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Anna Rosendahl

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Beschreibung

Eine junge Buchhändlerin, eine alte Liebe, eine stürmische Insel

Oma ist verschwunden. Nach Amrum. Dort ist Elisabeth aufgewachsen, hat die Insel aber seit dem tragischen Sturmtag vor knapp sechzig Jahren nicht mehr betreten. Sogar ihrer Enkelin verschweigt sie, was geschehen ist, dabei stehen sie und Meike sich sehr nahe. Sie teilen mehr als nur ihre Liebe zu den Büchern. Meike wird von der Familie beauftragt, Elisabeth wieder zurückzuholen. Als die junge Buchhändlerin mit der Fähre anlegt, ist Oma nicht da. Dafür aber Meikes eigene Vergangenheit mit der Nordseeinsel.

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Seitenzahl: 439

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ZUM BUCH

Durch ihre Großmutter Elisabeth hat Buchbloggerin Meike schon als Kind ihre Liebe zu Büchern entdeckt. Eines Tages verschwindet Elisabeth jedoch spurlos. Am Morgen backt sie noch einen Butterkuchen für ihren Mann, mittags packt sie ihre Koffer und verlässt ihn. Niemand weiß, warum Elisabeth nach über fünfzig Jahren ihre Ehe einfach so beendet und wo sie sich nun aufhält. Nur ihrer Enkelin Meike hinterlässt Elisabeth einen Brief. Darin entdeckt Meike einen Hinweis auf Omas Aufenthaltsort – und macht sich auf den Weg nach Amrum. Als Meike sich dort in den wortkargen Insulaner Barne verliebt, wird ihr Leben ordentlich auf den Kopf gestellt. Und sie erkennt, dass sie mit ihrer Großmutter noch mehr gemeinsam hat als die Liebe zu Büchern …

ZUR AUTORIN

Anna Rosendahl wurde im November 1968 in Bottrop geboren. Sie studierte Kunstpädagogik und arbeitet heute als Lehrerin in einer Förderschule. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. Dort hat sie neben ihrer Liebe zur Kunst auch die zum Schreiben entdeckt.

LIEFERBARE TITEL

Acht Zimmer, Küche, Meer

ANNA

ROSENDAHL

MEERBLICK

INKLUSIVE

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Originalausgabe 04/2017Copyright © 2017 by Anna RosendahlCopyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Eva PhilipponUmschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, Münchenunter Verwendung von Istockphotos (fotandy);Depositphotos (juweber, Tachen1); BigStock (Al_Kan)Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-16792-9V002www.heyne.de

»Wan’t so hiarag uun a loft as,

do fu’f üülag wedern!«

»Wenn es am Himmel so haarig ist,

dann bekommen wir stürmisches Wetter!«

Gewidmet

Jens Peter Bork und Theodor Flor,

den beiden Rettungsmännern, die während

eines Einsatzes im Jahr 1890 mit dem

Rettungsboot Theodor Preusser bei

Hörnum verunglückt sind.

1.

Zuerst habe ich nur zugehört. Ich war gerade ein paar Wochen alt, als Oma mir das erste Mal vorlas. Daran kann ich mich natürlich nicht erinnern, aber sie hat mir oft mit einem Lächeln in den Augen davon erzählt. Ich litt als Baby angeblich unter schlimmen Dreimonatskoliken, nichts half, ich schrie ununterbrochen, bis sie auf die Idee kam, mir etwas vorzulesen. Oma hat Humor. Sie entschied sich für Vom Winde verweht. Das ungewöhnliche Heilmittel hat innerhalb kürzester Zeit gewirkt. Nach kaum fünf Minuten sei ich still gewesen, sagt sie, und völlig entspannt.

Das mit dem Vorlesen hat Oma die Kindheit über beibehalten. Ich habe, seit ich denken kann, die Momente geliebt, in denen wir uns still mit einem Buch in eine gemütliche Ecke zurückgezogen haben. Ihre warme Stimme, dazu der leichte Geruch von Rosenseife, nach der sie immer duftete, gaben mir das Gefühl von Geborgenheit. Mein absolutes Lieblingsbuch war Heidis Lehr- und Wanderjahre. Wie habe ich mitgelitten, als meine kleine Heldin im kalten Frankfurt landete und sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich wieder ihrem Großvater oben auf der Alm in die Arme fliegen zu dürfen. Ich weiß nicht, wie oft Oma mir aus dem Buch vorgelesen hat, immer wieder habe ich sie gebeten, mir die Szene herauszusuchen, in der Heidi sich auf dem Dachboden ein Bett aus Heu macht. Und abends habe ich dann wach gelegen und mir vorgestellt, auch ich würde irgendwo weit oben auf einem Berg in meinem duftenden Schlafgemach liegen und könne durch das Fenster die Sterne sehen und die Tannen rauschen hören.

Bücher spielten immer eine große Rolle in meinem Leben. Ich war überglücklich, als ich endlich lesen lernte. Durch meine Vorstellungskraft formten sich geschriebene Worte zu Bildern, erst durch mich wurde die Geschichte zum Leben erweckt. Und das fühlt sich immer noch magisch an. Es ist für mich wie ein Wunder, wenn aus Buchstaben Worte werden und daraus aneinandergereiht Sätze entstehen, die mich einladen auf eine Reise in die Fantasie. Es gibt so viele Bücher mit Seele, die gelesen werden wollen. Und mit meinem Blog gebe ich ihnen eine Stimme. So wie der Roman, über den ich nun gerade schreibe. Es ist eine Herzensempfehlung, denn er soll auch andere Menschen glücklich machen.

Eine Tasse Kaffee steht bereit, mein Notebook wartet auf mich.

Ihr Lieben, willkommen auf meinem Blog »Bücher mit Seele«.

Heute möchte ich euch zum Thema »Alte Bücher, neu entdeckt« ein Werk ans Herz legen, das mir sehr viel bedeutet. Ihr wisst ja, bisher habe ich euch ausschließlich lesenswerte Neuerscheinungen vorgestellt, aber das soll sich ändern. Ich will mich von nun an auch um die vergessenen Schätze kümmern.

»Licht« von Christoph Meckel ist die wohl schönste und zugleich traurigste Liebesgeschichte, die ich je gelesen habe. Das dünne Taschenbuch steht seit Jahren in meinem Bücherregal, total abgegriffen und leicht zerfleddert wartet es darauf, mal wieder von mir in die Hand genommen zu werden. Und jedes Mal ergreift mich der Zauber, der diesem Buch innewohnt: Sehnsucht in Worte gefasst!

»Sehr gerne würde ich etwas für dich tun, dir eine Zeitung mit guten Nachrichten kaufen, Frühstücksbutter aus deinem Mundwinkel küssen, vielleicht deine Kniekehlen streicheln, irgendwas …«

So beginnt der Liebesbrief, den Gil im Laub auf der Terrasse findet, verfasst von seiner Frau Dole – nie abgeschickt und geschrieben an einen anderen Mann. Gil behält den Brief, erzählt Dole nicht, dass er von seiner Existenz und dem enormen Verrat weiß, der sich dahinter verbirgt. Er beginnt zu zweifeln. »Dole kann jetzt sagen, was sie will – nichts mehr ist glaubhaft.« Gleichzeitig erinnert er sich: »Dole in roten Stiefeln auf der Portobello Road, mit hochgekrempelten Hosen im nassen Gras, und sie drehte sich um, wenn ich rief, und wartete, lächelnd.«

Gil denkt an die gemeinsame wunderschöne Zeit, an die unbeschwerten Urlaube in Frankreich, das Nachtleben, die Liebe mit Dole. Er erinnert sich voller Sehnsucht und unbeschreiblicher Zärtlichkeit. Doch seine Zweifel und die ohnmächtige Eifersucht führen zu einer schleichenden Entfremdung …

Ein schlichtes Buch voller Poesie, das sich lohnt, immer wieder aus dem Regal gezogen zu werden!

Eure Meike.

Ich streiche über das stimmungsvoll gehaltene Titelblatt – zwei Liebende sitzen in den Pariser Tuilerien am Ende einer Allee auf einer Bank, die Köpfe aneinandergelehnt. Oder küssen sie sich? Man kann es nicht genau erkennen.

Ich lese noch mal die Zeilen, die ich gerade verfasst habe, überprüfe ein letztes Mal, ob sich auch kein Tippfehler eingeschmuggelt hat, und drücke dann auf Senden. Nur wenige Augenblicke später erscheint der neue Eintrag online.

Laut klopft es gegen die Tür, und im nächsten Moment steht mein Vater im Zimmer. Er fährt sich mit der Hand durch sein immer noch volles dunkelblondes Haar, in das sich mittlerweile ein paar graue Strähnen gemogelt haben. Das macht er immer, wenn er ein ernstes Thema ansprechen will. Ich rechne damit, dass er mich wieder davon überzeugen möchte, als Assistentin in seiner Firma für Gummiwarenartikel anzufangen, und verschränke vorsorglich schon mal die Arme vor der Brust. Mein Vater hat nie verstanden, dass ich keinerlei Interesse daran habe, in den Betrieb einzusteigen, um ihn später mal übernehmen zu können.

»Morgen habe ich ein Vorstellungsgespräch in einer Buchhandlung«, erkläre ich, bevor er etwas sagen kann. Der kleine Kölner Bücherladen, für den ich gearbeitet und in den ich mein Herzblut gesteckt habe, hat Insolvenz angemeldet. Und das genau zwei Wochen nachdem Tom und ich uns getrennt haben. Wir mussten die gemeinsame Wohnung kündigen, da keiner von beiden sie allein hätte finanzieren können. Deswegen bin ich schweren Herzens wieder bei meinen Eltern in Oberhausen eingezogen, vorübergehend natürlich, bis ich einen neuen Arbeitsplatz gefunden habe und mir eine eigene Bleibe leisten kann. Erst habe ich meinen Freund und mein Zuhause verloren, und dann meinen Job. Manchmal kommt eben alles auf einmal.

Meinen Vater scheint das mit dem Bewerbungsgespräch gar nicht zu interessieren. Er nickt abwesend und streicht sich ein weiteres Mal durchs Haar.

»Meike … Oma ist weg«, sagt er. »Hast du was von ihr gehört?«

»Was meinst du damit, Oma ist weg?« Mein Herz fängt ein kleines bisschen schneller an zu klopfen.

»Opa hat gerade angerufen. Sie ist gestern Morgen aus dem Haus und seitdem nicht wieder zurückgekommen.«

»Gestern? Und da meldet er sich jetzt erst?« Meine Knie fühlen sich auf einmal wackelig an, obwohl ich sitze. Ich starre meinen Vater an und weiß nicht, was ich sagen soll. Das Bild meiner Oma taucht vor mir auf. Das kurze graue Haar, ordentlich mit Klettwicklern über Nacht zu leichten Wellen gelegt. Das fein geschnittene, fast aristokratisch wirkende Gesicht, der dunkelgrüne Mantel, um den Hals eines ihrer selbst gestalteten Seidentücher. Ich habe sie doch gestern noch gesehen! Es muss etwa elf Uhr gewesen sein, als ich gerade aus dem Schreibwarenladen in der Innenstadt kam, bewaffnet mit einem Stapel Bewerbungsmappen. An der Ampel, nur ein paar Schritte von dem Geschäft entfernt, hielt ein Linienbus. Oma saß vorne, gleich neben der Fahrertür. Als ich sie entdeckte, habe ich gewunken, aber sie hat mich nicht gesehen. Und dann war der Bus auch schon über die Kreuzung davongefahren. Ich habe mich noch gewundert, dass sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Sie hat keinen Führerschein, aber normalerweise fährt Opa sie, wenn sie irgendwohin möchte, beispielsweise zum Arzt oder zum Friseur. Weitere Gedanken darüber habe ich mir nicht gemacht, warum auch? Und jetzt soll sie weg sein?

»Sie hat ihn verlassen«, erklärt mein Vater, noch bevor ich ihm von der Begegnung gestern erzählen kann. »Einfach so.«

»Wen?« Ich verstehe absolut nicht, was er mir da gerade erzählt.

»Oma, sie hat Opa verlassen. Er kam nachmittags nichtahnend von seinem Schachklub zurück, und Oma war weg. Sie hat sich nicht einmal von ihm verabschiedet, nur einen kurzen Brief hinterlassen. Hast du davon etwas gewusst?«

Sie hat ihn verlassen? Ich habe schon ein Polizeiaufgebot den Park hier in der Nähe durchkämmen sehen, habe befürchtet, meiner Oma könne irgendetwas Schlimmes zugestoßen sein! Aber das ist typisch mein Vater. Warum hat er nicht einfach von Anfang an deutlich gesagt, was Sache ist? Erleichterung macht sich in mir breit, denn zumindest ist Oma dann nichts zugestoßen. Und gleichzeitig spüre ich Wut auf meinen Vater aufkommen, weil er mir eine Heidenangst eingejagt hat. Aber es bringt absolut nichts, mich jetzt wieder mit ihm zu streiten.

»Mir hat sie nichts erzählt«, sage ich. »Ich wusste noch nicht einmal, dass die beiden Probleme haben. »Vielleicht hatten sie einen Streit?« Mein Vater steht in der Mitte meines alten Kinderzimmers, ich sehe von meinem Schreibtischstuhl zu ihm auf. »Was sagt Opa denn dazu?«

»Du weißt doch, wie er ist. Er sagt nicht viel, und am Telefon schon mal gar nicht, eben nur, dass sie weg ist und angedroht hat, auch nicht zurückzukommen. Sie hat nicht gesagt, wo sie hin ist.«

»Aber so etwas macht man doch nicht einfach so. Nicht in dem Alter! Und außerdem, Oma schon gar nicht. Du weißt doch, wie sie ist. Da muss auf jeden Fall was vorgefallen sein.« Ich bin mir sicher, Opa hat sich ein dickes Ding geleistet, denn Oma ist so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich kenne keinen geduldigeren und verständnisvolleren Menschen als sie.

Mein Vater zuckt mit den Schultern. »Wie gesagt, mehr weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall … ich wollte dich fragen, ob du mal bei Opa vorbeifahren könntest, um nach dem Rechten zu sehen. Ich habe um drei noch einen Termin. Es geht um einen großen Auftrag.« Er setzt ein wichtiges Gesicht auf. »Für die Bundeswehr. Die brauchen Gummistopfen für ihre Schlauchboote.«

Mein Vater hat seine Firma aus dem Nichts aufgezogen. Er hat in jungen Jahren einige Zeit in einem branchenähnlichen Betrieb gearbeitet, hat sich dabei das nötige Wissen angeeignet – und sich dann selbstständig gemacht. Heute hat er mehrere Angestellte und steht nicht mehr hinter den Maschinen. Er ist weitestgehend im Außendienst unterwegs, um Aufträge zu generieren und neue Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Er kann zu Recht stolz auf sich sein, zumindest was seine Firma angeht. Als Vater habe ich allerdings nie wirklich viel von ihm gehabt. Ich glaube nicht, dass er sich jemals ernsthaft für mich interessiert hat. Und für seine eigenen Eltern interessiert er sich anscheinend auch nicht.

»Am besten, du fährst direkt los«, sagt er und klingt entschieden. »Mamas Smart steht in der Garage. Vollgetankt ist er auch.«

Bis zu meinen Großeltern ist man knapp zehn Minuten mit dem Auto unterwegs. Sie wohnen etwas außerhalb von Oberhausen, in einem gepflegten Stadtteil, in dem alle Besorgungen für den täglichen Bedarf gut zu Fuß zu machen sind. Vor drei Jahren haben sie ihr großes Eigenheim verkauft, um es sich in einer kleineren Eigentumswohnung im Erdgeschoss eines Vierfamilienhauses mit Gartenanteil gemütlich zu machen. Oma war nie richtig berufstätig, zumindest nicht in einem Arbeitsverhältnis, von der Tätigkeit als Pflegerin für eine ältere Nachbarin mal abgesehen. Sie hat sich um den Haushalt, um Opa und um meinen Vater gekümmert, später dann um mich. Meine Mutter hat meinen Vater in der Firma unterstützt, die beiden hatten so gut wie keine Zeit für mich. Erst musste die Firma aufgebaut werden, und als sie dann gut lief, mussten die Aufträge pünktlich abgearbeitet werden. Opa war als Elektriker für eine Zeche tätig. Er ging früh aus dem Haus und kam in der Regel müde wieder nach Hause. Meine Kindheit habe ich also die meiste Zeit mit Oma alleine verbracht.

Opa ist jetzt schon seit einigen Jahren zu Hause und bekommt eine recht passable Rente. Mit dem restlichen Geld aus dem Hausverkauf wollten die beiden es sich im Alter so richtig gut gehen lassen. Oma hat mir letztens noch von einer geplanten Kreuzfahrt auf der Aida erzählt. Und jetzt soll sie so mir nichts, dir nichts ausgezogen sein? Da stimmt irgendwas nicht! Oma hätte uns auf jeden Fall vorher Bescheid gesagt, damit wir uns keine Sorgen machen. Zumindest bei mir hätte sie sich abgemeldet. Sie weiß doch, wie sehr ich an ihr hänge, sie hat mich sozusagen großgezogen.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wir haben jetzt halb zwei. Das heißt, mein Vater hätte locker eine halbe Stunde Zeit, um sich um Opa zu kümmern. Er könnte doch wenigstens kurz bei ihm vorbeifahren, schauen, wie es ihm geht, und mal mit ihm reden. Es ist immerhin sein Vater. Und es ist seine Mutter, die verschwunden ist! Aber das mit dem Kümmern hat er ja noch nie wirklich gut verstanden. An erster Stelle kommt auch heute noch immer seine Firma. Und Mama ist mit ihrer Freundin Gaby im Wellnessurlaub auf Mallorca, sie kann also auch nicht.

»Okay, ich fahr sofort los«, sage ich und klappe den Laptop zu. »Rufst du ihn schon mal an und sagst Bescheid?«

2.

Opa öffnet mir in seinen besten Hosen und gebügeltem Hemd die Tür. Er scheint gar nicht unglücklich, sondern eher fröhlich zu sein. Zumindest wirkt er so, als er mich strahlend anlächelt.

»Hallo, Meike, mein Schatz, komm rein.« Opa drückt mich kurz, und ich nehme den unverkennbaren Duft seines Rasierwassers wahr, frisch und leicht zitronig. Er läuft vor mir her ins Wohnzimmer, wo er schon den Kaffeetisch mit Omas blauem Friesengeschirr gedeckt hat, das sie so gern mag. Exakt in der Mitte des runden Esstisches steht die große Porzellankanne, Löffel und Gabel liegen auf gleicher Höhe akkurat neben den Tellern, die Tassen etwas höher und seitlich versetzt daneben. Opa hat sich wirklich Mühe gegeben. »Setz dich doch, Kind.«

Was? Oma ist weg, und er will nett mit mir Kuchen essen? Ich habe bisher noch kein Wort gesagt. Die Situation kommt mir noch unwirklicher vor, als ich den Kuchenduft aus der Küche bemerke.

»Ist Oma wieder da?«, frage ich. Das würde natürlich Opas gute Laune erklären. Ich rechne jeden Moment damit, dass sie in ihrer gestärkten Schürze aus der Küche kommt, und linse zur Tür.

»Nein, ist sie nicht«, sagt er zu meiner Überraschung. »Sie hat den Butterkuchen gestern noch gebacken. Ich habe ihn zum Aufwärmen nur noch mal kurz in den Ofen geschoben.« Er schüttet uns eine Tasse Kaffee ein, dann verschwindet er in Richtung Küche. Ich schaue ihm hinterher, nippe dabei an der heißen schwarzen Flüssigkeit und verziehe das Gesicht. Der Kaffee ist viel zu stark und schmeckt total bitter. Ich will nicht wissen, wie viel Pulver Opa in die Maschine gehauen hat.

Er kommt lächelnd mit dem Kuchen zurück, schneidet ihn in Stücke und legt mir und sich selbst ein Stück auf den Teller. Dann setzt er sich und sieht mich erwartungsvoll an. Der Butterkuchen schmeckt wirklich einmalig gut. Auf den locker leichten Hefeteig hat Oma Puddingcreme gestrichen. Darauf befindet sich eine Schicht zuckriger, knuspriger Mandelblättchen. So einen saftigen Butterkuchen habe ich noch nie gegessen.

»Lecker!«, sage ich.

Opa nickt und schiebt sich eine Gabel in den Mund. Er isst sehr langsam, in der für ihn typischen Art, die er Schmauen – Schmecken und Kauen – nennt. Seitdem er vor einigen Jahren mal eine Reportage über gesunde Ernährung gesehen hat, kaut er jeden Bissen besonders intensiv, sodass er sich schon im Mund in seine für die Verdauung nötige chemische Form verwandelt. Mit der Zeit habe ich mich an Opas Essgewohnheit gewöhnt. Er unterhält sich dabei nicht, sondern konzentriert sich ganz und gar auf seine Mahlzeit. Heute fällt mir das Geduldigsein allerdings schwer, außerdem habe ich das Gefühl, dass er bewusst noch langsamer kaut als sonst. Mein Stück habe ich inzwischen längst verputzt. Also warte ich einfach ab.

Bestimmt ist es ihm unangenehm, mit mir über Oma zu sprechen. Die Bestätigung für meine Vermutung folgt prompt. Als er den letzten Bissen verspeist hat, packt Opa ungefragt jedem von uns noch ein weiteres Stück Kuchen auf den Teller.

»Was macht denn deine Suche nach einer neuen Arbeitsstelle?«, fragt er. »Hat sich da schon etwas ergeben?«

Ich möchte Opa nicht mit Omas Verschwinden überrumpeln, deswegen lasse ich mich auf sein kleines Ablenkungsmanöver ein. »Ja, morgen habe ich ein Vorstellungsgespräch, hier in Oberhausen. Sie suchen ab sofort eine Buchhändlerin. Du kannst mir vormittags die Daumen drücken.«

Opa nickt. »Die wären verrückt, wenn sie dich nicht nehmen würden. Bei der Erfahrung, die du mitbringst. Du bist ja sozusagen mit Büchern groß geworden.«

Damit hat er mir das Stichwort gegeben. »Ja, das habe ich Oma und ihrer Liebe zur Literatur zu verdanken. Aber jetzt erzähl mir doch mal bitte, was hier überhaupt los ist. Habt ihr euch gestritten? Oma backt dir doch nicht einen Kuchen, nur um kurz darauf abzuhauen, oder?«

»Doch.« Opa steht auf, geht zur Kommode im Flur. Als er zurückkommt, schiebt er mir wortlos ein Blatt Papier hin. Ich erkenne Omas kleine, geradlinige Handschrift sofort.

Erich,

man lügt sich immer an. Es wird Zeit, damit aufzuhören. Deswegen gehe ich. Warte nicht auf mich, denn ich komme nicht wieder zurück.

Den Butterkuchen musst du eine Viertelstunde bei etwa 100 Grad im Ofen aufwärmen. Dann schmeckt er besser. Im Kühlschrank findest du einen großen Topf Gulasch. Dazu kannst du dir Makkaroni oder Reis kochen. Und in der Gefriertruhe sind noch verschiedene Suppen und Kohlrouladen.

Sag Meike bitte, dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen machen muss. (Ich weiß, dass sie es sein wird, die dich nach der Nachricht meines Verschwindens besuchen wird.) Und dass ich mich bald bei ihr melden werde.

Elisabeth

Ich lese den Brief zweimal, dreimal … Man lügt sich immer an. Ein eigenartiger Briefanfang. Er klingt so unpersönlich und gar nicht nach Oma. Was meint sie damit? Hat Opa sie belogen? Aber warum hat sie dann so verallgemeinernd formuliert? Tom fällt mir ein. Er hat zwar andere Worte benutzt, als er sich von mir getrennt hat, aber es kommt der Sache nahe. Wir hatten einen an sich harmlosen Streit, weil ich seiner Meinung nach zu viel für Kleidung und Bücher ausgebe. Wir saßen uns am Küchentisch gegenüber, wollten noch einmal in Ruhe miteinander sprechen, als er mich mit diesem ernsten und zugleich traurigen Blick ansah. In dem Moment ahnte ich, was passieren würde, aber es traf mich trotzdem völlig unvorbereitet. Und es hat mir komplett den Boden unter den Füßen weggefegt.

»Ach, Meike, seien wir doch mal ehrlich. Wir machen uns was vor«, hat er gesagt – und damit das Ende unserer Beziehung eingeleitet. Lügt man sich an, wenn man sich was vormacht? Meint Oma das damit?

Ganz unrecht hatte Tom damit zugegebenermaßen nicht, wir haben unsere Beziehung monatelang sträflich vernachlässigt. Nach einer echt turbulenten Anfangszeit, in der wir sehr verliebt waren, hielt schnell der Alltag bei uns Einzug. Dazu gesellten sich finanzielle Probleme, Stress im Job … und irgendwann blieb auch die Sexualität weitestgehend auf der Strecke. Also haben wir uns in beiderseitigem Einvernehmen getrennt, zumindest sieht Tom das so. Ich hätte gerne an unseren Schwierigkeiten gearbeitet und die Beziehung gerettet, aber Tom hat mir keine andere Wahl gelassen, als der Trennung zuzustimmen.

Was entgegnet man, wenn die einst große Liebe einem eröffnet, dass das Gefühl nicht mehr vorhanden und deswegen ein Ende besser sei, als sich weiterzuquälen? Nichts, wenn man neben der Liebe nicht auch noch die Selbstachtung verlieren möchte. Wir waren fünf Jahre ein Paar, und somit war es die längste Beziehung, die ich bisher hatte, und wenn Tom mir nicht gesagt hätte, dass er mich nicht mehr liebt, wäre ich noch immer mit ihm zusammen. Fünf Jahre … Meine Großeltern sind mittlerweile über fünfzig Jahre verheiratet. Die schmeißt man doch nicht einfach so weg!

»Und ihr habt euch wirklich nicht gestritten?«, hake ich noch einmal nach. Irgendwas muss da doch vorgefallen sein.

»Nur das Übliche.« Opa schüttelt den Kopf. »Alte Kamellen. Oma ist wie ein Elefant, vergisst nie etwas. Und im richtigen Augenblick tischt sie längst vergangene Geschichten wieder auf, in allen Einzelheiten.«

Also doch! »Und was sind das für alte Geschichten?«, frage ich, und mir ist fast klar, dass Opa darauf nicht antworten wird, aber versuchen kann ich es wenigstens. »Ist es sehr lange her?«

Er winkt ab, sein Gesichtsausdruck wird hart. »Das ist längst vorbei. Und außerdem wird sie sowieso bald wieder vor der Tür stehen. Ich gebe ihr maximal drei Tage, mehr auf gar keinen Fall. Wo soll sie denn hin? Sie ist nichts ohne mich! Alleine kommt sie niemals klar. Und finanziell schon mal gar nicht. Sie hat doch nichts und wird es bereuen, ganz sicher! Und dann kann sie froh sein, wenn ich sie überhaupt wieder zurücknehme.«

Dass mein Großvater und mein Vater sich auch in Bezug auf ihre Frauen so ähnlich sind, überrascht mich. So habe ich zumindest Opa noch nie reden hören. Optisch kann man das Vater-Sohn-Verhältnis jedenfalls sofort erkennen. Auch Opa hat noch sehr volles Haar, allerdings ist es grau. Beide haben die gleiche schlaksige Statur, sind groß gewachsen. Aber dass Opa einen ähnlich harten Blick aufsetzen kann, wusste ich bisher nicht. Und auch, dass er anscheinend davon überzeugt ist, Oma sei ohne ihn nichts wert, ist mir neu. Aber es kommt mir sehr bekannt vor. Eine ähnliche Nummer hat mein Vater auch schon mal gebracht. »Was bist du schon?«, hat er meine Mutter in einem Tonfall gefragt, der mir fast das Blut in den Adern gefrieren ließ. So abfällig habe ich ihn noch nie reden hören, schon gar nicht über meine Mutter. Ich war achtzehn. Das weiß ich noch genau, weil ich an dem Tag eine meiner Abiturprüfungen geschrieben habe.

Ich stand im Hausflur, habe jedes seiner Worte ganz genau mitbekommen, und auch, dass meine Mutter einfach nur schwieg. Ich habe damals so getan, als hätte ich nichts gehört, und bin mit meinen Infos über die Prüfung einfach ins Wohnzimmer geplatzt, um die Situation zu entspannen. Ich weiß, dass mein Vater das Leben meiner Mutter belächelt. Das lässt er zumindest hin und wieder mal durchklingen. Aus eigener Kraft beruflich Bedeutendes geschaffen wie mein Vater hat sie nie. Sie hat zwar ganztags als Bürokraft in der Firma gearbeitet, aber das zählt für ihn bis heute nicht. Für das bisschen Schreibarbeit hätte er von Anfang an genauso gut eine kostengünstige Sekretärin beschäftigen können. Die hat er dann im letzten Jahr tatsächlich eingestellt. Mama ist seitdem nur noch stundenweise in der Firma und schaut dort nach dem Rechten. Außerdem kümmert sie sich um die Steuer. Ansonsten verreist sie viel, meistens mit ihrer Freundin Gaby, die schon in Frührente ist. Sie sagt, sie habe Papa lange genug den Rücken freigehalten, und nun wolle sie sich auch mal um sich selbst kümmern.

Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob Mama es war, die von sich aus kürzertreten wollte, oder ob Papa sich mit dem Wunsch nach einer Sekretärin endlich durchgesetzt hat. Auf jeden Fall herrscht seitdem eine merkwürdige Stimmung zwischen den beiden. Als ich arbeitslos geworden bin, hat mein Vater mir sofort angeboten, die Sekretärin wieder zu feuern und dafür mich einzustellen. Aber ich habe dankend abgelehnt. Es reicht schon, dass meine Eltern Stress wegen der Firma haben. Da muss ich nicht auch noch mitmischen. Außerdem möchte ich nicht, dass er meine Mitarbeit in ähnlicher Weise belächelt.

Den Spruch über Oma, sie wäre nichts ohne ihn, hätte Opa sich wirklich sparen können. Der war fies. Vielleicht ist es auch nur die verletzte Eitelkeit, die da gerade in ihm aufkeimt. Er ist verlassen worden. Wie weh das tut, weiß ich ja nun aus eigener Erfahrung, vor allem, wenn es so plötzlich und völlig unerwartet kommt.

Ich betrachte Opa von der Seite. Er verzieht keine Miene, als er von dem bitteren Kaffee trinkt. Ob es das erste Mal war, dass er welchen gekocht hat? Ich habe ihn zumindest noch nie an der Kaffeemaschine gesehen. Oma hat ihn immer von vorne bis hinten bedient. Soweit ich weiß, hat sie ihm den Kaffee wie in einem guten Café direkt vor die Nase gesetzt. Sogar der Zucker war schon drin, ein gehäufter Teelöffel, natürlich umgerührt und aufgelöst, sodass Opa einfach nur noch trinken musste.

Dass Oma nicht alleine klarkommt, kann ich mir kaum vorstellen. Sie hat doch schon immer den ganzen Laden hier geschmissen. Opa ist zwar arbeiten gegangen und hat Geld verdient, aber Oma hat sich um alles gekümmert, um die Familie, den Garten und das Haus. Und später dann auch um mich. Opa hat noch nie die Waschmaschine bedient, geschweige denn das Bügeleisen. Ab und zu hat er früher mal den Staubsauger geschwungen. Aber auch nur dann, wenn Oma ihn direkt vor seine Nase gestellt hat, sodass er fast darübergestolpert ist. Meistens hat Opa mir aber diese Aufgabe überlassen und mir dafür etwas Extrataschengeld zugesteckt. Den Müll hat er morgens rausgebracht, wenn er zur Arbeit gegangen ist, da lag die Tonne ja sozusagen auf dem Weg. Ich bin mir sicher, dass Oma auch diese Aufgabe mittlerweile selbst erledigt. Opa hat mit Haushalt absolut nichts zu tun. Seine Kochkünste beschränken sich darauf, mal ein paar Reste aufzuwärmen. Und dabei muss er noch aufpassen, dass sie nicht anbrennen. Die Frage ist, was aus ihm wird, wenn sie ihn nicht mehr will. Oma wird nämlich meiner Meinung nach durchaus klarkommen. Unklar ist mir nur, wie sie das finanziell schaffen will, da hat Opa recht – und wo sie wohnen wird, wenn sie wirklich nicht zurückkommt.

Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, liegt mir auf der Zunge, aber das behalte ich lieber für mich. Stattdessen sage ich: »Ach komm, jetzt habt ihr fast ein ganzes Leben miteinander verbracht, da bekommt ihr den Rest doch auch noch hin. Bestimmt wird sich alles irgendwie aufklären.« Ich nippe an dem Kaffee und versuche es mit einem Scherz: »Und wenn Oma zurück ist, sollte sie dir zuallererst beibringen, wie man vernünftigen Kaffee kocht. Deiner schmeckt furchtbar.«

»Findest du?« Opa zieht die Stirn in Falten.

Ich nicke. »Oma nimmt für zwei Tassen einen gehäuften Messlöffel. Er liegt in der Besteckschublade, im Fach bei den Schälern und der Knoblauchpresse.«

Opa versucht, ein Lächeln hinzubekommen. Es gerät zwar etwas schief, aber so gefällt er mir schon viel besser. Ich vermute, dass er tief in sich drin ganz sicher leidet. Aber das würde er wahrscheinlich niemals zugeben. »Und wenn du Hilfe brauchst, solange Oma weg ist, ruf mich ruhig an. Dann komme ich kurz vorbei. Ich habe ja Zeit.«

»Ach, ich komm schon klar. Ich werde schon nicht verhungern. Aber danke, ich weiß dein Angebot zu schätzen.« Opa sieht mich nachdenklich an. »Du siehst zwar deiner Mutter ähnlich, aber in dir fließt eindeutig Nickelsches Blut. Vom Wesen her kommst du nach Oma. Wir Männer waren schon immer für Zahlen und Logik da, ihr Frauen fürs Gefühl.« Er zeigt auf meinen Teller. »Aber jetzt iss erst mal den Kuchen, solange er noch warm ist.«

Ich esse das zweite Stück Butterkuchen auf. Wenn ich Oma wiedersehe, muss ich sie unbedingt nach dem Rezept fragen. Was wohl wirklich in Opa vorgeht? Eigentlich kenne ich ihn kaum. Er war zwar immer da, aber einen tieferen Bezug habe ich nie zu ihm gehabt, genauso wenig wie zu meinem Vater. Dass ich zwar das Aussehen meiner Mutter, aber den Charakter meiner Oma geerbt habe, hat Opa schon oft gesagt. Und gewissermaßen hat er damit recht. Mein Haar ist dunkelblond wie das meines Vaters. Ansonsten komme ich optisch eher nach meiner Mutter. Ich habe ihre grünen Augen und die vollen Lippen geerbt. Von der schlanken groß gewachsenen Gestalt meines Vaters habe ich leider nichts abbekommen, ich komme auch da nach meiner Mutter und bin eher weiblich gebaut, mit der Tendenz zu Übergewicht. Als Kind hatte ich eine Menge Speck auf den Rippen. Das hat sich geändert, nachdem Oma mich als Teenager im Schwimmverein angemeldet hat und sich schnell herausstellte, dass ich durchaus talentiert bin. Durch hartes Training schmolzen die Pfunde. Auch heute ziehe ich noch regelmäßig meine Bahnen. Mein Gewicht muss ich trotzdem ständig kontrollieren – und ab und an die Notbremse ziehen, wenn ich die mir gesetzte Schallgrenze überschreite. Ich koche und esse einfach leidenschaftlich gerne. Und ich liebe Süßes, insbesondere Nougat in allen Variationen. Durch den Trennungsstress der letzten Monate habe ich allerdings ordentlich abgenommen. So schlank war ich schon lange nicht mehr. Und was mein Wesen angeht … Ich habe Oma schon mal gefragt, ob meine Eltern mich vielleicht adoptiert hätten, weil ich so gar nichts mit ihnen gemein hätte. Da hat Oma mich vor den Spiegel gestellt und gesagt: »Du hast wirklich Glück gehabt, hast du doch von beiden sozusagen nur das Beste bekommen. Zumindest äußerlich kann man die Ähnlichkeit nicht leugnen.«

»Möchtest du noch ein Stück?« Opa reißt mich aus meinen Gedanken. »Es ist noch genug da.«

»Nein danke, die zwei reichen mir dicke. Wenn ich noch eins esse, dann platze ich.« Ich schiebe den Teller von mir weg.

Warum hat Oma noch einen Kuchen für Opa gebacken, bevor sie ihn verlassen hat? Das spricht doch eigentlich für eine ungeplante, sehr spontane Aktion.

»Sag mal, Opa, hat Oma eigentlich viele Sachen mitgenommen?«, frage ich. »Hast du mal in ihrem Kleiderschrank nachgeschaut? Und hat sie vielleicht auch Papiere oder andere persönliche Dinge eingepackt?«

»Ach, was weiß ich! Der Schrank ist brechend voll. Da fällt das eine Teil mehr oder weniger doch gar nicht auf. Oma konnte sich noch nie gut von Dingen trennen. Sie hebt doch alles auf.«

»Dann ist es umso eigenartiger, dass sie alles hinter sich lässt, finde ich. Darf ich mir den Schrank mal ansehen?«

»Warum nicht? Du weißt ja, wo er steht.«

Opa hat recht. Es sieht wirklich nicht so aus, als hätte Oma viel mitgenommen, genau genommen sogar so, als würde gar nichts fehlen. Ihre Unterwäsche liegt fein übereinandergestapelt in einem Fach, ihre Blusen hängen ordentlich nebeneinander auf Bügeln …

»Hat sie einen Koffer genommen oder eine Reisetasche?«, rufe ich ins Wohnzimmer.

»Die Koffer sind noch da, der Trolley auch. Taschen haben wir gar nicht. Nur Unmengen an Plastiktüten, weil sie jedes Mal vergisst, ihren Korb mitzunehmen.« Opa steht in der Schlafzimmertür und beobachtet mich. »Es fehlt nix. Ich sag doch, sie ist bald wieder da. Aber auf ihre Spielchen lasse ich mich nicht ein. Sie will mich damit nur unter Druck setzen.«

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Oma mit so einer ernsten Sache taktiert. Es ist Jahre her, da haben wir zusammen einen Film im Fernsehen gesehen, in dem eine Frau für eine Weile in ein Baumhaus gezogen ist, weil sie sozusagen gestreikt hat. Sie hat nicht mehr für ihre Familie gekocht, nicht gewaschen, nicht gebügelt … Oma hat sich dabei köstlich amüsiert. So eine Aktion würde ich ihr auch zutrauen, aber einfach so die Koffer packen und gehen? Da steckt mehr dahinter, ganz sicher.

»Ich weiß nicht, Opa«, sage ich und setze mich aufs Bett. »Gestern Vormittag war ich in der Innenstadt, und da hab ich Oma gesehen, im Bus. Es war nach elf. Wo ist sie denn hingefahren?«

Opa überlegt. »Im Bus, sagst du? Zu Uschi vielleicht? Das hatte ich sowieso schon vermutet.«

»Was? Seit wann ist die denn wieder da?« Uschi ist Omas beste Freundin. Vor einem halben Jahr ist ihr Mann gestorben, und sie ist vorübergehend zu ihrer Tochter nach Braunschweig gezogen. Soviel ich weiß, hatte sie vor, für immer dort zu bleiben, um sich um ihre Enkelkinder zu kümmern. Oma war deswegen sehr traurig.

»Ach, seit ein paar Wochen. Sie hat sich wohl mit ihrem Schwiegersohn verkracht. Das war vorauszusehen, wenn du mich fragst. Ehrlich gesagt, mochte ich Uschi noch nie. Sie ist fürchterlich vorlaut, richtig unangenehm. Und sie hat ihren Egon ständig bevormundet und drangsaliert. Kein Wunder, dass er so früh das Zeitliche gesegnet hat, bestimmt wollte er endlich seine Ruhe haben. Ganz sicher hat sie Oma gegen mich aufgewiegelt, jetzt, wo sie ganz alleine dasteht. Ich kenne sie doch. Sie hat schon immer gerne Unruhe gestiftet.«

Ich mag Uschi. Dass sie schlechte Stimmung gegen Opa gemacht hat, kann ich mir nicht vorstellen. Und wenn, hätte sich Oma ganz sicher nicht davon beeinflussen lassen. Natürlich hat Uschi ein lautes Organ und drängt sich gerne in den Vordergrund. Aber sie ist lustig – und Omas beste Freundin.

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt, dass Uschi wieder da ist?« Erleichtert atme ich auf. »Dann ist Oma doch bestimmt bei ihr.« Zumindest wäre damit die Wohnungsfrage geklärt. Uschi hat ein großes Haus – und sicher ein Gästezimmer. »Am besten fahr ich gleich mal hin.«

»Wenn du meinst …« Opa zuckt mit den Schultern.

Irgendwie ist die ganze Sache merkwürdig. Der Butterkuchen, der volle Kleiderschrank, das sieht auf den ersten Blick gar nicht nach einer Trennung aus. Spielchen spielt Oma nicht, aber vielleicht will sie einfach mal ein Zeichen setzen und wartet nur darauf, dass Opa sie zurückholt? So wie ich, als ich nach dem Gespräch mit Tom für ein paar Tage bei meiner Freundin Doro geschlafen habe, um erst einmal Abstand zu bekommen und wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Die klaren Gedanken blieben aus. Stattdessen hoffte ich einfach nur, dass Tom mich zurückholen würde, er mit einem riesigen Strauß roter Rosen plötzlich vor der Tür steht, alles bereut und sich nichts sehnlicher wünscht, als mit mir den Rest seines Lebens zu verbringen. Vielleicht tickt Oma ja ähnlich?

»Willst du nicht zu Uschi fahren?«, frage ich ihn. »Das wäre doch eigentlich eine schöne Idee. Was meinst du? Oma freut sich doch bestimmt, wenn du …«

»Niemals!« Opa schneidet mir das Wort ab. »Ich soll ihr nachlaufen? Vergiss es! Das fehlt mir gerade noch.«

Eine Viertelstunde später drücke ich den Klingelknopf an Uschis Haustür, doch es macht niemand auf. Die Rollos sind heruntergelassen, ein Prospekt steckt noch im Briefkasten. Es sieht nicht so aus, als wäre Uschi schon aus Braunschweig zurück. Opa muss sich geirrt haben.

Und jetzt? Ich bin davon ausgegangen, Oma bei ihrer Freundin aufzufinden. Dass sie nicht hier ist, wundert mich. Sie hat keine Verwandten, zu denen sie noch Kontakt hat, und auch keine anderen engen Freundinnen.

Nebenan fällt eine Tür zu, und eine alte Dame kommt mit dem Mülleimer heraus. Als sie mich sieht, ruft sie neugierig zu mir herüber: »Wollen Sie zu Frau Kaufmann? Da haben Sie leider Pech. Die ist nämlich seit gestern verreist.«

3.

Ich stehe ratlos vor Uschis Haustür und bin unschlüssig, was ich machen soll. Momentan spricht alles dafür, dass die beiden gemeinsam losgezogen sind. Zumindest wäre es ein großer Zufall, wenn sie einzeln verreist sind. Der Gedanke beruhigt mich zwar etwas, aber es ist trotzdem mehr als merkwürdig, dass Oma sich bisher nicht gemeldet hat. Was, wenn ihr doch etwas zugestoßen ist? Das glaube ich zwar eigentlich nicht, aber solange ich nicht wenigstens ein Lebenszeichen von ihr erhalten habe, mache ich mir Sorgen. Das müsste sie doch wissen!

Das tiefe Motorengeräusch eines Busses, der die Straße entlangfährt, reißt mich aus meinen Gedanken – und bringt mich auf eine Idee. Etwas oberhalb des Schreibwarenladens, in dem ich gestern einkaufen war, befindet sich eine Bushaltestelle. Ich muss nur nachsehen, wohin der Bus gefahren ist, in dem Oma gestern saß.

Ich sprinte zum Smart und stehe nur wenig später vor den Linienfahrplänen. Es sind gleich drei Busse, die hier vorbeikommen und auch halten. Und einer davon fährt zum Hauptbahnhof. Das könnte passen, wenn die beiden tatsächlich miteinander verreist sind. Aber die Info hilft mir nicht wirklich weiter. In der Regel fährt man von Oberhausen mit der Regionalbahn nach Duisburg oder Essen, manchmal muss man auch bis nach Düsseldorf. Dort steigt man in den Fernzug um, um letztendlich an das gewünschte Ziel zu gelangen. Es sei denn, Oma ist nach Holland gefahren. Dieser Zug fährt von Oberhausen aus durch. Sie könnte also überallhin sein.

Enttäuscht fahre ich zurück zu meinen Eltern und parke den Smart in der Garage. Wir haben mittlerweile halb sechs. Der Mercedes meines Vaters steht nicht da, wahrscheinlich wird er erst spät am Abend wieder zurück sein. Das ist gut. Ich brauche etwas Zeit für mich, um nachdenken zu können. Dass Oma irgendwo in der Welt herumschwirrt, ohne irgendjemandem zu sagen, wo, beunruhigt mich doch sehr. Es passt einfach nicht zu ihr. Und Opas Verhalten eben war auch sehr eigenartig.

Ich schließe die Haustür auf und nehme den Stapel Post mit, den mein Vater für mich auf das Sideboard gelegt hat. Darunter sind mehrere flache Päckchen, Rezensionsexemplare, die mir von Verlagen für meinen Blog zugeschickt werden. Ich bin in vielen Verteilern und bekomme oft Neuerscheinungen zur Besprechung zugeschickt. Ich bin gespannt, was sich darunter befindet, und lege die Päckchen auf den kleinen Holztisch, der neben meinem Lieblingssessel vor der großen Glasfront zum Garten hin steht. Dann hole ich aus meinem Zimmer den Laptop und bereite mir schließlich mit der Hightechkaffeemaschine meines Vaters einen leckeren Milchkaffee zu. Opas Gebräu war wirklich fürchterlich.

Mit der Tasse in der Hand mache ich es mir im Schneidersitz auf dem Sessel gemütlich und schaue hinaus in den Garten. In den letzten Tagen hat es nur geregnet, aber heute steht zum ersten Mal wieder die Sonne am Himmel. Draußen blühen die ersten Margeriten, und der große Fliederbusch mit seinen weißen Blüten wird auch bald seinen Duft verströmen. Oma liebt gut duftende Blumen, ganz besonders Rosen, Freesien und Flieder. Ich habe ihr jedes Jahr einen riesigen Strauß im Garten gepflückt und zu ihr gebracht. In ein paar Tagen wäre es wieder so weit gewesen …

Gedankenverloren trinke ich einen Schluck Kaffee. Ich kann mir Opa gar nicht ohne Oma vorstellen. Umgekehrt funktioniert es jedoch schon. Opa hat zwar seinen Schachklub, aber Freunde hat er nicht. Er verbringt die meiste Zeit vor dem Fernsehapparat. Oma kann sich gut alleine beschäftigen. Sie interessiert sich für Kunst, malt gerne, geht auch mal mit Uschi ins Theater oder in eine Ausstellung. Außerdem ist sie oft mit dem Fahrrad draußen unterwegs. Langeweile kennt sie nicht. Sie backt sehr gerne, vertreibt sich ihre Zeit im Garten – oder aber mit einem guten Buch.

Ich greife nach dem ersten, etwas größeren Päckchen und ziehe ein dickes Backbuch heraus. Der Schokoladenkuchen auf dem Cover sieht lecker aus, aber man soll ja nicht übertreiben. Normalerweise rezensiere ich nur Romane, aber während meines letzten Gesprächs mit der Pressemitarbeiterin des Verlags habe ich erwähnt, dass ich auch ganz gerne mal über der Rührschüssel stehe, jedoch an die Backkünste meiner Oma bei Weitem nicht herankomme. Das hat sie wohl nicht vergessen, denke ich schmunzelnd und blättere ein wenig durch die mit ansprechenden Hochglanzfotos bestückten Seiten.

Der nächste Umschlag ist recht dünn, und ich traue meinen Augen kaum, als ich die kleine, geradlinige Handschrift unter die Lupe nehme. Die Anschrift hat ganz eindeutig Oma darauf geschrieben. Ich drehe das Kuvert um, doch einen Absender finde ich nicht. Stattdessen hat sie oben links eine kleine Lokomotive mit ein paar Anhängern gezeichnet und … von unterwegs … daneben geschrieben. Sie ist also wirklich mit dem Zug gefahren. Der Poststempel ist aus Oberhausen. Oma muss den Brief gestern an mich losgeschickt haben, bestimmt vom Bahnhof aus. Ich sehe sie in Gedanken vor mir, wie sie durch die Halle geht, den Brief in den gelben Postkasten schmeißt und dann nach oben auf die digitale Anzeigentafel schaut, auf der die Abfahrtszeiten der Züge angezeigt werden. Sie zieht einen schweren Lederkoffer auf Rollen hinter sich her. Ich weiß, dass sie ein solches Exemplar oben auf dem Dachboden aufbewahrt, vollgepackt mit alten Büchern, für die sie seit dem Umzug in die kleinere Wohnung keinen Platz mehr hat. In der Beziehung geht es mir wie Oma. Ich kann mich auch schlecht von Büchern trennen, muss aber von Zeit zu Zeit aussortieren, weil ich einfach nicht mehr weiß, wohin damit. Momentan lagern meine Bücher ordentlich eingepackt in Umzugskartons im Keller. Mein Traum ist, irgendwann in einem Haus mit einer eigenen Bibliothek zu wohnen, mit Regalen, die bis unter die Decke reichen. Aber davon bin ich momentan hier in meinem alten Kinderzimmer weit entfernt.

Oma ist also tatsächlich auf und davon, denke ich. Ich reiße den Umschlag auf und ziehe ein dünnes Buch hervor. Es ist farblich dezent gehalten, fast trist, ähnlich dem Taschenbuch Licht, das ich erst heute besprochen habe. Zurückhaltende Blau- und Grautöne, ein wenig Schwarz, etwas Türkis. Eine Rolle Nähgarn, ein paar Knöpfe … Alle meine Wünsche steht in weißer Schreibschriftauf dem Buchcover. Der Autor heißt Grégoire Delacourt. Ein Franzose. Von dem Buch habe ich noch nie gehört. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich darin etwas Bedeutsameserfahren werde. Weil Oma es mir geschenkt hat und weil alle Bücher, die ich von ihr bekommen habe, immer eine kleine Weisheit enthalten. Ich schlage das Buch auf und finde zwischen Deckel und erster Seite einen zusammengefalteten Brief und eine Postkarte mit einem Motiv von Claude Monet. Windmühle in Zaandam steht klein unter dem Bild. Ob Oma vielleicht doch in den Zug nach Holland gestiegen ist? Ich drehe die Karte um.

Baue Windmühlen, mein Kind! steht darauf.

Omas Friesengeschirr fällt mir plötzlich ein und die Windmühlen darauf in ihrer Lieblingsfarbe. Oma liebt Blau, aber nicht das kräftige Dunkelblau, sondern eher ein zurückhaltendes, weiches Blau mit einem Hauch Grau darin. Sie wollte in ihrem alten Haus immer Fensterrahmen und die Holztür in einem solchen Farbton streichen, aber Opa war dagegen. Und dann sind sie in die Eigentumswohnung gezogen, und das Thema hat sich endgültig erledigt. Die Fensterrahmen sind aus Plastik und sollen einheitlich bleiben.

Die Farbgebung, mit der das Cover gestaltet ist, passt zu Oma, denke ich und falte gespannt den Brief auseinander.

Meine liebe Meike,

wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. Ich will mich nun endlich an den Windmühlen versuchen. Sei nicht böse, dass ich dir nicht vorher Bescheid gesagt habe. Du bist die Einzige, die mich hätte zurückhalten können, deswegen musste ich ohne Abschied fortgehen. Ich kann dir jetzt noch nicht erzählen, wo ich hingehe und warum, aber wenn die Zeit kommt, werde ich es tun und dir alles erklären. Und wir sehen uns schon schneller wieder, als du denkst. Ich werde dich vermissen! Mach dir keine Sorgen, mein Engel. Mir geht es gut, und ich habe dich sehr lieb.

Anbei ein schönes Buch für dich. Denk an mich, wenn du es liest. Es wird dir helfen, mich zu verstehen.

Oma

Tränen laufen mir über das Gesicht. Oma meint es wirklich ernst. Sie wird nicht wieder zurückkommen. Aber wo ist sie? Und was ist vorgefallen? Sie hat sich nie beschwert, weder über ihr Leben noch über Opa.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigt habe. Der Kaffee ist lauwarm, als ich das Buch aufschlage und den ersten Satz lese. Unwillkürlich halte ich den Atem an.

Man lügt sich immer an.

Die erste Zeile aus dem Abschiedsbrief … Das gibt es doch nicht! Oder doch, es ist typisch Oma, sie will mir etwas mitteilen. Neugierig lese ich weiter, erfahre Jocelynes Geschichte, die im nordfranzösischen Arras einen kleinen Kurzwarenladen führt und nebenbei einen Blog betreibt, in dem sie Tipps rund um Nadel und Faden gibt. Sie ist verheiratet mit einem Mann, der die männliche Kurzform ihres Namens hat, Jocelyn. Sie liebt ihn trotz seiner ungehobelten Art, zumindest glaubt sie das. Sie träumt davon, er könne sie eines Tages schön finden, aber sie weiß, dass das nie passieren wird.

Man lügt sich immer an … Ich weiß um die seltene Schönheit unter meinen Kleidern. Aber Jo sieht sie nie …

Trotz allem ist Jocelyne mit ihrem bescheidenen Leben recht glücklich. Bis sie eines Tages achtzehn Millionen Euro im Lotto gewinnt …

Ich lese die wenigen Seiten in einem Rutsch durch und habe statt der Heldin Jocelyne Oma vor Augen. »Sie ist nichts ohne mich!«, hat Opa gesagt. Ist Oma deswegen gegangen? Weil sie es nicht mehr ertragen hat, nichts für ihn zu sein? Und weil sie weiß, dass das nicht stimmt? Opa ist derjenige, der sich etwas vormacht. Und ich bin mir sicher, dass er das schon sehr bald merken wird.

Ich habe mir nie Gedanken über die Ehe meiner Großeltern gemacht. Sie schienen mir glücklich zu sein, zumindest aber wähnte ich beide zufrieden. Klar war Opa manchmal etwas schroff und hatte so eine Art, Oma manchmal von oben herab zu behandeln. Aber sie nahm es immer gelassen. Ich kenne sie eigentlich nur mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Es war genau diese stille Überlegenheit, die ich immer an ihr bewunderte. Sie wusste, dass sie die Stärkere ist, hat das aber nie nach außen durchscheinen lassen, so wie Opa es immer mal wieder versucht hat, besonders wenn es ums Autofahren ging. Er hat sie zwar immer gefahren, aber manchmal hat Oma auch mich darum gebeten. Zum Beispiel, wenn sie einfach mal was Schönes ohne ihn unternehmen wollte, wie eine Kunstmesse besuchen oder andere kulturelle Veranstaltungen, auf die Opa keine Lust hatte. Prompt hatte er einen Termin im Schachklub, oder es lief genau da eine interessante Fernsehreportage.

Mir kam es immer so vor, als wären das kleine Machtspielchen, die er da mit ihr betrieb. Darüber habe ich mich oft geärgert, aber Oma regte sich nicht auf. Notfalls fuhr sie einfach mit dem Taxi, worüber er sich dann wieder geärgert hat und ihr vorwarf, mit dem Haushaltsgeld nicht wirtschaften zu können. Ich weiß, dass Oma sich für schlechte Zeiten immer mal ein paar Euro zurückgelegt hatte. Ob sie den Notgroschen jetzt mitgenommen hat? Und was ist mit ihrem Notebook? Meine Eltern haben ihr vorletztes Jahr zu Weihnachten ein richtig schickes Teil samt Vertrag für mobile Internetnutzung geschenkt. Von mir bekam Oma einen Gutschein für eine Oma-Enkeltochter-Schulung. Sie hatte einen Heidenspaß dabei, und ich auch. Seitdem sie einigermaßen mit der Technik umgehen kann, liest sie immer meine Rezensionen, sie ist mein größter Fan. Ganz sicher möchte sie wissen, wie mir die Geschichte gefallen hat. Wenn ich das Buch in meinem Blog bespreche, weiß sie, dass ihre Nachricht bei mir angekommen ist. Vielleicht wartet sie sogar darauf …

Meine lieben Blogbesucherinnen,

hier kommt die zweite Rezension an diesem Tag. Das Buch bekam ich heute von einem geliebten Menschen geschenkt, der mir sehr viel bedeutet.

»Alle meine Wünsche« von Grégoire Delacourt ist ein nur hundertachtundzwanzig Seiten langes Buch, das vom ersten Moment an verzaubert. Der französische Autor schreibt aus Sicht einer Frau, und das gelingt ihm ausgesprochen gut. Die siebenundvierzigjährige Jocelyne ist Inhaberin eines Kurzwarenladens. Nebenbei betreibt sie einen Blog. Sie ist verheiratet mit Jocelyn. Die Ähnlichkeit ihrer ungewöhnlichen Namen ist frappant, und die Wahrscheinlichkeit, dass das Paar sich begegnet ist, gleicht einem Lottogewinn …

Die beiden haben zwei erwachsene Kinder, ein drittes hat Jocelyne verloren, was zeitweise zu einer Krise führte. Aber sie scheinen nun zufrieden mit dem, was sie haben. Dass ihr Mann größere Ansprüche hat, weiß Jocelyne. Sie träumt davon, ihm irgendwann all seine Wünsche erfüllen zu können, einen Porsche, eine Kreuzfahrt oder eine exquisite Uhr. Sie selbst hingegen ist sich sicher, dass ihr eigener Wunsch niemals Gehör finden wird … dass ihr Mann sie schön findet. Als Jocelyne plötzlich in der Lotterie eine ungeheure Millionensumme gewinnt, hat sie auf einmal die Möglichkeit, ihren Mann glücklich zu machen, so wie er das gerne möchte. Aber wenn Geld ins Spiel kommt, offenbaren die Menschen ihren wahren Charakter … Mehr möchte ich jetzt nicht verraten.

Lest selbst, es lohnt sich!

Eure Meike

PS: Oma, ich verstehe dich und bin in Gedanken bei dir. Ich wünsche mir ein Lebenszeichen von dir …

Ob es eine gute Idee ist, Oma sozusagen öffentlich über meinen Blog anzusprechen? Ich schiebe die Bedenken zur Seite und lasse den Nachsatz drin. Oma hat mir das Buch schließlich nicht ohne Grund zugeschickt. Sie hat eine Botschaft für mich, und darauf habe ich reagiert. Außerdem ist ihre Antwort nicht für die Öffentlichkeit ersichtlich, falls sie mir schreiben sollte. Alle Antworten landen zuerst in meinem E-Mail-Postkorb, damit sich keine Werbung oder unerwünschten Kommentare einschleichen. Ich muss sie erst freigeben, damit sie auf dem Blog erscheinen.

Ich stelle die Rezension samt Nachricht an Oma online – und weiß jetzt schon, dass ich jede halbe Stunde meine E-Mails checken werde, um zu überprüfen, ob sie darauf reagiert hat. Deswegen schalte ich kurzerhand die Benachrichtigungsfunktion meines Smartphones ein, damit ich automatisch über eingehende Mails informiert werde. Bisher habe ich mich geweigert, mich noch abhängiger von dem Gerät zu machen, als ich es ohnehin schon bin. Seitdem WhatsApp und Co auch in mein Leben getreten sind, kann ich mir ein Dasein ohne Handy kaum noch vorstellen. Wie zur Bestätigung piept das Ding prompt. Die Nachricht kommt von Tom. Muss er sich ausgerechnet heute bei mir melden?

Es gelingt mir, sie zu öffnen, ohne dass sich dabei der Kloß in meinem Hals verdichtet. Unser Trennungsgespräch ist jetzt drei Monate her, und die Emotionen überwältigen mich immer noch oft. Tom hat die Möbel behalten und wohnt während der Kündigungsfrist noch in der Wohnung. Dafür bekomme ich das Auto, das wir uns gemeinsam angeschafft haben. Da ich momentan keins brauche und Tom noch kein neues hat, fährt er es noch. Aber demnächst, spätestens Anfang Juni, wird es in meinen Besitz übergehen. Seit etwa vier Wochen habe ich nichts mehr von ihm gehört. Und er nicht von mir. Das hatten wir so vereinbart, um die Trennung für uns beide nicht unnötig schwerer zu machen, als sie sowieso schon ist. Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen, es hat für Tom nur einfach nicht mehr gepasst.

Mich nicht zu melden fällt mir ungemein schwer. Ich überlege jeden Tag mehrmals, ob ich ihm nicht doch eine Nachricht schreibe. Manchmal tippe ich ein paar Worte ein, um sie im nächsten Moment wieder zu löschen. Insgeheim warte ich immer noch darauf, dass Tom es sich anders überlegt. Bis vor Kurzem habe ich ständig mein Handy kontrolliert, bin auf Toms Profil gegangen, habe überprüft, wann er das letzte Mal online war. Und war er es zufällig genau während einer meiner Internetstreifzüge, war ich todunglücklich, wenn er mir nicht geschrieben hat. Natürlich habe ich auch seiner Facebook-Seite regelmäßig einen Besuch abgestattet, habe seinen Beziehungsstatus gecheckt, nach neuen Freunden und vor allen Dingen Freundinnen gesucht. Ich habe also all das gemacht, was man tunlichst vermeiden sollte, wenn man über eine gescheiterte Beziehung hinwegkommen möchte.

Doch dann hat mir Doro den Kopf gewaschen, und ich habe ihr versprochen, mit dem Stalken aufzuhören. Ich habe mit ihr ausgemacht, sie sofort anzurufen, wenn ich auch nur ansatzweise das Gefühl habe, rückfällig werden zu können, damit ich gar nicht erst wieder auf den Gedanken komme, ihn weiter auszuspionieren. Jetzt bin ich seit einer Woche sozusagen clean, und schon taucht Tom wieder auf. Dass ich seine Nachrichten nicht lesen darf, habe ich nicht mit meiner Freundin vereinbart. Mein Herz klopft etwas schneller, als ich sie öffne.

Hey, du! Ich habe heute ein paar alte Fotoalben von dir gefunden. Außerdem auch ein paar Bücher, die sich hier noch versteckt hatten. Die möchtest du doch bestimmt haben, nicht wahr? Soll ich sie dir zuschicken oder lieber so lange aufheben, bis wir uns nächsten Monat wiedersehen? Wie du magst … Geht es dir gut? Tom

Na super! Wir haben vier Wochen nichts voneinander gehört, und dann kommt er mit ein paar Sachen um die Ecke, die ich längst vergessen habe. Kein Ich vermiss dich, du fehlst mir …