuzug von Flüchtlingen einzugrenzen. Der Journalist wollte vom Logistiker wissen, wie er angesichts von kürzlich geschlossenen Grenzen in Slowenien, Kroatien und Serbien, die den »Flüchtlingsstrom« deutlich gebremst hätten, die Frage beurteile, ob die Wirtschaft weitere Grenzschließungen verkraften könne. Würde der Warenverkehr dann zusammenbrechen? Grenzschließungen seien beherrschbar, so Kühne: »Die Logistik ist erfinderisch genug, sie könnte mit Grenzkontrollen umgehen. Die Unternehmen könnten sich auf die Erschwernisse einstellen. Der Warenverkehr würde weitergehen. Vielleicht käme es gar zu einer Renaissance des Bahngüterverkehrs. Ich stimme denjenigen nicht zu, die behaupten, dass der Warenaustausch dann zusammenbrechen würde.«[2]

Juli 2017. In Hamburg trafen sich die Regierungschef:innen der zwanzig wichtigsten Industriestaaten und Schwellenländer mitsamt der üblichen Entourage aus Wirtschaft und Weltwirtschaftsorganisationen zum G20-Gipfel. Ein Slogan einer kapitalismuskritischen Organisation (auch auf Aufklebern anzutreffen) ist mir sofort ins Auge gefallen: »Die Macht ist logistisch. Blockieren wir alles.« Schon während der Zeit des Nationalsozialismus hatten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) Häfen als Andockungsstelle für politischen Widerstand benutzt.[3] Doch dass die Logistik so explizit ins Zentrum einer radikalen Kapitalismuskritik gestellt wurde, war neu. Für die Hamburger Proteste gegen das Treffen der G20 von 2017 waren Containerhäfen und die automatisierten Hochregallager des Plattformkapitalisten Amazon ein Vehikel, um den Kapitalismus da zu treffen, wo es wirklich weh tun würde: bei seiner Logistik.[4] Bereits 2012 war in Frankreich ein Buch des anonymen Kollektivs »Unsichtbares Komitee« erschienen, das den Slogan »Macht ist logistisch« nicht bloß mit dem Aufruf zur Blockade bewenden ließ. Man müsse auch in der Lage sein, die Infrastrukturen zum eigenen Nutzen laufen zu lassen, sonst mache die Blockade gar keinen Sinn.[5] Auch in der Sozialtheorie begann zu diesem Zeitpunkt die Beschäftigung mit Logistik als Vehikel des Widerstandes. Brett Neilson publizierte 2012 Thesen zur Macht von Logistik. Er beendete seine Ansichten mit einem Votum, das genauso fatalistisch wie kämpferisch anklang: »Working within and against logistical systems has become a crucial political task of the present.«[6]

Was zwischen 2012 und 2017 für Logistiker:innen und Kapitalismuskritiker:innen bloß ein Gedankenspiel war, trat fünf Jahre später tatsächlich ein. Nachdem im Januar 2020 erste Nachrichten über eine unbekannte Lungenkrankheit aus China in den Medien aufgetaucht waren, verordneten Regierungen weltweit ab März 2020 Lockdowns. Das Virus hatte sich in Fluggeschwindigkeit um die Welt verbreitet. Es setzte auf der globalen Transportlogistik auf. Geschäftsleute und Tourist:innen, die es gewohnt waren, sich frei zwischen Staaten zu bewegen, wurden plötzlich immobil. Grenzen wurden geschlossen und Angestellte ins Homeoffice verbannt. Eingespielte Lieferketten wurden unterbrochen. Überhaupt – die Lieferketten! Sie lagen auf einmal offen. Weil bestimmte Produktionsprozesse längst ausgelagert worden waren. Weil viele Länder nicht in der Lage waren, dringend benötigte Produkte plötzlich wieder im Inland herzustellen. Weil Rohstoffe oder Ersatzteile fehlten. Weil Produktionsbetriebe gedrosselt wurden. Weil plötzlich Dinge in Mengen nachgefragt waren, die sich keine Logistiker:innen hätten imaginieren können: Desinfektionsmittel, Masken, Substanzen für PCR-Tests etc.

Ein Jahr später ereignete sich wieder völlig unerwartet die nächste Unterbrechung, an einem der Nadelöhre der Weltwirtschaft. Die Ever Given wurde zum massenmedialen Superereignis mit Symbolbildern für den Materialflussstillstand, die keine Bildagentur treffender hätte in Auftrag geben können. Bilder prall gefüllter Containerschiffe zieren seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die Berichterstattung über die Weltwirtschaft. Immer dann, wenn über Welthandel, Wachstum oder Globalisierungskritik berichtet wird, greifen die Bildredaktionen gerne zum Symbol des Containerschiffs. Wie soll man besser zur Darstellung bringen, dass die Weltwirtschaft immer noch auf Kurs ist, der Nachschub für den Konsum gesichert ist oder der Freihandel wieder mal unter Attacke steht? Doch die Bilder, die im März 2021 in den Medienkanälen auftauchten, brachen mit dem herkömmlichen Narrativ des Containermotivs. Sie zeigten den mit Containern gefüllten Riesenfrachter Ever Given, der im Suezkanal auf Grund gegangen war und sich buchstäblich quer gestellt hatte. Ein Jahr nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie hatte die Ever Given ausgerechnet die kürzeste Schiffsroute zwischen Asien und Europa blockiert.[7] Kein Wunder also, dass die Medien zu diesem Anlass bei der Bezeichnung des Logistikrisikos im globalen Kapitalismus tief in das Metaphernreservoir des bedrohten menschlichen Organismus griffen, wenn sie vom »Würgegriff« am Suezkanal oder von der lebenswichtigen »Ader« des Suezkanals sprachen. Dagegen muteten die Bilder der quer gestellten Ever Given fast schon wie ein harmloses Legospiel an.

Was erfahren wir aus den Medien über Logistik?

Der Logistiker Klaus-Michael Kühne hatte den temporären Stillstand von Materialflüssen im Interview von 2016 nicht kommen sehen können. Doch für Logistikunternehmen wie K+N sind Grenzschließungen und Unvorhergesehenes aller Art ein Risiko, mit dem sie umgehen können, und zugleich eine Chance, die im Kern ihrer Geschäftsmodelle steht. Um einen Einblick in die Selbstdarstellung von Unternehmen und die Berichterstattung in den Medien zu erlangen, sind die Dokumentationsstellen in Wirtschaftsarchiven die beste Anlaufstelle.[1] Die verfügbare Dokumentation zu K+N bietet einen anschaulichen Einblick in die wachsende Bedeutung der Logistik, ihre steigende Präsenz in den Medien und auch in die Schwierigkeiten, sie historisch zu erforschen.

Es fällt auf, dass sich die Wirtschaftsberichterstattung seit Beginn der 1990er Jahre vermehrt mit der Logistikbranche beschäftigt. Auch K+N und Klaus-Michael Kühne sind seitdem regelmäßig in der Wirtschaftspresse präsent. Die neue mediale Publizität von K+N lag daran, dass das Unternehmen 1994 in Zürich und Frankfurt den Börsengang gewagt hatte, nach Danzas erst das zweite Speditionsunternehmen in der Schweiz.[2] Mit der Kapitalerweiterung sollte die außereuropäische Präsenz von K+N – vor allem in China – gestärkt werden. Klaus-Michael Kühne behielt 56,7 % der Aktien.

Seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlichen Wirtschaftszeitungen nun im Quartalsturnus die von K+N im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Börsengang erstmals zur Verfügung gestellten Kennzahlen (Umsatz, Ertrag, Betriebsergebnis, Finanzergebnis, Gewinn, Cashflow). Sie interviewen Firmenvertreter:innen (oder zitieren ihre Voten aus den Geschäftsberichten) und lassen auch Finanzanalyst:innen der Banken zu Wort kommen, welche die Firmen bewerten und zum Kaufen, Halten oder Verkaufen von Aktien raten. Der Finanzanalyst der Credit Suisse (CS), der sich 1994 anlässlich des bevorstehenden Börsengangs mit K+N beschäftigte, riet zum Kaufen.[3] Der Abbau von Zollschranken und die Entfaltung von Binnenmärkten (EU, NAFTA, ASEAN), die Auslagerung der Produktion in Niedriglohnländer, die Öffnung neuer Märkte in Osteuropa, China, Vietnam etc. würden die Entwicklung von K+N positiv beeinflussen. Durch das weltweite Stützpunktenetz mit 400 Büros in 80 Ländern sei K+N bestens aufgestellt. Der Finanzanalyst sollte recht behalten. Beflügelt durch die Globalisierung stiegen die Kurse von K+N nach der Jahrtausendwende markant an.

Aus diesen auch an potenzielle Investor:innen gerichteten Informationen lassen sich dominante Selbstbeschreibungen der Logistik der letzten drei Jahrzehnte herausfiltern: zum einen die Selbstbeschreibung einer Branche im Umbruch, mit kapitalkräftigen Unternehmen wie K+N, die sich in den 1980er und 1990er Jahren Investitionen in Distributionssysteme auf Basis von vernetzter EDV und Übernahmen leisten konnten, die die turbulente Globalisierung und Digitalisierung im ausgehenden 20. Jahrhundert überlebt hatten und die sich auf dem durch Konzentrationsprozesse gekennzeichneten Logistikmarkt behaupten konnten. Zum anderen der Topos von äußerst agilen, flexiblen und anpassungsfähigen Betreiber:innen und Treiber:innen der Globalisierung, die in allem, so scheint es – sei es Deregulierung, Protektionismus, Kriege, Grenzregulative, Streiks oder Digitalisierung –, Chancen wittern und selbst auch aus Handelsschranken Profit zu schlagen vermögen. Diesen Chancen stehen Risiken gegenüber, insbesondere die starke Abhängigkeit vom Konjunkturverlauf. Firmen, die sich verschätzt haben, können schnell starke Einbußen erleiden und zu Übernahmekandidaten werden. Dies widerfuhr zum Beispiel dem Konkurrenten von K+N, Panalpina, der 2019 vom dänischen Logistikkonzern DSV akquiriert wurde.

K+N ist ein traditionsreiches Familienunternehmen, das 1890 in Bremen gegründet wurde und 1969 seinen Firmensitz ins steuergünstige Schindellegi in der Schweiz verlegte. Der Umzug sei eine Reaktion auf die sozial-liberale Regierungskoalition und Bedenken bezüglich ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik (etwa einer möglichen Ausweitung der Mitbestimmung von Arbeitnehmer:innen) gewesen, so lässt sich der Gründerenkel Klaus-Michael Kühne gerne in den Medien zitieren.[4] Im Jahr 2015 feierte das Familienunternehmen sein 125-jähriges Jubiläum. Eigentlich ein idealer Rahmen, um K+N und seinem Mehrheitsaktionär Klaus-Michael Kühne, der sich in den Medien gerne als Mäzen von Sport (HSV), Wissenschaft (z.B. Kühne Logistics University) und Kultur (etwa Elbphilharmonie, Klaus-Michael Kühne-Preis und Lucerne Festival) präsentiert, noch mehr Publizität zu verschaffen. Im Geschäftsbericht für das Jahr 2015 konnte das Unternehmen eine neue Bestmarke beim Jahresergebnis und eine Steigerung der Produktivität präsentieren. Von diesem positiven Ergebnis profitierten auch die Aktionär:innen, denen eine zusätzliche Jubiläumsdividende ausgeschüttet wurde.[5] Der Geldsegen kam insbesondere dem Mehrheitsaktionär Klaus-Michael Kühne zugute. Er rückte 2015 im Reichstenranking des Schweizer Wirtschaftsmagazins Bilanz mit einem geschätzten Vermögen von 8 bis 9 Milliarden Schweizer Franken unter die zehn reichsten Schweizer:innen vor.[6]

Zum Firmenjubiläum schickte die K+N-Gruppe von Bremen aus Infocontainer auf eine Weltreise.[7] Die Jubiläumscontainer legten zwischen Bremen, Schanghai, Tokio, Dubai, Utrecht, Mailand, Wien, Santiago de Chile, New York, Toronto und Hamburg 43000 Seemeilen und 7000 Kilometer Landweg zurück und haben, so der Geschäftsbericht von 2015, »Geschichte lebendig werden lassen«. Doch just im Jubiläumsjahr 2015, als K+N im Januar auf dem Marktplatz in Bremen seine Geschichte zur Schau stellte, wurden Stimmen laut, welche auf ein Kapitel der Geschichte von K+N hinwiesen, das in den Jubiläumscontainern ausgeblendet blieb. Der freie Journalist Henning Bleyl hat mit seinen Artikeln für die taz maßgeblich dazu beigetragen, dass trotz der beschönigenden Jubiläumsfeier von K+N seither in den Medien über die starke Belastung des Unternehmens zur Zeit des Nationalsozialismus berichtet wird.[8] Und er gehört auch zu den Initiator:innen eines »Arisierungs«-Mahnmals, das in Bremen gleich unterhalb der Firmenzentrale von K+N errichtet werden soll. Das Unternehmen war nämlich an der sogenannten »M-Aktion« (M steht für Möbel) der SS und des »Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg« beteiligt. Dabei ging es um den Abtransport des Besitzes der deportierten und ermordeten Jüdinnen und Juden in ganz Westeuropa. In einer Medienmitteilung ließ K+N im März 2015 verlauten, dass die Firmenarchive, die sich in den Büros in Bremen und Hamburg befunden hätten, im Zweiten Weltkrieg abgebrannt seien. Das Unternehmen sei unter den Bedingungen einer Diktatur in die Kriegswirtschaft eingebunden gewesen.[9] Doch mit dieser Medienmitteilung konnte K+N die Dynamik der Debatte nicht mehr aufhalten. Große Tageszeitungen und wichtige Wirtschaftsmagazine griffen das Thema auf. Auch die Sendungen Kontrovers des Bayerischen Rundfunks und die ARD-Tagesthemen berichteten im April 2015 über die Beteiligung Alfred Kühnes (des Vaters von Klaus-Michael Kühne) an der Plünderung von 70000 Wohnungen in Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden sowie an der Spedition der Möbel nach Deutschland.[10]

Das Unternehmen K+N behauptet, dass firmenintern keine Dokumente zur »M-Aktion« vorlägen. Es sei zudem unklar, ob der Auftrag wissentlich und willentlich durchgeführt worden sei. Henning Bleyl hat sich auf die Gegenüberlieferung gestützt und in öffentlichen Archiven trotzdem einige belastende Dokumente gefunden. K+N weigert sich bis heute, seine NS-Vergangenheit von unabhängigen Historiker:innen untersuchen zu lassen. Der Zeithistoriker Frank Bajohr, der zur »Arisierung« von jüdischem Eigentum geforscht hat, kritisierte diese Haltung mehrfach in den Medien.[11] Es sei nämlich in Deutschland seit den 1990er Jahren bei anderen Großunternehmen angekommen, dass diese sich ihrer Vergangenheit zu stellen hätten. Und es wäre wünschenswert, wenn sich das Unternehmen und sein Mehrheitseigentümer, der sich gerne in der Öffentlichkeit als Mäzen präsentiere, auch auf dem Gebiet der Aufarbeitung der Vergangenheit auf dem gegenwärtigen Standard zeigen würden. Das Mahnmal bei der Firmenzentrale in Bremen wird die Öffentlichkeit künftig daran erinnern, dass K+N zur Zeit des Nationalsozialismus mit dem Transport der Möbel der enteigneten und ermordeten Jüdinnen und Juden Geld verdiente.

Wegen seines wirtschaftlichen Erfolgs sorgt das Unternehmen nach der Pandemie in den Wirtschaftsmedien für euphorische Schlagzeilen. Unerwartete Ereignisse (etwa die pandemiebedingte Verschiebung des Konsumverhaltens und die Engpässe in globalen Transportnetzwerken) bescherten K+N Rekordumsätze. In einer 2022 veröffentlichten Unternehmensbroschüre konnte K+N für das Jahr 2021 eine Steigerung des Nettoumsatzes von 20,4 Milliarden auf 32,8 Milliarden Franken ausweisen.[12] Die Neue Zürcher Zeitung brachte Ende Juli 2020 die Dynamik hinter diesem auch für die Finanzanalysten unerwarteten Ausmaß des Erfolgs mit den in der Wirtschaftspresse etablierten anschaulichen Sinnbildern auf den Punkt: »Wenn Lieferketten reissen, sitzen jene Spediteure am langen Hebel, die sie am besten flicken können. Dazu zählt K+N. Funktionieren die Ketten reibungslos, ist das Geschäft weniger profitabel.«[13] Als Mehrheitsaktionär konnte Klaus-Michael Kühne sein Vermögen wegen steigender Aktienkurse abermals potenzieren. Im Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz wurde er im November 2021 hinter dem IKEA-Erben Kamprad sowie den Basler Pharmafamilien Hoffmann, Oeri und Duschmalé als drittreichster Schweizer gelistet.[14] Grenzschließungen, Lockdowns, Produktionsdrosselungen, Lieferkettenprobleme und die Pandemiebekämpfung haben Kühne + Nagel noch erfolgreicher und den Mehrheitsaktionär Klaus-Michael Kühne noch reicher gemacht.

Welche Bedeutungen stecken im Wort Logistik?

Noch nie stand die Logistik derart im Fokus der Weltöffentlichkeit wie seit März 2021. Noch nie hatte die Welt synchron auf die Position eines gestrandeten Containerschiffes im Nahen Osten gestarrt. Noch nie waren wir in unserer Alltagssprache selbst zu kleinen Logistikexpert:innen geworden, die sich um Lieferketten sorgen. Dass hinter den ultraschnell entwickelten neuen Impfstoffen zum Schutz gegen Covid-19 nicht nur die unter Hochdruck arbeitenden Wissenschaftler:innen und Pharmakonzerne standen, sondern auch globale Health-Care-Logistik, wurde uns spätestens klar, als wir in den Medien die Bilder der Lagerräume, Lastwagen, Paletten und neu entwickelten Kühlboxen sahen, mit dem Logo von K+N. Das Logistikunternehmen hatte von Moderna den Zuschlag für die Lagerung und Distribution von Rohmaterialien und der Vakzine bekommen.

Trotz ihres Booms wissen wir erstaunlich wenig über die Geschichte der Logistik. Selbst die Ursprünge des Begriffs »Logistik« sind verworren. Die Sprache der wissenschaftlich-technischen Welt ist noch nicht systematisch untersucht worden. Die historische Semantik der deutschen Sprache befasste sich lange ausschließlich mit der politischen Sprache.[1] Doch wie Gabriele Schabacher gezeigt hat, stecken im Begriff Logistik mindestens drei historische Bedeutungsstränge.[2] Erstens das griechische Wortfeld lego/logos (denken, sprechen). Zweitens der griechische Begriff logos (Vernunft), der wiederum mit dem Begriff Logik verbunden ist. Und drittens das französische Verb loger (beherbergen, wohnen) bzw. das Substantiv logis (Unterkunft). Das bis heute im Zusammenhang mit der Logistik verwendete Vokabular trägt sowohl militärische als auch philosophische, mathematische und sozialwissenschaftliche Bedeutungsschichten in sich. Es entstand im Kontext der amerikanischen Militär- und Kriegswissenschaft und diffundierte nach dem Zweiten Weltkrieg von einem militärischen Begriff in eine allgemeine betriebsökonomische Organisationstheorie. Die Bedeutungsverschiebungen lassen sich anhand von Handbüchern, betriebswissenschaftlichen Zeitschriften und der Medienberichterstattung gut nachverfolgen.

Mitten im Ersten Weltkrieg erschien 1917 in den USA ein hundertseitiges Buch, das erstmals den Begriff Logistik im Titel führte: Pure Logistics. The Science of War Preparation.[3] Es ist bemerkenswert, dass das Buch im Titel Logistik und Wissenschaft aufeinander bezog. Der Autor George Thorpe, Leutnant des US Marine Corps, borgte den Logistikbegriff bei Antoine-Henri Jomini, der nach den Napoleonischen Kriegen im Auftrag des russischen Zaren ein Buch über Kriegstaktik (Précis de l’art de la guerre) verfasst hatte.[4] Anders als Militärtaktiker vor ihm verstand Jomini unter Logistik nicht mehr bloß das Lager, sondern die Koordination von Komplexität im Rahmen aller Operationen eines Feldzuges (materielle Vorbereitungen, Befehle, Spionage, die Handhabung von Formularen, Märsche, Transport etc.). George Thorpes Abhandlung (und damit auch die Schrift Jominis) wurde im Umfeld des Office of Naval Research (ONR), der Forschungseinheit der US Navy, im Kontext kriegswissenschaftlicher Forschung am Ende des Zweiten Weltkrieges zum Ursprung der Vereinigung wissenschaftlicher, ökonomischer und militärischer Aktivitäten verklärt und in den Logistikhandbüchern ex post als Gründungsmythos installiert.[5]Pure Logistics. The Science of War Preparation ist als historisches Dokument für die Zeit des Ersten Weltkriegs sehr aufschlussreich, weil sich in der Schrift die Veränderungen von strategischen Konzepten aus dem Kreis des amerikanischen Militärs ablesen lassen. Thorpes Logistik verknüpft die Kriegsführung mit der tayloristischen Betriebsrationalisierung: »Like commercial activities, it is susceptible of analysis in order to determine upon proper division of labor, to estimate necessities required to meet the situation, and to avoid duplication and waste.«[6] Die von ihm skizzierte Figur des Logistikers ist ein Ingenieur, der die moderne Armee als »Kampfmaschine«[7] mit hoher Arbeitsteilung, Spezialisierung und Effizienz versteht. Die Armee müsse eine standardisierte »maschinenähnliche Organisation« sein, mit engen Verbindungen zur Industrie:[8] »The organization is of no practical value unless every part will so function that the whole machine will run smoothly.«[9]

Derweil entwickelte sich in den Ingenieurwissenschaften weiteres neues Vokabular, das nicht um den Begriff »Logistik« kreiste, sondern um Begriffe wie »Movement« und »Flow«. Die von George Thorpe im Militärkontext beschriebene Vision einer maschinenähnlichen Zusammenarbeit von Militär und Wirtschaft, von den Fabriken bis zum Detailhandel, machte sich nach dem Ersten Weltkrieg deutlich bemerkbar. Die Ingenieur:innen weiteten die Mechanisierung der Fabriken auf Häfen, Bahnhöfe und Straßentransportterminals aus. Nicht mehr bloß die Entwicklung großer mechanisierter Anlagen, wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, stand im Zentrum der Rationalisierungstechniken, sondern der Einsatz kleiner Hilfsmittel, welche die Mechanisierung auch während der Krisenjahre in den 1930ern mit einem Überschuss an Arbeitskräften vorantrieben. Die »Integration« von Produktion und Distribution entwickelte sich in den USA in den 1920er Jahren zum neuen Leitmotiv der Rationalisierung. Eine neue spezialisierte Branchenzeitschrift mit dem Titel Distribution Economy: Commodity Handling and Movement from Line of Production to Point of Sale brachte das neue Credo der Bewegung prägnant zum Ausdruck. Die Zeitschrift präsentierte Monat für Monat einen Verkaufskatalog von Dingen, die 1929 von R.L. Lockwood (einem mit work simplification beschäftigten Mitarbeiter des Department of Commerce) wie folgt beschrieben wurden: »Little things, which multiplied many times, became big and important things.«[10] Mit Hilfe von Hubstaplern, Behältern, Transportplattformen, Beschriftungsschablonen, Bändern, Ketten, Ladebrücken und Rampen könne die Standardisierung und Austauschbarkeit der Transportmittel vorangetrieben und die Beschleunigung der Bewegung gesteigert werden. Der Beschleunigung der Bewegung, für die sich in den US-amerikanischen Ingenieurwissenschaften der 1920er Jahre erstmals der Begriff material flow einbürgerte, lag kein militärischer und politischer Masterplan zugrunde. Einem solchen wäre auch kaum Erfolg beschieden gewesen, angesichts der Tatsache, dass die Distributionsbranche hochgradig unkoordiniert, dezentral und schwach organisiert operierte. Logistik war nicht mehr als eine Vision – die Idee einer koordinierten, steuerbaren, geplanten Bewegung von Material und Information. Doch gerade weil die Vision des Materialflusses eine ziemlich anmaßende, mit wenig Rücksicht auf Traditionen formulierte und ingenieurwissenschaftlich gestützte Idee war, war sie so stark.

Die Übersetzungs- und Definitionsarbeit des Ökonomen Oskar Morgenstern nach dem Zweiten Weltkrieg hat dem heutigen Verständnis der Logistik eine weitere wichtige Bedeutungsschicht hinzugefügt.[11] Morgenstern war die zentrale Figur, die den amerikanischen Generälen und später den Betriebsökonom:innen Formeln zur Beschreibung komplizierter Aktivitäten lieferte. Der in den 1920er Jahren im Wiener Kreis verkehrende Wirtschaftswissenschaftler knüpfte an den von Gabriele Schabacher identifizierten zweiten begriffswissenschaftlichen Strang an, als er 1936 (inspiriert von der Lektüre der Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead) von einer neuen Logik sprach (die er »Logistik« nannte). Morgenstern argumentierte, dass auch die Sozialwissenschaften eine formalisierte Sprache entwickeln und mathematische Methoden anwenden sollten.[12] Nachdem Morgenstern 1938 mit Hilfe eines Rockefeller-Stipendiums emigriert und Professor an der Princeton University geworden war, kam er während des Zweiten Weltkriegs in Kontakt mit der militärnahen Forschung in den USA, insbesondere auch der Spieltheorie von John von Neumann. Einige dieser Aktivitäten (insbesondere die Weiterentwicklung von Operations Research) wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der von der Ford Foundation alimentierten RAND Corporation und im Office of Naval Research (ONR) weitergeführt.

Auf der Logistics Conference der RAND Corporation in Santa Monica im Jahr 1950 sprach Morgenstern über Logistik als formalisierte »Operation«. Der Begriff Operation war strategisch gut gewählt. Darin stecken nämlich auch mathematische und militärische (und später auch informationstechnische) Bedeutungen.[13] Morgenstern formulierte auch eine Definition logistischer Operationen: »A logistic operation consists in the supply of definite quantities of physical means and services for activities that according to their missions consume these means and services in order that the activities be maintained at particular present or expected future rates. The supplies come from one source and must be moved, i.e. transformed in space and time, by means of transportation to the activity.«[14] Morgenstern adressierte in seinem Vortrag das Militär und die Wirtschaft. Sein Beitrag war theoretischer Natur, aber gespickt mit Beispielen aus dem amerikanischen Militär.

Während der Wirtschaftswissenschaftler Morgenstern ein Forschungsprogramm formulierte und damit beim Militär und bei militärnahen Institutionen auch um dessen Alimentierung warb, unterschied der studierte Ingenieur und Admiral Henry E. Eccles die reine Logistik (die er als Abstraktum und Symbol verstand) von einer angewandten Logistik (womit er deren praktische Anwendung meinte).[15] Historisch betrachtet lag Eccles mit dieser Einschätzung ziemlich richtig. Denn die Stärke des Begriffs Logistik war von Beginn an eben gerade in seiner etymologisch fundierten Vieldeutigkeit angelegt, die reichlich Material für Symbole offerierte, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen als anschlussfähig erwiesen.

Wenn die Harvard Business Review als Indikator dafür genommen wird, wann Logistik als Begriff im Mainstream der praxisorientierten Betriebswissenschaften angekommen sein könnte, dann war das 1960 der Fall, als John F. Magee, einer der wichtigen Popularisierer von Operations Research (OR) in der Managementlehre, eine Logistik der Distribution verkündete.[16] Studierende der Betriebswissenschaften kamen seit Beginn der 1960er Jahre im Rahmen von OR auch mit Kursen zu Logistik in Kontakt. 1972 erschien das erste Logistiklehrbuch in deutscher Sprache von Gösta Ihde, der ab 1970 an der Universität Göttingen den ersten, seit 1971 explizit der Logistik gewidmeten Lehrstuhl im deutschsprachigen Raum innehatte.[17] Damit war die Logistik, die sich um die »over-all-efficiency komplexer logistischer Kanäle«[18] kümmern sollte, auch in Deutschland angekommen, mitsamt ihres aus den USA importierten Fachjargons im Gepäck. Um etwa 1980 fand dann die bislang letzte maßgebliche Anreicherung und Ausweitung des Begriffs Logistik statt. Ein Indiz für diesen Prozess ist, dass sich verschiedene Branchen (Handel, Verkehr, Speditionsgewerbe), die bis dahin in der Schweizerischen Studiengesellschaft für Rationellen Güterumschlag (SSRG) vereint gewesen waren, neu unter dem Dach einer Schweizerischen Gesellschaft für Logistik (heute GS1) versammelten. Solche Umbenennungsprozesse lassen sich zu dieser Zeit allgemein beobachten. Heute denkt man in vielen Situationen an Logistik: Wenn Lastwagen vorbeirauschen, der DHL-Mann die Ersatzbatterie des Notebooks an die Haustüre spediert, Reissäcke und Medikamentenkisten für Ruanda, den Kongo oder den Sudan in Flugzeuge geladen werden. Dahinter steckt auch die Annahme, dass sich hinter Hauslieferung, Hilfsgüterlieferung und Huckepackverkehr ein größerer Zusammenhang verbirgt.

Wie lässt sich Logistik historisch untersuchen?

Doch warum und wie ist die Logistik zum Sinnbild global vernetzter und materiell verketteter Praktiken geworden, deren Dienste gerade auch dann besonders gefragt sind, wenn das Unerwartete eintritt? Wann und in welchen gesellschaftlichen Konstellationen wurde der Materialfluss zu ihrer zentralen Leitmetapher? Welche Kulturtechniken sind dafür verantwortlich, dass Material- und Informationsflüsse minutiös getaktet werden können? Welches Wissen steckt in der Bewirtschaftung von Lieferketten? Welche Architekturen stehen im Dienste der Logistik? Und was hat es mit den Regenschirmen, Pfeilen und Flowcharts auf sich, die Teil unserer visuellen Kultur geworden sind und den Materialfluss steuern und begleiten?

Diesen Fragen geht dieses Buch nach. Ich folge dabei der Prämisse, dass Logistik an verschiedenen Orten erfunden wurde. Und zwar insbesondere auch an Orten, wo zunächst niemand von ihr sprach. Logistik ist einerseits eine Ingenieurwissenschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entwicklung von Transporttechniken und Beförderungsmitteln zur Distribution von Warenmassen entstand. Doch Logistik ist auch ein Bündel diverser Wissensbestände, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Austauschbeziehungen zwischen dem Transportwesen, der Industrie, dem Militär und der Wissenschaft entwickelten und die mit der Kontrolle, Steuerung, Formalisierung, Standardisierung und visuellen Repräsentation von Materialflüssen beschäftigt sind.

Mit meinem Vorgehen greife ich das Argument des Mitarbeiters des amerikanischen Department of Commerce R.L. Lockwood von 1929 auf. Ich gehe den von Lockwood erwähnten vordergründig kleinen Dingen (wie Hubstaplern, Behältern, Transportplattformen, Beschriftungsschablonen) nach. Lockwood sollte nämlich recht behalten. Durch ihre massenweise Verbreitung wurden sie groß und bedeutend und trieben die Beschleunigung des Materialflusses voran.[1]

Ich nutze den Moment des Stillstandes, der uns in den letzten zwei Jahren so akut umgetrieben hat, als epistemischen Trick. Denn die Materialflüsse lassen sich historisch am besten an den Orten ihres temporären Stillstandes untersuchen. Da, wo Waren, Rohstoffe und Halbfabrikate gelagert und umgeladen werden. Da, wo sie stranden oder ihren Bestimmungsort verpassen. Da, wo sie bewertet, gestapelt, getaggt und mit Zeichen versehen werden. Aber auch da, wo der Materialfluss zuallererst mathematisch modelliert, graphisch skizziert, als Filmsequenz inszeniert und in Arbeitsorganisationen integriert wird. Die Periode, bevor der Materialfluss in Gang gebracht wird, oder die Momente seines vorübergehenden Stehenbleibens oder Stockens sind nämlich häufig der Anlass, dass Konflikte verschriftlicht, Praktiken dokumentiert oder Arbeitsprozesse und neue Technologien in Bild und Schrift festgehalten werden.

Die historische Überlieferung logistischer Praktiken ist schlecht. Logistikfirmen arbeiten diskret, und sie tendieren nicht dazu, große Archive zu schaffen, geschweige denn sie für Historiker:innen zu öffnen. Ihr Geschäft ist stark an den Konjunkturverlauf gebunden. Es ist üblich, dass Firmen entstehen und irgendwann in Konkurs gehen oder von der kapitalkräftigeren Konkurrenz übernommen werden. Das im Zweiten Weltkrieg zerbombte und verbrannte Archiv der Firmenzentrale von K+N ist ein besonders folgenschweres Beispiel für eine schlechte Überlieferung von Quellenmaterial. Fehlende oder nicht zugängliche Archive prägen die historische Erforschung der Logistik. Wer sich in dieses Forschungsfeld begibt, merkt sehr bald, dass es Listigkeit, ein Flair für technische Details und vor allem auch eine große Portion Glück braucht, um an Quellenmaterial zu gelangen. Ich wurde für meine Untersuchung in alten Enzyklopädien, handelswissenschaftlichen Handbüchern, wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen, Branchenzeitschriften und Firmenzeitschriften fündig. Sobald ich auf interessante Spuren gestoßen war, folgte ich ihnen in Archiven weiter. Und tatsächlich stieß ich in Wirtschaftsarchiven, Unternehmensarchiven, Hochschularchiven, Filmarchiven und privaten Nachlässen auf Quellen, die für technik-, wirtschafts-, wissens- und medienhistorische Fragestellungen überraschend reichhaltig sind.

Dieses Buch zeigt anhand von historischen Fallstudien, dass die seit den 1990er Jahren als Treiberin und Profiteurin der Globalisierung in die Aufmerksamkeit einer medialen Öffentlichkeit geratene Logistik auf materiellen Kulturen, Wissensbeständen, medialen Praktiken und Arbeitstechniken beruht, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben und teilweise noch weiter zurückreichen. Mehrere Faktoren sind dafür verantwortlich, dass während der ersten Globalisierung ein Umbruch erfolgte, und nicht erst während der zweiten Globalisierung in den 1990er Jahren.

Durch den Bau von Eisenbahnlinien wurde eine feinmaschige, transnationale Infrastruktur geschaffen, welche neue Transportmöglichkeiten bot und gleichzeitig neue Anforderungen an die Organisation des Gütertransports stellte.[2] Auch auf dem Gebiet der Schifffahrt zeichneten sich Veränderungen ab: 1850 fuhr erstmals ein Dampfschiff von China nach London. Zwischen 1860 und 1880 endete das Zeitalter der Segelschiffe und ging in das der Dampfschifffahrt über.[3] Zudem wuchs der Welthandel zwischen 1840 und 1870 wie nie zuvor:[4] Sein Wachstum war begünstigt durch den Abbau von Zollschranken und beinhaltete eine Verlängerung der Transportwege und eine Beschleunigung der Güterströme. An den Umschlagsorten stapelten sich die Waren: Die Eisenbahnstationen und Häfen wurden ausgebaut, Güterschuppen und Speicher wandelten sich in große Warenlager.

Ich knüpfe mit meiner Geschichte der Logistik an Theoriearbeit und empirische Forschung an, die zwar aufgrund gänzlich anderer Erkenntnisinteressen entstanden sind, jedoch für ein historisches Verständnis von logistischen Prozessen im gesellschaftlichen Kontext zentral sind. Diese weit verstreuten Beiträge lassen sich in fünf Forschungsstränge ordnen:

Erstens sind es Historiker:innen wie E.P. Thompson, die sich mit dem durch Technisierung und Industrialisierung ausgelösten Wandel im Umgang mit Zeit beschäftigt haben. Thompson hat bereits 1967 die Aufmerksamkeit auf jene Synchronisationstechniken gelenkt, welche dazu beigetragen haben, dass Zeit zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor wurde. Thompson hat für die Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert mit technikaffiner, aber dennoch nicht technikdeterministischer Argumentation beschrieben, wie die Uhr das Zeitgefühl, die Produktionspraktiken und den Alltag der Arbeiter:innen im Industriekapitalismus synchronisiert hat und wie Zeit dabei zur Währung wurde: »The employer must use the time of his labor, and see it is not wasted. […] Time is now currency: it is not passed but spent.«[5] Wie dieses Buch zeigt, ist Logistik dafür verantwortlich, dass die Koordination von Zeit (und Raum) über die Fabriken hinaus diffundierte und auch den Transport, die Distribution und selbst die Endverbraucher:innen erfasste.

Zweitens ist zu einem Verständnis von Logistik eine Analyse jener Prozesse zentral, die dafür sorgten, dass Zeit und Raum überhaupt synchronisierbar wurden. Das von der Medienwissenschaftlerin Cornelia Vismann in die Diskussion eingebrachte Konzept der Zeit und Raum ordnenden »dinglichen Handlungsanleitungen« ist dabei hilfreich.[6] Dingliche Handlungsanleitungen sind komplexe technische und sozial wirkungsmächtige Prozesse. Hinter der Alltagsbeobachtung, dass fristgerechte Lieferungen und Hochregallager irgendwie zusammenhängen, stehen nämlich in Apparate eingelagerte Techniken oder verschriftlichte Ordnungen, die Abläufe steuern und unabhängig von der jeweils handelnden Person und darum beliebig oft (an anderen Orten, zu anderen Gelegenheiten und durch beliebige Personen) wiederholt werden können.

Drittens hat die Infrastrukturtheorie[7] und -geschichte[8] durch ihre konzeptionelle Arbeit maßgeblich dazu beigetragen, dass logistische Praktiken als Untersuchungsobjekte für wirtschaftshistorische, architekturhistorische oder technikhistorische Fragen entdeckt wurden. Forscher:innen der Science and Technology Studies (STS) wie Susan Leigh Star haben argumentiert, dass Infrastrukturen als stark relationale Gebilde zu verstehen sind, die Menschen und Dinge gleichermaßen mit einschließen. Nicht medientheoretisch, wie Vismann, sondern soziologisch argumentierend unterstrich Star die Bedeutung von sozialen Strukturen für die Entstehung und den Erhalt von Infrastrukturen. Doch die STS-Forscherin machte gleichzeitig klar, dass Gesellschaften zwar Infrastrukturen prägen, aber gleichzeitig auch in hohem Maße von ihnen bestimmt werden. Sobald Infrastrukturen einmal errichtet seien, würden Gesellschaften stark von ihnen abhängig. Weil Infrastrukturen oft sehr langlebig seien, sei es zentral, die Temporalität von Infrastrukturen (»When is an infrastructure?«) ins Zentrum zu rücken. Star unterstrich (ähnlich wie Vismann) den überörtlichen und überzeitlichen Charakter von Infrastrukturen (»infrastructure has reach beyond a single event or one site practice«).[9] Paul Edwards hat jüngst vor dem Hintergrund von digitalen Infrastrukturen das Analysespektrum zur Temporalität von Infrastrukturen nochmals erweitert. Er wendete nämlich die Frage »When is an infrastructure?« zur Frage »How fast is an infrastructure? What are the time frames of infrastructures?«[10] Die Frage nach der Geschwindigkeitssteigerung von Prozessen ist für eine Geschichte der Logistik sehr relevant. Insbesondere von Interesse sind die Phasen der Akzeleration und ihre gesellschaftlichen Ursachen und Folgen. Methodisch äußerst bedeutsam ist überdies Stars Beobachtung, dass Infrastrukturen bei einer Panne oder ihrem Zusammenbruch überhaupt erst von der Gesellschaft wahrgenommen würden.[11]

Viertens ist zu betonen, dass gerade im Vergleich zu den großen Aufrissen von STS-Forscher:innen und Medienwissenschaftler:innen die für eine Logistikgeschichte einschlägigen Studien von Historiker:innen meist nicht explizit von einem logistikhistorischen Erkenntnisinteresse angetrieben wurden. Ihre Resultate waren auch nicht auf die Formulierung einer allgemeinen Theorie ausgerichtet, sondern basierten auf der Auseinandersetzung mit Quellen. Autoren wie Sigfried Giedion, Raul Hilberg oder auch Wolfgang Schivelbusch haben sich intensiv mit der Frage von fehlenden oder zerstörten Archiven beschäftigt und haben durch ihre Quellenarbeit und ihre Suche nach neuen Quellen den Denkhorizont der Geschichtswissenschaften erweitert. Sie haben eindrücklich gezeigt, dass der Transport keine Nebengleise einer allgemeinen Geschichte darstellt. Eisenbahnen beispielsweise erzeugen nicht bloß eine Transportleistung. Schivelbusch hat beschrieben, wie Räume und Landschaften durch die Schaffung eines Eisenbahnraums und einer Eisenbahnzeit drastisch verändert wurden und den Landschaften die lokale Zeit entrissen wurde.[12] Sigfried Giedion hat für seine Architektur-, Technik-, Kunst- und Designgeschichte der Mechanisierung alltägliche, »anonyme« Objekte ins Zentrum gerückt und bislang vernachlässigte Quellengattungen (Patentzeichnungen, Warenkataloge und Werbebroschüren) auf inspirierende Art und Weise für die Geschichtsschreibung erschlossen. Er ließ sich bei seiner Forschung vom Material treiben und zeigte unter anderem anschaulich, dass die Entstehung des Meatpacking District in Chicago zu Beginn des 20. Jahrhunderts ohne die Kühlwagen der Eisenbahnen, die den Midwest mit der Metropole verbinden, nicht denkbar gewesen wäre.[13] Raul Hilberg wiederum hat in seiner bahnbrechenden Studie zu den »Sonderzügen nach Auschwitz« von 1976 mit Quellen aus Ermittlungs- und Strafverfahren die Rolle der Reichsbahn bei der Deportation und Ermordung von Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet.[14] Vor Raul Hilberg hatten Historiker:innen und Sozialwissenschaftler:innen ausgerechnet der Infrastruktur der Vernichtungspolitik keine Beachtung geschenkt. Es hat dann nochmals zwanzig Jahre gedauert, bis die 1994 neu gegründete Deutsche Bahn AG 1995 unabhängige Historiker:innen damit beauftragte, die Geschichte der Reichsbahn zur Zeit des Nationalsozialismus zu untersuchen und die Resultate mit einer Ausstellung auch einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.[15]

Fünftens ist seit Ende der 1990er Jahre, als die Container in den Massenmedien als Symbole der Globalisierung auftauchten, ein Forschungsfeld entstanden, das sich explizit mit Logistik beschäftigt. Kennzeichnend für das neue sozial-, medien- und architekturhistorisch geprägte Interesse ist der Eindruck, dass sich gleichsam vor den Augen der Zeitgenoss:innen eine »logistische Revolution« abspiele, die neu und einzigartig in der Geschichte sei.[16] Historisch betrachtet könnte die Konstatierung einer logistischen Revolution durchaus auch im Globalisierungsdiskurs der 1990er und 2000er Jahre verortet werden, der unter dem Eindruck, dass »alles mit allem zusammenhängt«,[17] die Globalisierung zur sinnstiftenden Erklärung in den Medien, aber auch in Politik und Wirtschaft erhob. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschienen erste Studien, welche sich mit der Rolle der Container für die Globalisierung,[18] den Folgen der Automatisierung und des Supply-Chain-Managements (SCM) für die Logistikarbeiter:innen sowie mit den Versuchen ihrer gewerkschaftlichen Organisation[19] und schließlich mit den Medien (insbesondere der Rolle von Computern) in der Logistik beschäftigen.[20]

Eine Geschichte der Logistik, wie sie in diesem Buch verfolgt wird, muss immer auf der Hut sein, um nicht selbst Teil jener selbsterfüllenden Prophezeiung der Logistik zu werden, die besagt, dass Materialien permanent im Fluss sind und mit Informationen abgeglichen werden. Sie muss auch vorsichtig sein gegenüber dem seit den 1990er Jahren im Globalisierungsdiskurs dominanten Topos der Logistik als Kind und Mutter der Globalisierung. Sie kann sich nicht bloß mit einem Unternehmen aufhalten, auch wenn dieses, wie K+N, zu den zehn wichtigsten Logistikkonzernen der Welt gehört, weil Logistik sich nicht auf die Folgen von Unternehmensaktivitäten reduzieren lässt. Meine Geschichte der Logistik folgt einer Follow-the-Movement-Heuristik,[21] die zu rekonstruieren versucht, welche anonymen Dinge, Wissensformationen und medialen Operationen der Logistik der Gegenwart zugrunde liegen und welche politischen und ökonomischen Konstellationen auf die Bewegung und den Stillstand einwirken.

Die anonymen Dinge, Wissensformationen und Operationen der Logistik sind nur vordergründig zweckfrei und unpolitisch. Sie sind als Verbindungsglieder und neuralgische Schlüsselstellen besonders geeignet, um die sozialen und politischen Bedingungen und Folgen der ineinander verwobenen Bewegungen von Menschen, Dingen und Zeichen zu untersuchen.

Das Buch schlägt in den einzelnen Kapiteln einen zeitlichen Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und verfolgt dennoch keine strikte Chronologie. Die Kapitel können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Jedes Kapitel steht für sich allein und markiert dennoch Abzweigungen mit Verbindungen zu anderen Kapiteln, die mit Pfeilen angezeigt werden (→). Die einzelnen Kapitel nehmen ihren Anfang im Verteilzentrum in Acht (Niederlande), auf einer Europalette in Witney (England), bei einem Stück Verpackungsgraphik im Museum für Gestaltung in Zürich (Schweiz) und in der Motomachi-Fabrik in Toyota (Japan). Verglichen mit den langen und Kontinente umspannenden Containerreisen zum Jubiläum von K+N im Jahr 2015 ist der Maßstab meiner Erkundungen in die Logistikwelt geradezu provinziell, oft dezidiert lokal, und der Maßstab bleibt immer begrenzt. Die vier historischen Studien sind geprägt durch ingenieur- und wirtschaftswissenschaftliche Perspektiven in Europa und Nordamerika. Es ist eine weitgehend durch Männer organisierte Welt. Der Text verwendet deshalb die männliche Sprachform, wenn ausschließlich Männer gemeint sind. Doch Frauen sind etwa als Konsumentinnen, Packerinnen, temporäre Gabelstaplerfahrerinnen und irgendwann als Managerinnen und Bauherrinnen auch Teil dieser Welt. Gegendert wurde deshalb dann, wenn weibliche Akteurinnen denkbar sind. Die Fallstudien zum Warenlager, der Europalette, der Verpackung und Just in Time stehen exemplarisch für raumhistorische, dinghistorische, medienhistorische und wissenshistorische Analyseebenen. Meine an Acht, Witney, Zürich und Toyota ansetzende Follow-the-Movement-Heuristik, so die Leseanleitung und das Forschungsprogramm meiner Logistikgeschichte, könnte und müsste noch an vielen anderen Ort ansetzen. Jedenfalls sind in den einzelnen Kapiteln bereits einige Verästelungen und Korridore für weitere Erkundungsreisen freigelegt worden – Verbindungen, welche auch alltagshistorische Dimensionen der Logistik andeuten.

2. Vom Zentrum der Industriestadt auf den grünen Acker: Das Warenlager

Bild 2: Einweihung des neuen Export-Sammelzentrums von Philips nahe des niederländischen Dorfes Acht, 1958.

Es war wohl kurz vor Mittag, jedenfalls zeigt die Uhr auf dem Foto fünf vor elf. Festlich gekleidete Männer hatten sich neben einer Lokomotive und ein paar Güterwaggons zu einer Zeremonie zusammengefunden. Ein Festredner wandte sich an die Gäste. Weiter hinten sind hohe Stapel mit Kartonkisten zu sehen. Doch ins Auge fallen insbesondere die in der Bildmitte abgebildeten gigantischen schwarzen Geräte, die wie Trophäen auf Tischen und Schubkarren aufgestellt sind. Bei den verkabelten Apparaturen handelte es sich um das neueste Wunder der Ingenieurskunst aus dem Hause Philips: closed-circuit-television (CCTV).[1]

Der niederländische Hersteller von Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräten hatte seine Fabrikation 1891 mit der Produktion von Glühbirnen in Eindhoven begonnen. Die Gästeschar war 1958 zur Einweihung des neuen Export-Sammelzentrums von Philips nahe des niederländischen Dorfes Acht gereist. Nach den Reden wurde sie im Neubau herumgeführt. Der Höhepunkt war die Aufführung eines Gabelstapler-Balletts. Die Eröffnungsfeier zelebrierte die neuesten Geräte der Logistik (Gabelstapler und Paletten), die neuesten Produkte aus der Forschungsabteilung von Philips (CCTV) und eine Neukonzeption des Lagers (ein Sammelzentrum mit Eisenbahnanschluss auf dem Land). Das neue Export-Sammelzentrum war nicht in der Nähe der Stadt Eindhoven errichtet worden, wo das Unternehmen seinen Hauptsitz hatte und auch Produktionsbetriebe unterhielt. Philips baute auf einem Acker inmitten von Bauernhöfen in Acht. Das Unternehmen schuf mit dem Export-Sammelzentrum einen Typus von Lager, der die Funktionsweise von Lager und Distribution umgestaltete und Ackerland in Logistiklandschaften verwandelte. Maßgeblich für den Entscheid, das neue Lager in Acht zu bauen, war (neben dem Vorhandensein von freien Ackerflächen für den weiteren Ausbau der Anlage) die Erschließung durch Verkehrsinfrastrukturen. Die 27553 Quadratmeter umfassende einstöckige Konstruktion war in Kooperation mit der Niederländischen Eisenbahnen AG an der Nord-Süd-Eisenbahnachse geplant worden. Auf der Eisenbahnstrecke Eindhoven–Den Bosch wurde eine neue Station Philips-Acht errichtet. Die Zugkompositionen konnten auf Gleisen direkt ins Lager fahren und es auf der anderen Seite wieder verlassen. Auch Lastwagen konnten vom Lager aus be- und entladen werden. Philips zeigte sich 1958 optimistisch, dass durch die Schaffung des zentralen Lagers mit direktem Anschluss an das Eisenbahnsystem die Anzahl der gelagerten Waren und Halbfertigprodukte wegen der gesteigerten Transportgeschwindigkeit reduziert werden könne. Von Acht aus sollte der gesamte Binnen- und Exportmarkt beliefert werden.

Das neue Gebäude war an das Eisenbahn- und Straßennetz angebunden und transport- und kommunikationstechnisch strukturiert. Zwischen vorfabrizierten Betonelementen und Wänden aus Ziegelstein sorgten Gabelstapler und Paletten für einen mechanisierten Transport zwischen dem Lager und den Eisenbahnwagen. Transport- und Ladeprozesse konnten (unterstützt durch CCTV) von einem Kontrollraum aus überwacht werden. Kommuniziert wurde mittels einer internen Telefonanlage. Für Abstimmungen zwischen dem Sammelzentrum und den Rangierlokomotivführer:innen und den Lastwagenfahrer:innen kamen Mobiltelefone (Walkie-Talkies) zum Einsatz.

Lokomotivführer:innen, Eisenbahnpassagier:innen und Automobilist:innen sahen schon von weitem die Neonleuchtschrift »expeditie buitenland«. Die Architekt:innen Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour haben in einer Studie auf die Bedeutung von Zeichen (insbesondere Neonleuchtschriften) als Elemente einer neuen, kommunikativen Architektur im Zeitalter des Automobilismus verwiesen, die sie als »architecture of persuasion« bezeichnet haben.[2] Das von einem Parkplatz in Las Vegas inspirierte und 1968 in einem Seminar an der Yale University entwickelte Konzept der »architecture of persuasion« ist hilfreich für das Verständnis des Export-Sammelzentrums von Philips in Acht.