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Das Buch beschreibt den Versuch des Unternehmers Alex Weitgruber seinen Büroalltag auf das Rennrad zu verlegen. Er fährt mit seinem Rad durch ganz Europa, nach Rom, Paris, Berlin, London, Wien, Stockholm und Lissabon, ohne sich dabei einen einzigen Tag frei zu nehmen. Sein „Büroalltag“ geht auf den Radreisen „so normal wie möglich“ weiter, nach dem Motto business as usual. Es geht um die Kombination von business, Smart Working, Sport und Abenteuer. Was ist möglich? Wo liegen die Grenzen? Welche Weichen muss Weitgruber in seinem Unternehmen stellen, um das Unmögliche möglich zu machen? Wie läuft sein Arbeitsalltag auf dem Rad ab? Jede Tour wird zur Herausforderung von Geist und Körper! Ein ständiges Wechselbad von Erfolgen, Rückschlägen, Willenskraft und Zweifel … Auf seinen Reisen sammeln sich Geschichten über spannende Begegnungen mit Tier und Mensch, über einsame und gefährliche Momente: Diebstähle, Hochwasser, Hitze, Kälte, gefährliche Straßen und absolute Stille in Schweden. Das Buch ist reich bebildert und kurzweilig geschrieben. Wie wird sich auf der Reise die Sicht auf Erfolg und Gesellschaft verändern? Ist der Erfolg das Ziel oder doch der Weg dorthin?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vorwort
Prolog
Rückblick
Bozen–Rom 2020
Mein Traum beginnt!
Bozen–Berlin 2020
Der große Umbruch
Bozen–Wien 2021
Die Generalprobe
Bozen–Paris 2021
Mein Traum geht weiter
Bozen–London 2022
Gefährlich unterwegs …
Bozen–Stockholm 2023
Der letzte Trip mit „meinem“ Rad
Bozen–Lissabon 2024
Am Ende gibt es keinen Applaus!
Epilog
Danksagung
Im Gedenken an meinen guten Freund und Geschäftspartner Mario
Menschen verändern ihre Situation genau unter zwei Bedingungen: entweder weil der Leidensdruck zu groß wird oder weil sie die Leidenschaft für ein neues Ziel gepackt hat.
DIETER LANGE
Es gibt viele Geschichten und Bücher über Menschen, die aus ihrem Alltag flüchten und sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen. Sie kündigen ihren Job, verkaufen ihr Hab und Gut, reisen um die Welt oder beginnen ein neues Leben in einem anderen Land. Menschen, die mit Motorrad, Fahrrad, Zug oder zu Fuß die Welt erkunden und spannende Geschichten über persönliche Erfahrungen, Länder, Menschen und deren Kulturen zu erzählen haben.
Nun, wie spannend und aufregend diese Geschichten auch sind: In meinem Buch geht es nicht darum, meinen stressigen Alltag für eine kurze oder auch längere Zeit hinter mir zu lassen oder nach dem Sinn des Lebens zu suchen, denn diesen – in meinem Fall sind es eigentlich zwei – habe ich für mich bereits gefunden.
Es geht darum, einen Weg zu finden, meine beiden Sinn-Inhalte erfolgreich zusammenzuführen: Ich konnte und wollte meinem Unternehmen nicht den Rücken kehren; gleichzeitig wünschte ich mir aber, mit meinem Fahrrad die Länder und Städte Europas zu bereisen. Also musste ich mir etwas einfallen lassen, um persönliche und berufliche Träume zu vereinen. Ich nahm mir vor, die nächsten fünf Jahre mein Büro nicht mehr zu betreten und mit meinem Unternehmen im Gepäck und meinem Fahrrad ca. 15.000 Kilometer die Städte Europas abzuradeln, ohne dabei einen einzigen Tag Urlaub zu nehmen.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass dies meine Geschichte ist. Es liegt mir fern, mit diesem Buch ein neues Arbeitsmodell zu propagieren. Zu viele sind der unbeantworteten Fragen hinsichtlich Arbeitsrecht und Arbeitssicherheit. Vielmehr geht es mir darum, aufzuzeigen, was alles trotz beruflicher Herausforderungen möglich ist, wenn man bereit ist, seine Komfortzone zu verlassen und sich auf völlig neue Wege zu begeben.
Was mich dazu bewogen hat, dieses Risiko ausgerechnet in meinen produktivsten und besten Arbeitsjahren als Unternehmer einzugehen, und ob ich es geschafft habe, meinen beruflichen Erfolg beizubehalten, erfahren Sie in diesem Buch.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!
Mai 2025:
„Hast du alles?“, fragt mich Isabel und wirft sich ihren Bademantel über.
„Ja, ich denke schon“, antworte ich, während ich die Socken über meine Waden hochziehe.
Auf dem Küchentisch liegt eine gelbe Mappe. Ich drücke sie Isabel in die Hand: „Sollte mir irgendetwas zustoßen, dann sind darin alle wichtigen Dokumente, die du benötigen wirst.“
Sie schaut mich erschrocken an: „Bitte rede nicht so. Du machst mir Angst!“
Ich lächle und streiche beruhigend über ihr Gesicht: „Nimm die Mappe und mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles gutgehen!“
Draußen wird es langsam hell, und trotz des strömenden Regens, der in der letzten Stunde noch stärker geworden ist, hört man das erste Zwitschern der Vögel, die ihren Tag früh beginnen.
Isabel schaut auf ihr Handy. „Du wirst heute kein gutes Wetter haben!“
„Ich weiß“, antworte ich schicksalsergeben.
Unsere Blicke werden trauriger und erste Tränen kullern über ihr Gesicht.
„Pass bloß auf dich auf, hörst du!“
Ich lächle sie an: „Natürlich! Du weißt ja: ein Tritt nach dem anderen.“
Ich schwinge mich auf mein Fahrrad, das schon abfahrbereit in der Garage auf mich wartet. Isabel stellt sich neben mich und wir wissen beide, was jetzt folgt. Es kommt der Moment des Abschieds. Der Moment, in dem die Vorfreude der Angst weicht, die aufsteigt, an der Oberfläche kratzt und einem die Luft zum Atmen nimmt. Die Angst, seine Liebsten nie mehr wiederzusehen … Man versucht, diese Angst zu verstecken und diese Szene des Abschieds hinauszuzögern … Wir haben ihn schon so oft durchlebt, diesen Augenblick des Abschieds. Vielleicht fürchten wir uns gerade deshalb davor. Eine Fahrradtour, die sich über Tausende Kilometer, viele Länder und gefährliche Straßen erstreckt, kann am Start schon furchteinflößend wirken.
Ich fahre los, hinaus auf die Straße, hinein in mein nächstes Abenteuer. Gerade noch in Sichtweite drehe ich mich ein letztes Mal um und hoffe, das alles hier wiederzusehen.
Nach den ersten Metern rolle ich an meinem Elternhaus vorbei. In der Küche brennt schon Licht. Zu gerne würde ich ihnen einen letzten Besuch abstatten und gemeinsam noch eine Tasse Kaffee trinken. Aber ich denke, dass ein Abschied am Tag reicht.
Während sich die Ziffern der Kilometeranzeige meines Radcomputers langsam nach oben schrauben, läuft mir der kalte Regen übers Gesicht und der Wind versucht mir jetzt schon die Kraft aus den Beinen zu ziehen. Bis ich die Stadt Bozen erreiche, geht es erst mal in einem rasanten Tempo bergab. Ein Segen für die Beine, bei diesen niedrigen Temperaturen jedoch eine schmerzhafte Erfahrung für den durchnässten Körper. Man kann noch so sehr alles bis ins letzte Detail planen, das Wetter ist und bleibt die große Unbekannte. Nur wenn man bereit ist, seine Komfortzone zu verlassen und die Herausforderungen anzunehmen, kommt man seinen Zielen näher. Am Beginn jeder langen Reise, die man auf zwei Rädern bestreitet, kann man sich noch gar nicht vorstellen, wie viele Herausforderungen und Strapazen auf einen zukommen werden.
Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich jetzt noch lachen beim Gedanken daran, wie unbeschwert und naiv ich meine allerersten Fahrradreisen in Angriff genommen hatte. Damals habe ich – ein Unternehmer in seinen besten Jahren – meinen Geschäftspartnern die gesamten Unternehmensanteile abgekauft und beschlossen, wenige Monate danach meinem Büro den Rücken zu kehren, um die Länder und Städte Europas mit dem Fahrrad zu bereisen.
Ich fahre durch die noch schlafende Stadt Bozen, den Radweg entlang, den ich aufgrund meiner vielen Trainingsfahrten schon fast mit verbundenen Augen befahren könnte. Heute scheint mir dieser Weg fremd, als wäre ich schon Tausende Kilometer entfernt in einem anderen Land. Auch wenn seit meiner letzten Tour, die mich von hier aus nach Lissabon geführt hat, schon Monate vergangen sind, kommt es mir in meinem Inneren so vor, als hätte es die Zeit dazwischen nie gegeben. Als hätte ich mich zu Hause gerade mal einen Tag erholt und säße nun schon wieder auf meinem Rad, mit dem ich Tag für Tag weiter in die Ferne rolle. Ich fahre langsamer. Eigentlich bräuchte ich noch keine Pause, trotzdem halte ich vor einem Gebäude, nicht weit vom Flughafen entfernt. Es ist grau und noch sind alle Fenster dunkel. Nur die beleuchtete Schilderwand rechts neben dem Eingang lässt erkennen, dass es sich um ein Bürogebäude handelt. Auf den Schildern stehen die Namen der Unternehmen, die sich hier täglich um Erfolg bemühen.
Auch der Name meines Unternehmens stand bis vor Kurzem darauf. Mit Stolz ging ich jeden Morgen daran vorbei, und die Furcht, dass unser Unternehmensschild von dieser Wand verschwinden könnte, ließ mich die Treppen schneller hochlaufen und noch besessener arbeiten. Ich denke an die unzähligen Stunden, die ich 20 Jahre lang in unserem Büro in der obersten Etage verbracht habe. Vor 25 Jahren waren wir das erste Unternehmen, das in dem neu errichteten Gebäude einzog. Nach uns kamen noch viele weitere Unternehmen dazu, viele gingen in der Zwischenzeit wieder. Wir aber hielten tapfer durch und waren die Konstante, die hier – allen wirtschaftlichen Stürmen zum Trotz – standhielt. Es gab Triumphe und Niederlagen, Freude und Trauer, aber es fehlte nie an Motivation und dem nötigen Willen, den es braucht, ein Unternehmen über 20 Jahre lang am Leben zu halten.
Mein Unternehmen stand für mich immer an erster Stelle. Es war der Ort, wo der Sinn meines Lebens stattfand. Und nun fahre ich an dem Gebäude fast vorbei wie ein Fremder, als würden wir uns nicht mehr kennen. Ich steige vom Fahrrad und drücke gegen die gläserne Eingangstür. Sie springt auf. Warum ist sie nicht verschlossen? Obwohl es mich eigentlich nichts mehr angeht, fühle ich mich dem Gebäude immer noch verbunden. Während ich in die Eingangshalle trete, durchdringt das Klappern der Platten meiner Radschuhe die Stille des Raumes. Ich setze mich auf die ersten Stufen der marmorierten Treppe, die hinaufführt zu den Büroräumen, und die ich schon unzählige Male in meinem Leben hochgelaufen bin. Ich sehe mich um. Alles erscheint noch genauso wie früher. Während draußen das Plätschern des Regens wieder stärker wird, ziehe ich ein zerknittertes Blatt Papier aus meiner Trikottasche. Die verblassten Linien, die auf dem weißen Blatt fast nicht mehr erkennbar sind, stellten einst einen großen Traum dar.
Meinen großen Traum! Der Traum, die Länder und Städte Europas mit dem Fahrrad zu bereisen, genauso wie es mein großer Traum war, mein Unternehmen zu immer größerem Erfolg zu führen. Ich wollte keinen dieser beiden Träume – die unterschiedlicher nicht sein konnten – aufgeben, und so suchte ich nach einer Möglichkeit, erfolgreicher Unternehmer und Radreisender in einem zu sein.
April 2019: Seit 20 Minuten im Auto geht es keinen Meter mehr weiter. Mein Blick ist auf die Einfahrt der Schnellstraße gerichtet, die zu meinem Büro in der Bozner Gewerbezone führt. Aus dem Radio ertönt „Gute-Laune-Musik“ – sie soll uns Pendler wohl aufheitern, damit wir nicht ausrasten und dieses tägliche Trauerspiel etwas leichter ertragen. Wie jeden Morgen läuft mein persönliches Ratespiel: Wie lange brauche ich wohl für die fünf Kilometer bis ins Büro …? Sind es heute 57 oder 59 Minuten? Oder schaffe ich es in 56 Minuten? Sinnlose Minuten, in denen ich nur dasitze. Es erinnert mich an die Zeit, in der ich mich in der Schule fast zu Tode gelangweilt habe. Ich meine mich an geradezu körperliche Schmerzen zu erinnern, die entstanden, wenn die Schulglocke das nächste Unterrichtsfach einläutete und ich wieder 50 Minuten stillsitzen musste. Vielleicht hatten meine Lehrer damit recht, dass ich ein guter Schüler mit miserabler Motivation war. Wie dem auch sei, ich habe die Oberschule (Gymnasium) trotz erfolgreichem Abschluss der zweiten Klasse mit 16 Jahren – zum Leidwesen meiner Eltern und zur Freude meiner Lehrer – abgebrochen. Ich suchte mein Glück als Handwerker, als Elektriker. Die Lehrjahre in dieser Branche waren nicht gerade die Erfüllung meiner Träume, aber die Baustelle war mir immer noch lieber, als in einen Raum gesperrt stundenlang irgendwelchen Lernstoff zu hören, der mich nicht im Geringsten interessierte.
Da ich drei Jahre später meinen Gesellenabschluss mit voller Punktezahl erreichte, wurde ich nach dem Militärdienst von einem Südtiroler Berufsbildungszentrum zu einem Lehrgang eingeladen, der mich zum Industrieelektroniker ausbildete. Ich kann mich noch gut erinnern, wie schwer es mir fiel, wieder den ganzen Tag in einem Raum zu sitzen, während draußen das Leben pulsierte. Nach dem Abschluss arbeitete ich als Elektroniker in einem Sicherheitsunternehmen. Ich war den ganzen Tag mit meinem Firmenwagen und Laptop unterwegs und nie länger als eine Stunde am selben Ort. Ich denke, dass das wohl der Grund war, warum mir dieser Job so viel Freude machte. Die Stelle war nicht sonderlich gut bezahlt und die Karriereleiter war bereits vollends erklommen, aber wen juckt das schon im zarten Alter von 19 Jahren. Ein Jahr später sollte sich diese Einstellung radikal ändern. Ich kann heute gar nicht mehr sagen, warum, aber ich wachte eines Tages auf und wusste, dass ich mehr aus meinem beruflichen Leben machen wollte. Leider konnte ich die Zeit nicht mehr zurückdrehen und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich meinem momentanen Schicksal zu fügen.
Und dann kam sie, meine große Chance: Mein Vater gründete mit mehreren Partnern ein Handelsunternehmen in der Lebensmittelbranche. Und sie suchten nach einem Büromitarbeiter. Als sie bereits die Zusage eines potenziellen Bürogehilfen hatten, wollte es das Schicksal, dass mich meine Eltern am Esstisch beiläufig fragten: „Alex, willst du es bei uns im Büro versuchen? Jetzt oder nie. Sonst fängt nächste Woche der andere an!“ Die Antwort schoss wie eine Kanonenkugel heraus: „Ja! Ich mach’s!“ Im Nachhinein glaube ich, dass meine Eltern nie damit gerechnet hätten, dass der Rebell, der ich damals in den Jugendjahren gewesen bin, zu einem Bürojob – den ich niemals haben wollte – im Unternehmen seines Vaters ja sagen würde.
Noch am selben Nachmittag kündigte ich meinen Job als Elektroniker, und eine Woche später fing ich im Büro des Handelsunternehmens meines Vaters und seiner Partner an. Ich wusste, wenn ich ohne Oberschulabschluss jemals in einem Handelsbusiness Erfolg haben wollte, dann war das jetzt meine Chance. Und ich nutzte diese Chance. Ich wollte all das, was ich ohne Matura (Abitur) und Studium verpasst hatte, in diesem Unternehmen nachholen. Ich interessierte mich für jedes noch so unwichtig erscheinende Detail der Branche, wollte in jedem Bereich des Unternehmens arbeiten und alles lernen, was es zu lernen gab. Die Sorge, dass das Unternehmen scheitern könnte und ich somit wieder zurück in mein altes Leben müsste, motivierte mich jeden Tag aufs Neue. Bald schon gehörten meine persönlichen Umsätze und Gewinnzahlen zu den höchsten des Unternehmens, und ich wurde in der Branche schon früh auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt.
Neben meinem beruflichen Erfolg war ich auch bestrebt, meinen sozialen Anteil für die Gesellschaft zu leisten. Diesen fand ich im Rettungsdienst, den ich ehrenamtlich mehrmals in der Woche in den Nachtstunden leistete. Ich mochte es, Menschen auf diese Art und Weise zu helfen, doch je älter ich wurde und je mehr Verantwortung ich im Unternehmen übernahm, desto mehr zehrten die schlaflosen Nachtstunden als „Retter in der Not“ an meinen Kräften. Um meinen unternehmerischen Erfolg nicht zu gefährden, quittierte ich nach 15 Jahren mein geliebtes soziales Engagement und konnte ab diesem Zeitpunkt noch mehr Zeit in das Unternehmen investieren. Der Begriff „Unternehmen first!“, der ab diesem Zeitpunkt mein Credo und ständiger Begleiter wurde, war geboren!
In sportlicher Hinsicht konnte ich auf eher weniger erfolgreiche Jugendjahre zurückblicken. Wie so vielen Jugendlichen machte es auch mir große Freude, einem Ball hinterherzulaufen und ihn in die Maschen zu treten. Vielleicht war ich nicht der ungeschickteste Spieler, aber da ich nie große Ambitionen hatte, im Profibereich tätig zu werden, war ich sicher einer der Faulsten. Training war für mich ein Graus, und nur im Spiel fand ich die nötige Motivation, Gegnern und Ball hinterherzulaufen. Diese Einstellung machte aus mir einen Spieler, der in den untersten Ligen von Verein zu Verein wechselte, und mein Durchbruch und Erfolg in dieser Ballsportart lag in so weiter Ferne, dass ich mich ebenso gut in Wettbewerbe für Synchronschwimmer hätte einschreiben können. Auch mein großer Freundeskreis, den ich während meiner Jugendjahre in Schule, Sportvereinen und Rettungsdienst aufgebaut hatte, verringerte sich als Unternehmer zusehends. Ich musste dies schmerzlich bei meinem Junggesellenabschied 2018 feststellen, als mein Bruder nur mit Mühe und Not eine Handvoll Freunde fand, die mit mir den Tag feiern wollten. Ein paar Jahre vorher konnte ich zu meinem dreißigsten Geburtstag noch einen ganzen Reisebus füllen. Aber ehrlich gesagt interessierte es mich nicht, wie ich auf meine Mitmenschen wirkte, sondern nur, dass die Zahlen unseres Unternehmens stimmten. Gespräche, die sich nicht um Unternehmensprozesse und -wachstum drehten, langweilten mich, und so verbarrikadierte ich mich immer mehr in meinem Büro hinter Schreibtisch und Erfolgszahlen. Einzig meine damalige Freundin und jetzige Frau Isabel stellte sich tapfer meinen nicht enden wollenden Monologen über die Vorgänge im Unternehmen. Sie war mein Fels in der Brandung und ist es noch heute. Wir haben uns 2011 im Rahmen einer Veranstaltung kennengelernt, und schon bald darauf waren wir ein unzertrennliches Paar. Den Kinderwunsch habe ich dem Unternehmen zuliebe immer auf später verschoben, bis das Später dann zu spät war. Wie schon erwähnt: „Unternehmen first!“
November 2019: Unser Unternehmen ist für mich immer mehr zum Sinn des Lebens und zu meinem Zuhause geworden. Der Betrieb hat die letzte große Finanzkrise überstanden, die Welt scheint wieder in Ordnung zu sein und einfach ihren gewohnten Lauf zu nehmen. Mittlerweile bin ich 40 Jahre alt, und durch meinen unermüdlichen Einsatz wurde ich Teilhaber und Geschäftsführer des Unternehmens.
Ich würde mich als klassischen Unternehmer bezeichnen, der sich rühmt, zwölf Stunden am Tag im Büro zu sitzen und alles dem Beruf unterzuordnen. Wie viele andere auch bin ich der Überzeugung, dass Umsatzwachstum und das daraus resultierende Ansehen in der Gesellschaft die heiligen Grale sind. Ich lebe in dem Glauben: Man muss nur hart genug arbeiten, dann kann man sich später alle privaten Träume erfüllen. Deshalb gehe ich eifrig und ohne Kompromisse meiner Arbeit nach, und für meinen längst überfälligen Burnout habe ich schlicht und einfach keine Zeit. Im Verhältnis zum steigenden Umsatz unseres Unternehmens stieg die letzten Jahre die Mitarbeiterzahl und proportional dazu wurde auch unser Büro immer größer und schicker.
Der Aufbau meines Unternehmens (Stand November 2019)
Gesellschafter
3
Operativer Geschäftsführer
1
1
Kundenbetreuung
2
Einkauf
2
Buchhaltung
2
Disposition
2
Qualitätsmanagement
1
Mitarbeiter
9
Bürofl äche
300 Quadratmeter
Firmensitz
Südtirol
Umsatz
12 Millionen Euro
Meine Träume finden mittlerweile nur noch im Geschäft sführerbüro hinter geschlossenen Türen in Form der erwarteten Verkaufszahlen statt. Wir Geschäftsführer brüsten uns damit, wer wie lange schon keinen Urlaub mehr gemacht hat. Vielen Führungskräften kommt es gar nicht in den Sinn, entsetzt darüber zu sein, dass manchmal Jahre vergehen ohne eine freie Woche. In der Lebensmittelbranche ist von September bis April Hochsaison, weshalb ich die gesamten Wintermonate ausnahmslos im Büro verbringe. Inoffiziell herrscht während dieser Monate Urlaubssperre. Nur wenn einen die Grippewelle schwer erwischt, gibt es eine Ausnahme. Aber es wird dann auch gerne gesehen, dass man nach ein paar Tagen – wenn auch noch so angeschlagen – wieder im Büro erscheint. In diesem wunderschönen neuen Büro, das wir erst vor einem Jahr bezogen haben. Ich wollte den Mitarbeitern einen Ort des Wohlfühlens schaffen, sodass man gerne ins Büro kommt und noch lieber so lange wie möglich bleibt. Dafür haben wir bei Umbau und Einrichtung keine Kosten gescheut. Ein großer, heller Eingangsbereich, ein stilvoll eingerichteter Aufenthaltsraum, eine Küche, ein Besprechungsraum mit Blick auf die herrliche Bergwelt Südtirols, große Fenster und höhenverstellbare Schreibtische. Auf jedem ergonomisch eingerichteten Arbeitsplatz befinden sich drei der modernsten Bildschirme. Das Licht wurde von Beleuchtungsexperten so konzipiert, dass die Augen auch noch nach acht Stunden Bildschirmarbeit keine Probleme bereiten und man auch noch die neunte oder zehnte Arbeitsstunde ohne Augenschmerzen bewältigen kann. Ich spiele schon lange mit dem Gedanken, weitere angrenzende Räumlichkeiten anzumieten, um für die Belegschaft Freizeit-, Ruhe- und Fitnessräume zu schaffen. Meine Idee ist es, den Mitarbeitern in der Firmenzentrale alles zu bieten, um sich rundum wohlzufühlen und auch gerne zu arbeiten. So, als sei es das eigene Wohnzimmer, in dem man arbeitet und auch seine Freizeit verbringen kann. Schließlich verbringt ein Büromitarbeiter in seinem Berufsleben durchschnittlich 80.000 Stunden im Büro.
Ohne Frage, der allergrößte Teil dieser Stunden ist wichtig für die Wirtschaft und das Unternehmen selbst. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir die effektive Arbeitszeit komprimieren können, und die eine oder andere Stunde, die wir sonst wie festgeklebt auf unserem Bürostuhl am Schreibtisch verbringen, um die Zeit totzuschlagen und nicht zielführende Tätigkeiten zu verrichten, könnte für die Gesundheit, die persönliche Weiterbildung oder einfach nur zum Entspannen genutzt werden.
„Durchschnittlich verbringt ein Büromitarbeiter in seinem Berufsleben 80.000 Stunden oder 3.333 Tage im Büro.“
Heute ist ein wichtiger Tag! Wir feiern das Jubiläum des 20-jährigen Bestehens unseres Unternehmens. Wenn wir den Statistiken Glauben schenken, dann beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines Unternehmens um die 16 Jahre. Nur noch jedes vierte hält sich länger am Markt als 20 Jahre. Wir haben es also geschafft, diese Statistik vorerst zu entkräften. Aber den Preis, den man dafür zahlt, sieht man nicht am festlich geschmückten Büro oder an den sündhaft teuren Einladungskarten, die in Hochglanz auf die Wichtigkeit des Events aufmerksam machen sollen. Überall wo ich hinschaue, nur fröhliche und lachende Gesichter. Während ich meine Rede vor den geladenen Gästen halte, mich bei allen bedanke und ein Loblied auf unsere Mitarbeiter, Partner, Lieferanten und Kunden singe, halte ich kurz inne. 20 Jahre sind es nun geworden. 20 Jahre, in denen persönliche Ziele und Träume immer mit Umsatz- und Gewinnzahlen verknüpft waren. Nach einem erfolgreichen Jahr sollte das nächste noch erfolgreicher werden. Die Angst vor dem Scheitern sitzt tief in mir und kommt bei jedem schlechten Verkaufstag an die Oberfläche. Und es gibt lange, schlaflose Nächte, in denen man meint, man könne um vier Uhr morgens, im Bett liegend, einzig mit seinen Gedanken alle Probleme lösen, die sich im Laufe eines Unternehmenslebens anhäufen. Ich schaue auf und blicke wieder in die Menge der geladenen Gäste. Mein ernster Blick löst sich auf, und mit einem Lächeln beende ich die Rede mit den Worten: „In fünf Jahren, so hoffe ich, sehen wir uns hier alle gesund und fröhlich wieder, und feiern das 25-jährige Bestehen des Unternehmens!“ Unter zustimmendem Applaus verlasse ich die Rednerbühne und überlasse anderen das Wort. Ich fühle, dass ich meine letzten Worte nicht mit voller Überzeugung gesprochen habe. So, als würde ich tief in meinem Inneren wissen, dass in fünf Jahren alles anders sein wird.
29. März 2020, 2:14 Uhr: Das Telefon klingelt. Ich schaue auf die Uhr. Es ist zwei Uhr nachts. Wer kann das sein? Ich zögere, stehe dann doch auf und gehe aus dem Zimmer. Soll ich abheben? Da hat sich doch sicher einer verwählt. Auf jeden Fall kann es nichts Gutes bedeuten, wenn um diese Zeit das Telefon klingelt. Ich fasse mir ein Herz und hebe ab. Die Tochter meines Geschäftspartners und guten Freundes Mario ist dran. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Sie versucht mir so gefasst, wie es ihr möglich ist, zu sagen, dass ihr Vater plötzlich und unerwartet verstorben ist. Herzinfarkt! Er wurde gerade mal 60 Jahre alt. 20 Jahre waren wir, zusammen mit meinem Vater, unzertrennliche Geschäftspartner und gingen gemeinsam durch alle Krisen und Erfolge.
Vor drei Monaten hatte ich ihm seine gesamten Geschäftsanteile unseres Unternehmens abgekauft. Er meinte, genug ist genug, und er wolle jetzt mit seinem Wohnmobil und seiner Frau die nächsten Jahre durch Europa reisen. Ich sinke auf die Knie. Zu groß ist der Schmerz, der mich durchfährt. Das kann doch nicht sein! Im Juni war die große Abschiedsfeier geplant, Ende Mai wäre sein letzter Arbeitstag gewesen und dann: endlich raus aus dem Büro, rein in die wohlverdienten Jahre mit so vielen Erlebnissen wie möglich. Das hätte er sich so verdient und ich hätte es ihm so sehr gegönnt. Wir haben all die Jahre zahlreiche Schlachten gewonnen, oft gelacht und oft gelitten. Wie es in einem Unternehmerleben eben so ist.
Während der nächsten Wochen hängt eine große Trauerwolke über dem Unternehmen. Unzählige Kunden, Lieferanten und Dienstleister rufen an und wollen ihr Beileid bekunden. Immer wieder höre ich, wie unfair es doch ist, jetzt, wo er endlich in den verdienten Ruhestand hätte gehen können, nicht mehr unter uns zu sein.
Am Abend sitze ich zu später Stunde im Aufenthaltsraum unseres Büros und denke nach. Auf meinem Designersessel, wo mir in der Stille des Abends schon so manche gute Idee weitergeholfen hat. Vor mir das Sterbebild von Mario. Ich bin jetzt 41 Jahre alt und fast mein ganzes Leben spielen sich meine Träume und Ziele in ein und demselben Raum ab: und zwar hier in diesem Gebäude. Ich liebe mein Unternehmen, genauso wie es mein Vater liebt und Mario es geliebt hat. Hätte er aber gewusst, dass sein Ruhestand nicht einen einzigen Tag dauern würde, wäre er wohl schon vor Jahren mit seinem Wohnmobil losgefahren, hinaus in die Länder und Städte Europas.
Plötzlich springe ich auf, laufe zu meinem Schreibtisch und wühle mich durch die Schubladen. Erst die obere, dann die untere. Ich nehme einen Stapel Papier in die Hand und werfe ihn auf den Tisch. Der Staub, der sich über die Jahre auf den alten Blättern niedergelassen hat, lässt erahnen, wie lange ich diese Papiere nicht angerührt habe … Wo ist es denn? Wo bist du?, frage ich mich ungeduldig, während ich ein Blatt ums andere auf den Boden werfe.
Da bist du ja, denke ich, lehne mich in meinen Ledersessel zurück und halte ein Blatt Papier hoch, das ich vor einem Jahr in dieser Schublade verschwinden ließ und erinnere mich, wie es dazu kam:
2017: Isabel und ich sind seit sechs Jahren ein Paar. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie am Anfang unserer Beziehung an unseren Wochenenden in meinem Büro Bücher las, während ich stundenlang auf meine Tastatur hämmerte und mich durch die schier endlos scheinenden Verkaufspositionen wühlte. Sie ist von Beruf studierte Sozialpädagogin und hatte mit Handelswirtschaft eigentlich wenig am Hut. Durch meine ständigen Telefonate während unserer Freizeit und meine nie enden wollenden Monologe über die Machenschaften im Unternehmen, die täglich auf sie einprasselten, wusste sie wohl besser über das Unternehmen und meine Unternehmensstrategien Bescheid als manch ein anderer.
2017 besuchten wir das erste Mal in unserem Leben New York. In meiner Kindheit hörte ich oft das Lied von Udo Jürgens mit dem Titel „Ich war noch niemals in New York“, das mich prägte und in dem Glauben ließ, es sei das Wichtigste im Leben, einmal in New York gewesen zu sein. Nun, als wir vor der Freiheitsstatue standen, hatte ich doch tatsächlich das Gefühl, dass ein großer Lebenswunsch in Erfüllung ging. Nach ein paar Tagen euphorischen Sightseeings wollten wir einige Stunden dem hektischen Treiben Manhattans entfliehen und fuhren mit gemieteten Fahrrädern durch die sogenannte „Lunge der Stadt“, den Central Park. Es war ein lauer Sommerabend und wir genossen die Ruhe, die dieser Park inmitten des totalen Chaos ausstrahlte. Nur die Wolkenkratzer, die hoch über die zahlreichen Baumwipfel emporragten, erinnerten daran, dass man sich inmitten einer Weltstadt befand. Wir fuhren den West Drive entlang, vorbei an unzähligen Wiesen, Sportplätzen und Statuen in diesem weltberühmten Park. Auch wenn wir schon über eine Woche rastlos durch die Straßen Manhattans und deren schier endlose Menschenmengen streiften, waren wir immer noch auf der Suche nach einem lohnenden Fotomotiv. Isabel stieg plötzlich von ihrem Fahrrad und fotografierte ein Eichhörnchen, das sie am Wegesrand erblickte, und das sich ohne Scheu als Fotomodell zur Verfügung stellte. Ich drehte währenddessen noch eine Runde, und als ich ein paar Minuten später an Isabel vorbeifuhr, hielt sie die Kamera in meine Richtung und drückte ab.
„Wie hätte ich damals ahnen können, dass dieses Foto ein paar Jahre später mein komplettes Leben auf den Kopf stellen wird?“
Im Sommer 2018 heirateten wir und verbrachten unsere Flitterwochen in Kalifornien. Auf dem Weg zur Golden Gate Bridge in San Francisco liefen wir an einem Leihrad-Geschäft vorbei und mir kam das Fahrradfoto vom Central Park in Manhattan wieder in den Sinn. Ein Foto auf dem Fahrrad als Andenken an die Reise nach New York hatte ich ja schon. Jetzt müsste ich eigentlich noch eines von der Golden Gate Bridge in San Francisco machen.
Ich muss an dieser Stelle erklären, dass ich ein begeisterter Radfahrer bin. Immer wenn ich mich von meinem Unternehmen losreißen kann, schwinge ich mich auf mein Rennrad und versuche in der kurzen Zeit so viele Kilometer wie möglich abzustrampeln. Da mir mein Unternehmen aber wenig Zeit lässt, bin ich höchstens ein mäßig trainierter Rennradfahrer. Und weit entfernt von den Leistungen, die ein ambitionierter Hobbyfahrer mit viel Training erbringen könnte.
Wir fuhren also mit den ausgeliehenen Rädern, die man an jeder Ecke der Bay ausleihen kann, über die Golden Gate Bridge. Mit dem Fahrrad über dieses berühmte Wahrzeichen zu fahren, war für mich ein ganz besonderer und unvergesslicher Moment. Rechts erblickt man die Gefängnisinsel Alcatraz und links die nicht enden wollende Weite des Pazifiks. Als wir am Ende der 2.700 Meter langen Brücke angekommen waren, machten wir kehrt und begaben uns auf den Rückweg. Noch bevor wir wieder die Mitte der Brücke erreicht hatten, wurde der berüchtigte Nebel immer dichter. Noch vor wenigen Minuten war es ein schöner, sonniger Tag, und jetzt fuhren wir ohne Sicht und in einem harten Kampf gegen den plötzlich einsetzenden Wind über eine der berühmtesten Brücken der Welt. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich mich an diesen magischen Moment erinnere. Dies mit dem Fahrrad zu erleben, erzeugte in mir ein Gefühl, das ich noch nie vorher verspürt hatte. Als hätte mir das Fahrrad diesen Moment viel nähergebracht, als ich ihn jemals zu Fuß oder mit dem Auto hätte erleben können. Noch bevor wir wieder den Anfang der Brücke erreichten, verschwand der Nebel so schnell wie er gekommen war. Das für mich vorher so wichtige Foto, das Isabel mit mir und dem Fahrrad an der Bay mit der Brücke im Hintergrund knipste, verlor für mich plötzlich an Bedeutung. Viel zu sehr war ich noch in Gedanken bei jenem einen besonderen Moment mit dem Fahrrad auf der Brücke. Es folgten weitere Städtereisen und weitere Fotos mit einem geliehenen Fahrrad. Aber keiner dieser Momente konnte in mir je wieder dieses Gefühl hervorrufen, das ich damals auf der Golden Gate Bridge verspürte. Mir wurde schnell klar, dass es nicht um das Foto an sich ging, sondern um das Erlebnis mit dem Fahrrad, das zu diesem Foto geführt hat.
2017 im New Yorker Central Park – das Foto, das mein Leben verändert hat
Wir lieben Städtereisen, und auch wenn es mir das Gefühl damals auf der Brücke in San Francisco nicht zurückbringen konnte, fand ich trotzdem Gefallen daran, mich und ein Fahrrad vor den Wahrzeichen der besuchten Städte abzulichten. Instagram war damals für mich noch kein großes Thema, und so fand sich die Fotosammlung nur auf einem USB-Stick als Erinnerung.
2019: Eine Städtereise nach Paris stand an. Wir waren das erste Mal in der Stadt der Liebe und sie verzauberte uns gleich von Beginn an. Den ganzen Tag waren wir verplant mit Museen, Parks und Abendshows. Erst am Tag unserer Abreise – wir befanden uns bereits im Taxi Richtung Flughafen – fiel uns ein, dass wir doch tatsächlich mein Fahrradfoto unter dem Eiffelturm vergessen hatten. Isabel bestand darauf, dass wir das Foto noch machen sollten. Also fuhren wir kurzerhand zurück zum Eiffelturm und liefen durch den Park zum Trocadero und dem Jardin de Eiffel, fanden aber kein einziges freies Fahrrad in den Mietstationen, um das Foto zu machen. „Das gibt es doch nicht … Das nächste Mal, wenn wir nach Paris fahren, nehme ich mein eigenes Fahrrad mit“, sagte ich keuchend und etwas verärgert, als wir wieder in ein Taxi stiegen und zum Flughafen fuhren.
Auf der Rückreise im Flugzeug ging mir ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Ich dachte an meine Worte, dass ich das nächste Mal mein eigenes Fahrrad mit nach Paris nehmen würde. Wie lächerlich erschienen mir plötzlich die Bilder vor den Wahrzeichen der Städte, wo ich nur ein paar Meter daneben ein Fahrrad ausgeliehen hatte, um für ein Foto zu posieren. Sollte ich mich noch mal mit einem Fahrrad vor ein Wahrzeichen stellen, dann nur, wenn ich verdammt noch mal mit diesem auch aus eigener Kraft dorthin gefahren war! Am nächsten Morgen im Büro fing ich an, gedankenverloren auf einer digitalen, stilisierten Landkarte herumzukritzeln. Erst malte ich einen kleinen schwarzen Kreis auf die Landkarte: um meine Heimatstadt Bozen. Danach zog ich einen schwarzen Kreis um die Stadt Paris. Ich verband die beiden Kreise mit einer roten Linie und starrte auf die Karte. Wie von Geisterhand gesteuert zeichnete ich immer weitere Kreise und noch mehr rote Linien in die Karte.
„Das nächste Mal wenn wir nach Paris fahren, nehme ich mein eigenes Fahrrad mit!“
Plötzlich öffnete sich die Tür und meine Buchhalterin Sandra platzte in mein Büro: „Na, wie war Paris?“
Ich richtete mich auf und antwortete: „Gut, sehr gut. Danke der Nachfrage!“
„Ich habe einige Dokumente für dich zum Unterzeichnen, Alex.“ Während sie mir ein Dokument nach dem anderen zur Unterschrift reichte, gingen wir noch meine Termine für diese Woche durch. Noch bevor ich das letzte Dokument unterschrieben hatte, baten mich weitere Mitarbeiter um ein Gespräch, und das Telefon klingelte unaufhörlich. Der Arbeitsalltag hatte mich wieder fest im Griff und ich verschwendete keinen Gedanken mehr an die Karte. Es wurde Abend und ich saß noch immer in meinem Büro. Das Versprechen an Isabel, dass ich heute etwas früher nach Hause kommen würde, konnte ich wie so oft leider nicht halten.
Als ich dabei war, meinen PC herunterzufahren, fiel mir auf, dass ich die Datei mit der Landkarte und meinen eingezeichneten Linien immer noch geöffnet hatte. Ich wunderte mich, denn ich dachte, diese im Laufe des Tages schon längst verworfen zu haben. Nochmals schaute ich eine ganze Weile darauf … Ich stellte mir vor, was für ein Gefühl es wäre, wenn ich auch nur eine solche Linie mit dem Fahrrad bewältigen könnte. Vielleicht würde ich das Gefühl, das ich auf der Golden Gate Bridge verspürt hatte, an einem dieser Zielpunkte erneut erleben können. Wahrscheinlicher war allerdings, dass ich schon sehr viel früher ganz andere Gefühle erleben würde, wie zum Beispiel extreme Schmerzen im Hintern und Übelkeit. Mir fehlte das Training und ganz bestimmt die Zeit für solche Träume. Im letzten Moment beschloss ich, die Landkarte auszudrucken und sie für irgendwann später aufzuheben. Ich hielt das Blatt in meinen Händen und lehnte mich in meinen Ledersessel. Bevor ich aber auf unvernünftige Gedanken kommen würde, öffnete ich die unterste Schublade und legte das Blatt zu den anderen Papieren. Wer weiß, vielleicht brauchte ich es später ja einmal …
Endlich wieder gefunden! Ich lege die Landkarte, die ich vor einem Jahr in der Schublade verschwinden ließ, auf meinen Bürotisch und lehne mich zurück. Plötzlich schlage ich die Hände über meinem Kopf zusammen. Das ist es, was ich machen werde! Ich werde mit meinem Fahrrad diese Länder und Städte Europas bereisen! Ich springe aus meinem Sessel und laufe euphorisch durch den Raum. Nicht irgendwann und auch nicht nächstes Jahr, sondern jetzt. Ich muss es jetzt tun. „Später ist jetzt!“
Die Landkarte - mein Traum
In dieser Nacht kann ich sehr schlecht schlafen. Isabel hat mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie hat leider recht, wie so oft. Vor Kurzem habe ich – mit einem nicht zu unterschätzenden finanziellen Risiko – die gesamten Anteile des Unternehmens gekauft. Da sich diese Investition auf eine höhere sechsstellige Summe beläuft, muss ich mich die nächsten Jahre voll auf das Unternehmen konzentrieren und der Konkurrenz die Stirn bieten. Da passt ein solcher Egotrip, bei dem ich für Wochen oder gar Monate dem Unternehmen fernbleibe, überhaupt nicht ins Konzept. Träume sind wohl zum Träumen da, und um sie auf irgendwann einmal zu verschieben.
Am nächsten Abend sitze ich wieder länger im Büro. Nur die Hintergrundbeleuchtung ist noch an. Ich bin hin- und hergerissen. Am liebsten würde ich die Landkarte in den Reißwolf stecken. Sie wird mich noch in meinen privaten und unternehmerischen Ruin führen! Wahrscheinlich würde ich sowieso nie an einem meiner Ziele ankommen ohne die sportlichen
Voraussetzungen dafür. Und was ist, wenn ich nicht losfahre und mein Unternehmen irgendwann trotzdem scheitert? Was dann? Dann hätte ich beides verloren: mein Unternehmen und meinen Traum. Ich muss es doch zumindest versuchen, oder nicht? Aber wie soll ich das anstellen? Ich habe doch keine Zeit! Und was werden die Leute sagen, meine Mitarbeiter, meine Familie, mein Umfeld? Sie werden mich für verrückt erklären. Sie werden glauben, dass ich nicht mehr ganz bei Sinnen bin, dass mir alles zu viel geworden ist oder dass ich einfach nicht mehr arbeiten will …
Aber nichts von alledem trifft zu. Ich liebe meine Arbeit, und mein Unternehmen ist nach wie vor der Mittelpunkt meines Lebens, aber mir ist durch Marios viel zu frühen Tod bewusst geworden, dass die Wahrscheinlichkeit, eigene Träume irgendwann später einmal zu verwirklichen, sich durch jedes weitere verstrichene Jahr verringert, bis sie bei null liegt.
Die nächsten Tage versinke ich wie immer in Arbeit, und wie es als Unternehmer üblich ist, stehe ich ständig vor einer Reihe von Problemen, trage sie den ganzen Tag mit mir herum und nehme sie am Abend mit nach Hause. Es ist also alles so wie immer, dennoch bemerke ich, dass sich etwas in meinem Inneren verändert hat. Denn es tauchen Fragen auf: Ich frage mich beispielsweise, ob ich mir in all den Jahren meines „Workaholic-Lebens“ eingeredet habe, dass ich dafür wohl eines Tages Anerkennung ernten werde.
„Alex, was ist los mit dir?“, fragt Isabel, als ich spät am Abend fluchend mein Handy in die Ecke feuere.
„Ach nichts! Ich habe nur wieder Ärger im Geschäft. Das Übliche …“, antworte ich mürrisch.
„Aber ich sehe doch, dass irgendetwas nicht stimmt“, meint Isabel mit besorgtem Blick.
„Weißt du, die Zeit vergeht so schnell und ich habe einfach Sorge, dass ich mein ganzes Leben nur den Umsatzzahlen hinterherlaufe und dies später einmal bereuen werde“, seufze ich.
„Aber du liebst ja, was du tust, und hast auch eine Menge Erfolg damit“, sagt sie mit ruhiger Stimme und streicht mir sanft übers Gesicht. „Warum solltest du es also später einmal bereuen?“
„Weil ich es für Mario bereue, dass er nicht noch vor seinem Tod losgefahren ist!“, platzt es aus mir heraus.
„Wie gern würde ich die Zeit fünf Jahre zurückdrehen können und ihm sagen: Fahr los! Nimm dieses Wohnmobil und fahr verdammt noch mal los! Aber stattdessen hat er sich Tag für Tag und Jahr für Jahr im Büro abgekämpft, bis es zu spät war, seinen Traum zu leben“, ergänze ich mit Tränen in den Augen.
Sie nimmt mich in die Arme und wir sprechen den ganzen Abend kein Wort mehr darüber. Am nächsten Tag komme ich spät nach Hause. Isabel hat Nachtdienst in ihrem Schülerheim, und so werde ich den Abend allein verbringen. Während ich meine Jacke über einen Stuhl werfe, sehe ich auf dem Küchentisch ein Paket mit einem gefalteten Blatt Papier daneben. Was mag das wohl sein? Ich habe doch online nichts bestellt – oder doch? Ich nehme das Papier, entfalte es und lese: „Damit du in den schlimmsten Stunden an mich denkst, wenn du meinst, es geht nicht mehr. Und pass bloß auf dich auf!“ Irritiert öffne ich das Paket, und was sich darin befindet, macht mir Freude und Angst zugleich: Radschuhe! Die schönsten weißen Schuhe, die ich je gesehen habe! Ich nehme sie aus dem Paket und kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Nun verstehe ich. Isabel will mir damit sagen: Fahr los! Nimm dein Fahrrad und fahr los, in die Länder und Städte Europas, lebe deinen Traum!
Jetzt gibt es für mich kein Halten mehr: Ich will es versuchen! Ich habe noch keine Ahnung, wie ich es anstellen soll und was mich erwarten wird, aber ich will in ein paar Jahren sagen können: Ich habe es versucht! Ich habe es verdammt noch mal versucht!
„Was werden die Leute sagen, meine Mitarbeiter, meine Familie, mein Umfeld? Sie werden mich für verrückt erklären.“
Nun, wie es bei Träumen so ist: sie fühlen sich großartig an! Bis man versucht, sie in die Tat umzusetzen. Als Unternehmer mit einem Drahtesel unterwegs sein, ohne dabei das Unternehmen in den Sand zu setzen, ist so ein großartiger Traum … den man besser einfach nur abends bei einem guten Glas Wein weiter vor sich hin träumt – aber doch niemals verwirklicht, oder etwa doch?
Um etwas Struktur in das Vorhaben zu bringen, begrenze ich meine Radreisen auf die nächsten fünf Jahre. Und beschließe, 2025 wieder zur Normalität zurückzukehren und mehr zu arbeiten als je zuvor, um sehr wahrscheinliche Umsatzeinbußen wieder aufzuholen. Was so einfach klingt, mit dem Fahrrad mal eben schnell von Bozen nach Paris oder London zu rollen, ist in Wirklichkeit eine riesige Herausforderung. Ich bin es gewohnt, meinen Fokus komplett auf das Unternehmen zu richten, und nun muss ich für zwei Projekte Kraft und Zeit finden. Mir ist das Risiko dieser Entscheidung bewusst: Ich riskiere, dass ich das komplette Unternehmen umstellen muss, wenn ich diesen Schritt wage. Es könnte sogar meinen beruflichen und finanziellen Ruin bedeuten.
Der Plan ist, meinen Mitarbeitern während der Zeit meiner Abwesenheiten – für Trainingsvorbereitungen und die Radreisen – die volle Verantwortung für das Tagesgeschäft zu übertragen. Ich selbst werde nur noch nachmittags und abends meine Arbeitsstunden im Büro absolvieren. So viel zu meinem Plan. Ich vertraue darauf, dass sich die Verkaufszahlen nicht sonderlich verschlechtern werden und will schon morgen mit dem Training für eine längere Fahrstrecke (um die 100 Kilometer) starten. Dafür wähle ich den Radweg von Bozen nach Brixen und retour, da diese Strecke in etwa dem Tagespensum auf meinen Radreisen entsprechen wird.
Am nächsten Tag frühmorgens soll also mein erstes Training stattfinden. Noch bevor ich meinen Helm aufsetzen kann, klingelt schon mein Handy. „Wir haben ein Problem,“ teilt mir Christian mit, der nun die Verantwortung für den Einkauf übernommen hat. „Ein Produzent hält sich nicht an die Abmachung und will die Ware, die für einen unserer deutschen Supermarkt-Kunden bestimmt ist, nicht mehr zum vereinbarten Preis verladen. Ich habe schon alles versucht. Kannst du mal mit ihm reden?“