Medizin in der NS-Diktatur - Wolfgang Uwe Eckart - E-Book

Medizin in der NS-Diktatur E-Book

Wolfgang Uwe Eckart

0,0

Beschreibung

Kaum ein anderes Thema der jüngeren deutschen Medizingeschichte ist so häufig behandelt worden wie das der Medizin im Nationalsozialismus. Doch trotz hoch differenzierter Forschungen und einer Fülle von Büchern gibt es keine aktuelle Gesamtdarstellung. Diese Lücke schließt Wolfgang Uwe Eckart. Er stellt die Medizin des NS-Staats in den Kontext ihrer Ideologien, Praktiken und Konsequenzen. An der moralischen Verwerflichkeit der NS-Medizin, ihrer menschenverachtenden und verbrecherischen Umsetzung besteht kein Zweifel. Die auf neuesten Forschungsergebnissen beruhende umfassende Analyse des Medizinhistorikers Wolfgang Uwe Eckart setzt bewusst deutlich vor 1933 ein und reicht über das Jahr 1945 hinaus. Fußend auf biopolitischen und erbbiologischen Ideologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, geprägt durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, durch Antisemitismus, Völkische Ideologie und Führergedanken definierte die NS-Medizin Wert und Unwert des Menschen. Sie wurde als Rassen- und Leistungsmedizin willfährig zum Werkzeug des totalen staatlichen Zugriffs auf den menschlichen Körper und entfaltete ihre mörderischen Instrumente Zwangssterilisation und Krankenmord. Als forschende Medizin wollte sie modern und konkurrenzfähig sein, am utopischen Entwurf des völkisch-totalitären Rassenstaates teilhaben. Am Kriegsende war sie kaum in der Lage, die Not der Überlebenden, der Flüchtlinge, der durch Holocaust und Kriegsgefangenschaft Traumatisierten zu lindern und stand schließlich für ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Wolfgang Uwe Eckarts Gesamtdarstellung der Medizin in der NS-Diktatur trägt der ungebrochen nachgefragten Thematik Rechnung. Ein Standardwerk – grundlegend und gut verständlich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 980

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Wolfgang Uwe Eckart

Medizin in der NS-Diktatur

Ideologie, Praxis, Folgen

 

2012BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Umschlagabbildung:Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (rechts) in der Uniform eines SS-Gruppenführers bei der Untersuchung von Schulkindern. Photographie um 1940. © Bildarchiv Der Spiegel, Hamburg.

 

 

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln WeimarUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

 

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

 

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, BielefeldDruck und Bindung: Finidr s.r.o., Ceský TešínGedruckt auf chlor- und säurefreiem PapierPrinted in the Czech Republic

ISBN 978-3-412-20847-9 (Print)

Datenkonvertierung: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld ISBN für dieses eBook: 978-3-412-21645-0

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachtswir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschlandwir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinkender Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blauer trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genauein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margareteer hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Lufter spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland Paul Celan Todesfuge, 1944

Inhalt

Cover

Vorwort

1     Einleitung

2     Ideen, Ideologien und politische Orientierungen bis 1933

2.1     Biopolitische Ideen vor 1914: Malthusianismus, Sozialdarwinismus, Eugenik, »Euthanasie«

2.1.1     Malthusianismus

2.1.2     Lamarckismus

2.1.3     Vom Darwinismus zum Sozialdarwinismus

2.1.4     Sozialdarwinismus und Rassenanthropologie

2.1.5     Rassenantisemitismus

2.1.6     Neue Menschen: Nacktkultur, Eugenik und Völkische Bewegung

2.1.7     Frühe Krankenmordvisionen

2.2     Krieg und Krisenerfahrung – der Erste Weltkrieg

2.2.1     Krieg und Selektionsdiskurs, 1914–1918

2.2.2     Im Land der »Kriegskrüppel«, 1914–1924

2.2.3     Hungererfahrungen und Lebensmitteldiktatur

2.2.4     Rassenhygiene und Eugenik in den 1920er-Jahren

2.2.5     Die Fortsetzung des »Euthanasiediskurses«

2.3     Frühe NS-Medizin – das biopolitische Programm Hitlers und des »Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes« (NSDÄB)

2.3.1     Der »Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund«

2.4     Gesundheitsinstitutionen der NSDAP

2.4.1     Das »Hauptamt für Volksgesundheit« (HAVG)

2.4.2     Das »Rassenpolitische Amt« der NSDAP (RPA)

3     Biodiktatorische Praxis nach 1933

3.1     »Arisierung«, Gleichschaltung, Verfolgung

3.1.1     Eskalationsstufen der Vertreibung

3.1.2     Institutionelle Auswirkungen

3.1.3     Vertreibung und Vernichtung

3.2     Erbbiologische Praxis: Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (1933)

3.3     Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«: Hungersterben, Krankenmord, 1939–194573

3.3.1     Karl Brandt – Biographische Anmerkungen zur Zentralfigur des Krankenmordes

3.3.2     Aktion »T4«

3.3.3     Kindermorde

3.3.4     Die »Aktion Sonderbehandlung 14f13«

3.3.5     Krankenmorde im Sudentengau, im Protektorat Böhmen und Mähren, in Ostpreußen und im besetzten Polen

3.3.6     Die »Aktion Reinhardt«

3.4     Körperkult, Sport, Kraft durch Freude

3.5     Auslese und Fürsorge – Lebensborn und NSV

3.6     »Neue Deutsche Heilkunde« und Gesundheitsführung

3.7     Leistungsmedizin

3.7.1     Die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse

3.7.2     Gesundheitsführung und Leistungsideologie im Arbeitsprozess

3.7.3     Gesundheitsführung in der Hitlerjugend

3.7.4     NS-Frauenbild und Gesundheit in der NS-Frauenschaft

3.8     Nationalsozialistische Krankenpflege

3.8.1     Auflösung der freien Schwesternverbände

3.8.2     »Kamerad Schwester« – vom Primat der Gemeindepflege zum Kriegsdienst

3.8.3     Beteiligung von Schwestern an Massentötungen

3.8.4     Schwestern in Konzentrationslagern

3.9     Völkische Geburtshilfe

3.9.1     Reichshebammenführerin Nanna Conti

3.9.2     Politische Arbeitsfelder der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen

3.9.3     Hebammen als Täterinnen

3.10     Leinwandhelden, Herzensnahrung: NS-Medizin und Filmpropaganda

3.10.1     Propaganda im medizinfilmischen Beigepäck

3.10.2     Medizinische Agitationsfilme

4     Medizinische Forschung

4.1     Medizinische Fakultäten

4.2     Staatlich gelenkte Forschung im zivilen und militärischen Bereich

4.3     Zentrale Institutionen und Forschungsfelder

4.3.1     Anatomie und Physiologie

4.3.2     Menschliche Vererbungswissenschaft

4.3.3     Psychiatrische Forschung

4.3.4     Infektiologie und Tropenmedizin

4.3.5     Krebsforschung

4.4     Verbrecherische Humanexperimente im Nationalsozialismus

4.4.1     Der Weg zum Humanexperiment im Nationalsozialismus

4.4.2     Tierversuch und Tierschutz

4.4.3     Tödliche Experimentalforschung am Menschen

5     Medizin und Krieg

5.1     Die Sanitätsführung

5.2     Die Politisierung des Soldatenkörpers

5.3     Psychische Dekompensationen

5.4     Soldatenkörper: »Rasse«, Forschung, Kriegsgefangene

5.5     Die Kriegsschauplätze am Beispiel Stalingrads

5.6     Bombenkrieg und Massenvergewaltigungen

6     Nach dem Zusammenbruch

6.1     Die Gesundheitssituation 1945 bis 1947: Hunger, Kälte, Infektionen

6.1.1     Hunger und Kälte

6.1.2     Tuberkulose

6.1.3     Geschlechtskrankheiten

6.2     Die Traumatisierten: Diskurse um Schädigung und Entschädigung seit den Fünfziger Jahren

6.3     Kriegsgefangene und »Heimkehrer«-Krankheiten

6.3.1     Die Heimkehrerlager

6.3.2     Heimkehrerkrankheiten deutscher Kriegsgefangener

6.3.3     Gesetzliche Versorgungsregelungen für Heimkehrer und Kriegsversehrte

7     NS-Medizin vor Gericht

7.1     Kriegsverbrecherprozesse gegen Täter in Konzentrationslagern

7.2     Nürnberger Ärzteprozess

7.3     Die »Euthanasie«-Prozesse

8     Anmerkungen

9     Literatur

Abbildungen

Namensverzeichnis

Sachregister

Rückumschlag

Vorwort

Kaum ein Gegenstand der neueren Medizin- und Wissenschaftsgeschichte ist in den letzten Jahrzehnten intensiver beforscht und dichter rekonstruiert worden als das verbrecherische Agieren deutscher Ärzte unter der nationalsozialistischen Diktatur. Tausende von Einzelstudien wurden verfasst, und ein Ende der Forschungs- und Publikationstätigkeit ist nicht absehbar. Vor diesem Hintergrund tritt die hier vorgelegte Darstellung nicht an, fortbestehende Forschungslücken zu schließen, obwohl auch ihr viele eigene neuere Studien zum Gegenstand zugrunde liegen. Vielmehr soll in ihr der Versuch einer systematischen Kontextualisierung und zusammenfassenden Darstellung des Forschungsstandes unternommen werden, wobei sich jeder Versuch einer umfassenden und detaillierten Präsentation ausschloss. Ansätze zu breiten Überblicken über die Medizin während der NS-Diktatur sind nicht neu, doch liegen die meisten von ihnen weit mehr als zehn Jahre zurück. Insbesondere müssen in diesem Zusammenhang das stark dokumentenangereicherte Arbeitsbuch von Wuttke-Groneberg (1980) oder die Sammeldarstellungen von Kudlin (1985), Thom / Caregorodcev (1889) und Bleker / Jachertz (1989) sowie die Darstellungen von Weindling (1991) über »Health, Race and German Politics« sowie über »Epidemics and Genocide in Eastern Europe« (2000) und Kater über Hitlers Ärzte (1989/2000) erwähnt werden. Besonders herauszustellen sind auch die beiden frühen Sammelbände der ersten deutsch-deutschen Symposien zur Thematik, die von Thom/Spaar (1983/85) und Rapoport / Thom (1989) ediert wurden. Vor wenigen Jahren hat schließlich Winfried Süß mit seiner Studie »Der ›Volkskörper‹ im Krieg« (2003) eine unverzichtbare Darstellung vorgelegt, die diachron auch auf die gesundheitspolitischen Machtverhältnisse in Deutschland zwischen 1933 und 1945 eingeht. Die Anzahl der Detailstudien zum Thema Medizin im Nationalsozialismus ist inzwischen so groß geworden, dass es schwierig ist, hier noch den Überblick zu behalten, wenngleich die von Robert Jütte 2011 herausgegebene bibliographie raisonnée »Medizin und Nationalsozialismus« hier ein wichtiges Hilfsmittel darstellt. Ein »umfassendes Buch über das Themengebiet ›Medizin und Nationalsozialismus‹«1 existiert allerdings bis heute nicht; ein Mangel, auf den Fridolf Kudlin bereits 1993 hingewiesen hatte. Diesem Mangel wird auch die hier vorgelegte Darstellung nicht wirklich abhelfen können, denn der Forschungsstand hat inzwischen einen Umfang angenommen, der auch ein Handbuch zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus durchaus rechtfertigen

[<<11] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

würde. Dieses Buch stellt sich als Versuch und Anregung für zukünftige Präsentationen des Gegenstandes der kritischen Diskussion.

Bücher fallen nicht vom Himmel, und der entworfene Buchtext ist noch lange kein Buch. Immer sind es viele wichtige Menschen, die tatkräftige Hilfe gerade bei gelegentlich schweren Entstehungsprozessen von Büchern leisten. Für die fachkundige Begleitung der gesamten Manuskriptarbeit danke ich besonders meinem kritischen Lektor Stefan Wunsch (Köln), dessen zahlreichen Anregungen und Hilfestellungen ich immer gern gefolgt bin. Ein ganz herzlicher Dank gilt auch Roxolana Bahrjanyj, die das Manuskript nochmals kritisch gelesen und sich in wirklich mühevoller Kleinarbeit der Erstellung der Register unterzogen hat. Schließlich danke ich dem Böhlau Verlag und besonders ­Dorothee Rheker-Wunsch, ohne deren stetig ermunternde Geduld ich gelegentlich mutlos geworden wäre. Meine Familie hat während der Schreibarbeiten deutlich weniger von mir gesehen, als ihr zusteht und dennoch die Nachsicht mit mir nicht verloren. Dafür bin ich Rosemarie, Hannah und Judith von Herzen dankbar und gelobe Besserung.

 

 

Heidelberg im Juni 2012   Wolfgang Uwe Eckart

[<<12]

 

1     Einleitung

Die mörderische Diktatur des völkisch-nationalsozialistischen Rassen- und Eroberungsstaates hat in den wenig mehr als zwölf Jahren ihrer Herrschaft tiefe Spuren in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Unermessliches Leid wurde den von ihr kriegerisch unterworfenen Völkern Europas, den auf dem Kontinent zur Niederschlagung der Diktatur engagierten außereuropäischen Mächten und nicht zuletzt der deutschen Bevölkerung selbst zugefügt. In einem bis dahin historisch beispiellosen Völkermord wurden etwa sechs Millionen europäische Juden systematisch und spätestens ab 1942 mit industrieller Perfektion getötet. Dem Völkermorden fielen im Rahmen deutscher Massenverbrechen daneben Hunderttausende Sinti und Roma, diffamiert als »Zigeuner« und »Zigeunermischlinge«, zum Opfer. Mindestens 250.000 Kranke wurden zwischen 1939 und 1945 auf deutschem Boden und in den Anschluss- und Okkupationsgebieten in und außerhalb von Heil- und Pflegeanstalten und anderen Krankenhäusern ermordet. Zehntausende fielen vernichtenden Humanexperimenten in Konzentrations- und Gefangenenlagern zum Opfer. Annähernd 20 Millionen Zivilisten kamen bei den Kriegshandlungen zwischen 1939 und 1945 durch Hunger und Verletzungen ums Leben, darunter weit mehr als drei Millionen nichtjüdische KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Deportierte. Annähernd 400.000 Menschen wurden überwiegend durch Zwangssterilisationen ihrer Zeugungsfähigkeit beraubt, Millionen Menschen in Europa wurden vor und nach 1945 in die Emigration getrieben, zwangsversetzt, deportiert, verschleppt oder vertrieben. Seit 1945 litten und leiden Millionen körperlich und seelisch verletzter Menschen an den unmittelbaren und mittelbaren Folgen der deutschen Gewaltherrschaft in Europa. An bedrückend vielen der genannten mörderischen Gewaltakte waren deutsche Ärzte und Ärztinnen, deutsches Krankenpflegepersonal sowie Verwaltungsspezialisten des Medizinal­sektors aktiv beteiligt.

Es nimmt nicht Wunder, dass sich die internationale Medizin- und Wissenschaftsgeschichte seit 1945, in Deutschland selbst systematisch etwa seit dem Beginn der 1970er-Jahre, intensiv mit den Ursprüngen, der Umsetzung, den Opfern und den Folgen einer solch exzeptionell überbordenden Gewalt beschäftigt. Kaum ein Gebiet der neueren Medizin- und Wissenschaftsgeschichte wurde davor oder danach so intensiv und detailliert erforscht und beschrieben, und doch klaffen noch immer Wissens- und Verständnislücken,

[<<13] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

wobei ein wirkliches »Verstehen« der Gewalteruption zwischen 1933 und 1945 wohl niemals erreicht werden kann.

Wenn man die über weite Strecken willfährige Instrumentalisierung der Medizin während der NS-Diktatur mit wenigen Worten charakterisieren wollte, lägen die Zentralbegriffe schnell auf der Hand: Gesundheitsdiktatur, Rassen-, Leistungs- und Vernichtungsmedizin. Jeder einzelne dieser Begriffe beschreibt den biodiktatorischen Charakter der NS-Herrschaft, der zunächst durchaus einer Tendenz des modernen (Sozial-)Staates folgte, den menschlichen Körper immer stärker zu kontrollieren und ihn damit zugleich in den Dienst der ökonomischen und politischen Staatsinteressen zu stellen. Folgt man der Definition von Bio-Macht (le biopouvoir) bei Michel Foucault, dann lassen sich mit ihm Techniken der Herrschaftsausübung fassen, die den Einzelnen in seiner körperlichen, reproduktiven und mikrosozialen Freiheitsentfaltung einschränkend treffen, intentional aber auf »die gesamte Bevölkerung zielen«,1 indem sie die Regulierung ihrer Fortpflanzung, ihres kollektiven Gesundheitsverhaltens und die Hebung ihres Gesundheitsniveaus, die Modulation ihrer Sterblichkeits- und Geburtenraten, die Ernähungs- und Wohnverhältnisse und vieles andere mehr beabsichtigen und mit Maßnahmen zu erreichen versuchen, die den individuellen Lebensstil und die individuelle Entfaltung einschränken. Die Aktivitäten der Regierung als Bio-Macht und ihrer Herrschaftsformen im Sinne einer ­Gouvernementalité weisen dabei zahlreiche und sehr unterschiedliche »Handlungsformen und Praxisfelder« auf, die in vielfältiger Weise auf die »Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen.«2 Insgesamt versteht Michel Foucault unter Gouvernementalität »die Gesamtheit« aller Institutionen, Verfahren, Analysen, Reflexionen, Berechnungen und Taktiken, die es dem Staat ermöglichen, eine spezifische und komplexe »Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.«3 In welchem Umfang, auf welche Weise und in welchem Grad eine Regierung die von Foucault so beschriebenen Instrumente und Taktiken einsetzt, wird ganz wesentlich durch den Charakter dieser Regierung selbst, durch ihr Rechtsverständnis, durch den Grad ihrer Bereitschaft zum Entzug individueller Freiheitsrechte, zur Missachtung individueller Menschenwürde, bis hin zum Recht auf Leben selbst und ihre Bereitschaft zur totalitären Gewaltausübung sowie durch die Radikalität ihrer Zielvorgaben bestimmt. Diese Zielvorgaben wiederum hängen wesentlich vom politisch geprägten Menschenbild der Bio-Macht ab und der Radikalität ihrer

[<<14]

Bereitschaft, dieses Menschenbild normierend und exklusiv im Rahmen ihrer Bevölkerungspolitik mit den Instrumenten der Unterdrückung, Diffamierung, Perhorreszierung und Dämonisierung sowie durch rechtsbeschränkende oder rechtsverletzende Übergriffe auf bestimmte Gruppen und Einzelpersonen umzusetzen. Die Gewaltausübung kann sich als unmittelbare körperliche Gewalt darstellen oder im Sinne einer strukturellen Gewalt entfalten. Nach Galtung (1975) handelt es sich hierbei, anders als bei der unmittelbaren, vorsätzlich destruktiven Gewalt von Einzeltätern oder Tätergruppen, um die Dimension einer diffusen, nicht zurechenbaren strukturellen Gewalt als »Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist«.4

Gewendet auf den völkischen Rassenstaat der nationalsozialistischen Diktatur und die der Medizin in ihm zugedachten Rolle im Rahmen der biopo­litischen Exklusion und Inklusion ist jedes der zuvor beschriebenen Ziele und Durchsetzungsinstrumente mit äußerster Radikalität angestrebt und eingesetzt worden. Zielvorgabe war der rassenreine (arische), erbgesunde, mental und körperlich tüchtige, leistungs-, reproduktions- und wehrfähige Volksgenosse. Er galt als biologisch-politisch »wertvoll«. Alle biologischen und sozialen Akteure, die solchen Vorgaben nicht entsprachen, sich also vor diesem Bewertungshorizont als »wertlos« und damit zwangsläufig als biologischer und sozialer »Ballast« erwiesen, sollten durch medizinische Maßnahmen nachhaltig im Sinne der Exklusion unter Einsatz unmittelbar vorsätzlicher und nötigenfalls auch vernichtender – oder durch die Etablierung struktureller – Gewaltbedingungen aus dem »Volkskörper« entfernt werden, wo ihre Reintegration nicht gewollt war, nicht mehr möglich oder prinzipiell ausgeschlossen schien. Für den Ausschluss der unerwünschten biologischen und sozialen Akteure vom »Volkskörper« stand ein differenziertes Exklusionsinstrumentarium zur Verfügung, das von eugenischen Maßnahmen (Verhütung, Sterilisation, Kastration, Abtreibung, Infantizid) über die Verweigerung des Rechts auf angemessene Ernährung und gesundheitliche Versorgung, der Nichtachtung körperlicher Integrität zum Zwecke der Verwertung dieses Körpers als ge- und verbrauchsfähige Ressource der biomedizinischen Forschung (Humanexperiment) bis hin zur Exklusion durch Mord reichte. Als »Sicherheitsdispositive« im Sinne Foucaults können alle Begleitdiskurse solcher Exklusionsmaßnahmen gelten, die für den Fall unterbleibender oder inkonsequenter Exklusion die Menetekel der völkischen Degeneration oder anderer Gefahren biologischer, sozialer oder politischer Art konstruierten. Inklusionswürdig hingegen waren all diejenigen,

[<<15]

die den biologisch-körperlichen und sozialen Wertvorstellungen des völkischen Rassenstaates entsprachen. Ihnen, den Volkskörper-Inkludierten, wurden im Sinne einer positiven Eugenik als Gratifikation für und Anreiz zur Steigerung von Leistung und biologischer Reproduktion Anerkennungen, Leistungen und Güter zugewiesen, derer die biologisch »Wertlosen« durch Verweigerung, Entzug oder direkten Raub verlustig gegangen waren.5 Das Spektrum solcher Verteilungsgüter der derart rassistisch definierten »Volksgemeinschaft«6 war breit und reichte von der Wohnungszuteilung über die Gewährung eines Kraft-durch-Freude-Urlaubs oder die Verleihung des Mutterkreuzes bis hin zur regelmäßigen Kartoffelzuwendung für kinderreiche Arme. Exklusion und Inklusion, Leistungsentzug und Leistungsgewährung bestimmten so auch das Wirken der Medizin in der NS-Diktatur und unterschieden die NS-Medizin auf diese Weise dramatisch von ihrer sozialhygienisch-karitativ geleiteten Vorgängerin während der Weimarer »Systemzeit«.

»Sozialpolitik, Hygiene und Sozialhygiene, ja Zivilisation und Kultur überhaupt«, so hat es ein Würzburger Hygieniker 1934 auf den Punkt gebracht, hätten »unbewußt die natürliche Auslese weitgehend ausgeschaltet und damit die Geburtensiege der Unerwünschten ermöglicht. Die darin liegende Gefahr [habe] die aristokratisch wertende Rassenhygiene erkannt«.7 Das klassische Prinzip des »salus aegroti suprema lex« sei nunmehr abgelöst durch das »salus populi suprema lex«, durch »Führertum und Gefolgschaft«.8 Medizin wurde fortan nicht mehr verstanden als individuelles Hilfsangebot an den Kranken zur Erhaltung oder Wiederherstellung seiner körperlichen und geistigen Gesundheit, sondern nahezu ausschließlich als Instrument im Dienste der rassistischen »Volksgemeinschaft« und eines bis zum Verbrecherischen gebeugten Staats­utilitarismus, welche nun die vom Staat zugewiesene und bereitwillig akzeptierte Rolle der Heilkunst im völkischen Rassestaat bestimmten. Bereits wenige Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren deutlich mehr als 50 Prozent aller nichtverfolgten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland und den ihm staatlich angeschlossenen Gebieten entweder der NSDAP selbst oder einer ihrer Partei­gliederungen beigetreten.9

Neben der menschenrechtlichen Katastrophe, die die neue Rollenzuweisung an die Medizin mit sich brachte, darf auch die professionelle Perspektive auf die Moral ärztlichen Handelns im Sinne der Inklusion und Exklusion, des Heilens und Vernichtens, nicht vernachlässigt werden. Auf dem 92. Deutschen Ärztetag 1989 in Berlin hat der Medizinhistoriker Richard Toellner die moralische Katas­trophe der NS-Medizin, die von der Ärzteschaft insgesamt nicht verhindert wurde, desillusionierend bilanziert.10 In Toellners Beitrag wurde auch die Frage

[<<16]

nach dem geistesgeschichtlichen Hintergrund ohne exkulpierende Schnörkel thematisiert. Ein Zusammenhang zwischen der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin und einer seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmenden Tendenz zur Vernachlässigung moralischer Bedenken bei der Instrumentalisierung unaufgeklärter, nicht entscheidungsfähiger, autoritätshöriger oder anders abhängiger Patien­ten mag zwar generell zulässig sein, eine die Profession entlastende Erklärung für die Forschungsverbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus liefert sie allerdings ebenso wenig wie der häufige Hinweis auf Befehlsnotstand oder die drängenden Forschungsprobleme der Kriegssituation oder die Spaltung der ärztlichen Persönlichkeiten.11 Kaum eines der Medizinverbrechen während der NS-Diktatur wäre bis unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten vor dem Hintergrund der geltenden Rechtsprechung möglich gewesen. Für eine Zwangssterilisation hatte sich bis zum Januar 1933 keine parlamentarische Mehrheit finden lassen. Es mag sie in geschlossenen Anstalten gegeben haben, aber sie stellte auch dort einen klaren Verstoß gegen das Körper­verletzungsverbot dar. Krankenmord wäre zweifellos nach dem Reichsstrafgesetzbuch als Tötungsdelikt geahndet worden. Gegen rechtswidrige Human­experimente in Krankenanstalten und Forschungsinstituten hatte die Weimarer Republik Hürden errichtet, deren Wirksamkeit sich hätte erweisen können. Die Handlungseinheit von ärztlichem Heilen und Töten wurde erst unter der NS-Diktatur möglich, und sie bedurfte der bereitwilligen Mitarbeit von Ärztinnen und Ärzten, die sich unter den neuen politischen Bedingungen leicht fanden. Heilen und Töten konnten für die der NS-Diktatur hörigen Ärzte nur deshalb zwei unmittelbar und untrennbar miteinander verknüpfte Handlungsstrategien werden, weil das System ihnen vermeintliche Freiräume des entgrenzten ärzt­lichen Handelns bot, die sie bereitwillig nicht nur ohne Furcht vor Strafverfolgung, sondern in Erwartung persönlicher Vergünstigungen bereitwillig nutzten. Als aktiv handelnde »Idealisten« einer biopolitischen Diktatur verfolgten die Täter im Sinne einer jeder Moral entkleideten instrumentellen Modernität12 Heil- und Vernichtungsabsichten gleichermaßen.

Zugrunde lag dieser Orientierung die Transformation professioneller Werte­vorstellungen vom ethischen Hippokratismus und einem in der Aufklärung verfeinerten Decorum medici in die unbedingte Gefolgschaft der rassisch-­uniformen völkischen Leistungs-, Kampf- und Vernichtungsgemeinschaft ohne Raum für das Andere, das Schwache, das Kranke. Grundlagen hierfür waren moralische Labilität und Korruptibilität, Bereitschaft zum Rechts- und Normbruch gegenüber dem verlassenen Wertesystem sowie die Verfügbarkeit für den Seelen- und Körpermord und die genozidale Massenvernichtung angesichts der Totalität

[<<17]

des völkischen Imperativs. Die Frage, auf welchem Boden solche Transformationen möglich werden konnten, muss den Blick weiten für Prozesse einer preußisch-deutschen longue durée mit ihren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Eigenheiten und Strukturen, die sich mit wenigen Schlagworten umreißen lassen: eine sich seit dem 18. Jahrhundert formierende leibfeind­liche Erziehung im Sinne protestantisch-preußischer Disziplin und Staatsraison, eine durch Schlagstock und Riemen gewaltsozialisierte und habituell gewordene Gewöhnung an vertikale und absolut zu setzende soziale und politische Autoritäten bis hin zum Kadavergehorsam, die Hintansetzung des individuellen Glücks gegenüber dem der Gemeinschaft, der Einbruch des Rassischen als neues Qualitätsmerkmal und neue Deutungsmacht der völkischen Gemeinschaft und schließlich das erlebte und als Verrat gedeutete Versagen eben dieser rassisch-kampfbündischen Volksgemeinschaft im Krieg 1914 /18.

Die Frage nach der breiten Akzeptanz der rassistisch-völkischen Ideologie in der deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 ist nicht leicht zu beantworten. Sicher dürften das kollektive Erleben tiefer Erniedrigung durch den Friedensvertrag von Versailles und die ideologisch propagierte »Dolchstoß­legende« einer »im Felde unbesiegten« Nation hier von maßgeblicher Bedeutung gewesen sein. Die Volksgemeinschaft verstand sich als zu Unrecht von äußeren und inneren Feinden verletzte und beraubte Gemeinschaft. Hinzu trat das von der eugenischen Rassenlehre suggerierte Heilsversprechen durch die Instrumente der »Zuchtwahl« und »Ausmerze«. So bestimmten die kollektiv empfundene Notwendigkeit einer Jagd nach den »Verrätern« und einer Beseitigung der »Minderwertigen« als Diktat der Stunde das Denken breiter Schichten der Republik von Weimar. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang aber auch die Revolution der gesellschaftlichen Kommunikationsinstrumente. Die im Entstehen begriffene Massenmedialisierung mit der rasanten Ausbreitung des Mediums Film, der explosionsartigen Expansion des Straßenzeitungswesens, der schnellen Verbreitung des Rundfunks seit 1923, der habituellen Gewöhnung an politische Massenveranstaltungen mit Tausenden von Zuhörern etwa bei NSDAP-Versammlungen und der allgegenwärtigen kommerziellen und besonders der politischen Plakatwerbung beeinflussten die Volksgemeinschaft leichter und suggestiver als in der Vorkriegszeit. Die Penetranz massensuggestiver Ideologien war ins zuvor nie Gekannte gesteigert und wurde insbesondere von der völkischen Rechten systematisch und mit Erfolg auch in biopolitischer Hinsicht ausgenutzt.

Am Ende bleibt die tiefe Verunsicherung darüber, dass sich jede Mutmaßung von einer zweifelsfreien Apriorität des ärztlich Guten als Trugschluss erweist.

[<<18]

Das gerade Gegenteil formiert sich zur Gewissheit. Neben dem Guten ist wie bei allen Menschen auch bei Ärzten das Böse ebenso ubiquitär wie pluriform angelegt. Die ethisch-moralischen Konsequenzen allerdings, die sich aus einer solchen Beobachtung ergeben müssen, können nicht Gegenstand dieser historischen Darstellung sein.

Man kann sich der Frage nach einer »Modernität« ärztlichen Handelns in der NS-Diktatur durchaus stellen, ohne sich unmittelbar dem Vorwurf der Relativierung medizinischer Verbrechen auszusetzen, wenn diese Frage entkoppelt von vordergründigen Gleichsetzungen von Modernität mit positiv konnotierten Ideen eines wie auch immer gearteten wissenschaftlich-technischen Fortschritts aufgeworfen wird. Riccardo Bavaj ist dieser Frage in seiner 2003 erschienenen Studie zur Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus kritisch nachgegangen. In der Schlussbetrachtung fasst Bavaj die Ergebnisse zu einem Bild der Moderne im Nationalsozialismus zusammen, das weniger als Ergebnis einer Evolution zum Fortschritt, denn durch Kontingenz gezeichnet sei. Kontingenz würde hier allgemein als Ausformung des Gegebenen im Hinblick auf mög­liches Anderssein meinen und Gegenstände oder Problembereiche »im Horizont möglicher Abwandlungen« beinhalten.13 Das »Dritte Reich« sei als ein totalitärer und zugleich moderner Rassenstaat »in seinem Kern ausgesprochen vorwärts gewandt und zukunftsgerichtet«14 gewesen, so liest man erstaunt. Ziel sei »eine fortschrittliche, straff geordnete, nach rassisch-biologistischen Kriterien selektierte Leistungsgesellschaft, abgesichert durch ein modernes, zentralisiertes, rationalisiertes und differenziertes Sozial- und Gesundheitssystem« gewesen.15 Aber hier ist große Vorsicht geboten. Die von Bavaj ins Spiel gebrachten Begriffe der Moderne und des Fortschritts16 sind schillernd, verführerisch und zugleich doch auch zu unscharf, als dass man sie für kurzschlüssige Folgerungen hinsichtlich der Rolle der NS-Diktatur wirklich fruchtbar machen könnte. Im Sinne von Adorno und Habermas handelt es hier allenfalls um eine entgrenzte, instrumentelle Moderne, bei der ganz bewusst die Regeln der Menschlichkeit und der moralischen Verfasstheit außer Kraft gesetzt wurden, um bestimmte Aspekte des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in den Dienst eines sich als modern empfindenden und mehr nach völkischer Vervollkommnung denn nach Modernität strebenden Staates zu stellen, und zwar unter dem Einsatz aller Machtmittel eines zutiefst inhumanen und kriminellen Systems.

Die vorliegende Darstellung gliedert sich in sechs Hauptabschnitte, deren erster den ideengeschichtlichen und ideologischen Voraussetzungen der NS-Medizin bis 1933 nachgeht. Hier kommen vor allem biopolitische Ideen und erbbiologische Visionen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, aber auch der

[<<19]

anschwellende Tötungsdiskurs im Sinne einer »Vernichtung lebensunwerten Lebens« oder unter dem verschleiernden und deshalb irreführenden Begriff der »Euthanasie« vor und nach dem Ersten Weltkrieg zur Sprache. Auch den die Nachkriegszeit prägenden Elementen der Kriegserfahrung selbst wird besonders im Hinblick auf das Hungererleben im Krieg und der Versehrtenpro­blematik nachgegangen. Im zweiten Hauptabschnitt wird die verbrecherische biopolitische Praxis, insbesondere der als »Euthanasie« verbrämte hunderttausendfache Krankenmord unter den Vorzeichen der NS-Diktatur dargestellt, wobei die Aspekte der radikalen negativen Eugenik ebenso verfolgt werden wie die verführerischen Sozialleistungen eines um positive Eugenik bis hin zur Menschenzüchtung bemühten Gewaltsystems. Auch Fragen des Körper- und Menschenbildes im ideologischen Horizont der NS-Diktatur, Aspekten einer Neuen Deutschen Heilkunde und denen einer unerbittlich auf Produktions­steigerung und Kriegsdienstfähigkeit orientierten Gesundheitsführung und Leistungs­medizin wird hier nachgegangen werden. Neben genuin ärztlichen Aufgabenfeldern einer Medizin im Bann der Biodiktatur finden auch Aspekte der Pflegegeschichte und der Hebammen-Geburtshilfe Berücksichtigung. Das totalitäre Gesamtbild des idealtypischen Arztvorbildes kommt schließlich im Zusammenhang mit der propagandistischen Aufarbeitung der Medizin im NS-Spielfilm zur Sprache. Ein eigener Hauptabschnitt wird im Anschluss daran der medizinischen Forschung gewidmet. Neben institutionengeschichtlichen Aspekten kommen exemplarisch einige zentrale Forschungsfelder und ausführlich der Komplex verbrecherischer Humanexperimente zur Sprache. Medizin und Krieg sowie den Gesundheitsproblemen der unmittelbaren Nachkriegszeit nach dem Zusammenbruch der Diktatur sind schließlich die folgenden beiden Hauptabschnitte gewidmet sein. Den Abschluss bildet eine zusammenfassende Darstellung der NS-Medizin vor Gericht.

[<<20]

2     Ideen, Ideologien und politische Orientierungen bis 1933

2.1     Biopolitische Ideen vor 1914: Malthusianismus, Sozialdarwinismus, Eugenik, »Euthanasie«

Das 19. Jahrhundert lieferte mit seinen biopolitischen Ideen die Grundlagen für die verbrecherische Entgrenzung der biopolitischen Praxis besonders der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Die Industrialisierung, die Urbanisierung mit der Bevölkerungsballung in den industriellen Metropolen Europas und Nord­amerikas, aber auch die Entstehung der biologischen Wissenschaften auf naturwissenschaftlicher Grundlage warfen während des 19. Jahrhunderts zunehmend Fragen nach Zusammenhängen zwischen biologischen Phänomenen und ihren Gesetzmäßigkeiten und den neuen gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf.2 Gibt es biopolitische Grenzen der gesellschaftlichen Entwicklung, des bioökonomischen Wachstums, woher kommt der Mensch, wohin ent­wickelt er sich, welches sind die ökonomischen und biologischen Bedrohungen individueller und gesellschaftlicher Existenz, wie ist der gesellschaftliche Wert des Menschen zu definieren? Leitfragen wie diese bestimmten das Denken der Nationalökonomie, der Entwicklungs- und Vererbungslehre, der entstehenden Rassenhygiene, des »Euthanasie«-Denkens und fanden ihre Antworten in Theorien wie der des Malthusianismus, des Lamarckismus, der Deszendenztheorie, ihrer Adaptation auf die Bedingungen des sozialen Lebens sowie der Rassenlehre in gesellschaftspolitischer Perspektive.

2.1.1     Malthusianismus

Um die Wende zum 19. Jahrhundert führten die Industrialisierung, die Urbanisierung und die Wahrnehmung eines stärkeren Bevölkerungswachstums zu neuen Theorien der Bevölkerungsentwicklung. Vor diesen Entwicklungen war man in der absolutistischen Nationalökonomie generell davon ausgegangen, dass eine wachsende Bevölkerung auch eine größere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes bedinge. Der britische Staatswirtschaftler und Sozialphilosoph Thomas Robert Malthus widersprach dieser Ansicht 1798 in seinem Aufsatz An essay on the principle of population (Versuch über die Bedingungen und die Folgen

[<<21] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

der Volksvermehrung, 1807; Versuch über das Bevölkerungs-Gesetz, 1879) vehement. Er fürchtete, dass die Bevölkerung stärker wachse als die Ernährungswirtschaft, die durch das »Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag« gebremst werde. Malthus begründete damit nicht nur Armut, Hunger, Krankheit, sondern auch die Entstehung städtischer Elendsquartiere und die daraus sich ergebenden sozialen Unruhen in den englischen Großstädten seiner Zeit. Malthus folgend handele es sich um einen quasi naturgesetzlichen Zyklus, in dessen Verlauf sich bei exponentiellem Wachstum der Bevölkerung gegenüber einem lediglich linearen Anstieg der Lebensmittelproduktion eine fortschreitende Verelendung und Populationsreduktion der Bevölkerung durch Krankheit, Seuchen, Kriege, aber auch durch Kindstötung, Mord, Empfängnisverhütung oder Homosexualität ergebe, bis wieder eine suffiziente Versorgungsgröße erreicht sei. Danach beginne der Zyklus von Neuem. Im Unterschied zu anderen Denkern seiner Zeit glaubte Malthus nicht an die Problemlösungsfähigkeit der Marktwirtschaft. Er plädierte zunächst für Heiratskontrollen, um das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen, aber auch für Bildungsinvestitionen als Instrument zur Senkung der Geburtenrate. Sein Zeitgenosse David Ricardo kritisierte Malthus direkt und charakterisierte dessen Theorie als willkommene Formel, die missliche Lage der pauperisierten Bevölkerung als gegeben und unabänderlich zu ertragen. Diese Kritik sollte später auch von Karl Marx und dessen Parteigängern geteilt werden.

2.1.2     Lamarckismus

Neben dieser beherrschenden sozialökonomischen Theorie standen die Vererbungslehren der Biologen des frühen 19. Jahrhunderts, die zwar zunächst allein auf die Tier- und Pflanzenwelt gerichtet waren, sich aber leicht auch auf die Situation des Menschen anwenden ließen. Für das 19. Jahrhundert bedeutend sind der Lamarckismus und der Darwinismus. So besagte die Auffassung des französischen Botanikers und Zoologen Jean-Baptiste Chevalier de Lamarck, dass Lebewesen ihren Nachkommen jene positiven und überlebensnotwendigen Eigenschaften vererben, die sie lebenszeitlich neu erworben haben. Lamarcks Theorie beruhte auf zwei »Beobachtungen«, die von vielen Wissenschaftlern seiner Zeit akzeptiert wurden: a) Dem Gebrauch und Nichtgebrauch von Organen: Lebewesen verlieren Merkmale, die sie nicht benötigen, und entwickeln (infolge der Stärkung des betreffenden Organs durch konstanten Gebrauch) Merkmale, die sie benötigen; b) der Vererbung erworbener Eigenschaften: Lebewesen vererben ihre durch Gebrauch erworbenen Eigenschaften an ihre Nachkommen

[<<22]

(und dies auch in degenerativer Hinsicht). Als Beispiel dienten gern die Giraffe und die Muskelentwicklung. Die Giraffe habe ihren Hals häufig und besonders lang gestreckt und diese Fähigkeit vererbt, weswegen ihre Nachkommen, die ein ähnliches Verhalten zeigten, immer längere Hälse bekommen hätten. Auf den Menschen bezogen könne dies auch am Beispiel des Schmiedes verdeutlicht werden. Ein Schmied stärkt die Kraft seiner Arme durch schwere Arbeit. Dies ›vererbt‹ er an seine Söhne. Nach Lamarcks Theorie können sich individuell erworbene Eigenschaften der Lebewesen auf ganze Gattungen in kürzester Generationenfolge vererben. Die Evolution werde auf diese Weise zielgerichtet vorangetrieben. Dieser teleologische »Vervollkommnungstrieb« allerdings bildete auch die wesentliche Schwachstelle seiner Theorie und lieferte den Hauptangriffspunkt für spätere Kritiker. Wissenschaftshistorisch bleibt indes, dass Lamarck dem Evolutionismus mit seiner Theorie zum Durchbruch verholfen hat. Zwar ließ sich nicht verifizieren, dass lebenszeitlich erworbene Merkmale vererbbar und damit konstitutiv für neue Lebensformen werden; es konnte aber gezeigt werden, dass die Arten im Lauf der Erdgeschichte nicht konstant waren, dass Form, Funktion und Umwelt ein innerer Zusammenhang verbindet. Lamarcks brauchbare Ideen wurden von Charles R. Darwin und Ernst Haeckel in den grundlegenden Arbeiten zur Evolutionstheorie weiterent­wickelt. Beide hoben in ihren eigenen Theorien die Bedeutung Lamarcks hervor.

2.1.3     Vom Darwinismus zum Sozialdarwinismus

Anders als Lamarck begründete Charles R. Darwin seine Abstammungslehre auf der Grundlage der Selektionstheorie: Ihre entscheidenden Voraussetzungen sind zwar erstens – wie bei Malthus – eine Überproduktion an Nachkommen und zweitens – wie bei Lamarck – auch die Annahme der Veränderbarkeit bzw. Veränderlichkeit (Variabilität) der Merkmale aller Lebewesen, drittens jedoch die Annahme eines permanenten Kampfes der besser angepassten gegen die weniger angepassten Nachkommen ums Überleben. Von den Nachkommen einer biologischen Gruppe überleben in diesem Konkurrenzkampf (Struggle for life, »Kampf ums Dasein«) im statistischen Durchschnitt diejenigen am ehesten, die ihrer Umwelt am besten angepasst sind (survival of the fittest, Auslese / Selektion). Unter Kampf in diesem Sinne ist – stärker als der tatsächliche Kampf – das statistisch positive Nachkommenverhältnis zu verstehen. Dieses biologische Prinzip der Auslese (natural selection; biologische Zuchtwahl) ist für Darwin der entscheidende Kausalfaktor der Evolution. Dieses Prinzip ist zudem – bei ­Darwin noch sehr vorsichtig – auch auf die Entwicklungsgeschichte des

[<<23]

Menschen anwendbar. Die theoriebegründenden Hauptwerke: On the ­Origin of Species by Means of Natural Selection (1859) und The Descent of Man (1871) erfreuten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts größter Beliebtheit und wurden (populär-) wissenschaftlich breit rezipiert.

Auf der Grundlage des biologischen Darwinismus entwickelte sich bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen des Darwinschen Schlüsselwerkes On the Origin of Species (1859) eine sozialwissenschaftliche Theorie, nach der Darwins Lehre von der natürlichen Auslese auf Gesellschaften übertragen werden kann. Es handelt sich hierbei politologisch um einen sogenannten Biologismus, um die Übertragung biologischer Gesetzmäßigkeiten auf die Entwicklung und die Existenzbedin­gungen von Gesellschaften. Staat und Gesellschaft werden im Biologismus in Analogie zum Organismus gesetzt. Die deutlichste Ausprägung des Biologismus war im 19. Jahrhundert der Sozialdarwinismus. Seine Grundthesen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Alle Menschen sind prinzipiell ungleich; es kommt daher zum »Kampf ums Dasein«, in dem die Tauglichsten obsiegen. Diese Auffassung wurde international von Karl Marx und Friedrich Engels früh aufgegriffen. Bereits 1860 äußerte sich Marx über Darwins Hauptwerk in einem Brief an Engels: »Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält«.3 Marx und Engels sind allerdings im Laufe ihrer weiteren Korrespondenz von dieser biologistischen Theorie abgerückt. Nicht jede politische Rezeption des biologischen Darwinismus ist durch ihre Rezeption auch bereits sozialdarwinistisch.

2.1.4     Sozialdarwinismus und Rassenanthropologie

In Deutschland wurde der Sozialdarwinismus besonders durch den Arzt, Zoologen und Philosophen Ernst Haeckel aufgegriffen und radikal propagiert. Philo­sophisch verfocht Haeckel eine durch und durch fortschrittsoptimistische monistische Naturphilosophie, unter der er eine Einheit von Materie und Geist verstand und sich von ihr durch stetiges »Wachsthum der Natur-Erkenntniß« die letztendliche Lösung aller »Welträtsel« erhoffte. Wie fundamental die durch Haeckel geweckten Hoffnungen aufgefasst wurden, zeigt sich an der breiten Popularität, die er etwa anlässlich des internationalen Freidenker-Kongresses 1904 in Rom erfuhr, als die begeisterten Teilnehmer ihren charismatischen Vordenker zum »Gegenpapst« ausriefen, bevor sie am Denkmal Giordano Brunos4 auf dem Campo de’ Fiori einen Lorbeerkranz niederlegten. Die Gründung des bereits in Rom vorgeschlagenen »Deutschen Monistenbundes« erfolgte schließlich am 11. Januar 1906 in Jena. Zu den ersten Mitgliedern gehörten so

[<<24]

bürgerlich-liberale Reformbewegte wie etwa Ferdinand Tönnies, Henry van de Velde, Alfred Hermann Fried, Otto Lehmann-Rußbüldt, Helene Stöcker, Magnus Hirschfeld oder Carl von Ossietzky. Auch wenn Haeckel den Degenerationsvisionen des Joseph Arthur Comte de Gobineau nach dem Erscheinen der durch den Rassentheoretiker und Kulturpessimisten Ludwig Schemann besorgten deutschen Übersetzung seines für die Rassenlehre grundlegenden Essai sur l’inégalité des races humaines zunächst nicht anhing, wirkte er 1900 doch als Vorsitzender Gutachter eines Gremiums, das über den Preisträger eines von der Familie Krupp finanzierten Wettbewerbs entschied, der die Frage aufgeworfen hatte, wie sich die »Rassenhygiene« hinsichtlich ihrer innenpolitischen und legislativen Konsequenzen auswirken werde. In der Ausschreibung mit dem Titel Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innenpolitische Entwicklung und Gesetzgebung des Staates? wurden alle Register des Entartungs- und Degenerationsdiskurses gezogen. Den Preis gewann schließlich der demokratisch, internationalistisch und pazifistisch eingestellte Arzt und Degenerationstheoretiker Wilhelm Schallmayer,5 ein Protegé ­Haeckels und Mitglied des Monistenbundes, mit seiner 1903 veröffentlichten Arbeit Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie. Weitere Variationen der Schrift folgten.6 Für den später führenden Rassentheoretiker des Nationalsozialismus war Vererbung und Auslese bereits 1919 das grundlegende Meisterwerk der deutschen »Rassen­hygiene«,7 und der Münchener Hygieniker Max von Gruber sah 1922 in Schallmayer den ersten Deutschen, der die ungeheure Bedeutung des Darwinismus im Hinblick auf die menschliche Rasse vollständig erfasst habe.8

Grundlegend war hierbei neben den Schriften Darwins insbesondere die bereits erwähnte deutsche Übersetzung von GobineausVersuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts waren idealistische Ras­sen (eigentlich Gruppen) postuliert worden, die eine polare Wertgliederung der gesamten Menschheit gestatten sollten: Tag- und Nachtrassen, Morgen- und Dämmerungs­rassen, schöne und hässliche, aktive und passive, helle und dunkle Rassen. Bereits in dieser Zeit wurde die Überlegenheit der weißen Hauptrasse und in ihr die Do­minanz des »germanischen« Elements behauptet. Biologische (Körpergröße, Hautfarbe, Gehirnmasse etc.), kulturelle und historische Elemente wurden be­gründend herangezogen. Die rassenorientierte Völkergeschichte wurde so zu einem Spezialzweig der Zoologie. Gobineaus in den Jahren 1853 bis 1855 publiziertes Werk wurde insgesamt begründend für die Rassenlehre des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Seine Hauptthesen lauten: Die Rasse ist eine gegenwarts- und ge­schichtsmächtige Kraft; aus einer

[<<25]

Urrasse leiten sich die weiße, schwarze und gelbe Rasse als Sekundärtypen ab; Kerngruppe der weißen Rasse ist die der Arier; sie ist allen Übrigen als edelste Rassengruppe überlegen. In ihr wiederum – so die deutsche Rezeption – ist die weiße, arische, germanische Rasse dominierend; alle Rassen unterliegen der fortwährenden Vermischung. Rassenmischung aber führt zu einer biologischen und kulturellen Degeneration der Einzelindividuen, und diese wiederum bedingt unerbittlich den Niedergang der Völker (= Kultur­pessimismus). Gobineau war als französischer Adliger überzeugt von seiner eigenen ›germanischen‹ Abstammung, während er den ›normalen‹ Franzosen bereits für rassendegeneriert hielt.

Zur Zeit der Jahrhundertwende erlebte der Sozialdarwinismus eine Blüte, für die nicht nur die bereits erwähnte Schrift Wilhelm Schallmayers über Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker typisch war, sondern auch das von Otto Ammon im Jahre 1900 entworfene typische Spektrum möglicher sozialdar­winistischer Auslesefaktoren: Erziehung, Klima, Erbfaktor­mischung, natürliche Auslese, militärische Auslese, politische Auslese, religiöse Auslese, moralische Auslese, gesetzliche Auslese, ökonomische Auslese. Derartige Auslesefaktoren in der Entwicklung sind besonders durch den britischen Naturforscher und Schriftsteller Francis Galton im Rahmen seiner Eugenik wissenschaftlich erörtert worden. Im Kernbereich der Eugenik stand die Vision einer Menschenzüchtung im Sinne der Herausbildung biologischer Eliten (Zuchtrassen). Als negative Eugenik sollte sie der Verschlechterung der Erbanlagen vorbeugen, als positive Eugenik deren Verbesserung fördern. Die Eugenik wurde von Alfred Ploetz als »Rassenhygiene« im deutschsprachigen Raum popularisiert. Das Ziel der Rassenhygiene, so Ploetz, richte sich auf die »Erhaltung und Fortpflanzung der biologischen Rasse unter den günstigsten Bedingungen«, wobei es ihr als quantitative Rassenhygiene um die »Mehrung«, als qualitative Rassenhygiene oder Eugenik um die »Verbesserung« oder »Hebung« des Volksbestandes gehe. Als positive bzw. negative Rassen­hygiene stünden ihr zu diesem Zweck die Mittel der »Auslese« bzw. der »Ausmerze« zur Verfügung. Rassenhygienische Vorstellungen wie die von Ploetz entwickelten sind keineswegs nur in politisch konservativen Kreisen diskutiert worden. Sie waren im Gegenteil um 1900 höchst ›modern‹ und fanden etwa auch in der deutschen Sozialdemokratie als biologisch-medizinische Sozialtechnologien, aber auch im internationalen Kontext ein breites Diskussionsforum. Die Institutionalisierung der Rassenhygiene vollzog sich in Deutschland bald nach 1900. Ließen sich konkrete Handlungsanweisungen aus der Rassenanthropologie durch den Begriff der »Rassenhygiene« kennzeichnen, den Alfred Ploetz bereits 1895 gebildet hatte, so wurde die »Eu­genik« zur Handlungsgrundlage der Rassenhygiene. Francis

[<<26]

Galton hatte diesen Terminus 1883 geprägt, und er verband mit der Eugenik zwei Hauptabsichten: einerseits »die Geburtenrate der Ungeeigneten (›unfit‹) zu kon­trollieren, anstelle es ihnen zu gestatten, ins Dasein zu treten, obschon sie in gro­ßer Zahl dazu verdammt sind, bereits vor der Geburt umzukommen«, andererseits »die Verbesserung der Rasse durch Förderung der Produktivität der Geeigneten (›fit‹) mittels früher Heiraten und gesunder Aufzucht ihrer Kinder«.

Besonders intensiv wurden bald Forderungen der negativen Eugenik diskutiert. Die Annahme ei­ner Ge­fährdung der men­schlichen Rasse durch feh­lende oder ver­hinderte Auslese »erbgesunder«, die Vision einer möglichen Menschen­züchtung im Sinne der Her­ausbil­dung biologi­scher Eliten durch die züchterischen Mittel der »Auslese« und »Ausmerze« sowie die Etablie­rung und Po­pularisierung der »Rassenhygiene« durch Al­fred Ploetz in Deutschland bildeten noch vor 1900 den Hinter­grund für er­ste Überle­gungen und Vor­schläge, den Erbgang der »Entarteten« durch Un­fruchtbarmachung zu unter­brechen. Nicht nur im ko­lonialen Kontext des kaiserlichen Deutschland, wo über den züchteri­schen Auftrag des Arztes als Rassen­hygieniker (Ludwig Külz) zur gleichen Zeit offen nachge­dacht9 und in Deutsch-Südwestafrika mit Ehever­boten zwi­schen wei­ßen Siedlern und farbigen Einge­bore­nen dem »Bastardisierungs«-Problem prak­tisch entgegen­getreten wurde,10 konkretisierten sich auch im Reich selbst ärztliche Vorstellun­gen zur Unfrucht­barma­chung. In Hei­delberg war es der Gynä­kologe Ferdinand Adolf Kehrer, der nicht nur als ›Erfinder‹ des modernen Kaiserschnitts hervortrat, sondern 1897 auch die erste an die Öffentlich­keit ge­drungene Un­fruchtbarmachung zur Verhütung »minderwertiger« Nachkom­men durch­führte. Das erste Jahr­zehnt des 20. Jahrhunderts spülte den Gesamtkomplex der Ras­senhygiene mit ihren Men­schenzüch­tungsvisionen in mächtiger Strömung an die Oberflä­che des öf­fentlichen Bewusstseins. Die im Rahmen der Practical eugenics in einigen der Ver­einigten Staa­ten von Amerika be­reits geübte Praxis der Ste­rilisation etwa von Gewohnheitstrin­kern wurde im Kaiserreich noch vor 1914 popu­larisiert, Zeit­schriften und Gesellschaften »für Ras­sen­hygiene« gegrün­det. Es war eine sich als jung und modern emp­findende eugenische Bewegung, die sich in Deutschland und an­derswo von der Zeit des Fin de Siècle bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges formierte und antrat, die biologische Sub­stanz des deut­schen Volkes zu ›he­ben‹ oder wenigstens zu verteidigen. Ihre Trä­ger waren in erster Linie Ärzte, aber auch Naturwissenschaft­ler, Theologen, Juri­sten, Philosophen, Politiker, Di­plomaten fanden sich in ihrem Gefolge. Zu ihnen gehörten als führende Persönlichkeiten neben Gobineau selbst, auf den sich seit ihrer Gründung 1894 eine DeutscheGobineau-Vereinigung mit Ludwig Schemann als antisemi­tischem »Verkünder der Rassenlehre«11 an der Spitze,

[<<27]

unter anderen der Antisemit und Chauvinist Paul de Lagarde, der »Rembranddeutsche« und Jugendbewegte Julius ­Langbehn, der Rassenmystiker, Wagner- und Bayreuthfanatiker Houston ­Stewart ­Chamberlain, der Karlsruher Arzt, Rassenkundler und Sozialanthropologe Otto Ammon, sein ärztlicher Kollege und Mitbadener, Ludwig Wilser, oder der Augenarzt, Philosoph, Sozialist und Begründer der im Kontext der Rassenlehren um 1900 meinungsbildenden Politisch-Anthropologischen Revue (seit 1902) Ludwig Woltmann. Aber es gab neben dem mainstream typischer Vertreter der rassenanthropologischen Avantgarde auch Außenseitergruppen, nicht selten anti-antisemitisch und bisweilen mit recht eigenwilligen Rassentheorien. Sie sind aber gerade wegen ihrer Außenseiterrollen bedeutsam, weil auch sie zum Netzwerk der rassenanthropologisch-eugenisch bewegten Moderne um 1900 gehörten und zeigen, in welcher Breite die Rassen- und Degenerationsdebatte bürgerlich-intellektuelle Kreise aller politischen Strömungen erfasst hatte. Ihr intellektueller Kritiker, wenngleich auch nicht frei von rassenanthropologischen Untertönen, war zweifellos der Arzt, Literat, Politiker und Mitbegründer der zionistischen Bewegung, Max Nordau. In seinem klassischen Werk Entartung (1892/93)12, das Nordau dem italienischen Psychiater und Forensiker Cesare Lombroso, selbsterklärter Sozialist, Positivist, Philosemit und Rassist, widmete, hat Nordau das Entartungsphänomen des Fin de Siècle als ein im Ursprung französisches Problem erklärt. Eigentlich müsse man es »fin de race« nennen, womit er allerdings lediglich die geistige »Fäulnis« der reichen französischen »Großstädter«, der »führenden Klassen« Frankreichs, gemeint wissen wollte.13 Prototyp des Entarteten in Deutschland, so Nordau, sei Richard Wagner. Mehr als bei allen anderen »Entarteten« seiner Zeit fänden sich bei ihm die »Stigmate dieses Krankheitszustandes« mit »unheimlicher Vollständigkeit und in üppigster Entfaltung vereinigt«. Wie kaum ein Anderer zeige Wagner in seiner

»allgemeinen Geistesverfassung Verfolgungswahnsinn, Größenwahn und Mysticismus, in seinen Trieben verschwommene Menschenliebe, Anarchismus, Auflehnungs- und Widerspruchssucht, in seinen Schriften alle Merkmale der Graphomanie, nämlich Zusammenhanglosigkeit, Gedankenflucht und Neigung zu blödsinnigen Kalauern, und als Grundlage seines Wesens die kennzeichnende Emotivität von gleichzeitig erotomanischer und glaubensschwärmerischer Färbung«.14

Entartung und Degeneration hat Nordau nicht primär als Ergebnisse von Rassenmischung, wie etwa die Anhänger der Gobineau-Schule, aufgefasst, sondern eher als Überbürdungs- und Ermüdungserscheinungen angesichts der technischen Moderne, der »hereinbrechenden Erfindungen und Neuerungen«, der

[<<28]

Akzeleration der Lebensgeschwindigkeit (»rasche Gangart«), die es schwer mache, »Schritt zu halten und flott mitzukommen«15. All dies habe schier »unerschwingliche organische Anforderungen«16 mit sich gebracht und zu hysterischen Verfallserscheinungen in einem Teil der geistigen Welt geführt. Ganz biologistisch hat Nordau seinen Befund mit dem Bakterienbefall des Körpers verglichen. So wie der »Influenza-Bazillus […] zuerst als Vorfrucht« erscheine, auf der sich »üppig wuchernd[de] und tödtliche Eiterungen« bildeten, werde das »Ungeziefer der Nachäffer in Kunst und Schriffthum erst gefährlich, wenn eigenartige Sonderwege wandelnde Wahnsinnige den durch Ermüdung geschwächten Zeitgeist vorher vergiftet«17 hätten. So stehe man nun »mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer Art schwarzer Pest von Entartung und Hysterie«18. Ganz sozialdarwinistisch fiel vor diesem Hintergrund auch die Prognose aus: »Die Entarteten müssen also erliegen, denn sie können sich weder den Bedingungen der Natur und Gesittung anpassen noch sich im Kampf ums Dasein gegen die Gesunden behaupten«.19 Letztlich aber ist Nordau hoffnungsvoll, dass der bessere Teil der Menschheit sich an die neuen Lebensbedingungen werde anpassen können; auch gebe es eine Therapie für die moderne Kulturwelt. Diese sei aber nicht in der Eugenik zu suchen, denn für Nordau lag auf der Hand, dass der »entartete Typus sich nicht fortpflanzt, sondern ausstirbt«20. Nordaus Therapie besaß eher einen präventiven Charakter und erstreckte sich auf die Entlarvung der Gefahrenträger und ihre geistige Sequestrierung:

»Das ist die Behandlung der Zeitkrankheit, die ich für wirksam halte: Kennzeichnung der führenden Entarteten und Hysteriker als Kranke, Entlarvung und Brandmarkung der Nachäffer als Gesellschaftsfeinde, Warnung des Publikums vor den Lügen dieser Schmarotzer«.21

Neben Nordau gab es allerdings auch bereits vor 1914 eine spezifisch jüdische, besser zionistische Eugenik. Hinzuweisen ist hier etwa auf den Philosophen, Schriftsteller und Frühsozialisten Moses Hess und seine vielbeachtete Schrift Rom und Jerusalem – Die letzte Nationalitätenfrage (1858 / 1862)22. Hess war durchaus ein Vertreter der frühen Rassentheorien im gedanklichen Umfeld der ­Gobineau-Schule. Ihm ging es dabei allerdings weniger um die Frage der Minder- und Höherwertigkeit einer Rasse, wobei bei Hess die Unterscheidung zwischen Rasse und Nation noch unscharf bleibt, sondern um die Selbstbehauptung der jüdischen Rasse gegenüber der germanischen. Zweifellos werde es zu einem »Rassenkampf« zwischen diesen beiden kommen, bei dem die Assimilation des Judentums zu vermeiden sei. Vielmehr gehe es um das Festhalten auch an der rassischen Integrität:

[<<29]

»Die Deutschen hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Rasse, weniger ihren eigentümlichen Glauben, als ihre eigentümlichen Nasen. – Weder Reform noch Taufe, weder Bildung noch Emanzipation erschließt dem deutschen Juden vollständig die Pforten des sozialen Lebens. Sie suchen daher ihre Abstammung zu verleugnen […]. Die jüdischen Nasen werden nicht reformiert, und das schwarze, krause Haar wird durch keine Taufe in blondes, durch keinen Kamm in schlichtes verwandelt. Die jüdische Rasse ist eine ursprüngliche, die sich trotz klimatischer Einflüsse in ihrer Integrität reproduziert.«23

Sehr viel dezidierter sollte nach Hess der jüdische Genetiker Redcliff N. ­Salaman in seinem umstrittenen Aufsatz Heredity and the Jew (1911)24 auf den Gesichts­typus als zuverlässiges »mendelndes« jüdisches Rassenmerkmal verweisen.

Ihre zentrale Organisationsform schuf sich die rassenhygienische Bewegung in Gestalt der am 22. Juni 1905 in Berlin gegründeten »Deutsche[n] Gesellschaft für Rassenhygiene«. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten der Arzt und Privatgelehrte Alfred Ploetz, der Psychiater Ernst Rüdin, der Ethnologe Richard Thurnwald, der deutsch-argentinische Jurist, Philosoph und überzeugte Darwinist Anastasius Nordenholz25 und als Ärztin und Frauenrechtlerin Agnes Bluhm26, die seit ihrer Zürcher Studienzeit mit Alfred Ploetz eng befreundet war und es bis zu ihrem Tod bleiben sollte.

Man war sich einig unter den Gründern dieser zukunftsweisenden Gesellschaft: Ziel der ersten eugenischen Vereinigung der Welt sollte die Förderung von »Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den weißen Völkern« sein, wie es die Satzung vorsah. Ihre Institutionalisierung als wissenschaftliche Disziplin verband sich mit ambitionierten moralischen, intellektuellen und physischen Ansprüchen, als »Gemeinschaft Gleichstrebender«, wie Ploetz 1909 formulierte, »von hervorragender sittlicher, intellektueller und körperlicher Tüchtigkeit, deren Lebensführung selbst die Grundzüge der neuen Wissenschaft zu verwirklichen helfen«27 solle. Absicht der Gründung und Ziel der Gesellschaft sei es, »einen Grundstock von wissenschaftlichem Material [zu] schaffen, aus dem später Gesetze und Regeln gefolgert und praktische Maßnahmen und Empfehlungen abgeleitet«28 werden könnten. Hinter diesen, zweifellos als fortschrittlich empfundenen Bestrebungen stand die Befürchtung, dass es in den modernen Industrienationen durch Kinderzeugung mit Gewohnheitsverbrechern, Schwachsinnigen, Trinkern, Syphilitikern und Tuberkulösen zu einer negativen Gegenauslese der rassisch »Minderwertigen« und damit zur schleichenden Volksdegeneration kommen müsse. Ihr habe der Staat durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken. Man dachte an Eheverbote und Unfruchtbarmachungen, aber auch an Menschenzüchtung und die Registrierung »eugenetischer Familien«. Zusammen

[<<30]

mit Nordenholz und dem Haeckel-Schüler und Zoologen Ludwig Plate hatte Ploetz bereits 1904 in Jena die Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie gegründet, die allerdings erst 1923 offiziell zum wissenschaftlichen Organ der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene werden sollte.

Neben der Hauptströmung der eugenisch orientierten Rassen- und Gesellschaftsbiologie entwickelte sich ein buntes Feld von Vertretern solcher Ideen, Privatgelehrte, Schriftsteller, Publizisten, die sich alle als moderne Kulturmenschen in einer Wendezeit verstanden, als revolutionäre Chiliasten. Zu ihnen gehörte etwa der heute fast vergessene völkische Publizist Heinrich Driesmans, der Eugenik und Rassenhygiene im Kontext des Sozialdarwinismus in vielen seiner Schriften29 thematisiert. Driesmans verstand sich selbst als »Biosoph«30, stand dem Naturalisten-Kreis um den Kritiker und bekennenden Juden Leo Berg31 nahe, war begeisterter Nietzsche-Anhänger, Mitglied der »Gobineau-Gesellschaft« und Mitarbeiter der »Politisch-Anthropologischen Revue«, ent­wickelte eine äußerst umstrittene eugenische Mischtheorie, die mit den völkischen Rassenvorstellungen seiner Zeitgenossen nicht kompatibel war, glaubte er doch, dass die »Judenfrage« nur über eine »Vermischung der Rassen« gelöst werden könnte. »Zuchtwahl« war für Driesmans wie für viele andere Begeisterte bereits 1902 »weltgeschichtliche Macht«32. Bei aller Degenerations­furcht war Driesmans aber gleichwohl hoffnungsvoll hinsichtlich der »im Schoße des Volkes ruhenden Rassenhaftigkeit und rassenbildenden Kraft«; sie sei es, die immer wieder rassereinigende »Menschen-Raketen« hinaus sende.33 Zwar könne, so Driesmans, die verschiedenrassige Blutmischung durchaus positive Ergebnisse zeitigen, grundsätzlich aber seien »Mischlinge weniger widerstandsfähig als Reinrassige«34. Wie für die Gesellschaft durch die Strafrechtspflege müsse es aber auch in der Biologie »zur Reinigung des menschlichen Keimplasmas von gemeinschädlichen Anlagen« kommen. Driesmans war überzeugt davon, dass jede »Gesellschaftsordnung als ein lebendiger Organismus« eben das »negative Ausleseprodukt […] ausstößt und ausstoßen muß«35. Keimschädigende Auslesefaktoren sah Driesmans besonders in den Narkotika Alkohol, Opium und Morphium, mit denen das »moderne Kulturleben« den Menschen konfrontiere. Letztlich aber werde sich doch »aus dem modernen Kulturmenschen die arische und germanische Rasse der Zukunft herauszüchten«, lassen und so der »Sintflut des modernen Kulturlebens [zu] entrinnen«36.

Schließlich legte Reichskanzler Theobald von Beth­mann Holl­weg dem Reichstag am 4. Juli 1914 den ersten deutschen Entwurf einer ge­setzlichen Rege­lung von Sterilisa­tion und Ab­treibung vor, der sich frei­lich eugenischer Be­grifflichkeiten nicht bediente und le­diglich auf eine medizini­sche Indikation

[<<31]

ab­zielte, aber einen Einstieg in die legitimierte Sterilisati­ons- und Abtrei­bungs­praxis bedeutet hätte. In § 1 des Entwurfs, der we­gen des deut­schen Kriegseintritts am 1. Au­gust 1914 nicht mehr wei­ter beraten wurde, hieß es viel­seitig aus­deutbar: »Eingriffe oder Ver­fahren zum Zwecke der Beseitigung der Zeu­gungs- oder Gebär­fähigkeit eines anderen oder der Tö­tung der Frucht einer Schwangeren sind zur Ab­wendung einer schweren, an­ders nicht zu be­seitigenden Ge­fahr für Leib oder Le­ben der behan­delten Person zuläs­sig und nur ei­nem staatlich anerkann­ten (approbierten) Arzt er­laubt.«37

Noch während des Krieges, 1917, verfasste der Rassenhygieni­ker Fritz Lenz in der Zeitschrift Deutschlands Er­neuerung Leitli­nien zur Erbgesund­heitspflege. »Vererbung und Auslese«, hieß es dort,

»sind die beherrschenden Mächte des Le­bens. Kein Volk, das eine Zukunft ha­ben will, darf sie in sei­nen Einrich­tungen übersehen. […] Alle körperli­chen und gei­stigen Fähig­kei­ten, alle Bildung, alle sozialen Werte eines Men­schen er­wachsen auf der Grundlage seiner ererbten Anlagen. […] Eine wirklich durchgreifende Ras­senhygiene ist weder durch Ehever­bote noch durch Aufkreuzen kranker Fa­mi­lien mit gesunden zu errei­chen.«38

Das hieß nichts anderes, als dass in der »durchgreifenden Ras­senhygiene« in erster Linie ausmerzende Maßnahmen, also Sterilisa­tion, Ab­treibung und, wie sich in der öf­fentlichen Diskussion bald zei­gen sollte, auch die Vernich­tung »lebensunwerten Lebens« als Mittel der Wahl einzusetzen seien.

2.1.5     Rassenantisemitismus

Im Zusammenhang mit der Rassenanthropologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts beanspruchte auch der rassisch begründete Antisemitismus, obwohl dessen Wurzeln weit über das 19. Jahrhundert zurückreichen, zunehmend mehr Raum. Für die Nationalsozialisten wurde der Rassenantisemitismus grundlegend für ihren Hass auf alles Jüdische, wenngleich auch ältere Traditionen der Judenfeindschaft in die Voraussetzungen des Holocaust mit einflossen. Zu den Voraussetzungen des Rassenantisemitismus gehören der christlich begründete Antijudaismus des Mittelalters und der Neuzeit. Zu seinen Fernwirkungen zählt aber auch der Antisemitismus, der nach 1945 in vielen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland fortlebte und sich alltäglich durch seine Stereotypen und die Grundstruktur vieler Vorurteile, in seiner radikalen Form häufig in der Verneinung des Holocaust, ausdrückte. Der rassisch begründete Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist vom Nationalismus, Sozialdarwinismus

[<<32]

und Rassismus jener Zeit nicht zu trennen. Der Begriff geht auf den deutschen Journalisten Wilhelm Marr zurück, der aus dem Umfeld der extremen Linken der 1848er-Revolution kam und im deutschen Sprachraum auch als Erster den Anarchismus propagierte. 1879 prägte er mit seiner Veröffentlichung Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum den Begriff Antisemitismus und gründete die erste antisemitische politische Vereinigung: die Antisemitenliga, die bis etwa 1880 Bestand hatte. Durch Marr wurde der Paradigmenwechsel von der religiös begründeten Judenfeindlichkeit zum rassisch begründeten Antisemitismus vollzogen. Marr inaugurierte zugleich auch die Tradition einer Perspektive auf Juden, die durch Bilder des Parasitären geprägt wurde. Er vertrat die Auffassung, dass es sich bei den Juden um eine fremde Rasse von »Parasiten« handele, die erfolgreich die Ausbeutung Deutschlands betreibe. Schon der Titel seines 1880 veröffentlichen Manifestes Goldene Ratten und rothe Mäuse macht dies deutlich. In ihm finden sich zugleich die langlebigen Argumente für eine Verschwörung von Judentum, Kapitalismus und Kommunismus, wie sie später von NS-Ideologen immer wieder aufgegriffen wurden und in dem antisemi­tischen PropagandafilmDer ewige Jude (1940) ihre Bildersprache fanden. Parasitäre Vorstellungen illustrierten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert häufig rassenantisemitische Diskurse, wobei die sich etablierende Bakteriologie ein üppiges Bildreservoir vorhielt. So verband etwa der Nationalökonom Karl Eugen Dühring in seiner populären Darstellung der Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881) die Vorstellung, dass es sich bei der »Selbstsucht« und »Machtgier« des »Juden« um eine unabänderliche Erbanlage handele, mit der Forderung, solche »parasitären Rassen« wie die der Juden »auszurotten, wie man eben Giftschlangen und wilde Raubtiere ausrotten« müsse. Auch Paul de Lagarde forderte 1887 in Juden und Indogermanen die Einheit von »Rasse und Volk« unter Ausschluss des Judentums. Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, »dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten«:39 »Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bacillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.«40 Hass­tiraden gegen das Judentum bedienten sich allerdings, parallel zum Rückgriff auf die bakteriologische Metaphorik, auch weiterhin traditioneller biblischer Teufelsbilder. Dabei stand nun jedoch nicht mehr ein Glaube an die leibliche Existenz des Teufels im Vordergrund, sondern das Teuflische des Semitischen an sich, mit dem nun zunehmend auch jüdische Ärzte diffamiert wurden, wie etwa in dem nationalsozialistischen Schmähvers von 1938: »Den Judenarzt im deutschen Land hat uns der Teufel hergesandt und wie der Teufel schändet er die deutsche Frau, die deutsche Ehr«.41

[<<33]

2.1.6     Neue Menschen: Nacktkultur, Eugenik und Völkische Bewegung42

Die Visionen zur Umsetzung eugenischer und sozialdarwinistischer Vorstellungen in der »Völkischen Bewegung« des Kaiserreichs sind untrennbar mit der Siedlungsbewegung und der Nacktkultur der Lebensreformbewegung43 vor 1914 verbunden. Bei der Siedlungsbewegung des ausge­henden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wurde ein Gemisch unterschiedlichster Motive deutlich. Die Abneigung gegen den unsozialen Ballungsraum Stadt (Stadtflucht) stand hier sicher im Vordergrund. Aber auch die Frage nach einer Umgestaltung der Besitzverhältnisse von Grund und Boden (Bodenreform), insbesondere des Ackerlandes, wird neben dem Wunsch fassbar, fern der krankmachenden Stadt auf dem Land und von seinen selbst gezüchteten Früchten (etwa in Obstbaukolonien) gesund zu leben. Daneben formten christliche und naturreligiöse Vorstellungen das Bedürfnis, Gottes freie Natur oder die Allmutter Natur als Lebensraum zu suchen. Auch wurde der Wunsch, sich in kleinen Gruppen mit gleicher Gesinnung in Religion, Politik oder auch ganz einfach im Hinblick auf eine natürlichere Lebensweise zusammenzufinden, zum prägenden Element der bodenreformerischen Siedlungsbewegung.

Ihr ideologischer Begründer war der Pädagoge Adolf Damaschke, der 1893 zum Schriftführer der lebensreformerischen Zeitschrift Der Naturarzt berufen wurde. Sie war das offizielle Organ des »Bundes der Vereine für volksverständliche Gesundheitspflege«. In seiner Zeitschrift setzte sich Damaschke insbesondere für eine gesunde und vor allem abstinente Lebensweise ein. In den heilenden Kräften von Licht, Luft, Wasser und einer einfachen Ernährungsweise sah er einen wirksamen und vor allem kostengünstigen Beitrag zur Volksgesundheit des Industrieproletariats. Hierbei war Damaschke besonders durch einen Vortrag des Nationalökonomen Adolph Wagner beeinflusst, in dem es um die Gewinne der Bodenspekulanten nach dem Krieg von 1870/71 ging. Sie hatten über Nacht Tausende von Berliner Arbeiterfamilien, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen konnten, obdachlos werden lassen. Als Bodenreformer war Damaschke der festen Überzeugung, dass »das Anhäufen von Grundeigentum in den Händen Weniger unmittelbar oder in Form von Bodenverschuldung bei allen Völkern verhängnisvolle Folgen« habe. Beispiele für praktische Umsetzungsversuche solcher Art liefern etwa die 1893 gegrün­dete Obstbausiedlung Eden44 bei Oranien­burg, die Vegetarier-und Lebensreformkolonie Monteverità und die völkisch-antise­mitische Menschenzuchtgemeinschaft Donnershag bei Son­tra in Hessen (1919).

[<<34]

Einige Gruppierungen strebten um 1900 bereits danach, rassische Vorstel­lungen der »Züchtung« des idealen, gesunden und »arischen« neuen Menschen zu verwirklichen. Die völkische Ausrichtung einer ganzen Anzahl von Siedlungsgründern orientierte sich an der germanischen Glaubenserneuerung der Jahrhundertwende um Paul de Lagarde, Artur Bonus, Heinrich Lhotzky. Angeregt war sie durch Silvio Gesells Ideen von Freiland und Freigeld. Ziel war es, nahe an der »Scholle« Stätten der Rassepflege aufbauen, in denen man fernab von der verseuchten Großstadt die deutsche »Art« züchten wollte.

Als einer der frühen Vertreter ist in diesem Zusammenhang etwa Willibald Hentschel zu nennen, der Ziele wie Rassenhygiene und Poly­gamie schon vor 1914 in der allerdings literarische Fiktion gebliebenen rassischen Zuchtkolonie Mittgart45 vertrat. Der Biologe und Chemiker, kurzzeitig Assistent bei Ernst Haeckel in Jena, stand dem völkischen Mystizismus im Grunde eher skeptisch gegenüber und verstand sich selbst als Vertreter einer wissenschaftlich und praktisch ausgerichteten Rassenzucht auf dem ideologischen Fundament des Haeckelschen Sozialdarwinismus und Monismus. 1901 erschien Hentschels voluminöses Hauptwerk Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Geschichte, 1906 gründete er den Mittgart-Bund. Die Mittgart-Siedlungen dachte sich Hentschel als Stätten rassischer Hochzucht im Dienste einer klar dominierenden männlichen Zeugungskraft. So sollte in Siedlungen des Mittgart-Bundes das Geschlechterverhältnis zeugungsfähiger Männer gegenüber gebärfähigen Frauen optimalerweise 100 zu 1.000 betragen. Die Mittgart-Ehe habe nur bis zum Eintritt der Schwangerschaft fortzubestehen. In der nie realisierten Utopie der Mittgart-Siedlungen sah Hentschel die Möglichkeit, wie in einem »Menschen-Garten«, die »Ausjätung«, also die »Ausscheidung und Beseitigung der Untauglichen« besser kontrollieren und fördern zu können. Habe doch der »unersättliche Moloch des Kulturprozesses« den natürlichen Ausjätungsprozess – kontraselektorisch – verhindert. Auf Hentschels Anstoß ging um 1923 auch die Gründung des Bundes Artam zurück. Ziel der Artamanen war es, der »Überfremdung« der östlichen Landschaften des Reichsgebiets durch polnische Landarbeiter etwa durch die Entsendung junger deutscher Arbeiter entgegenzuwirken. Zu den Artamanen rechneten sich später auch Heinrich Himmler, Rudolf Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, und Wolfram Sievers, Chef des SS-Ahnenerbes.

Um völkisch-rassische Siedlungen des Mittgart-Typus handelte es sich – zumindest in Ansätzen der Verwirklichung – auch bei den Siedlungen ­Heimland und Klingberg. Mit Heimland war 1908 in der Nähe von Ost-Priegnitz in Brandenburg eine völkische Genossenschaftssiedlung entstanden, deren Realisierung

[<<35]

auf Ideen Hentschels und des radikalen Antisemiten Emil Theodor Fritsch[e] zurückgingen. Bei den Bewohnern von Heimland handelte es sich um proletarische Urban-Eskapisten, überwiegend junge Städter mit »Spartaner-Geist«, die gemein-wirtschaftlich agierten, dem Abstinenzlertum und der Nacktkultur huldigten und sich aus Mangel an »Weiblichkeit« gelegentlich »die Mädchen aus dem Dorfe« holten. Zur Umsetzung ihrer rassischen Ziele im Sinne eines neuen Deutschtums kam es wohl aber nicht.46 Auch die 1903 gegründete Siedlung Klingberg am Großen Pönitzer See nahe Scharbeutz verstand sich als »Pflegestätte für nordische Körperkultur« und lockte ihr jugendbewegtes Publikum durch üppige und mystisch aufgeladene Winter- und Sommer-­Sonnwendfeiern an. Aufschwung erfuhr diese Lebensgemeinschaft allerdings erst in den 1920er-Jahren, wohl auch durch einen Besuch des berühmten ungarischen Tänzers, Choreografen und Tanztheoretikers Rudolf von Laban und seiner Tanzschule 1922. Die Siedlung bestand 1928 aus 35 Wohnhäusern und zählte 112 Bewohner.47

Beispielhaft für Bestrebungen dieser Art stand auch die Donnershag-­Genos­senschaft des Ernst Hunkel, die 1919 in der Nähe von Sontra gegründet wurde und in ihrer Hochblüte 350 Mitglieder umfasste. Ernst ­Hunkel gehörte in der Freiwirtschaftlichen Bewegung zu den radikalsten Vertretern eines antisemitischen und völkischen Gedankenguts, das er in zahlreichen religiös-­völkischen Publikationen ausbreitete.48 Seine Frau hatte bereits 1917 die Deutsche Schwesternschaft gegründet, die die Erziehung »wertvoller Kinder im Sinne deutscher Volks- und Lebenserneuerung«49 auf ihr Banner schrieb und sich ebenfalls im hessischen Sontra ansiedelte. Bis 1920 entstanden durch Landzukauf und Verpachtungen Genossenschaftsbetriebe und Werkstätten. Auch eine »deutsche Herberge« wurde gegründet, um junge Landwirte auszubilden, die Vieh- und Kleintierzucht betrieben. Der Verlag Jungborn, in dem die Gruppe Propagandaschriften druckte, wurde ebenfalls nach Sontra verlegt. Er diente als wirtschaftliche Basis und vertrat lebensreformerische und freiwirtschaftliche Ideen in Verbindung mit Deutsch- und Germanentum durch die Wiederbelebung ländlicher Siedlungs- und Sippenpflege. Margart Hunkel hatte 1917 im Kreise anderer Mitglieder einer Deutschgläubigen Gemeinschaft mit der Deutschen Schwesternschaft die erste, streng an völkischen Vorstellungen ausgerichtete, Frauenorganisation ins Leben gerufen.50 Sie existierte als ideologischer Zirkel im unmittelbaren Umfeld der Freilandsiedlung Donnershag und entsprach Hentschels rassenzüchterischem Mittgart-Programm. Die Deutsche Schwesternschaft sah wie die deutschgläubige Donnershag-Gemeinschaft ihre wesentliche Aufgabe darin, als »Gemeinschaft des Blutes, des Herzens und der Tat«, wie in einem »Gottesdienst« der völkischen Idee sehr konkret züchterisch

[<<36]

huldigend, vor allem »starkes deutsches Leben zu pflanzen, zu pflegen und zur Blüte zu bringen«. Die Mitglieder der Deutschen Schwesternschaft sahen sich in diesem Wirkungszusammenhang als »Rassenmütter« und Vertreterinnen eines völkischen Feminismus, allerdings ohne hieraus ein darüber hinaus weisendes politisches Programm zu entwickeln oder gegenüber deutschgläubigen Männern Gleichberechtigungs-Forderungen zu erheben.51 Margart Hunkels Ziele richteten sich insbesondere auf die Problematik drohender »Entartung« der deutschen Frau und ihrer Kinder und in diesem Zusammenhang auf die Gründung örtlicher Zusammenschlüsse lediger Frauen im Rahmen der zuchtordensgleichen »Deutschen Schwesternschaft«. Deren Kinder seien im Falle mütterlicher Berufstätigkeit »so klein wie nur irgend möglich« Pflegemüttern in einer »Waisen-Heimstätte« der Schwesternschaft zu übergeben und dort aufzuziehen. Dabei sei selbstverständlich, dass man sich in solchen Waisen­heimen nur um »gesunde Kinder rein deutscher Abkunft« kümmern werde und bei unehelichen Kindern »die [deutsche] Abstammung besonders sorgfältig« zu prüfen habe, damit nicht »unsere beste Kraft an Rassenbastarde« verschwendet werde.52 Uneheliche Mutterschaft der »unteren rassisch tiefer stehenden Volksschichten« aus der »Schar der überzähligen Frauen«, deren Männer im Krieg kämpften oder gefallen waren, galt Hunkels Interesse schon seit 1917. Angespornt durch das Menetekel drohender Entartung, denn diese tiefer stehenden Frauen »nahmen sich das, was sie als ihr gutes Recht ansahen und wurden uneheliche Mütter«, während die »edlen blonden Frauen […] der rassisch wertvollsten oberen Stände mit den feinen Gliedern, kühngeschnittenen Gesichtern und den reichen Schätzen germanischen Seelenadels«53 jeder Versuchung entsagten, entwickelte Hunkel ihre Züchtungsphantasien bereits während des Krieges und baute sie nach 1918 weiter aus. Nach dem Krieg ging es ihr vor allem um ein striktes Verhütungs- und Abtreibungsverbot für »rassisch wertvolle« Frauen. Im Falle unverschuldeter Kinderlosigkeit propagierte Hunkel großzügige Spendenfreudigkeit für fremde Kinder: »denn sie sind ja eures Stammes, eures Blutes und somit auch eure Kinder«.54

Um 1922 erfolgte der Genossenschaftsausschluss des Ernst Hunkel zu Donnershag, wie er sich inzwischen gern nannte, wegen Diskrepanzen in der moralischen Lebenshaltung (Ein- oder Mehrehe). Nach verlorenen Prozessen mussten Hunkel und seine Frau die Siedlung räumen. 1924 löste sich dann die Donnershag-Genossenschaft ganz auf.55 Letztlich, so hat Uwe Puschner zu Recht hervorgehoben, scheiterte die völkische Gemeinschaftsidee in Sontra zwar äußerlich am Kapitalmangel der unmittelbaren Nachkriegs- und der auf sie folgenden Inflationszeit, vor allem aber scheiterte sie »an den für die gesamte

[<<37]

Bewegung elementaren inneren Konflikten und ideologischen Gegensätzen«, die in Donnershag ihr Initiator Ernst Hunkel durch sein herrisches Gebaren und – zusammen mit seiner Frau Margart – durch seine rassezüchterischen Forderungen auf der Grundlage temporärer »Mutterrechtsehen« heraufbeschworen hatte.56 Das rassisch und religiös begründete völkische Gemeinschaftskonzept der Hunkels blieb literarische Utopie, leistete jedoch grundlegende Vorarbeiten für den späteren Nationalsozialismus.

In das eher randständige ideologische Umfeld Hentschels wie des Ehepaars Hunkel gehörten auch Max Ferdinand Sebaldt, ein Berliner Baudirektor und Verleger, der eine auf Rassenzucht gerichtete Sexualreligion »mit rituellem Geschlechtsverkehr« propagierte, und der Wiener Guido (von) List.57 Auch List darf den populären Vertretern der Völkischen Bewegung zugerechnet werden; er gilt als Vordenker einer rassistisch-okkultistischen Ariosophie und beeinflusst bis heute Strömungen rechter Esoterik.

Zu einem merkwürdigen Siedlungsversuch naturheilbewegter Lebensreformer, möglicherweise auch mit eugenischen Plänen, kam es auf einer Insel des deutschen Schutzgebietes Kaiser-Wilhelmsland (Neuguinea, Melanesien). So hatte sich 1903 eine kleine Gruppe von »Naturmenschen« mit ihrem Sekten­führer August Engelhardt58, einem Schriftsteller, auf die etwa 22 Seemeilen von Her­bertshöhe entfernt gelegene Insel Kabakon zurückgezogen. Der Begründer der Sekte propagierte die völlige Rückkehr zum Naturzustand, lief nur nackt, ließ seine Haare wachsen und ernährte sich ausschließlich von Früchten. Die Sonne galt ihm als einzige Lebensspenderin, die Kokosnuss als Stein der Weisen. Dem »Sonnenorden« dieses Mannes traten bald Gleichgesinnte bei. Offensichtlich war der Lebensstil des Sonnen­ordens mit der Gesundheit aber wenig vereinbar. Das erste Sektenmitglied, ein junger Helgoländer, verstarb bereits sechs Wochen nach der Ankunft vermutlich infolge eines Hitzschlages; ein Berliner Kapellmeister, Max Lützow, war nach sechsmonatigem Auf­enthalt auf Kabakon körperlich so heruntergekommen, dass er beschloss, das Europä­erhospital in Herbertshöhe aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin verstarb er an Entkräftung. Ein weiteres Mitglied ertrank; andere, die durch Inserate in Zeit­schriften für Naturheilkunde angelockt worden waren – unter ihnen der Naturschriftsteller August Bethmann und seine Verlobte, Anna Schwab