Mathematik – Management – Meditation - Bruno Buchberger - E-Book

Mathematik – Management – Meditation E-Book

Bruno Buchberger

4,9

Beschreibung

• Mathematik – die Kunst des Denkens • Management – die Kunst des Handelns • Meditation – die Kunst des Nicht-Denkens und Nicht-Handelns Der vielfach ausgezeichnete Mathematiker, Computerwissenschafts-Pionier und Softwarepark-Gründer Bruno Buchberger kondensiert in diesem Buch seine Gedanken zu diesen zentralen Aspekten seines Lebens. Dafür wählt er nicht die Form einer klassischen Autobiografie, sondern setzt sich mit Fragen auseinander, die ihm in dieser oder ähnlicher Form im Lauf der Jahre in Interviews gestellt wurden. Für Eilige formuliert er die Antworten als kurze, mitunter provokante Schlaglichter. Für Leser, die in die Tiefe gehen wollen, erarbeitet der Autor die Zusammenhänge in umfassenderen Diskursen und Anekdoten. Ein Buch für alle, die denken, handeln und sich manchmal nach dem Nicht-Denken und Nicht-Handeln sehnen.

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BRUNO BUCHBERGER

MATHEMATIKMANAGEMENTMEDITATION

INHALT

VORWORT

Dieses Buch ist aus einer Anregung von Peter Illetschko, Journalist bei Der Standard, entstanden. Ich danke ihm ganz herzlich für diesen Impuls. Er hat mich zu verschiedensten Anlässen und Themen interviewt, durch seine Fragen inspiriert und provoziert, und meinte dann, dass meine Antworten einmal in einem Guss in Buchform zu lesen sein sollten.

In der Tat habe ich in den Jahrzehnten meines Lebens im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik Hunderte Interviews gegeben. Die Fragen, die aus allen Richtungen, aber immer wieder zu ähnlichen Themen kamen, habe ich in diesem Buch neu gestellt und in einen Fluss gebracht, der von der abstrakten Welt der Mathematik über die konkrete Welt der heutigen technologie- und wirtschaftsbetonten Gesellschaft bis zu den Fragen führt, die das erwachende Bewusstsein sich seit Generationen stellt.

Wie in einem Interview sind meine Antworten für den eiligen Leser kurz und manchmal so provokant wie die Fragen. Im Fluss des Ganzen ergeben sie aber – so hoffe ich – einen anregenden Sinn. (Die Kurzantworten sind nach den Fragen durch einen anderen Schrifttyp gekennzeichnet.)

Während der Interviews habe ich aber oft für die Journalisten – sofern sie sich dafür die Zeit nehmen wollten – „bei abgeschaltetem Mikrofon“ ziemlich weit ausgeholt, um eine gründliche Antwort zu geben. Das wurde meistens geschätzt. Und so gibt es in diesem Buch zu jeder Frage auch eine längere, tiefer gehende Antwort für Leser, die auf den Grund gehen wollen, die heutige, manchmal sehr komplex erscheinende Welt verstehen wollen. Und die sich vielleicht dadurch angeregt und ermutigt fühlen, in der heutigen Gesellschaft aktiv zu werden, deren ungeheure Möglichkeiten zu nutzen, neue zu schaffen und aus einer ganzheitlichen Sicht heraus evolutiv und verantwortlich zu handeln.

Ich danke der Verlagsgruppe Styria für die professionelle Herausgabe dieses Buchs, insbesondere Frau Mag. Elisabeth Wagner für das Lektorat. Herrn Josef Lehner danke ich herzlich für das Korrekturlesen von Teilen einer ersten Version des Buchs und die Herstellung des Kontakts zum Verlag.

Gerne erinnere ich mich auch dankend an die spannenden und manchmal sehr lustigen Gespräche mit meinen Interviewerinnen und Interviewern, von denen ich hier stellvertretend nenne: Thomas Azade, Christina Badelt, Elisabeth Buchmann, Eva Drechsler, Elisabeth Eidenberger, Josef Ertl, Rainer Himmelfreundpointner, Bernhard Hofer, Michaela Holy, Johannes Jetschgo, Oliver Jonke, Alfons Krieglsteiner, Lucia Kruckenhauser-Klement, Thomas Kugler, Oliver Lehmann, Wolfgang Lehner, Hannes Leopoldseder, Gerald Mandlbauer, Dietmar Mascher, Christian Müller, Aleksandra Pawloff, Erika Pichler, Bettina Preßlauer, Klaus Schobesberger, Gisela Schreiner, Jens Tschebull, Karin Tzschentke, Heinz Wernitznig, Thomas Winkler, Ulli Wright.

Anmerkung

Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch von einer geschlechterspezifischen Schreibweise abgesehen. Die verwendeten Personenbezeichnungen, personenbezogenen Begriffe und Berufsbezeichnungen beziehen sich auf beide Geschlechter.

MATHEMATIK DER ANFANG UND IMMER AM ANFANG

In Österreich kennt man Sie ja eher durch Innovationsprojekte wie den Softwarepark Hagenberg als durch Ihr internationales Standing als Mathematiker. Warum haben Sie seinerzeit ausgerechnet Mathematik studiert?

Ehrlich gesagt, mein Hauptgedanke damals war: „Was ist ein Fach, das nicht jeder studieren kann?“

Im Gymnasium hat mich alles interessiert – ich hätte jedes Fach studieren wollen und habe mich auch in allen Fächern leichtgetan. Und da mich alles interessiert hat, ist alles in mich wie von selbst hineingezogen. Es war mir auch intuitiv klar, dass alle Fächer wichtig sind und es um ein möglichst klares „Bild von der Welt“ geht. In der Tat habe ich dann bald – im Studium, im Berufsleben und auch beim Mitwirken in der Gesellschaft – erfahren und bestätigt gefunden, wie fundiert und umfassend die Bildung im Gymnasium (in meinem Fall das „Gymnasium in der Angerzellgasse“, das heutige „Akademische Gymnasium“ in Innsbruck) war.

Bis zu dem Zeitpunkt, als ich in der langen Reihe zur Inskription an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck stand, hatte ich noch gedacht, ich würde Biologie studieren. Während des Wartens ist mir dann der folgende, äußerst unsachliche Gedanke durch den Kopf gegangen: „Was werden die Leute (insbesondere auch die Mädchen) sagen, wenn sie erfahren, dass ich Biologie studiere? Die werden wohl sagen: ‚Biologie kann jeder studieren. Dazu braucht man sich ja nur eine Menge von Schmetterlingen, Gräsern und Würmern auswendig zu merken …‘“ Unter dem Druck der nahenden Entscheidung bin ich dann ganz ehrlich zu mir gewesen und habe mir gedacht, ich möchte etwas studieren, was man mit Recht nicht-trivial nennen kann und was „wirklich nicht jeder studieren kann“. Da ist mir sofort die Mathematik eingefallen! Ich hatte bis dahin zur Mathematik keine engere Beziehung als zu anderen Fächern und bis zu diesem Augenblick auch nie erwogen, Mathematik zu studieren. Die Entscheidung war wie ein Blitz, fast ein bisschen wie ein Scherz oder ein Aufstand gegen den Intellekt, der Entscheidungen gerne mit hehren Gründen begleiten möchte. Mittels des Aufstands gegen den Intellekt habe ich mich also damals entschieden, das Fach, das den Intellekt in den Mittelpunkt stellt, zu wählen!

Ich war dann in einer fast feierlichen und trotzigen Stimmung, als ich auf die Frage des Inskriptionsbeamten, was ich studieren wolle, „Mathematik“ sagte. So quasi: „Ich mache das jetzt, habe keine Ahnung, was da herauskommen wird, und ich möchte weder Gründe noch Gegengründe hören, erzeugen oder abwägen.“ Vielleicht war es auch ein erster starker Impuls der Freiheit, die mich umfing, als ich Universitätsboden betrat. Eine Freiheit, die in krassem Gegensatz stand zu den Beklemmungen, Verunsicherungen, Regulativen, Maßregelungen, Autoritätsdiktaten meiner Jugend in der Tiroler Nachkriegsgesellschaft.

Natürlich waren meine damaligen Gedanken über die Biologie – beziehungsweise was ich geglaubt habe, wie Leute über Biologie denken – völlig naiv. Die Biologie (wie viele andere moderne Fächer) war damals schon und ist heute noch mehr – einer der kompliziertesten Bereiche, die den schärfsten Intellekt brauchen. Aber darum geht es hier nicht. Vielmehr darum, dass man unter Druck Entscheidungen fällt, bei denen man endlich einmal den Intellekt außer Acht lässt und seiner Intuition folgt. Ohne dass ich es wissen konnte, hat mir diese Entscheidung für das einerseits „belächelte“ und andererseits „gefürchtete“ Fach Mathematik ein aufregendes, anregendes, herausforderndes, reichhaltiges Leben beschert. Ein Leben im Zentrum und an den Grenzen der heutigen Zeit mit allen ihren wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und philosophischen Vibrationen. Ich genieße dieses Leben mit steigender Intensität und in vollen Zügen bis heute und ich habe noch lange nicht genug davon. Vielmehr habe ich das Gefühl, erst am Anfang zu stehen und erst langsam zu verstehen, wie sich die Welt dreht.

Mathematik hat ja bei vielen einen schlechten Ruf. Was ist Mathematik?

Mathematik ist im Prinzip nur kultivierter Hausverstand.

Mathematik ist die über die Jahrhunderte verfeinerte Kultur, Wissen durch Denken zu erlangen und Probleme durch Denken zu lösen.

Mathematik ist die Kunst des Erklärens: Wie kann man Kompliziertes auf Einfaches und Unbekanntes auf Bekanntes zurückführen?

Mathematik ist die Kunst des effizienten Handelns: Wie kann man Ziele mit möglichst kleinem Aufwand erreichen?

Mathematik ist Denkökonomie: Einmal gründlich nachdenken, damit man (potenziell) unendlich oft nicht mehr nachzudenken braucht.

Mathematik ist das Auge im Hurrikan der Innovationsspirale, die von der mathematikbasierten Wissenschaft über die Technologie zur Wirtschaft und zurück geht.

Mathematik ist abstrakte Demokratie: Es gelten nicht Religion, Geschlecht, Macht, Alter, Stand, sondern nur das Argument.

Mathematik ist Rechnen mit Gedanken.

Mathematik ist abstrakte Praxis.

Mathematik ist das Extrem abstrakter Kunst.

Mathematik ist „am Puls der Zeit leben“.

Nach einem langen Leben mit und für Mathematik könnte ich diese „Litanei“ beliebig fortsetzen. Meine Kollegen weltweit würden vielleicht andere Litaneien singen, meine belächeln oder sogar wütend bekämpfen. Mathematik ist auch Krieg mit Papier und Bleistift (heute mit Computer und Web). Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Episode, als ich als Keynote-Speaker bei einer internationalen Konferenz1 über die Rolle der Computer-Mathematik für das Erfinden und Verifizieren mathematischer Formeln sprach und in der Diskussion forderte, dass jeder Universitätsprofessor für Mathematik heute nicht nur das Beweisen, sondern selbstverständlich auch das Programmieren beherrschen müsse. Da sprang einer der veranstaltenden „Kollegen“ (ein sogenannter „reiner Mathematiker“) auf und schrie mir quer durch den Hörsaal entgegen: „Take a bodyguard!“ Frei übersetzt hieß das: „Ich springe dir an die Gurgel, wenn du noch einmal etwas so Profanes über meine hehre Mathematik sagst!“

So ist Mathematik! Mathematik ist so reichhaltig in ihren Inhalten, aber noch mehr in der Art, wie man sie sieht, betreibt und im Rahmen der gesellschaftlichen Evolution versteht, dass jeder Mathematiker sein eigenes „Buch der Mathematik“ schreiben könnte. Nur das Integral dieser Bücher ist Mathematik und dieses Integral lebt, entwickelt sich rasant mit immer größerer Geschwindigkeit auf immer höheren Ebenen der Sophistikation weiter … und ist mathematisch beweisbar niemals fertig. Das Erleben der Beschäftigung mit Mathematik ist wie Kunst. Die Materialien der Mathematik – die Gedanken – sind allerdings einerseits viel flexibler und freier als die Materialien der Kunst. Andererseits setzen sie uns sehr viel mehr Widerstand entgegen als der Granit des Bildhauers, denn die intersubjektive Überprüfbarkeit der Argumente ist bestimmender Kodex. Auch wenn eine Formel noch so schön ist: Wenn sie falsch ist, ist sie mathematisch wertlos.

Nach Ihrer Litanei möchte man ja meinen, es gäbe so viele „Mathematiken“ wie Mathematiker: Können Sie Ihre eigene Sicht etwas systematischer beschreiben?

Ich sehe Mathematik im Rahmen eines vereinfachten „Bildes von der Welt“ so:

Beobachten – Denken – Handeln: Das sind die drei Schritte, mit denen wir uns mit der Welt um uns auseinandersetzen. Beobachten: Durch Kontakt der Sinne mit der Außenwelt entsteht ein Bild der Außenwelt in uns (physiologisch betrachtet in unserem Nervensystem). Denken: Aus den Fakten, die wir beobachtet haben, erschließen wir – ohne Beobachten – in uns (innerhalb unseres Nervensystems) neue Fakten, die helfen können, zielorientiert in der Außenwelt zu handeln.

Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie etc.) die über die Jahrhunderte verfeinerte Kultur sind, Wissen durch Beobachten (Experimente, Messungen …) zu erlangen. Handeln: Die technischen Wissenschaften sind die verfeinerte Kultur des zielorientierten Handelns.

Die Mathematik steht in der Mitte, sie verbindet die Naturwissenschaften mit den technischen Wissenschaften: Aus Fakten, die beobachtet wurden, werden andere Fakten erschlossen, die wir nicht beobachtet haben (oder nicht beobachten könnten). Diese bilden die Grundlage von immer genauerem, effizienterem, kontrollierbarerem Handeln.

Natürlich sollte ein guter Naturwissenschaftler, Mathematiker, Techniker (ganz gleich ob er in der Forschung, in der Lehre oder in der Anwendung arbeitet) alle drei Aspekte – Beobachten, Denken, Handeln – in gleicher Weise pflegen und beherrschen. Das ist auch historisch bei den Großen unseres Fachs immer der Fall gewesen und als Ausbildungs- und Arbeitsideal heute wichtiger denn je. Aber für die Klarheit dessen, was die Rolle und die Funktion der Wissenschaft mit all ihren Disziplinen heute ausmacht, ist es wichtig zu sehen, dass:

die Erkenntnismethode „Beobachten“ (bei der die Sinne in Kontakt mit dem Erkenntnisobjekt in der Außenwelt kommen) von der Erkenntnismethode „Denken/Schließen/Beweisen“ (bei der die Sinne bewusst nicht benutzt werden, sondern nur „das Hirn“ arbeitet) verschieden ist,

auch „Beobachten“ und „Schließen“ verschieden vom „Handeln“ sind (bei dem unser Körper durch die „Aktoren“ wieder in Kontakt mit der Außenwelt kommt, aber in umgekehrter Richtung wie beim „Beobachten“).

Landläufig versteht man unter Mathematik „Rechnen mit Zahlen“, allenfalls noch das Manipulieren geometrischer Figuren. Das ist ein sehr limitierter Eindruck. Mathematik ist vielmehr das „Rechnen mit Gedanken“, das Spielen mit Argumenten, um die Konsequenz von beobachteten oder angenommenen Fakten zu erforschen, ohne dass diese Konsequenzen in der Realität beobachtet oder ausprobiert werden müssen. Mathematik ist damit eine universelle Denktechnik, von der auch eine kleine Dosis bereits sehr viel Klarheit, Durchsicht, Effizienzgewinn, Gefahrenvermeidung … bringen kann.

Mit anderen Worten: Mathematik zielt darauf ab, durch intensives Bedenken komplexer Systeme die wenigen Schrauben zu finden, an denen oft die scheinbare Komplexität von Systemen hängt. Es geht also in der Mathematik immer wieder darum, Kompliziertes einfach zu machen. Insofern ist die Mathematik die „Kunst des Erklärens“.2

Mit nochmals anderen Worten: Mathematik ist Sprachpräzision. Im Verhältnis zur realen Welt geht es in der Mathematik (im Verein mit den beobachtenden Wissenschaften) zunächst darum, präzise sprachliche Beschreibungen („Modelle“) von interessierenden Aspekten der realen Welt zu schaffen und dann durch präzises Argumentieren aus diesen Beschreibungen neue und für die Realitätsbewältigung relevante Fakten über diese Aspekte zu erschließen.

Ich halte die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Potenz und Relevanz der Mathematik als „Kunst des Erklärens“ im Prinzip für noch wichtiger als ihre Rolle und Relevanz als Nabe, an der sich das Rad der heutigen Wissenschaft und Technologie dreht. Durch ein limitiertes Verständnis der Mathematik, das sie auf das Beschäftigen mit „typisch mathematischen Objekten“ wie Zahlen, Figuren und den aus der Schule bekannten mathematischen Themen beschränkt, verstellt man das Bild der Mathematik als universelle Kunst des Erklärens und vergällt so manchem das Vergnügen und den Vorteil, sich durch Mathematik (Denkpotenz) besser im Leben orientieren und behaupten zu können als ohne.

Das klingt sehr einfach. Woher kommt jetzt die Faszination der Mathematik?

Die Faszination kommt zunächst daher, dass man oft in sehr abstrakte, „atemberaubend schöne“ fantastische Räume hochsteigen muss, um schwierige Probleme aus der „Down-to-earth“-Realität lösen zu können.

Die Lösung lässt oft viele Jahre und Jahrzehnte auf sich warten. Sie braucht die kreativsten Geister der jeweiligen Zeit, es entsteht etwas wie eine „Weltmeisterschaft im Cyberspace des Intellekts“. Je abstrakter die Räume sind, in die man ein Problem verlagert, umso mehr Anwendungsprobleme in umso mehr konkreten Realitäten kann man mit einem Schlag lösen. Oft findet man später noch viele weitere überraschende neue Anwendungen, an die man beim Arbeiten und Lösen in den abstrakten Räumen gar nicht gedacht hatte. Wer also sehr praktisch sein möchte, sollte lernen, sehr abstrakt sein zu können.

Wer würde zum Beispiel denken, dass das Problem, die Zapfventile an einer Ölbohrinsel optimal zu steuern, das Problem, Passwörter zu knacken, das Problem, aus einem vorhandenen Computercode die ursprüngliche Intention des Programmierers zu rekonstruieren, das Problem, die genetische Nachbarschaft von verschiedenen Spezies in der Evolution zu entscheiden, und das Problem, Gesetze der Thermodynamik auf ihre Unabhängigkeit zu prüfen, sämtlich durch Lösung des einen Problems der Strukturbestimmung im abstrakten mathematischen Raum der „Polynomideale“ gelöst werden können?

Es zahlt sich also aus, sehr abstrakte mathematische Räume zu erfinden und sich in ihnen gedanklich zu bewegen, bis man sich darin so gut auskennt, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt: Hier sind die tragenden Fäden im scheinbar komplizierten Spinnennetzwerk der abstrakten Objekte und – noch mehr – ich kann beweisen, dass das ganze Netz wirklich nur an wenigen Fäden hängt!

Also hoch in die fantastischen Räume der Mathematik, dort ein bisschen werkeln und dann zurück in die Realität. Ist das alles?

Um die Faszination der Mathematik – auch im geschichtlichen Zusammenhang und weit in die Zukunft extrapolierend – wirklich zu verstehen, muss man in dem einfachen Bild aber noch einen weiteren Pfeil, den wesentlichen, einführen:

Das ist der Pfeil der „Selbstanwendung“: Die Resultate von Beobachten – Denken – Handeln (von Naturwissenschaften – Mathematik – technischen Wissenschaften) ermöglichen es zunächst, sich ein Bild von der Welt zu machen und darin gezielt zu agieren.

Diese Resultate dienen aber auch dazu, die Werkzeuge des Beobachtens – Denkens – Handelns selbst (die Instrumente der Naturwissenschaften – Mathematik – technischen Wissenschaften) laufend zu verbessern. Das heißt, die Wissenschaft wendet ihre Resultate auch auf die Verbesserung der Methoden der Wissenschaft selbst an. Kurz: Die Wissenschaft wendet sich auf sich selbst an.

Diesen Gedanken der Selbstanwendung (Reflexion, Rückbezüglichkeit, Selbstreflexion …) sollte man gründlich durchdringen. Denn dieser Gedanke eröffnet ein tiefes Verständnis der Geschichte der Menschheit, ein tiefes Verständnis der heutigen Zeit und eröffnet auch den klarsten Blick auf die Zukunft.

Es ist erhellend, sich diesen Gedanken an vielen Beispielen immer wieder klarzumachen:

Zum Beispiel ist klar, dass die Entdeckung der Lichtbrechung in Glas und anderen lichtdurchlässigen Materialien, die man mit freiem Auge beobachten kann und die dann zum Beispiel in der Schmuckerzeugung „unreflektiert“ angewandt wurde, nach einiger Zeit auch „reflektiert“ auf die Verbesserung des Beobachtungsprozesses selbst angewandt wurde. Das führte zur Erfindung des Mikroskops oder des Teleskops, die unzählige weitere, neue wissenschaftliche Beobachtungen und Erkenntnisse ermöglicht haben.

Ein anderes Beispiel: Es ist zunächst klar, dass die Erfindung von Produktionsrobotern die Herstellung von zum Beispiel Autos um ein Vielfaches leichter, effizienter, genauer und schneller gemacht hat. Produktionsroboter werden aber auch eingesetzt, um das Produzieren der Computer zu automatisieren, die zum Beispiel in Robotern eingesetzt werden. Das ist Selbstanwendung! Und sie ist faszinierend.

Ein weiteres Beispiel, wo die Selbstanwendung nur wenigen klar ist, die Faszination und die Konsequenz für die Ereignisse im 20. Jahrhundert aber unfassbar sind: der universelle Denkkalkül der sogenannten „Prädikatenlogik“, eine zutiefst mathematische Erfindung3, ist zunächst ein sprachlicher Rahmen für die Beschreibung beliebiger Modelle der Realität. Fast unbemerkt enthält dieser Kalkül aber auch eine exakte Beschreibung des Prinzips des universellen, programmgesteuerten Rechnens, das circa zehn Jahre nach der Formulierung der Prädikatenlogik die Grundlage für den Bau des ersten modernen Computers wurde. Es ist wohl müßig zu erklären, welche Revolution der Computer in allen Bereichen der Gesellschaft ausgelöst hat. Wo ist die Selbstanwendung? Sie besteht darin, dass die zutiefst mathematische Erfindung des Computers die Praxis der Mathematik selbst, die vorher nur mit „Papier und Bleistift“ stattgefunden hat, grundlegend geändert, nämlich automatisiert hat.

Das klingt ja wie Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Wasser zieht. Die Mathematik, ein trügerisches Märchen?

Nein, im Augenblick der erfolgreichen Selbstanwendung muss es zwei Münchhausens geben. Einen, der im Wasser schwimmt, und einen, der draußen steht. Beide haben Arme. Das „Prinzip Arm“ wird auf sich selbst angewandt, aber der Anwender ist vom Angewandten verschieden.

Das Prinzip der Selbstanwendung ist in der Tat so alt wie die Geschichte der Menschheit: der Stein, der auf den Stein geschlagen wird. Wer ist der Geschlagene, wer der Schläger? Einer zerbricht, nennen wir ihn den Geschlagenen, den anderen den Schläger. An den Hälften des Geschlagenen entsteht eine scharfe Kante: welch ein technologischer Fortschritt! Mit dieser Kante ist der nächste Schritt in der Evolution möglich: Ein vielfach verwendbares „Messer“! Ein Messer, das nun Tierhäute zerlegen kann, Holz zu Pfählen spitzen …

Das Prinzip der Selbstanwendung ist noch älter als die Menschheit. Denken Sie an das Molekül, das auf ein anderes „schlägt“. Und weiter auf den subtileren Schichten der Natur. Die Physik beginnt zu ahnen, was ganz innen passiert, wenn Wellen auf Wellen schlagen. Am Anfang steht die „reine Selbstanwendung“.

Wenn man den Gedanken der Selbstanwendung im Kontext der Mathematik versteht, ist man auch im Zentrum der Forschung in der heutigen Mathematik angelangt. Denn heute befassen sich weltweit etliche mathematische Forschungsgruppen mit den Möglichkeiten, Computerverfahren zu entwickeln, die sogar den mathematischen Erfindungs- und Verifikationsprozess bis zu einem gewissen Grad automatisieren. Diesem Thema widme ich mich selbst – nach Vorarbeiten seit 1974 – intensiv seit 1995.4

Man beachte also: Selbstreflexion ist nicht etwas Künstliches, das vom Menschen kühl und intellektuell in die Evolution eingebracht wurde und womit sozusagen „die Unschuld der Natur“ zerstört wurde. Vielmehr ist Selbstreflexion die Intelligenz der Natur und die Natur der Intelligenz.

Praktisch gesehen führte und führt die Selbstanwendung der Wissenschaft und Technologie auf sich selbst in zunehmendem, sich ständig beschleunigendem und immer expliziterem Maße zu einer Art „Explosion“ der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der möglichen Anwendungen, die von vielen nicht nur positiv, sondern auch als beängstigend empfunden werden. Zunächst ist diese Kernreaktion durch Selbstanwendung faszinierend, und das gilt insbesondere für die Mathematik, welche im „Auge des Hurrikans der Innovation“ steht. Das heißt, Mathematik zu betreiben ist heute noch faszinierender als vor 50, 30, 10 oder 5 Jahren … Natürlich ist es für jeden von uns, der mitten in diesem Hurrikan steht, auch von größter Relevanz, in verantwortungsvoller Weise die Konsequenzen der Selbstanwendungsspirale für sich und für die – heute globale – Gesellschaft zu bedenken und im Sinne einer positiven Evolution zu beeinflussen. Diese Verantwortung soll und kann niemand „an die anderen“ abgeben.

Anmerkungen

1

Konferenz „Special Functions in the Digital Age“, 22. Juli bis 2. August 2002, an der University of Minnesota, organisiert vom „Digital Library of Mathematical Functions“ (DLMF), ein Projekt am „National Institute of Standards and Technology“ (NIST).

2

Vgl. dazu die englische Entsprechung „explanation“: etwas, das kompliziert ist („ex“ ist, „heraussteht“), einfach („plain“, „eben“) machen.

3

Durch zwei fundamentale Resultate (1930, 1931) des österreichischen Mathematikers Kurt Gödel (1906–1978) über die Schlusskraft der Prädikatenlogik wurde diese Logik als Grundlage für die gesamte Mathematik etabliert. Kurt Gödel ist sicher einer der größten Geister des 20. Jahrhunderts.

4

Im Zuge des „Theorema“-Projekts: www.risc.jku.at/research/theorema/software/

DIE GRÖBNER-BASEN DANKE FÜR EINE HARTE NUSS!

In der internationalen Mathematik sind Sie durch die Erfindung der Theorie der sogenannten „Gröbner-Basen“ bekannt. Wie sind Sie auf die Gröbner-Basen gekommen?

Ich hatte das unverschämte Glück, dass ich – als Werkstudent – auf der verzweifelten Suche nach einem Dissertationsthema 1964 von Professor Wolfgang Gröbner1 auf ein Problem gestoßen wurde, das seit 1899 offen war.2 Die Wichtigkeit und Schwierigkeit des Problems, den Umstand, dass es schon so lange ungelöst war, und dass er selbst schon 25 Jahre immer wieder an dem Problem arbeitete, hatte Gröbner mir verschwiegen. Aus heutiger Sicht war für mich beides ein Glück: dass das Problem wichtig war und dass ich nicht wusste, wie lange es schon offen war. Sonst hätte ich mich als junger Student, der nicht in akademischen, sondern in bescheidenen Kreisen aufgewachsen war, vielleicht so einschüchtern lassen, dass ich schon von vornherein aufgegeben hätte. So aber war ich unter dem Druck, zu studieren und gleichzeitig zu arbeiten, gierig darauf, das Problem möglichst bald hinter mich zu bringen.

Die Zeit der Arbeit an diesem Problem war für mich kein Honiglecken. Ich arbeitete Vollzeit als Programmierer am ersten Computer der Universität Innsbruck (einer ZUSE Z23) und in der „freien Zeit“ an meiner Dissertation. Freilich bemerkte ich bald, dass das Problem schwierig war, und ich war oft der Verzweiflung nahe, dass ich offensichtlich zu dumm war für ein so „leicht zu formulierendes“ Problem. Auch hatte ich kaum eine positive Rückkopplung vonseiten Professor Gröbners, der eine