Mehr als das Leben - Francesca Jakobi - E-Book

Mehr als das Leben E-Book

Francesca Jakobi

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Beschreibung

»Glück haben ist nicht dasselbe wie glücklich sein.« Ein hinreißender Roman über eine ungewöhnliche Frau und über die Entscheidungen, die ein Leben bestimmen.

Das Leben ist ungerecht, denkt Gilda Meyer auf der Hochzeit ihres Sohnes Reuben. Eigentlich sollte sie glücklich sein, sich mit dem Brautpaar freuen. Doch sie fühlt sich seltsam deplatziert in diesem schicken Londoner Hotel, neben all den ausgelassenen Gästen. Schließlich hat sie selbst nur wenig zum Glück ihres Sohnes beigetragen. Und so setzt sie alles daran, die Dinge wiedergutzumachen. Doch das heißt auch: sich der eigenen Geschichte zu stellen – dem jüdischen Mädchen, das in den 1930er Jahren von Deutschland nach England geschickt wurde. Jener Gilda, die lernt, dass Glück haben nicht gleichbedeutend ist mit glücklich sein.

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Zum Buch

Das Leben ist ungerecht, denkt Gilda Meyer auf der Hochzeit ihres Sohnes Reuben. Eigentlich sollte sie glücklich sein, sich mit dem Brautpaar freuen. Doch sie fühlt sich seltsam deplatziert in diesem schicken Londoner Hotel, neben all den ausgelassenen Gästen. Schließlich hat sie selbst nur wenig zum Glück ihres Sohnes beigetragen. Und so setzt sie alles daran, die Dinge wiedergutzumachen. Doch das heißt auch: sich der eigenen Geschichte zu stellen – dem jüdischen Mädchen, das in den 1930er Jahren von Deutschland nach England geschickt wurde. Jener Gilda, die lernt, das Glück ­haben nicht gleichbedeutend ist mit glücklich sein.

Zur Autorin

FRANCESCA JAKOBI studierte Psychologie an der Sussex ­University. Sie arbeitet als Journalistin bei der Financial Times und lebt in ­London. »Mehr als das Leben« ist Jakobis Debüt. Es basiert auf der Lebensgeschichte ihrer Großmutter.

FRANCESCA JAKOBI

MEHR ALS DAS LEBEN

Roman

Aus dem Englischen von Beate Brammertz

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Bitter« bei Weidenfeld & Nicolson, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2019

Copyright © 2018 Francesca Jakobi

Copyright © der deutschen Ausgabe 2019 btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

unter Verwendung eines Fotos von © Getty Images/Tim Robberts; Getty Images/Shestock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Klü · Herstellung: sc

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-641-22283-3V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für meine Großmutter, in Liebe.

1

Sie ist lächerlich klein, meine frischgebackene Schwiegertochter, trotz der hochtoupierten blonden Haare. Die hellblauen Augen verleihen ihr etwas Unschuldiges, ja etwas Beschränktes, und ihre winzige Schicksennase würde glatt zu einem Kleinkind passen.

Den ganzen Morgen sind Fremde auf mich zugekommen und haben mir beteuert, wie zauberhaft sie sei. Ich nicke, beiße mir auf die Zunge, behalte meine Gedanken für mich.

Ich frage mich, ob mein Reuben absichtlich nach dem genauen Gegenteil von mir gesucht hat. Es ist keine Jüdin geworden – na und? –, aber warum keine dunkelhaarige Frau? Warum keine große Frau?

In Wahrheit hat es mir vor dieser Hochzeit gegraut: meinen Exmann zu sehen und allein herkommen zu müssen. Ich habe mein Outfit vor Monaten geplant, aber der enge und weiße Hosenanzug, er ist zu eng und zu weiß. Und dieser Hut, das viele Netz daran, was hat mich nur geritten? Ich habe mich so elegant gefühlt, als ich heute Morgen die Wohnung verlassen habe, aber nun bin ich zur Hochzeit meines eigenen Sohnes in Weiß und mit einem Hutschleier gekommen.

Der Tag fühlt sich an, als wollte er niemals enden. Fünf Stunden sind vergangen, und die Reden haben gerade erst begonnen. Ich lasse den Blick durch die Empfangshalle schweifen, betrachte Reubens Freunde und erkenne keinen einzigen von ihnen wieder. Die Mädchen sind Püppchen in eingelaufener Kleidung – Beine in blassen Strumpfhosen, wie schlaffe Selleriestangen. Die Jungen stehen mit ihren grellbunten Krawatten lässig daneben. Patschuliöl vermischt sich mit Zigarrenrauch.

Es ist ein brandneues Hotel, schrecklich hip: Champagner und Canapés, dreißig Schilling pro Kopf. Für das gleiche Geld hätte man in einem Restaurant ein ganzes Menü bekommen, aber das ist angeblich nicht en vogue. Ich verlagere das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Eine Sitzgelegenheit wäre hilfreich. Ich würge zwei Vol-au-vents mit Hühnchenleberpastete hinunter – trotz des Knotens in meinem Magen.

Mein Exmann Frank und seine heiß geliebte Berta stehen direkt neben mir und plaudern. Heutzutage sind wir ja alle so schrecklich gesittet. Trotzdem ist mir nicht entgangen, dass Bertas Haare einen leicht messingfarbenen Stich haben – rot ist ein schwieriger Farbton, sehr unvorteilhaft bei reiferer Haut. Frank sieht gut aus. Aber war er auch damals schon so klein, als wir geheiratet haben?

»Wie schön, euch zu sehen«, sage ich.

Wirklich, heutzutage sind wir alle schrecklich gesittet, Frank, Berta und ich. Ich glaube nicht, dass sie mein Zusammenzucken bemerkt haben, als Reubens dämlicher Freund herübergekommen ist und Berta zu ihrem »genialen Sohn« gratuliert hat. Sie ist nicht seine Mutter. Ich habe mir den Mund mit einem Russischen Ei zugestopft.

Die Rede des Trauzeugen dauert und dauert. Endlich werden wir aufgefordert, auf das glückliche Paar anzustoßen. Die perlende Säure brennt in meiner Kehle.

Berta gibt ihr Bestes, da bin ich sicher, aber in puncto Geschmack hat sie noch nie ein glückliches Händchen gehabt – man sehe sich nur das Kleid an, das sie jetzt trägt, diese Schuhe, dieser fürchterliche beigefarbene Hut.

Ich erinnere mich: Es war am Ende der Schulferien und Reuben kam zu Besuch in die Wohnung. Berta hatte ihn in dunkelbraune Shorts gesteckt und ihm einen viel zu kurzen Haarschnitt verpasst; er sah aus wie ein Flüchtling mit Lausbefall. Er hatte ein verdrecktes Pflaster am linken Knie, an der weichen Stelle genau unter der Kniescheibe. Ich fragte mich, wie er gefallen war, ob sie ihn liebkost hatte, bevor sie ihn verarztete.

Während ich vor dem Spiegel saß, betrat er mein Schlafzimmer. Ich steckte mir gerade die Ohrringe für unseren Abend im Theater an.

Er hielt das Geschenk ganz vorsichtig in beiden Händen und zögerte, bevor er es neben mich auf den Toilettentisch stellte. Er sagte keinen Ton, wartete nur ab, bis ich es nahm. Ich sah ihn an, und er blickte auf seine Füße.

Als ich es öffnete, kamen sechs hässliche Kaffeetassen in einem billigen Pappkarton zum Vorschein, noch mit dem Preisetikett von Woolworth daran. Das Porzellan hatte einen schmutzigen Gelbton.

Eine echte Beleidigung, aber das ist typisch für Berta – als könnten ein paar schäbige Tassen irgendetwas in Ordnung bringen. Eine leere Geste von einer zweiten Ehefrau, die sich schuldig fühlt. Sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Preis zu entfernen.

Weshalb ich meinem Reuben unverhohlen sagte, was ich von diesen Tassen hielt: diese Abgeschmacktheit, dieses fürchterliche Urinsteingelb.

Und jetzt ist Reuben mit seiner Rede an der Reihe, und alle applaudieren, als er das Wort ergreift. Auf mich wirkt er schrecklich nervös, aber seine Stimme ist stark und klar. Ich atme tief ein und lächle ihn an. Ich will, dass er weiß, wie stolz ich auf ihn bin. Ich winke ihm zu, versuche, seinen Blick zu erhaschen, aber er sieht kein einziges Mal in meine Richtung.

Er erzählt dem Raum, wie er Alice kennengelernt hat und wie er von der allerersten Sekunde an wusste, dass sie die Richtige ist. Beinahe wäre er an jenem Abend allein zu Hause geblieben, weil er auf Cocktailpartys normalerweise Kopfschmerzen bekommt. Tatsächlich war die Musik dann zu laut, und er wünschte, er wäre nicht hingegangen; die Gastgeberin drängte ihm einen tödlichen Martini nach dem anderen auf. Er versteckte sich in der Küche, und genau dort trafen sie sich. Sie nippte Mateus Rosé aus einem Kaffeebecher.

Er bat sie um etwas Wein, und sie kamen ins Gespräch. Als der Wein ausging, tranken sie stattdessen Zitronenlimonade.

Er sagt: »Ich habe mich in ihre Wärme und ihr strahlendes Lächeln verliebt und sie mit meiner Paisley-Krawatte verführt.«

Und alle lachen, auch wenn ich nicht verstehe, was daran so lustig sein soll. Er weiß, dass der Raum auf seiner Seite ist, und drückt grinsend die Schultern durch.

Er erzählt von ihrem allerersten Date, wie er sich stundenlang über Typographien und Schriftarten ausgelassen hat. Dass er verkrampft war, Suppe auf sein Hemd gekleckert, dann vergessen hat, wo sein Cortina geparkt war.

Er und Alice seien kilometerweit durch Hampstead gelaufen; sie habe sich nicht einmal beschwert, als der Regen in Strömen zu fallen begann. Sie seien bis auf die Haut durchnässt worden und ihnen sei bitterkalt gewesen und sie konnten das Auto nicht finden, aber das habe nicht die geringste Rolle gespielt. Sie hätten die ganze Nacht weiterlaufen können.

Und er erzählt dem Raum, dass er es kaum glauben konnte, als sie trotz all seiner Unzulänglichkeiten eingewilligt habe, sich noch einmal mit ihm zu treffen. Es sei unglaublicher als die Geschichte vom Mann im Mond, dass sie hier als seine Ehefrau neben ihm stehe.

Und der Raum verstummt, abgesehen von seiner Stimme, die uns beteuert, wie sehr er diese Frau liebt. Er sagt, sie habe ihn gelehrt, was Liebe ist, habe ihn gelehrt, was Liebe sein kann.

Und ich kann ihn nicht ansehen, denn von mir hat er es nicht gelernt.

2

Ein großer brauner Briefumschlag trifft mit der Post ein, die Adresse ordentlich auf einen unscheinbaren weißen Aufkleber getippt. Ich habe es nicht eilig, ihn zu öffnen, fest davon überzeugt, dass es die Gasrechnung oder eine Bankbroschüre ist. Ich setze mich, trinke meinen Kaffee und löffle meine Grapefruit, ganz ohne Zucker.

Sobald ich mir die zweite Tasse Kaffee eingegossen habe, nehme ich den Briefumschlag genauer in Augenschein. Er ist dicker und steifer als eine Rechnung und in roten Buchstaben steht Bitte nicht knicken darauf. Der Poststempel gibt Auskunft, dass er vergangene Woche abgeschickt worden ist: 15. Aug. 69. Ich nehme mein gebogenes Grapefruitmesser und schlitze ihn in einer schartigen Linie auf. Mir gefallen die ausgefransten Ränder.

Im Innern liegen zwei Bilder von der Hochzeit, eine Visitenkarte des Fotografen und ein Brief meines Sohns. Ich breite alles auf der Tischdecke aus. Dann nehme ich Reubens Brief und falte ihn mit zitternden Fingern auseinander.

Was ich als Brief bezeichne, sind im Grunde nur fünf Wörter in schwarzer Tinte auf dünnem weißem Papier. Keine Begrüßung, keine höflichen Floskeln, nur das Gekrakel eines kratzenden Füllfederhalters. Fünf Worte in schwarzer Tinte: Von deinem dich liebenden Sohn.

Ich kenne diese Worte gut, sie standen am Ende eines jeden Briefes, den mir Reuben aus dem Internat geschrieben hat. Die Handschrift ist inzwischen etwas erwachsener, aber der Inhalt ist geblieben. Selbst in seinen redseligsten Zeiten bestanden seine Briefe aus einem einzigen Paragrafen.

Das Wetter ist schön. Ich lerne fleißig. Gestern hatten wir Kekse zum Tee.

Von deinem dich liebenden Sohn.

Sie sind also aus den Flitterwochen zurück. Ich habe nichts von ihnen gehört. Nicht einmal ein kurzer Anruf, um mir Bescheid zu geben, dass sie gesund heimgekehrt sind.

Dennoch. Es ist schön, dass sie die Zeit gefunden haben, die Fotos zu entwickeln und zu verschicken. Diese kleinen Adress­aufkleber zu drucken und sie auf die Briefumschläge zu ­kleben.

Ich setze meine Lesebrille auf, um mir die Fotos genauer anzusehen, und die Erinnerung an den Tag steigt in Schattierungen von Schwarz und Weiß in mir auf. Da war der Foto­graf, zu alt für eine derart enge Hose. Wie ein Markthändler hat er die Eltern lautstark neben das Brautpaar gescheucht. Respektlos. Während er uns zusammenschob, berührte er uns an Stellen, die er nicht hätte berühren dürfen, und wischte sich die schmutzigen Finger am Ärmel meines weißen Anzugs ab.

Es war keine Überraschung, dass Berta sich ins Gewühl drängelte, obwohl sie dort überhaupt nichts zu suchen hatte. Es sollten nur die Eltern mit aufs Foto. Ich habe dafür gesorgt, dass ich diejenige war, die neben Reuben stand.

Sie lächelte mich an und hatte Lippenstift auf dem Zahn. »Gilda, Liebes, ich bin froh, dass du hier bist, neben deinem Sohn. Ihr zwei seht euch ja nur noch so selten.«

Man muss mich nur ansehen, wie ich meinen Champagner mit beiden Händen fest umklammere – ich hätte ihn ihr sonst ins Gesicht geschüttet. Sie zieht den Bauch ein für die Kamera. Das erkenne ich an der Art, wie sie die Schultern hält.

Alle anderen amüsieren sich, aber ich bin angespannt und verunsichert. Meine Augen sehen müde aus, mit dunklen Ringen unter dem Make-up. Es ist eine hässliche Fotografie. Sie lässt mich hässlich aussehen.

Ich kippe meinen Kaffee hinunter und nehme das zweite Bild zur Hand. Es zeigt Reuben und Alice draußen vor dem alten Rathaus von Chelsea. Das Motiv ist romantisch, die zwei auf den Treppenstufen in einem Konfettischauer. Wie schade, dass ihre Wimperntusche verschmiert ist.

Sie wirken so hoffnungsvoll, wie sie dort stehen, so voller märchenhafter Träume. Sie glauben, sie befänden sich am Anfang von etwas Neuem. Als würden sie zum allerersten Mal ­hinaus in die Welt treten.

Nun, ich war zweimal verheiratet, einmal mit Frank und einmal mit Leo – in Leo war ich tatsächlich stärker verliebt, als ich das jemals für möglich gehalten hätte. Es dauert nicht an, dieses Gefühl. Es wird auch bei ihnen nicht andauern.

Und ich mache mir Sorgen um meinen Reuben, er sieht so siegestrunken aus. Er hält ihre Hand, als wäre es eine Trophäe, von der er nicht glauben kann, sie gewonnen zu haben. Das ist der Sohn, der seine Mutter nie berührt, nicht einmal ihre Wange, wenn er mich zur Begrüßung küsst. Das ist der Sohn, der mich nie anruft, mich nie besucht, außer er weiß, dass es sein muss.

Früher habe ich angenommen, er wäre einfach reserviert, so sind manche Leute eben, das muss man akzeptieren. Aber als ich ihn und Alice zum ersten Mal zusammen gesehen habe, konnte ich meinen Augen kaum trauen. Mein Sohn war ein liebender Mann, der Wärme ausstrahlte, als hätte er einen Heizkörper verschluckt. Ich hätte nicht überraschter sein können, wenn er den Mund geöffnet und Japanisch gesprochen, wenn er sich eine Geige geschnappt und fehlerfrei Mozart gespielt hätte, wenn er die Arme ausgebreitet und im Raum herum­geflogen wäre.

Der Anblick hat mich zu Tode erschreckt, denn einst war ich diejenige, die zu viel geliebt hat. Ich kenne diesen Ausdruck von meinem eigenen Gesicht. Ich weiß, wozu er führen kann.

Welche Magie hat diese junge Frau angewandt? Ich mustere sie auf dem Foto und versuche, ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Sie ist hübsch, ja, aber nicht außergewöhnlich schön. Intelligent, ja, aber kein Vergleich zu meinem Sohn.

Es gab vor ihr Freundinnen, viele Freundinnen – diese dürre, Rachel, und Charlotte mit ihrem besonderen Lachen. Ich weiß noch, als Reuben Rachel mit nach Hause gebracht hat, da war ich überzeugt, sie würden sich verloben. Aber ich habe nie erlebt, dass er sie angesehen hätte, wie er nun Alice ansieht.

Ich habe gewusst, dass Reuben irgendwann heiraten würde, ich war darauf vorbereitet, habe sogar darauf gehofft. Wer will nicht, dass sich der Sohn mit einer netten Frau häuslich niederlässt? Ich will doch nur, dass er mich auch liebt, mich in seinem Leben braucht, wie er sie braucht. Ich war einfach nicht darauf vorbereitet, dass es so wehtun würde.

3

Ich habe erst damit klarkommen müssen, allein zu leben. Anfangs war es hart, das gebe ich unumwunden zu. Nach Leo gab es Zeiten, als ich es in den verlassenen Räumen kaum ausgehalten habe. Die Stille und die Einsamkeit haben mir zugesetzt.

Aber jetzt habe ich mich mit meiner Wohnung arrangiert. Nach fünfzehn Jahren des Alleinlebens ist sie ein Teil von mir, wie meine Haut. Jede Schublade ist gefüllt bis zum Rand, jede Oberfläche genutzt, ich habe mich ausgebreitet, um die Leere zu füllen. Würde Leo seine Meinung ändern und zurückkehren, es gäbe keinen Platz mehr für ihn.

Das soll nicht heißen, dass ich ihn völlig aus meinem Leben verbannt habe. In gewisser Hinsicht lauert er immer noch in jeder Ecke. Er steckt in den erdfarbenen Tönen, die er fürs Wohnzimmer ausgesucht hat, in dem harten skandinavischen Sofa, das er gekauft hat, als wir es uns eigentlich nicht leisten konnten. Der Türrahmen des Badezimmers hat auf halber Höhe eine Delle, wo Leo spätabends im Zorn dagegengeschlagen hat. Er steckt in dem Glas Whisky, das ich mir um vier einschenke, so wie damals, als unsere gemeinsamen Abende begannen.

Gelegentlich vermisse ich ihn noch. Wenn auch nur selten. Kaum. Nicht oft.

Das Geheimnis ist, sich beschäftigt zu halten. Eine Sache am Tag, das versuche ich zumindest. Gestern habe ich meine Nylonstrümpfe gewaschen. Heute gehe ich Briefmarken kaufen.

Ich komme um kurz vor zwei bei der Post an, wenn die Schlange draußen vor dem Gebäude angenehm lang ist. Ich stelle mich hinter eine matronenhafte Frau, die sich mit ihren Briefen Luft zufächelt. »Es ist zu heiß für die Jahreszeit«, sagt sie. Ich stimme ihr zu, obwohl es August ist. »Sieht aus, als würde bald ein Sturm aufziehen«, fügt sie hinzu. Ich blicke hoch, aber der Himmel ist strahlend blau.

Ich drehe mich weg, um die Frau nicht weiter zum Gespräch zu ermuntern, da sehe ich Alice auf der anderen Straßenseite. Ein Korb hängt in ihrer Armbeuge, ihre blonden Haare sind mit einem Haarband zurückgebunden.

Der Schock, sie so unerwartet zu erblicken, verlangsamt meine Reaktionsfähigkeit. Für eine oder zwei Sekunden starre ich sie einfach nur an. Ihr Gesicht ist ungeschminkt, und wieder bin ich überrascht, wie jung sie ist. Die Straße ist grau, doch Alice fängt das Sonnenlicht. Von meinem Platz aus wirkt sie golden.

Ich hebe die Hand, um ihr zuzuwinken, aber ihr Blick ist entschlossen auf das Schaufenster des Metzgers gerichtet. Ich öffne den Mund und will »Alice« rufen, aber bevor es mir gelingt, betritt sie bereits das Geschäft. Ich bleibe mit dem Abdruck ihres Namens auf meiner Zunge zurück. Mein Puls hämmert mir in den Ohren; ein ungutes Gefühl regt sich in meinem Magen.

Ich könnte aus der Schlange vor dem Postgebäude heraustreten und über die Straße zu Alice eilen. Durch das Schaufenster kann ich ihre gepflegte kleine Silhouette erkennen. Ich könnte ihr auf die Schulter tippen und ihr sagen, wie sehr es mich freut, dass sie wieder zu Hause sind. Aber ich bleibe einfach stehen, wo ich bin.

Später, zurück in meiner Wohnung, ist es dieser kleine goldene Moment, an den ich mich erinnere. Die Art, wie sie in der Nachmittagshitze zu leuchten schien. Die Art, wie sie das Licht fing.

Ich versuche, mir vorzustellen, wie es sich anfühlen mag, so jung und glücklich zu sein und geliebt zu werden. Und während ich an meinem Whisky nippe, frage ich mich, ob ich ­jemals so golden geleuchtet habe?

4

Mein Vater behauptete ständig, ich sei ein tollpatschiges Kind: zu groß, zu dick, Hände und Füße zu breit. Er sagte es, wann immer ich auf der Treppe stolperte, ein Buch fallen ließ oder eine Tasse umstieß. Es war eine Tatsache, etwas, woran niemand je zweifelte. Ich war eine riesige Gans in einem Haushalt voller zierlicher Finken.

In Wahrheit bin ich überhaupt nicht so groß, ein bisschen größer als der Durchschnitt vielleicht, aber das ist alles. Trotzdem haben sich die Bemerkungen meines Vaters so tief in mir verankert, dass ich mich beim Betreten eines Zimmers auch heute noch bücke. Er war ein stolzer, kleiner Mann, und meine Körpergröße muss ihn tief getroffen haben. Inzwischen ist mir der Zusammenhang bewusst, aber das macht keinen Unterschied. Töchter erinnern sich an die Worte ihrer Väter, selbst nach vierzig Jahren noch.

Meine Mutter war eine anmutige Schönheit und liebte es, wenn die Leute sie darauf ansprachen. Sie stand spät auf, verbrachte Stunden im Ankleidezimmer und schwebte dann mit einem Glas in der Hand durchs Haus. Tagsüber war sie zerstreut und unkonzentriert. Wodka und Gauloises waren ihre ständigen Begleiter. Richtig zum Leben erwachte sie erst, wenn Gäste kamen. Just in dem Moment, wenn ihre Töchter zu Bett gingen, setzte sie ihr umwerfendes Gastgeberlächeln auf.

Manchmal, wenn die Lust sie packte, kam sie spät am Abend in unser Zimmer. Ich erinnere mich an die nervöse Beklommenheit in meinem Magen, während sie schwankend im Türrahmen stand. »Schon wieder mit der Nase in einem Buch? Pass auf, Gilda. Männer mögen keine schlauen Frauen.« Sie frischte im Schlafzimmerspiegel ihren Lippenstift auf, schaltete das Licht aus und verschwand.

Sie war auf Äußerlichkeiten bedacht – niemand, an den man sich in der Not gewandt hätte. Sie lachte dieses glockenreine Lachen und betastete ihre hochgesteckte Lockenpracht. Unsere kindischen Sorgen waren »einfach zu lästig«, weshalb wir sie allein lösen mussten. Die Kindermädchen gaben sich die Klinke in die Hand; kein Einziges hielt es länger als ein Jahr bei uns aus.

In Hamburg waren meine Eltern die Lieblinge der Stadt: der Antiquitätenhändler und seine wunderschöne Frau. Sie kannten die richtigen Leute, besuchten die richtigen Veranstaltungen. Aber wenn meine Schwester und ich aßen, saßen sie niemals mit am Tisch.

Unser Haus damals glich einem Mausoleum, und wirklich, ich vermisse es nicht. Es gab Zimmer über Zimmer, aber nichts, was sich wie ein Zuhause anfühlte. Hohe Decken, holzverkleidete Wände, dunkelrote Teppiche und überall Mahagoni. Ornamente von unschätzbarem Wert, die wir nicht anfassen durften; Korridore, in denen wir nicht laufen durften.

Wir hatten Glück, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Wir waren in Sicherheit, während der Rest der Welt auseinanderbrach. Draußen verloren die Menschen alles, verhungerten nach dem Börsencrash von 1929 auf den Straßen. Drinnen aßen wir Wiener Schnitzel zum Abendessen. Alles war ruhig und still.

Glück. Ein so schweres Wort. Es erstickt meine Gedanken an jene Zeit. Ich habe das Gefühl, ich müsste flüstern, denn sonst könnte ich undankbar erscheinen. Glück haben ist nicht dasselbe wie glücklich sein.

5

Margo und ich gehen ins Kino. Das ist unsere Samstagnachmittagsbeschäftigung. Der Film selbst ist nebensächlich, wir sehen mehr schlechte als gute. Es ist schön für alte Freundinnen, gemeinsam Zeit zu verbringen, ohne sich wirklich unterhalten zu müssen.

Die Platzanweiserin führt uns zu unseren Sitzen in der hintersten Reihe. Es muss die hinterste Reihe sein, denn Margo ist weitsichtig. Wir quetschen uns an Knien voller Handtaschen und Jacken vorbei. Margo, die mit ihrem Schokoladeneis und einem Getränk herumjongliert, hinterlässt eine Reihe panischer Gesichter.

Sobald wir es uns auf unseren Plätzen hinten in der Ecke gemütlich gemacht haben, warten wir schweigend auf den Beginn der Vorstellung. Margo hat schon wieder eine Erkältung. Sie atmet durch den Mund.

Ich weiß auf Anhieb, dass der Film grottenschlecht sein wird, das erkennt man am Vorspann und den »Swinging London«-Einstellungen. Margo hat ihr Eis aufgegessen und raschelt mit der Verpackung, die sie nun sauber leckt. Die Frau vor uns dreht sich um und mokiert sich. Ich schließe die Augen und denke an meinen Sohn.

Es sind schon zwei ganze Wochen verstrichen, seit sie aus ihren Flitterwochen zurück sind. Drei Wochen sind seit ihrer Hochzeit vergangen. Wenn ich ihn anrufe, ist er nicht da oder zu beschäftigt, und er selbst ruft nie an. Vielleicht melde ich mich zu häufig, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Alice sagt jedes Mal, es tue ihr leid, ich hätte ihn gerade verpasst. Allmählich frage ich mich, ob das die Wahrheit ist. Sie ist immer ein kleines bisschen zu fröhlich, ihre Entschuldigung ein kleines bisschen zu einstudiert.

Ich habe den Eindruck, dass die beiden die Welt ausgesperrt haben. Sie brauchen nur sich. Aber ich bin seine Mutter, sollten sie mich nicht hereinlassen?

Ich sinke ein bisschen tiefer in meinen Sitz und lehne den Kopf gegen das Rückenpolster. Über der Brust breite ich meine Strickjacke aus und ziehe sie wie eine Decke bis zum Kinn.

Neuerdings frage ich mich, ob noch genügend Zeit bleibt, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Ich habe es schon einmal erfolglos versucht, aber das bedeutet ja nicht, dass ich es kein zweites Mal probieren könnte. Reuben ist verheiratet, ein Neuanfang für uns alle. Endlose leere Stunden dehnen sich vor mir aus.

Ich stelle mir die Vergangenheit als eine Art Karteisystem vor, mit Tausenden von Ereignissen in meinem Leben, auf kleine Kärtchen notiert. Ich habe nicht achtgegeben, als die Karten in das System geordnet wurden, und jetzt sind sie alle wild durcheinandergeraten. Ich muss sie durchblättern und die Karten finden, die für alles verantwortlich sind, dann kann ich sie vielleicht neu sortieren und die Fehler beheben, die ich begangen habe.

Dieser Gedanke spendet mir Trost. Ich muss nur ein bisschen aufräumen. Nichts ist unwiederbringlich zerstört, da bin ich mir sicher.

Sobald der Film vorbei ist, steuert Margo direkt auf das Café zu. Ich würde mir lieber noch ein wenig die Beine vertreten, aber sie will sich setzen und Tee trinken. Ich lasse ihr ihren Willen, weil sie dieser Tage nicht mehr viele Verabredungen hat. Als sie an der Theke ein großes Stück Kuchen bestellt, gebe ich mir Mühe, nicht allzu vorwurfsvoll zu schauen.

Wir suchen uns einen Fenstertisch mit Blick auf die Straße. Die Nachmittagssonne lässt die Staubkörnchen flirren. Ich wische ein paar Krümel von dem klebrigen, gemusterten Wachstuch. Aus der Jukebox dröhnt »You are my candy girl«.

Margo hat keine eigenen Kinder, aber sie liebt es, alles über Reuben zu hören. Ich nehme an, dann fühlt sie sich einbezogen, als wäre sie ein Teil meiner Familie. Sie fragt mich ständig, wie es ihm geht und was er gerade treibt und ob er gesund ist. Heute will sie hören, wie es auf der Hochzeit gewesen ist.

»Du musst mir alles bis ins kleinste Detail erzählen, Gilda. Ich weiß nicht einmal, wie das Kleid ausgesehen hat. Wie geht es Frank? Hat Reuben eine Rede gehalten? Was gab es zu essen?«

Ich zucke mit den Schultern. »Es war eine zauberhafte Feier. Es tut mir leid, dass ich dich nicht einladen konnte.«

»Ja, ja, das hast du doch alles schon erklärt. Die Gästezahl war begrenzt.«

Ich erzähle, dass Alice’ Kleid eher wie ein Nachthemd ausgesehen hat, und sie kichert ein wenig, als ich ihr Bertas Haare beschreibe. Ich berichte ihr, dass ich lieber an einem Tisch gesessen und ein anständiges Menu serviert bekommen hätte und dass die Canapés versalzen waren.

Aber das reicht ihr nicht, sie giert nach mehr. Sie will alles hören, mit wem ich gesprochen habe, was gesagt wurde. Und so nehme ich die Teekanne und gieße uns heißen Tee nach und erfinde die erste meiner Lügen.

Anfangs gerate ich noch etwas ins Stocken. Ich muss die Sache richtig angehen. Sie will nette Dinge über meinen Sohn hören, und ich will sie nicht enttäuschen. Ich sage: »Alice und Reuben haben sich wirklich ins Zeug gelegt, um mich überall miteinzubeziehen. Sie haben mich all ihren jungen Freunden vorgestellt.«

Ich lächle, aber Margos Gesichtsausdruck ist angespannt. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, so ganz allein.«

Ich rühre in meinem Tee. »O nein, das war völlig unnötig. Ich war nicht eine Sekunde allein. Alle haben mich schrecklich auf Trab gehalten. Es ist richtig anstrengend, die Mutter eines Bräutigams zu sein.«

Sie beißt in ihren Battenbergkuchen. »Das ist schön«, sagt sie durch den Biskuitteig. »Ich dachte, es wäre vielleicht schwierig mit Berta und Frank in einem Raum. Ich bin sicher, ich hätte es schwierig gefunden.«

Mit dem Daumennagel kratze ich einen Fleck von dem Wachstuch. Er ist blassgelb und hart, vielleicht Mayonnaise. »Im Grunde, Margo, habe ich sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie standen auf der anderen Seite des Raums. Da gab es so viele Gäste, so viel Trubel. Wir haben kaum ein Wort gewechselt.«

Ich blicke auf und bemerke, dass meine Freundin die Stirn runzelt. In ihrer Stimme liegt eine leise Kränkung. »Oh. Aber du hast doch gesagt, es wäre eine kleine Feier. Sie müssten die Gästezahl beschränken.«

In dem Café ist es ziemlich stickig, weshalb ich meine Strickjacke ausziehe. Ich drehe mich um und hänge sie über meinen Stuhl. Sie rutscht augenblicklich zu Boden. Ich hebe sie auf und drapiere sie noch einmal über die Rückenlehne. »Dummes, altes Ding«, sage ich.

6

Lena ist zwei Jahre älter als ich, aber ich habe mich nie wie ihre kleine Schwester gefühlt. Sie ist eine winzige Person geblieben, und ich habe nie herausgefunden, wie sie das angestellt hat. Wir haben dasselbe gegessen, dieselben Dinge getan, dasselbe Wasser getrunken. Ich wuchs einfach immer weiter, während sie süß und klein blieb.

Es war für andere stets Anlass zu größter Erheiterung, dass zwei Schwestern so unterschiedlich sein konnten. Lena liebte es, die Menschen darauf hinzuweisen: »Seht euch ihre Hände im Vergleich zu meinen an!« Ich spielte mit, keine Ahnung, weshalb. Streckte die Hände aus und lieferte die Pointe.

An den Abenden, an denen unsere Eltern ausgingen, begaben meine Schwester und ich uns auf Abenteuerreise. Unbeobachtet von allen schlüpften wir durch die stillen Korridore. Wir stiegen die Treppe in den zweiten Stock hinauf und liefen sogleich in Mutters Ankleidezimmer. Wir krochen hinein, kleine Eindringlinge, und schlossen leise die Tür.

Gemessen am restlichen Haus war der Raum klein und weich wie Watte. Der Teppich war so dick und tief, dass man seine Zehenspitzen nicht mehr sah. Ich fand immer, dass er eigentlich nach süßem Puder hätte riechen müssen, wie das Shalimar-Parfüm, das sich Mutter hinter die Ohren tupfte. Stattdessen wurde man von einem muffigen Geruch nach ­Füßen und kaltem Zigarettenrauch empfangen.

Wir redeten nicht, meine Schwester und ich, während wir Mutters kostbare Dinge durchwühlten. Schweigend schälten wir uns aus unserer Alltagskleidung, dann schlüpften wir in Korsette und Unterröcke. Wir halfen einander mit den Haken und Ösen, zogen Bänder fest und strichen Säume glatt. Dann warfen wir uns in Seide und Pelze und torkelten auf Pfennigabsätzen herum.

Sobald wir unsere Lippen geschminkt und uns mit Parfüm eingesprüht hatten, setzten wir uns vor Mutters Frisiertisch und starrten in ihren Spiegel. Wir waren Filmstars, wir beide, Herzensbrecher, genau wie sie. Wir sprachen von all den Partys, die wir besuchen, den Jungen, mit denen wir tanzen würden, von unseren Hochzeiten. Damals saßen wir stundenlang nebeneinander und übten, mit eingesogenen Wangen einen Schmollmund zu machen.

Ich war zwölf, als mir zum ersten Mal auffiel, dass mir Mutters Kleider an den Schultern eng wurden. Ich ignorierte die Knöpfe, die an meiner Brust spannten, das Chiffon, das mir in die Achselhöhlen schnitt. Lena lachte, als sie es sah, und sagte: »Gilda, du sprengst noch alles!« Sie befahl mir, mich an die robustere Kleidung zu halten: Winterblusen und strapazierfähige Röcke.

Es dauerte nicht lange, bis Mutters Schuhe zu drücken begannen. Meine Zehen schmerzten schrecklich, als ich sie hineinzuquetschen versuchte. Ich redete mir ein, meine Füße seien zu heiß, meine Zehen geschwollen, die Schuhe geschrumpft. Ich wollte Aschenputtel sein, dann würden die Pantoffeln passen. Als Lena bemerkte, wie ich mich mit dem Schuhlöffel abkämpfte, nahm sie mir die Mary-Jane-Schuhe und die Pantoletten mit den Marabufedern weg. Von diesem Tag an trug ich Vaters Schuhe, dessen Leder hart und glänzend war wie der Panzer eines Käfers.

7

Alice hat mich zum Kaffee eingeladen, »nur wir zwei«. Sie sagt, es sei eine schöne Gelegenheit, uns besser kennenzulernen. Es ist eine sehr süße Geste, und ich bin sicher, sie gibt ihr Bestes, trotzdem denke ich nur daran, dass Reuben nicht dort sein wird.

Ich kleide mich sorgfältig für unser Treffen, entscheide mich für das taubengraue Kostüm und die lavendelfarbene Seidenbluse mit der großen Schleife am Hals. Ich will einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen.

Als mein Blick in den Spiegel fällt, sehe ich jemanden, der das Sagen hat: die Frau, die die Lottozahlen verliest, oder die Vorsitzende vom Ortsverband der konservativen Partei. Vielleicht ein bisschen müde, aber nicht übel für eine Frau über fünfzig. Nichts, was ein bisschen Lippenstift und Puder nicht kaschieren könnten.

Sobald ich mein Make-up aufgefrischt habe, ziehe ich meine Jacke über und mustere mich ein letztes Mal im Flur. Ich ziehe meine Strumpfhose zurecht und tupfe mir die Lippen ab, ich will einfach tadellos aussehen. Im Großen und Ganzen ist alles in Ordnung. Ich bin zufrieden mit dem, was ich sehe. Ich bin gepflegt und ordentlich, niemand, mit dem man sich anlegen sollte.

Es ist das allererste Mal, dass ich in Reubens Haus bin, das, genau wie seine Ehe, ganz neu ist – Teil einer kleinen Anlage, gleich hinter der Finchley Road. Ich brauche eine Weile, bis ich es gefunden habe. Es ist eines von mehreren Reihenhäusern, geschickt versteckt hinter einer Baumreihe. Die Häuser sind klein und identisch, ziemlich unscheinbar: Wohnwagen auf einem Campingplatz.

Ich weiß, wie viel Reuben für dieses Haus bezahlt hat, und ich bin schockiert, wie wenig er für sein Geld bekommt. Zwei Stockwerke, und die Nachbarn praktisch auf dem Schoß – und dafür zahlt man 5000 Pfund? Ich werde trotzdem nichts ­sagen, es ist schön, ihn ausnahmsweise einmal in meiner Nähe zu haben. Ich bin gespannt auf ihre Einrichtung, über die ich zumindest ein paar Rückschlüsse auf ihr Leben werde ziehen können.

Vor der Haustür streiche ich meinen Rock glatt und klopfe an.

Als Alice öffnet, macht sie einen gehetzten Eindruck. »Gilda, du bist früh dran, wie schön.«

Meine Schwiegertochter hat sich ein rotes Paisley-Halstuch um den Kopf geknotet und sieht aus wie eine Wahrsagerin. Vermutlich will sie wie eine Künstlerin wirken. Aber ich bin froh, dass meine Haare gerade erst gelegt worden sind.

»Du siehst kreativ aus«, sage ich.

Sie führt mich durch einen kleinen Eingangsbereich mit einer Tapete, die mit schwarzen und weißen Punkten nur so übersät ist. Das Muster wirkt klaustrophobisch in einem derart schmalen Raum.

Sie nimmt meine Jacke entgegen und zwängt sie mit dem Kragen über einen Haken. Das Gewicht des Stoffs lässt sie wie eine verblühte Blume herabhängen.

Das Wohnzimmer riecht nach neuen Teppichen und Säge­spänen. Alice entschuldigt sich für die Umzugskartons, die immer noch in einer Ecke gestapelt sind. Ich blicke mich um; es gibt jedoch nicht viel zu sehen, obwohl die beiden Frischvermählten schon vor Wochen eingezogen sind. Ein Sofa. Es ist orange – ein Farbton, den man nur höchst selten bei Möbeln sieht. Ein Sessel in Lindgrün. Ich frage mich, ob sie die Absicht haben, ihn neu zu beziehen.

Es gibt keinerlei Nippes oder sonstigen Schnickschnack, und die Bücherregale sind völlig leer. Reuben liest eigentlich ständig. In diesem Zimmer findet sich keine Spur von meinem Sohn.

Neben der einzigen Lampe steht eine gerahmte Fotografie, meine Schwiegertochter in einem englischen Landgarten. Ihre Familie umgibt sie: ihre Mutter, ihr Vater und eine süße jüngere Schwester, alle Arm in Arm. Sie lachen.

Es ist wohl der Rahmen selbst, der mir aufstößt. Er ist selbst gemacht, mit Stoff beklebte Pappe. Es muss ein Geschenk von Alice’ Schwester sein – etwas, das sie aus der Schule nach Hause gebracht hat. Am oberen Rand wurde etwas eingestickt. All you need is love in plumpen purpurfarbenen Kreuzstichen.

Mein Reuben ist jetzt Teil dieser Familie. Am liebsten würde ich den kleinen Bilderrahmen umstoßen.

»Vielleicht sollten wir den Kaffee im Garten trinken«, sagt Alice. Ich folge ihr durch die Schiebetür auf die Veranda, die aus einem großen Fleck ordentlich getrimmtem Rasen besteht. Wir sind nicht allein – alle Häuser teilen sich diese Grünf­läche. Drei Kinder spielen auf der anderen Seite Fußball.

Meine Schwiegertochter zerrt zwei klapprige Liegestühle heraus und schiebt einen davon für mich in den Schatten. Ich nehme vorsichtig Platz, sinke aber dennoch tief in den blau gestreiften Stoff ein. Ich richte meine Kleidung und setze mich aufrecht hin, während Alice Kaffee und Kuchen bringt.

Erst als sie sich mir gegenüber in dem gelben Liegestuhl niederlässt, begreife ich, dass dies das erste Mal ist, dass wir unter vier Augen beisammensitzen. Ich beobachte sie, während sie den Kaffee einschenkt. Sie füllt meine Tasse mit unbeholfener Unachtsamkeit. Bei ihrer eigenen ist sie behutsamer, wie mir auffällt. Ihre Untertasse bleibt trocken.

Sie bietet mir ein Stück Biskuitkuchen an. »Hier, Gilda, den habe ich extra für dich gebacken.« Der Höflichkeit halber nehme ich ein Stück und lasse es unangetastet auf dem Teller liegen.

Wir sitzen ein paar Sekunden da und nippen im Gleichklang an unserem Kaffee. Dann beginnt Alice, mir von den Flitterwochen zu erzählen, und meine Gedanken schweifen ab.

Sie redet vom Wetter, den Sehenswürdigkeiten, die sie sich angesehen haben, der Natur. Mein Fokus verschiebt sich, und mit einem Mal betrachte ich ihren Mund, ihre Augen, ihre Hände. Ihre Finger beschreiben zwei Marmorsäulen, als wollte sie selbst welche bauen. Sie gestikuliert viel, die neue Frau meines Sohnes.

Sie spricht von einem Amphitheater. Ich gebe mir alle Mühe, interessiert zu wirken. Die Bluse, die sie trägt, sieht kühl und luftig aus, und mir gefällt der herbe Grünton. Leider ist sie fast durchsichtig. Man kann von Glück reden, dass meine Schwiegertochter oben herum nicht sonderlich gut bestückt ist, wobei es mich überrascht, dass Reuben eine solche Kleidung nicht stört. Ihr Rock ist wirklich viel zu kurz. Miniröcke und Liegestühle sind eine gewagte Kombination. Meiner Meinung nach überschreiten diese Röcke eindeutig die Grenzen des guten Geschmacks. Einige Mädchen haben zwar die Beine dafür, aber …

Mein Fokus schnellt zu ihr zurück, als ich Reubens Namen höre.

»Ich habe genau das Gleiche gegessen, und mir ging es tadellos.« Sie hebt die Schultern in einem Was-kann-man-schon-tun-Achselzucken. »Wir haben es nicht verstanden. Muss eine einzige verdorbene Garnele gewesen sein. Der Arme, ihm ging es schrecklich schlecht.«

Sie wirkt völlig unbekümmert, während sie mir Kaffee nachschenkt, dabei können Menschen an einer Lebensmittelvergiftung sterben. Menschen können an einer einzigen verdorbenen Garnele sterben. Ich erinnere mich, wie er ein Baby gewesen ist. Mein Reuben war nie robust.

Das Kindermädchen hatte an dem Abend frei, weshalb es das Dienstmädchen war, das das Fieber bemerkte. Es hat nach dem Arzt gerufen, obwohl ich wollte, dass es im Zimmer bleibt. Ich schloss sämtliche Fenster, damit es mein Kleiner warm hatte, wickelte ihn in eine dicke Decke und drehte die Heizung voll auf. Dann setzte ich mich hin und beobachtete, wie sein Gesicht immer röter wurde. Nach einer Weile schrie er nicht mehr.

Das Dienstmädchen sah so erschrocken aus, als es zurückkam, ich wusste sogleich, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Es schob mich aus dem Weg – zerrte die Decke von meinem Sohn, steckte ihn nackt in die Badewanne und ließ kaltes Wasser ein.

Der Arzt erklärte mir später, dass Reuben fast gestorben wäre. Noch lange Zeit danach konnte ich meinen Instinkten nicht trauen. Wann immer er krank war, wann immer er schrie, überließ ich es dem Kinder- oder dem Dienstmädchen, sich um ihn zu kümmern.

»Ihm geht es wieder gut, Gilda, kein Grund, so besorgt zu schauen!« Alice beugt sich vor und tätschelt mein Knie.

Von dem Liegestuhl bekomme ich Rückenschmerzen. Ich will nach Hause.

8

Es ist sonderbar, aber ich weiß, dass ich es mir nicht nur einbilde: Die Menschen sind oft enttäuscht, wenn ich ihnen erzähle, dass ich Deutschland rechtzeitig verlassen habe. Sie sind etwas weniger interessiert, etwas weniger aufmerksam, etwas weniger respektvoll, wenn ich rede.

Ich finde dieses Verhalten ganz natürlich, wobei ich niemandem je eingestehen würde, dass ich meine Zuhörer manchmal zurückzugewinnen versuche. Ich durchkämme Kindheitserinnerungen nach Ereignissen, die sie zufriedenstellen könnten. Kleine Fragmente des Leidens. Das ist es, was sie hören wollen.

In der Oberschule erlaubte mir Lena nicht, in ihrer Nähe zu sein. Jenseits des Schultors wurde sie zu einer völlig anderen Person. Das war lange, bevor sie sich in eine Doris-Day-Blondine verwandelte und einen falschen amerikanischen Akzent annahm, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellen. Aber sie hat schon damals versucht, jemand anderer zu sein.

Im Alter von fünfzehn hatte meine Schwester hellbraune Haare, die sie sich im Sommer mit Zitronensaft noch weiter aufhellte. Ihre Augenbrauen zupfte sie zu hohen, dünnen Linien, die über ihren blassblauen Augen schwebten. Sie sah jugendlich frisch aus, gesund und sehr germanisch, das Parade­beispiel der Hitlerjugend. Fremde hätten sie niemals für eine Jüdin gehalten. Mich hingegen auf Anhieb.

Auf dem Schulweg musste ich dreißig Meter hinter Lena gehen. Ich hatte die strikte Anweisung, bis dreihundert zu zählen, bevor ich nach ihr durch das Tor treten durfte. Ich wartete dort draußen, ein folgsamer Hund, der genau das tat, was die Herrin befahl.

Heutzutage beobachte ich Eltern und bin überrascht, wie sehr sie ihre Kinder loben, ihnen Pokale und Medaillen für jede Kleinigkeit überreichen. »Süße, wie klug von dir, du hast einen Keks gegessen.« »Sieh dich nur mal an, wie großartig! Du hast ein- und ausgeatmet!«

Bei uns war das anders. Niemand hat uns Beachtung geschenkt. Vater lobte seine Töchter nie, insbesondere mich nicht. Ich hätte eine Schönheit sein sollen oder zumindest ein Junge. Ich war keins von beidem, und wozu war ich dann zu gebrauchen?

Kein Schulterklopfen, wenn wir etwas geschafft hatten. Keine väterlichen Umarmungen, keine tröstenden Worte, wenn wir krank waren. Mutter war immerzu damit beschäftigt, sich anzukleiden oder ihre Gäste zu bewirten, und durfte nicht gestört werden.

Die Schule war der einzige Ort, an dem ich glänzte.

Schon sehr früh erkannte ich, dass ich niemals so beliebt wie meine Schwester sein würde. Ich war die Kluge von uns beiden, die immer Bestnoten bekam. Ich liebte es: Wenn ich die Hand höher als die anderen Mädchen reckte, die Aufregung, während ich darauf wartete, dass ich meine Hausaufgaben zurückbekam. Mein Verhalten half mir nicht, neue Freundschaften zu schließen, und es brachte mich kein bisschen näher an meine Schwester heran. Aber es bedeutete mir viel, die Klassenbeste zu sein. Lena hätte das niemals geschafft.

Der letzte Schultag fiel in jenem Jahr auf einen Donnerstag. Das ganze Jahr über hatte ich Bestnoten bekommen und freute mich auf die Zeugnisverleihung, fest überzeugt, dass ich eine Auszeichnung erhalten würde – vielleicht in Geografie, vielleicht in Mathematik.

Ich war ein bisschen nervös, während sie uns alle in die Aula scheuchten. Aber ich sah trotzdem zu, dass ich in der Nähe des Gangs saß, damit ich schnell zur Bühne eilen könnte, wenn sie mich aufriefen. Gilda Meyer. Allein durch Willenskraft wollte ich den Direktor dazu bringen, meinen Namen auszusprechen. Ich war sicher, dass er ihn sagen würde. Sicher, dass meine Leistungen gewürdigt werden würden. Ich blickte mich um und wusste, dass meine Sitznachbarinnen dasselbe dachten.

Biologie, nein. Geografie, nein. Eine Auszeichnung nach der anderen wurde ohne die Erwähnung meines Namens verliehen. Die Stuhlkante schnitt in mein Fleisch und hinterließ eine Rille in der Unterseite meines Oberschenkels. Geschichte, nein, Französisch, schon wieder nein. Ein blonder Schopf nach dem anderen trottete hinauf zur Bühne.

Ich sah mich nach meiner Schwester um, die mit einer Gruppe älterer Mädchen ein paar Reihen hinter mir saß. Einen kurzen Moment fing sie meinen Blick auf und machte ein finsteres Gesicht, dann wandte sie sich wieder ihren Freundinnen zu.

Als die Auszeichnung für Mathematik an der Reihe war, hielt ich den Atem an. Ich war die Beste der Klasse, hatte in allen Prüfungen als Beste abgeschnitten, das konnte doch niemand leugnen? Ich klemmte die Hände zwischen die Knie, damit niemand sah, wie sie zitterten.

Als sie den Namen des anderen Mädchens aufriefen, wäre ich am liebsten vom Stuhl gesprungen und hätte sie geschlagen. Ich wollte zur Bühne hinaufschreien. Ich wollte die Wände eintreten. Stattdessen saß ich ruhig da und starrte zu Boden. Die Mädchen neben mir sahen nicht in meine Richtung.

Anschließend, zurück im Klassenzimmer, verbarg ich meine Tränen hinter dem aufklappbaren Schulpult. An jenem Nachmittag schnellte meine Hand kein einziges Mal nach oben.

Am Ende des Tages, während ich meine Bücher zusammenpackte, versammelte sich eine Gruppe Mädchen vorn im Klassenzimmer. Ich hielt den Kopf gesenkt, aber eine von ihnen rief zu mir herüber: »Wir haben eine Auszeichnung für dich.«

Für den törichten Bruchteil einer Sekunde stieg Hoffnung in mir auf. Aber als ich in ihre Gesichter sah, wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte. Sie tuschelten kichernd. Ihre Aufregung beunruhigte mich. Und dennoch ging ich zu ihnen.

Es war Greta Braun, die als ihr Stimmrohr fungierte. Sie ­lächelte mich an, während sie mir eine kleine Papierrolle überreichte. »Das ist für dich. Gut gemacht, Gilda.«

Ich sagte nichts, nahm meine Auszeichnung einfach entgegen. Dann entrollte ich das Papier, während ihre erwartungsvollen Augen mich beobachteten.

Was ich sah, war ein selbst gemaltes Flugticket; der Name Gilda Meyer stand oben an den Rand gekritzelt. Darunter war mit klecksendem Füllfederhalter der Umriss eines Flugzeugs gemalt.

Die Buchungsklasse lautete: Jüdin. Das Ziel: weit weg.

Das ist die Geschichte, die ich erzähle, wenn ich über mein Leben in Deutschland befragt werde. Es scheint das zu sein, was die Leute hören wollen.

In England ist mir später Schlimmeres widerfahren, aber niemand interessiert sich dafür. Ich wurde niemals gezwungen, den hässlichen Judenstern zu tragen.

9

Selbst jetzt noch, nach allem, was passiert ist, sehe ich manchmal etwas, das mich zum Schmunzeln bringt, und ich frage mich, was Leo dazu sagen würde.

Ich bin auf dem Weg zu Margo, und da sitzt eine Gruppe auf dem Streifen Gras neben der Swiss Cottage Library, etwa zwölf Jungen und Mädchen. Sie haben es sich neben dem Gestrüpp gemütlich gemacht, als wäre es das hübscheste Fleckchen Erde, ohne sich auch nur im Geringsten an den vorbeifahrenden Autos zu stören.

Einer der Jungen klimpert auf einer Gitarre, und ich lausche ihm, während ich auf den 31er warte. Er hat dicke schwarze Haare, die sich bis zu seinem Kragen locken. Was allerdings meine Aufmerksamkeit erregt, ist das Mädchen, das neben ihm sitzt. Sie hält einen Strauß rosafarbener Hortensien in der Hand, die sie von einem Strauch ganz in der Nähe gepflückt hat. Sie ist so groß wie er und dürr und trägt ausgebleichte Klamotten, die jeder Beschreibung spotten. Auf ihrem Kopf thront ein riesiger Hut.

Und das, was Leo amüsieren würde, ist die Bewunderung, die der junge Mann ihr zuteilwerden lässt. Wie er sie anhimmelt. Er ist blind für alle Menschen um ihn herum, nimmt kein einziges der anderen Mädchen wahr. Die zwei könnten kaum unterschiedlicher sein – ein Möchtegern-Rasputin und ein Cocktailschirmchen. Ich will Leo fragen, wie die Kinder der beiden wohl aussehen würden, ich will hören, was er ­sagen würde. Mit wem kann ich heute über solche Dinge reden? Da ist niemand.

Ich habe sie schon zu lang angestarrt, weshalb ich mein Büchereibuch heraushole, Agatha Christies Mord im Pfarrhaus. Es hat mehrere Eselsohren, aber mir gefällt das bei Büchern. Mich interessiert, wo andere Leute eine Pause gemacht haben. Ich will gerade mit dem ersten Kapitel anfangen, als ich bemerke, dass sich mir jemand nähert. Ich blicke auf, und das Cocktailschirmchen steht unvermittelt vor mir, so nah, dass ich ihren Schweiß riechen kann.

Ich weiche einen Schritt zurück, nicht gewöhnt an eine solche Nähe. Das Gesicht unter dem Hut ist sogar noch jünger als das von Alice. Warme braune Augen, die zu der Handvoll Sommersprossen passen.

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Sie schaut suchend in mein Gesicht. Dann zieht sie eine Hortensie aus ihrem Strauß und überreicht sie mir.

Ich bin nicht sicher, was ich mit der Blume tun soll, weshalb ich dem Cocktailschirmchen danke und sie in mein Buch lege. Sie lächelt wie ein Kind, das gerade mit seinen neuen Buntstiften ein Bild gemalt hat.

»Nicht vergessen: All you need is love.«

Ich lächle höflich, und sie verneigt sich leicht. Dann dreht sie sich um und geht zurück zu ihren Freunden auf dem Fleckchen Grün.

Der Mann hinter mir murmelt: »Verdammte Schwuchteln.«

Später, auf dem Heimweg von Margo, finde ich die Blume in meiner Handtasche wieder. Sie ist zerdrückt und an einigen Stellen bräunlich verfärbt. Ich rieche daran, aber ihr Duft ist längst verflogen.

All you need is love. Es sind dieselben Worte, die ich auf dem Bilderrahmen bei meinem Treffen mit Alice gelesen habe. Wenn es doch so einfach wäre. Als läge überall Liebe ­herum und man müsste sie nur aufheben.

10

In jenem Sommer hatten wir zu viel in der Gesellschaft der anderen verbracht, Lena und ich. Wir waren gereizt und kratzbürstig, als wir uns auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle machten. Meine Schwester veränderte ständig ihr Tempo, weshalb ich nur schwer Schritt halten konnte. Sie zog mich wegen des Bruders einer Freundin auf, der fettige Haare hatte und nach Rollmops stank.

Der Weg war nicht weit, kaum mehr als eine Meile, aber die Zeit und die Entfernung dehnten sich, weil der Tag heiß und trocken war. Wir spazierten über Bürgersteige, die ausgebleicht waren vom Staub. Ich ließ die Arme schwingen und roch meinen Schweiß. Wir fuhren ins Schwimmbad, Lena und ich. Beide ungeduldig, ins kühle Nass springen zu können.

Es gibt viele Bäder in Hamburg, aber ich mochte das Kaifu-Bad am liebsten. Das Außenbecken war lang und tief und ich konnte eine ganze Bahn unter Wasser schwimmen. Ich erinnere mich an den Badeanzug, den ich damals hatte: Er war blau, mit silbernen Fäden durchzogen, und er schimmerte wie der Schwanz einer Meerjungfrau. Meine Arme und Beine wirkten graziös, weniger schlaksig, wenn ich ihn trug. Ausnahmsweise sah meine Schwester im Vergleich zu mir altbacken aus – ihr Badeanzug war grün wie ein Meeresungeheuer.

Erst in der Schlange an der Straßenbahn fiel mir ein, dass ich meinen Badeanzug vergessen hatte.

»Dummkopf!«, sagte Lena auf Deutsch. Sie befahl mir, umzukehren und ihn zu holen.

Ein einziger vergessener Badeanzug, der mein gesamtes Leben verändern sollte.

Der Weg zurück zog sich sogar noch länger als der Hinweg. Es war zu heiß, um sich zu beeilen, weshalb ich langsam ging; die Sonne brannte auf meinem Kopf. Ich schlurfte an der Schule vorbei, die über den Sommer geschlossen war. An den Bäckereien vorbei, der heiße Hauch der Öfen erdrückend.

Ich war müde und mürrisch, als ich endlich unser Haus erreichte, und nestelte eilig meinen Schlüssel ins Schloss, darauf bedacht, rasch nach drinnen zu gelangen. Unsere Eingangshalle war eine kühle, dunkle Höhle. Es war niemand da, keine Bediensteten, keine Geräusche. Ich sog die Düsternis in mich ein, bevor ich die Treppe nach oben stieg.

Mein Badeanzug lag genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, ordentlich ausgebreitet auf meiner Tagesdecke. Das Bett sah frisch und bequem aus, und ich war versucht, mich einfach hinzusetzen und eine Minute zu lesen. Nur der Gedanke an meine Schwester, die ohne mich im Schwimmbad war, stachelte mich an.

Ich ging wieder nach unten, und als ich am Arbeitszimmer meines Vaters vorbeikam, glaubte ich, etwas zu hören. Ein Geräusch, eine kleine Bewegung. Ohne einen weiteren Gedanken lehnte ich mich gegen die schwere Tür und schob sie auf.

Was ich sah, ergab für mich keinen Sinn – vor mir blitzte das Bild eines Mannes und einer Frau auf. Mein Vater stand da, mit finsterem Blick, in seinem grauen Sergeanzug, während eine Frau mit blonden Haaren vor ihm auf dem Boden kniete.

Mein Verstand suchte nach einer Erklärung. Die Frau war Schneiderin. Sie hatte ihre Nadeln fallen gelassen und sammelte sie nun auf. Sie nahm für eine Hose Maß. Ich sah, dass eine von Vaters Händen ihren Hinterkopf umfasste. Ich sah, dass er immer noch seinen Hut trug, aber sein Gürtel offen stand.

Ich sah so wenig, ein flüchtiger Blick, nicht mehr.

Aber Vater sah mich im Türrahmen stehen, und das war genug.

Ich erzählte niemandem, was im Arbeitszimmer meines Vaters vorgefallen war. Mir fehlten die Worte, doch das änderte nichts. Zehn Tage später waren meine Koffer gepackt und ich auf dem Weg in ein englisches Internat.

Vater sagte, es sei gut für mich. »Du hast Glück, eine solche Gelegenheit geboten zu bekommen. Du kannst dein Englisch verbessern, deine Manieren noch etwas verfeinern. Wer weiß, was es dir einmal bringen wird?«

Meine Schwester sagte, ich sei ein Glückspilz. Aber ich wusste ganz genau, es war eine Bestrafung.