Maya und Samuel - Franziska Fischer - E-Book

Maya und Samuel E-Book

Franziska Fischer

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Beschreibung

Maya und Samuel kennen sich mehr als ein halbes Leben lang. Sie sind nebeneinander aufgewachsen und haben sich als beste Freunde ineinander verliebt. Mittlerweile wohnen sie zusammen in einem hübschen Haus. Maya schreibt Artikel für die lokale Zeitung und hat ein Fotostudio, während Samuel einen Gamingchannel betreibt und in seiner Freizeit gärtnert. Die beiden ergänzen sich perfekt: Maya ist forsch, wirft sich ins Leben. Samuel denkt über alles ein bisschen zu lange nach, aber er ist ihr Ruhepol. Sie sind glücklich miteinander – bis ein Verlust sie auseinanderreißt. Sie trauern beide für sich und mit ihren Mitteln: In Maya ist alles zerbrochen, trotzdem tastet sie sich als Fotografin langsam wieder hinaus in die Welt. Samuel flüchtet sich während seiner Streams in seine Community und versucht, ihren gemeinsamen Alltag aufrechtzuerhalten. Während sie früher voller Worte füreinander waren, scheint es jetzt keine mehr zu geben. Doch selbst in ihrem Schweigen gelingt es ihnen mit der Zeit, wieder aufeinander zuzugehen. Ein zartes, empathisches Buch über den Verlust – und die Kraft des Weitermachens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vom Versuch, eine große Liebe zu retten

Maya und Samuel kennen sich seit ihrer Schulzeit. Fast genauso lange sind sie ein Paar: beste Freunde, engste Vertraute, Familie füreinander.

Gemeinsam haben sie sich ein Leben aufgebaut. Maya schreibt Artikel für die Lokalzeitung und arbeitet als Fotografin, während Samuel einen Gamingchannel betreibt. Die beiden ergänzen sich perfekt: Maya ist forsch, kreativ, erlebnishungrig, Samuel ruhig, nachdenklich, verantwortungsbewusst. Sie sind glücklich miteinander – bis ein großer Verlust sie auseinanderreißt.

Seitdem ist in Maya alles zerbrochen, nur langsam tastet sie sich mithilfe ihres Fotoapparats wieder hinaus in die Welt. Samuel flüchtet sich in seine Online-Community und versucht, ihren gemeinsamen Alltag aufrechtzuerhalten. Beide trauern für sich allein. Während sie früher voller Worte füreinander waren, scheint es jetzt keine mehr zu geben. Doch unter ihrem Schweigen liegt all das, was sie einmal füreinander waren – und vielleicht wieder sein können.

»Wir trennen uns und wir trennen uns nicht. Vielleicht geht nur beides gleichzeitig.«

© Birte Filmer

Franziska Fischer wurde 1983 in Berlin geboren, hat einige Zeit im Ausland verbracht und ist mittlerweile aus der Stadt herausgezogen. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin. Bei DuMont erschienen zuletzt der SPIEGEL-Bestseller ›In den Wäldern der Biber‹ (2022) und ›Unsere Stimmen bei Nacht‹ (2023).

Franziska Fischer

Maya und Samuel

Roman

E-Book 2025

Copyright © 2025 by Franziska Fischer

Copyright Originalausgabe © 2025 by DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44 b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Elizabeth Lennie

Satz: Angelika Kudella, Köln

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1135-0

www.dumont-buchverlag.de

Prolog

»Du musst stillhalten, Sammy.«

»Samuel.«

»Ja, ja. Du musst stillhalten.«

»Wieso?«

»Sonst verwackelst du, und wenn du verwackelst, werden deine Gesichtszüge unscharf, und dann ist das ganze Bild nichts.«

»Weshalb ist dir das so wichtig?«

»Das Bild?«

»Das Fotografieren.«

»Ich bin hier, und die Welt ist weit weg. Wenn ich fotografiere, muss ich hinschauen, ich muss jedes Detail sehen und welche Wirkung das Licht hat, ich muss Farben sehen und Perspektiven und Veränderungen. Und dann merke ich auch, was da ist und was fehlt.«

»Du fotografierst, um hinzuschauen.«

»Ja. Ja, so kann man das sagen.«

»Du bist komisch, Maya.«

»Wir sind alle auf unsere Art komisch. Hältst du jetzt still?«

»Meinetwegen. Wenn ich danach wieder gehen kann.«

»Du kannst jederzeit gehen. Aber es wird ein besseres Porträt, wenn du drauf bist.«

»…«

»…«

»…«

»Fertig. Danke.«

»…«

»Was ist?«

»Ich habe es gespürt.«

»Was hast du gespürt?«

»Dass du hingeschaut hast. Ich habe gespürt, wie du hingeschaut hast.«

Maya

Wenn das Morgenlicht durch die Vorhänge fällt, zeichnet es goldgelbe Muster auf das helle Laminat. Ich sitze mitten in diesem Muster und betrachte die Collage, die ich gestern fertig gebastelt habe. Es hat lange gedauert, aus all den Familienfotos die besten auszusuchen, und selbst für die war nicht genug Platz.

Ich stehe auf, nehme das gerahmte Bild mit ins Schlafzimmer und wickle es in den langen moosgrünen Schal, den ich für Papa gekauft habe. Er hat eine merkwürdige Vorliebe für Hüte aller Art und bunte Schals, und obwohl Mama jedes Mal, sobald er das eine oder andere geschenkt bekommt, übertrieben mit den Augen rollt, kann ich nicht damit aufhören, ihm damit eine Freude zu machen.

Das nun fertig verpackte Geschenk lege ich auf meine Kommode und gehe anschließend mit einem frischen Kaffee die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Leicht schief liegt ein Buch auf der Armlehne des Lesesessels vor den Fenstern zum Garten. Im Vorbeigehen rücke ich es gerade.

Die Glastür zum Fotostudio ist abgeschlossen, der Vorhang zugezogen. Leise drehe ich den Schlüssel und öffne die Tür. Es ist lange her, dass ich hier war, ich habe vergessen, wie groß das Studio wirkt. Drei Stufen führen hinauf zum Bürobereich. Jetzt erscheint mir das pompös, der Schreibtisch wie ein Thron auf einem Podest, umgeben von der Vitrine mit den Kameras und dem Regal mit meinen Lieblingsbildbänden. Staubkörner kitzeln in meiner Nase. Eigentlich müsste ich nach den Monaten der Abwesenheit als Erstes das Studio putzen, doch die E-Mails sind erst mal wichtiger.

Später soll es warm werden, dann werde ich die Tür zum Garten öffnen können. Eigentlich ist Garten ein zu großes Wort für den Innenhof, der von dem Gebäude selbst und von einem hohen Holzzaun zu unserem eigentlichen Garten gerahmt wird. Ich nutze ihn bei schönem Wetter für Kundengespräche oder für Pausen zwischen den Fotosessions, zumindest habe ich ihn dafür genutzt.

Während der Rechner mit Updates beschäftigt ist, überlege ich, was zuerst meine Aufmerksamkeit braucht. Die Erde der großen Topfpflanzen ist feucht, auf den Blättern liegt kaum Staub. Samuel muss sich um sie gekümmert haben. Auch draußen ist nichts vertrocknet, nur meine Sommerblumen verblühen langsam. Es wird Zeit, Dahlien und Astern für die Kästen neben der Treppe zu holen. Auch ohne sterbende Pflanzen ist es hart genug, Kunden zu gewinnen.

Die Oktobersonne blinzelt verschlafen in die feuchte, kühle Luft. Bis zu den angesagten knapp über zwanzig Grad dauert es noch eine Weile. Anstatt Mails zu lesen, könnte ich einfach hier sitzen bleiben und weiter das Licht beobachten. Ich könnte Kaffee trinken, bis der Kaffee alle oder kalt ist, Frau Neumann zuhören, deren quakige Stimme vom Nachbargrundstück dringt, während sich die Schatten ausbreiten und wieder zurückziehen, sich der Farbton wandelt, der über allem liegt, von Grau zu Orange zu Weiß zu Blau. Nur würde davon mein mittlerweile seit fünf Monaten ruhender Posteingang nicht leerer werden.

Der Sperrbildschirm des Monitors zeigt Samuel und mich, er umarmt mich von hinten, unsere Hände ineinander verschränkt auf meinem Bauch, hinter uns karibisches Meer mit Palmen, das nicht echt ist. Samuel lächelt nicht, das tut er selten auf Fotos, aber seine Augen glänzen. Das Bild haben wir nur gemacht, um mein neues Objektiv auszuprobieren.

Rasch klicke ich es weg. Mein Posteingang quillt über von ungelesenen Mails. Der Großteil besteht aus Werbung und Newslettern, immerhin kann ich die einfach löschen. Ich beginne nach dem letzten Tag, an dem ich gearbeitet habe, und taste mich von dort immer weiter in die Gegenwart.

Samuel

Das Mahlwerk der Kaffeemaschine zerfetzt meinen Schlaf.

Kurz nach neun, zeigt das Handydisplay an. Eigentlich stehe ich erst um zehn, elf auf. Nachts kann ich mich am besten konzentrieren. Am besten planen, am besten Videos aufnehmen und schneiden. In einer leeren Welt ist es leichter, einen Platz zu finden.

Mayas Schritte auf der Treppe. Sie ist leise. Ich höre sie nur, weil ich sie so gut kenne. Dreizehn Jahre. Gefühlt ein ganzes Leben.

Sie scheint tatsächlich in ihr Studio zu gehen. Endlich wieder. Ich warte noch ein wenig. Will ihr nicht in die Quere kommen, obwohl ich gern wissen würde, wie sie sich fühlt. Schließlich war sie schon lange nicht mehr hier unten.

Ich schaue ein bisschen YouTube. Recherchiere zu einem kleinen Entwicklerstudio, zu dem ich einen Beitrag machen will. Stehe dann endlich auf und laufe die Treppe nach oben. Kaffee. Bad. Zweiter Kaffee.

Die Fenster könnten mal geputzt werden. Dinge, die ich am besten nach dem Aufstehen erledige, wenn mein Gehirn noch nicht richtig einsatzfähig ist. Also mache ich es. Putze drei Fenster. Der Tag ist wie gemacht für einen Waldspaziergang. Wenn ein Wald in der Nähe wäre. Oder wir ein Auto hätten. Die restlichen Fenster verschiebe ich auf einen anderen Tag.

In der Küche schaue ich auf den Kalender. Eigentlich nutzen wir eine gemeinsame App, aber in die hat keiner von uns beiden in letzter Zeit Termine eingetragen. Hier wenigstens einen. 15 Uhr Kaffee steht für Sonntag auf dem Plan. Nevios Geburtstag. Drei Tage noch.

Den Kalender hat Maya gestaltet. Alle Monate sind unterschiedlich designt. Aufteilung, Schriftart, Größe der Fotos. Sie verschenkt zu Weihnachten Kalender an die gesamte Familie. Ihre Familie ist riesig. Unser Oktober zeigt den Igel, der seit letztem Jahr in unserem Garten unterwegs ist. Wir nennen ihn Hans, obwohl wir nicht sicher sind, ob es wirklich ein Männchen ist. Das erkennt man nämlich nicht so einfach. Igel haben feste Reviere, aber kein großartiges Territorialverhalten. Hans könnten theoretisch auch mehrere Hänsel und Gretel sein. Mal schauen, ob er sich dieses Jahr noch mal blicken lässt. Winterschlaf und so. Gute Erfindung. Wäre auch für Menschen sehr praktisch. Es passiert so viel, während man schläft. Vielleicht müsste ich jetzt nur ein bisschen Klavier üben, fünf Monate schlafen, und wenn ich wieder aufwache, bin ich Beethoven. Solange ich es nicht ausprobiert habe, kann ich zumindest daran glauben.

Zurück in meinem Büro Slash Studio Slash Schlafzimmer ziehe ich die schwarzen Vorhänge zur Seite und öffne ein Fenster.

Mein Schreibtisch braucht dringend eine Aufräumaktion. Aber erst mal meine Analytics anschauen. Ich muss ja wissen, wie mein Gaming-YouTube-Channel läuft. Gerade so gut genug, um unsere Fixkosten zu decken. Vielleicht brauche ich ein besseres Konzept für den Kanal. Je eindeutiger der Inhalt, desto klarer die Zielgruppe. Das Internet mag keine Diversität. Manchmal habe ich das Gefühl, die halbe Welt mag keine Diversität.

Parallel schaue ich nach Stellenanzeigen. Nebenjob zum zuverlässigeren Geldverdienen. Wegen Sparmaßnahmen wurde ich vor einem Monat aus dem letzten gekündigt. Passagierkontrolle am Flughafen. Eigentlich mochte ich die Arbeit. Ganz nette Kollegen, flexible Zeiten. Gehalt war auch in Ordnung. Jetzt muss ich mich auf meine Kanalmitglieder verlassen, um alle Kosten zu decken. Sonst mache ich nur gelegentlich PC-Hilfe hier und dort. Zwei Selbstständigenjobs bieten wenig Sicherheit. Jedes Mal habe ich Angst, wenn ich auf unser Konto schaue. Unsere Ersparnisse schrumpfen zwar langsam, aber sie werden weniger.

Um mich abzulenken, lese ich die Kommentare unter meinem letzten Video. Antworte auf die meisten und verteile Herzchen. Lösche Spam. Bedanke mich. Solche Dinge. Im Internet ist alles nah und trotzdem weit weg. Wir sind alle nur schattenhafte Persönlichkeiten. Manchmal frage ich mich, was andere in mir sehen. Was sie denken, wenn sie sich meine Videos anschauen. Mich beim Zocken beobachten. Ich fühle mich sicher, wenn ich abtauche. Games, Filme, Bücher. Unterschiedliche Medien, die denselben Zweck erfüllen. Welten jenseits der eigenen. Woanders ist es meistens schöner als dort, wo man selbst ist.

Vergangenheit

»Hallo.«

»…«

»Ich bin Maya. Wir wohnen in dem Haus neben euch.«

»Ich weiß, wer du bist. Wir gehen seit drei Jahren auf dieselbe Schule.«

»Darf ich mich setzen?«

»Das ist ein Spielplatz. Die Bank gehört mir nicht. Kann es dir wohl kaum verbieten.«

»Okay, anders gefragt: Stört es dich, wenn ich mich neben dich setze?«

»Das ist eine schwierigere Frage.«

»…«

»Gut, setz dich. Dann kann ich besser entscheiden, ob es mich stört.«

»Danke.«

»…«

»Ich hab gesehen, wie ihr vorhin … Also, ich meine, ist alles in Ordnung bei euch?«

»Wieso sollte nicht alles in Ordnung sein?«

»…«

»…«

»Du findest, dass ich aufdringlich bin, stimmt’s?«

»Bist du das nicht?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Bin ich das?«

»Na ja, ihr seid vor drei Jahren nebenan eingezogen. Hast du in all der Zeit ein einziges Mal mit mir gesprochen?«

»Ich war ein Jahr in Irland.«

»Und davor?«

»…«

»…«

»Nein. Tut mir leid. Ich weiß nicht mal, wieso nicht.«

»Darauf hätte ich eine Antwort, aber die willst du nicht hören.«

»Ich will.«

»Vielleicht ein anderes Mal.«

»…«

»…«

»Du heißt Samuel, oder?«

»Ja.«

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Kann ich dich aufhalten?«

»Vorhin, als deine Schwester und du weggerannt, also, hierhergegangen seid, habt ihr das hier verloren. Ich wollte es euch zurückgeben.«

»Danke. Wegen diesem halb zerfetzten Stoffhasen bist du uns hinterhergegangen?«

»Er sah wichtig aus.«

»…«

»…«

»Das war keine Frage.«

»Was?«

»Du wolltest mich was fragen.«

»Ja. Also. Meine Frage ist: Wollt ihr heute bei uns essen?«

»Wieso?«

»Nur so. Ich dachte, vielleicht kocht bei euch niemand.«

»…«

»…«

»Okay.«

»Ja? Kommt ihr?«

»Ja. Danke. Wir kommen.«

Maya

Meine Stunden purzeln hilflos durcheinander, erst ziehen sie sich endlos, und plötzlich ist es Abend, ohne dass etwas geschehen ist. Ich brauche eine Struktur für meine Zeit, Tage sind übersichtlicher, wenn sie einem Rhythmus folgen. Nur muss ich diesen Rhythmus neu definieren und weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll.

Aus der Schreibtischschublade nehme ich ein A3-Papier und meinen Lieblingsfineliner. Vor dem Sofa im Studio lege ich das Papier auf den Boden und knie mich davor. Schon zu Schulzeiten bin ich, wenn der Stress so groß wurde, dass ich nachts nicht schlafen konnte, aufgestanden, um alle anstehenden Aufgaben in eine Übersicht zu bringen, und von dort aus habe ich versucht, sie in überschaubare Unteraufgaben aufzusplitten. So hat es mir mein Vater beigebracht: ein Diagramm malen, das alles in eine Ordnung gießt.

Am Rand notiere ich die Dinge, die ich wieder regelmäßig tun will. Eine halbe Stunde Yoga gegen Mittag oder joggen oder beides, Fotospaziergänge mindestens einmal die Woche. Mitten in meiner Planung klingelt das Handy.

Verena möchte wissen, was wir Papa zum Geburtstag schenken. Ich versuche, ihr nicht übel zu nehmen, dass ihrer Meinung nach selbstverständlich ich diejenige bin, die sich darum kümmert. Sie hat ihr Studium und dazu parallel ein Praktikum, und was sich andere wünschen, versteht sie nur, wenn es klar in Worte gefasst wird. Sie versteht eine Menge nur in deutlichen Worten. Dafür kann sie andere Sachen gut, zum Beispiel unbeschwert aus ihrem Leben berichten, obwohl sich jede Minute nach hochdosiertem Stress anhört, sie kann sich das Lachen in der Stimme bewahren, sie kann einen abholen mit sanfter Fröhlichkeit, selbst dann, wenn man nicht abgeholt werden möchte, und trotzdem frage ich mich manchmal, ob sich ihr Stress nicht eigentlich ganz anders anfühlt, als er in ihren munteren Erzählungen klingt.

Verena sagt, dass sie gern mal wieder vorbeikommen würde. Für einen Moment freue ich mich auf ihren Besuch, bis mir die Vorstellung, ihr mehrere Stunden beim Reden zuzuhören, zu viel wird.

Am Sonntag muss sie für eine Prüfung lernen, aber sie will trotzdem zum Kaffee bei unseren Eltern sein. Ich frage sie nach ihrem Freund, der, wie ich erfahre, bereits ein Exfreund ist. Ihrem Liebesleben kann ich kaum folgen, eigentlich ist schon der Begriff Liebesleben völlig unpassend, ihre Freunde sind wie Socken, die sie verliert oder verlegt und dann einfach ersetzt. Aber auch das wird sich für sie anders anfühlen, als es für mich klingt. Menschen hinterlassen immer Spuren in einem, selbst wenn sie nur zu Besuch waren.

Sie mag meine Idee mit der Fotocollage und dem Schal, nimmt sich vor, noch Schokolade zu besorgen und eine Flasche Rotwein, und ich notiere beides, weil sie nicht daran denken wird.

Nach dem Telefonat lege ich mich auf den Boden und blicke an die weiße Decke. Aus dieser Perspektive wirken die Wände sehr hoch, die Fenster weit und offen, jetzt, da die Vorhänge zurückgezogen sind. Rechts von mir befindet sich die Sofaecke, links der Eingang mit dem Gäste-WC und der kleinen Umkleidekabine, zu meinen Füßen der weiße Vinyl-Hintergrund mit dem Stativ davor. Daneben steht ein Schminktisch, den Samuel und ich auf einem Flohmarkt entdeckt und wieder hergerichtet haben. An den Wänden hängen natürlich Fotografien, die meisten auf Leinwand oder Acryl gedruckt: Was wäre ein Fotostudio ohne die Präsentation der eigenen Arbeit? So lange habe ich davon geträumt, habe mit Samuel zusammen Einrichtungs- und Gestaltungsideen gesammelt, ich habe all meine Zukunftsträume in dieses Studio gegossen. Und jetzt liege ich hier und kann mir kaum vorstellen, wieder Menschen hereinzulassen. Das Laminat an meinem Rücken fühlt sich kühl an, unter irgendeiner Tür zieht es durch.

Manchmal vermisse ich die kleine Wohnung, in der Samuel und ich bis vor anderthalb Jahren gewohnt haben, zwei Zimmer, eines davon gerade groß genug für unser Bett und den schmalen Kleiderschrank. Die Leute über uns stritten sich zu den unmöglichsten Zeiten, im Hausflur roch es nach Marihuana, und die Hälfte unserer Pakete verschwand irgendwo in der Nachbarschaft, sodass wir regelmäßige odysseeartige Suchen nach unserer Post antreten mussten. Wir haben dadurch eine Menge Menschen kennengelernt. Jedes Jahr im Juli gab es ein großes Sommerfest in unserer Straße, mit Musik und Essensständen und Kunsthandwerk, und dann, nur dann, hat sich sogar Samuel dazu überreden lassen, in der Öffentlichkeit zu tanzen.

Ich stehe wieder auf, bleibe mit dem Blick an der Fotostrecke hängen, die ich auf einem dieser Feste aufgenommen habe. Samuel beißt in einen Himbeermuffin, hinter ihm ist ein Stand mit bunter Kleidung zu sehen. Dort habe ich einen langen Rock gekauft, den ich gleich auf dem nächsten Foto trage, seitdem hatte ich ihn vielleicht zwei weitere Male an, mehr nicht. Es war in dem Jahr, als plötzlich der Wind durch die Straßen fegte und an den Planen der Stände rüttelte, innerhalb einer halben Stunde wurde alles zusammengepackt. Statt nach Hause zu gehen, haben wir dabei geholfen, einen Schmuckstand zusammenzuräumen, und erst als es schon anfing zu regnen, sind wir zu unserer Wohnung gerannt, Sammy und ich, nass und durchgeweht, mit sonnenbrauner Haut und klebrig süßen Lippen, das Leben hat in unseren Körpern gekribbelt, so voll waren wir davon.

Fotos austauschen schreibe ich in meine Aufgabenliste. Nostalgie kettet einen nur an etwas fest, das nicht wiederkommen wird.

Zumindest ein bisschen bin ich vorangekommen. Meine Übersicht hänge ich an die Pinnwand im Büro, nur knapp passt das große Blatt darauf. Anschließend setze ich mich an den Schreibtisch und beginne damit, erste Anfragen zu beantworten.

Vergangenheit

»Was machst du da, Maya?«

»Einen Lernplan, das sieht man doch.«

»Weshalb?«

»Damit ich weiß, wann wir welche Klausuren schreiben und wann ich was lernen will.«

»Hilft das?«

»Klar, sonst würde ich mir die Mühe sparen. Wie machst du das denn?«

»Manchmal lerne ich ein bisschen. Meistens nicht.«

»Soll ich dir auch einen Plan machen?«

»Bloß nicht!«

»Wollen wir zusammen lernen? Du hast gesagt, Integralrechnung hast du gar nicht kapiert, und in Bio …«

»Ich schaff das schon.«

»Was, wenn nicht?«

»Dann schaffe ich es halt nicht. Auch kein Drama.«

»Willst du kein gutes Abi machen, Sammy?«

»Samuel. Ich heiße Samuel.«

»Meinetwegen, Samuel. Also?«

»Was soll denn diese Fragerei? Es ist nett von euch, dass wir ab und zu bei euch essen dürfen. Wirklich. Heißt aber nicht, dass du mich retten musst oder so.«

»Sorry, wenn das zu übergriffig war. Ich dachte nur, es könnte dir helfen. Oder eigentlich können wir uns gegenseitig helfen. Ich bring dir Mathe bei, und du zeigst mir, wie man sich die ganzen Daten in Geschichte merkt, das kann ich nämlich überhaupt nicht.«

»…«

»Nein?«

»Doch. Vielleicht. Ich denke nach.«

»Worüber?«

»Wann und wie. Und ob überhaupt.«

»Musst du dafür lange denken?«

»Nein. Schon fertig. Ist nur gerade alles noch mal anstrengender, seit Lilly in die Schule geht. Muss aufpassen, dass wenigstens sie ihre Hausaufgaben erledigt.«

»Wir müssen uns ja nicht so oft treffen. Vielleicht einmal die Woche?«

»…«

»Alle zwei Wochen?«

»Okay. Alle zwei Wochen.«

»Ich freu mich.«

»Aufs Lernen?«

»Ich mache das einfach lieber mit anderen zusammen, das hilft mir dabei, alles besser zu verstehen.«

»Na gut. Ich hab jetzt Sport. Bis dann, Maya.«

»Bis dann.«

Samuel

An der Schreibtischlampe hängt mein alter Schlüsselanhänger. Befestigt mit einer Büroklammer. Der Ring ist zerbrochen. Maya hat mir den Anhänger geschenkt, als wir zusammengezogen sind. Ein silberner Halbmond. Schon zerkratzt nach all den Jahren. Ich schnipse ihn an. Unbeholfen pendelt er hin und her.

Der Schreibtisch sieht deutlich besser aus. Zumindest ist der Zettelkram in Stapeln sortiert. Brauche Platz, wenn ich nachher streame. Seit vielleicht zwei Jahren mache ich das jetzt. Ist eine andere Arbeit als das mit den Videos. Da muss man sich Inhalte überlegen. Skripte schreiben. Aufnehmen. Editing. Beim Livestreaming ist alles direkter. Ich rede nicht mehr ganz so gegen eine Wand, sondern mit dem Chat. Mit Menschen ohne Stimmen und ohne Gesichter. Aber echten Menschen.

Ob Maya etwas essen will? Bestimmt will sie nicht.

Ich stehe auf. Strecke mich. Ziehe einen der Vorhänge ein Stückchen zur Seite. Draußen Rhododendron, Zaun, Thujahecke, der Apfelbaum von Frau Neumann. Unser Rasen müsste gemäht werden. Wäre wohl das letzte Mal für dieses Jahr.

Schritte auf der Treppe. Maya geht wieder nach oben. Sie wird nichts kochen, nichts auftauen, nichts bestellen. Nur ein bisschen Joghurt nehmen. Höchstens ein Brötchen. Haben wir überhaupt Brötchen? Oder Toast. Toast ist immer im Tiefkühler.

Ich zögere. Stehe dann aber auf und laufe ihr nach. Maya steht regungslos vor dem geschlossenen Kühlschrank. Ihre Hand liegt auf dem Griff. Ich frage, ob ich etwas kochen soll.

Sie wirbelt herum. Ihre Augen dunkel und groß. Sie schüttelt den Kopf. Geht dann an mir vorbei nach unten.

Gutes Gespräch.

Jetzt erst recht nicht nur Tiefkühlpizza. Diesmal koche ich. Vielleicht isst sie was, wenn das Essen da ist. Vielleicht isst sie was, wenn ich mich wieder in mein Zimmer zurückgezogen habe. Sie ihre Ruhe hat. Vor mir.

Das Rausgehen tut gut. Mit dem Rad brauche ich zehn Minuten zum Laden. Einmal die Woche gibt es nicht weit von uns einen Markt. Meistens stehe ich zu spät auf, um dort einzukaufen. Wecker könnte helfen, aber wer mag die schon. Trotzdem.

Wie immer habe ich mir keine Einkaufsliste geschrieben. Gedächtnistraining. Die Liste ist im Kopf. Gemüse fürs Curry. Auberginen und Spinat vielleicht. Ist noch Auberginensaison? Kann man Mangold ins Curry machen? Bisschen Obst. Die Äpfel sehen gut aus. Birnen auch. Dann noch Kichererbsen. Kokosmilch natürlich. Eiscreme. Brot vom Backstand. Richtiges Saatenbrot, auch wenn es ganz schön teuer ist. Kein Toast die nächsten Tage.

Mittlerweile kenne ich die Kassierenden hier ganz gut. Der junge Azubi ist langsamer als die anderen, aber am nettesten. Erzählt manchmal was von seinem Tag oder zu den Produkten, die man kauft. Ich lächle freundlich. Packe alles gleich in den Rucksack. Nehme einen Umweg nach Hause. Manchmal vermisse ich unsere Spaziergänge. Regelmäßig auslüften. Maya und ich, sie und die Kamera. Ich könnte sie fragen, ob sie mal wieder Lust darauf hat. Oder ob sie einen Film schauen will. Übermorgen vielleicht, wenn ich nicht abends streame.

Das Fahrrad schiebe ich in den Garten, nicht in den Kellerraum. Bestimmt fahre ich morgen noch mal. Laut meiner App soll es nicht so warm werden wie heute, aber auch nicht regnen. Das zählt als gutes Wetter.

Zu unserem Wohnbereich in der oberen Etage gibt es einen eigenen Eingang, damit man nicht jedes Mal durch das Studio im Erdgeschoss laufen muss. Früher war da unten ein Kosmetiksalon drin. Die Vorbesitzer haben auch in der oberen Etage gewohnt. Am Anfang fanden wir das Konzept gut. Also, vor zwei Jahren, als Mayas Eltern das Haus gekauft haben. Offiziell als Geldanlage. Obwohl wir dafür zu wenig Miete zahlen.

Unsere Gewürzvorräte könnten aufgefrischt werden. Curry ist zum Glück noch da, Kreuzkümmel auch. Ich lasse mir Zeit. Es ist weniger kochen, mehr die Lebensmittel dazu bringen, sich zu verbinden. Es soll so schmecken, als würde alles perfekt zusammengehören.

Vergangenheit

»Hey.«

»Hey.«

»Ich hab Mathe und Geschichte mit. Wie du gesagt hast.«

»Super. Willst du was essen? Ich schnipple noch schnell zu Ende, bin gleich fertig.«

»Salat?«

»Mit Nüssen, die geben Energie und sind gut fürs Gehirn.«

»Machst du da Pflaumen rein?«

»Ja, vertrau mir. Salat mit Obst drin ist lecker.«

»Ah. Klar.«

»Was isst du denn, wenn du nach Hause kommst?«

»Käsetoast. Oder Marmeladentoast. Lilly liebt PBJ.«

»…«

»Peanutbutter-and-Jelly-Sandwich. Also, eigentlich ist es kein Sandwich. Und nicht mit Gelee, sondern Marmelade. Lilly hat das früher so niedlich gesagt. PBJ. Pi-Bi-Tschi. Jedenfalls, deshalb nennen wir es immer so.«

»Ihr esst also nachmittags immer Toast.«

»Ja. Oder Joghurt.«

»…«

»Oder Nudeln. Mit Butter.«

»Du kannst noch so viel von mir lernen.«

»Na ja. Werden wir sehen.«

»Hast du Woyzeck schon zu Ende gelesen?«

»Klar. Ist ja nicht lang.«

»Liest du schnell?«

»Kommt drauf an. Meist schaffe ich es nur spätabends, wenn alle im Bett sind. Ist lecker, dein Salat.«

»Danke.«

»Wo lernen wir? Hier in der Küche?«

»Wir gehen da an den Esstisch, komm. Die Matheaufgaben habe ich mir schon angesehen, das ist nicht viel. Am besten fangen wir damit an.«

»Gut. Ich hab nicht so viel Zeit. Muss in einer Stunde Lilly abholen.«

»Machst du das häufiger?«

»Meistens. Sonst müsste sie ewig im Hort bleiben.«

»…«

»Ich mach das aber gern.«

»Ehrlich?«

»Ja. Wieso?«

»Weil … Ich weiß nicht. Ich habe ja zwei jüngere Schwestern. Verena musste ich früher auch manchmal abholen, aber nicht oft. Ich fand das eher ätzend. Und Adelia …«

»Was ist mit ihr?«

»Wir haben uns noch nicht so richtig aneinander gewöhnt.«

»Hm. Die ist ja auch noch klein. Du warst in Irland, als sie geboren wurde, oder?«

»Ja, genau. Ich meine, sie ist süß und so, und ich freue mich für meine Eltern, dass sie noch ein Kind bekommen haben, aber … Es ist sowieso komisch, nach einem Jahr wieder nach Hause zu kommen. Wenn dann auch noch ein neues Familienmitglied da ist und deshalb alles anders ist als vorher … Das ist schwer zu beschreiben.«

»Hast du das Gefühl, du gehörst nicht mehr dazu?«

»Nein, das nicht. Oder doch, schon, auch. Manchmal jedenfalls. Aber das allein ist es nicht. Meine Eltern haben sich wirklich viel Mühe gegeben, alle haben sich gefreut, mich wieder hier zu haben. Mit Verena ist es jetzt sogar besser als vorher. Wir haben uns früher ziemlich oft gestritten, jetzt nervt sie mich nicht mehr so. Man merkt, dass sie älter wird, irgendwie sind wir nicht mehr ganz so weit voneinander weg. Also, natürlich ist sie trotzdem erst zwölf, ich kann aber besser mit ihr reden. Oder sie versteht mehr, keine Ahnung. Aber davon abgesehen …«

»Fehlt dir was?«

»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht fehlt mir was. Es ist ein bisschen so, als hätte ich jetzt eine andere Rolle, aber niemand hat mich darauf vorbereitet, und niemand sagt mir, wie diese Rolle aussehen soll. Die anderen haben sich schon dran gewöhnt, dass wir uns nach einem Baby richten müssen, nur ich nicht. Ich vergesse sie natürlich nicht wirklich, so nicht. Aber ich achte nicht jedes Mal darauf, ob wir Windeln brauchen, wenn ich mit dem Einkauf dran bin, oder hab ihre Schlafzeiten nicht im Blick. Solche Dinge, weißt du?«

»Kann mir vorstellen, dass das schwer ist.«

»Ich hab das so noch nie ausgesprochen. Jetzt fühle ich mich blöd.«

»Wieso?«

»Na ja, Adelia ist winzig, sie kann nichts dafür, und meine Eltern sind schon sehr toll. Das weiß ich noch mal deutlich mehr zu schätzen, seit ich mit meiner ersten Gastfamilie in Irland so gar nicht klargekommen bin.«

»Du fühlst dich trotzdem ausgeschlossen.«

»Nicht immer, aber manchmal.«

»Ist doch okay. Ist halt vieles anders jetzt. Natürlich musst du dich daran erst gewöhnen. Deshalb musst du dich nicht schlecht fühlen.«

»Sagst du.«

»Sag ich. Und ich hab Ahnung.«

»Danke, Mister Lebensberater. Und danke fürs Zuhören.«

»Kein Ding. Das wird sicher noch. Ihr seid so … Weiß nicht. Liebevoll miteinander. Auf eine ganz eigene Art. In ein paar Monaten ist das alles für dich normal.«

»Dann hoffe ich mal, dass du recht hast. Willst du noch was essen?«

»Nein. Bin fertig. Soll ich abwaschen?«

»Das macht der Geschirrspüler. Fangen wir lieber an, wenn du gleich wieder losmusst.«

»Ich bin bereit.«

Maya

Im ganzen Haus riecht es nach Curry, nur mühsam kämpfe ich die Übelkeit zurück. Manchmal würde ich gern ohne Essen auskommen, durch das Sonnenlicht wandeln, mich durch eine Art Photosynthese ernähren, ohne den ganzen Aufwand, den wir jeden Tag in die Nahrungsaufnahme stecken.

Samuel betritt das Studio, blickt sich kurz um, fast erstaunt wirkt er, dabei sieht es genauso aus wie vorher.

Nun entdeckt er mich am Schreibtisch und kommt zögernd in mein Büro. Aus irgendeinem Grund nehme ich jede einzelne seiner Bewegungen überdeutlich wahr, als würde jemand eine Zeitlupenaufnahme für mich abspielen. Die Haare fallen ihm in die Stirn, ganz leicht belastet er das linke Bein weniger als das rechte, er lächelt, ohne wirklich zu lächeln. Er trägt einen Teller und ein Glas Mineralwasser mit einer Zitronenscheibe darin wie ein Kellner, der eine Bestellung an den Tisch bringt.

Mein Magen rebelliert. Es ist eine kleine Portion, trotzdem wirkt sie unschaffbar. Samuel sagt etwas, was ich nur schwer verstehe. Ich bedanke mich, damit er beruhigt ist und schnell wieder verschwindet, aber er scheint meine Worte als Einladung zu deuten und bleibt vor meinem Schreibtisch stehen, nachdem er Teller und Glas darauf abgestellt hat. Vielleicht will er sichergehen, dass ich wirklich etwas von seinem Curry esse.

Ich trinke ein paar Schlucke, Durst habe ich wirklich.

Er fragt, ob wir demnächst mal zusammen einen Film sehen wollen. Fast verschlucke ich mich. Manchmal schaue ich abends vor dem Einschlafen etwas, doch die Bilder machen mich nervös, sie zeigen Realitäten, die absolut nichts mit meinem Leben zu tun haben, und wenn sie sich doch echt anfühlen, ertrage ich sie noch weniger. Samuel ist an Fantasiewelten gewöhnt, sie füllen seine Tage, bis er in ihnen versinkt. Wir haben früher häufig zusammen Filme und Serien angesehen, wir haben Dokus geschaut und sind ins Kino gegangen, aber ich bin diese Maya nicht mehr, während er noch derselbe ist. Wenn ich die Kraft dafür hätte, würde ich ihm sagen, dass sich für mich alles verändert hat. Heute jedoch reicht sie nicht, sie reicht nur für ein schwaches Nicken, meinetwegen können wir einen Film schauen, irgendwann mal. Vielleicht freue ich mich bis dahin auf diese Art der Abwechslung. Jeden Tag könnte etwas anders sein, immerhin sitze ich heute nach Monaten wieder in meinem Büro.

Samuel geht, ich koste von dem Curry. In meinem Mund sammelt sich pappiger Brei, der immer mehr wird, nur schwer bekomme ich den ersten Bissen runter. Mir wird heiß, die Übelkeit nimmt zu. Hastig stehe ich auf und renne zur Toilette, schaffe es gerade so rechtzeitig. Auf dem Boden bleibe ich sitzen, weil mir die Energie fehlt aufzustehen. Die Heizung rauscht ganz leicht, die Spülung gluckert, so viele Geräusche sind in diesem winzigen, kaum genutzten Raum. Nach ein paar Minuten drücke ich mich doch hoch, vermeide mein Spiegelbild, spüle den Mund aus und wasche die Hände, bevor ich zurück an den Schreibtisch gehe. Dort trinke ich das halbe Glas Wasser leer, danach geht es mir besser. Das Essen rühre ich nicht noch einmal an.

Vergangenheit

»Haselnussschokolade?«

»Ja. Die magst du doch.«

»Schon, aber ich hätte nicht gedacht, dass du dir das gemerkt hast.«

»Habe ich. War einfach. Ist auch meine Lieblingsschokolade.«

»Hauptsache, du lässt mir was übrig. Ich meine, letzte Woche hast du den halben Adventsteller leer gefuttert und keine einzige Marzipankartoffel übrig gelassen. Meine Eltern haben nur nichts gesagt, weil sie dich aus irgendeinem Grund mögen.«

»Ich bin eben unwiderstehlich. Also, gucken wir hier unten oder in deinem Zimmer?«

»Ich habe ja nur den kleinen Laptop. Wenn wir schon das Haus für uns haben, können wir hier im Wohnzimmer bleiben. Papa hat Lasagne für uns gemacht. Mama sagt, du siehst zu dünn aus, deshalb nimmt er immer extraviel Käse, wenn du zum Essen kommst.«

»Ich sag ja, sie lieben mich. Mit welchem Film fangen wir an?«

»Contagion.«

»Sicher? Den habe ich ausgesucht.«

»Ja, aber ich will ihn auch sehen. Weißt du, auch Mädchen können sich Thriller und Weltuntergangsfilme anschauen. Bist du jetzt überrascht?«

»Ich bin begeistert. Heiratest du mich?«

»…«

»…«

»Vielleicht später. Machst du die Lasagne warm? Dann lege ich schon mal die DVD ein. Kriegst du das mit dem Ofen hin?«

»Ja. Zweihundert Grad reichen, oder?«

»Bestimmt. Bringst du Gläser mit? Im Kühlschrank steht Limo. Ich glaube, wir haben sogar Cola, und Radler dürfen wir auch haben.«

»Sonst noch was, Eure Hoheit?«

»Die Kuscheldecke aus Verenas Zimmer. Sie hat mir großzügig erlaubt, dass ich sie ausborgen darf, solange ich sie nicht vollkleckere.«

»Hast du sie bestochen?«

»So ähnlich. Ich habe ihr bei den Hausaufgaben geholfen.«

»Schrei nicht so, ich kann dich gut hören. Die hier auf dem Bett, oder?«

»Ja, genau die.«

»…«

»Danke. Wieso habe ich nicht so eine schöne Kuscheldecke?«

»Weil du nicht so tolle Großeltern hast wie Verena.«

»…«

»Entschuldige. Das war gemein. Hab es nicht so gemeint.«

»Schon okay.«

»Nein, ehrlich. Es tut mir leid.«