Mein Date mit den Sternen - Rotes Leuchten - Bettina Belitz - E-Book

Mein Date mit den Sternen - Rotes Leuchten E-Book

Bettina Belitz

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Beschreibung

Intergalaktischer Liebeskummer für Joss

Kaum zurück aus England und »in Sicherheit« vor Sally, in die Maks sich rettungslos verliebt hat, steht Joss vor neuen Herausforderungen bei der Erfüllung ihres kosmischen Auftrags: Die Engländerin taucht prompt als Austauschschülerin bei ihrer großen Schwester auf, die rätselhaften Männer in Schwarz kommen Maks gefährlich nah und trotz all der Aufregung muss Joss dringend weitere Auserwählte finden ...

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Rotes Leuchten

Band 2

Mit Illustrationen

von Laura Rosendorfer

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1. Auflage 2018

© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

Umschlag- und Innenillustration: Laura Rosendorfer

MI • Herstellung: eR

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-21615-3V001

www.cbj-verlag.de

PROLOG

»Und, werter Abgesandter, was habt Ihr von unserer Mission zu berichten? Könnt Ihr erste Erfolge vermelden?«

»Nun ja, Euer Ehren … Drei haben sich gefunden und erkannt.«

»Wie – erst drei?«

»Die Menschen sind langsam, Hoheit. Sie haben schnelle Maschinen, aber ihre Intuition ist träge. Zu viel Informationen, zu wenig Bauchgefühl.«

»Und weiter? Kommen sie voran? Was macht ihr Auftrag?«

»Es gibt da einige – Schwierigkeiten. Einmischungen, um genauer zu sein.«

»Einmischungen … Wollt Ihr mir etwa bedeuten, dass …«

»Ja, Euer Ehren. Sie sind ihnen auf die Spur gekommen und fangen an, sie zu behindern. Sie lassen nicht locker, es ist zum Verzweifeln! Doch das ist nicht die einzige Schwierigkeit.«

»Sprecht es schon aus, Abgesandter. Was ist das andere Hindernis?«

»Die Liebe. Ihnen ist die Liebe dazwischengekommen. Vielleicht war die Abfolge etwas ungünstig geplant. Wir hätten Venus einen der hinteren Plätze geben sollen …«

»Ach was, das würde sie niemals hinnehmen! Ohne Venus geht es außerdem nicht, sie musste eine der Ersten sein.«

»Ja, Hoheit, das sehe ich auch so. Nur – die Menschen reagieren sehr stark auf Venus. Vor allem die männlichen Menschen. Junge männliche Menschen. Marsmenschen …«

»Ich verstehe. Und was ist mit der Botenseele? Ist wenigstens sie unbeirrt geblieben?«

Schwarze Stille im unendlichen All.

»Abgesandter …? Sprecht es schon aus!«

»Nun, Euer Ehren, es hat sie auch getroffen.«

»Alle drei?«

»Alle drei.«

Erneutes Schweigen, das sich Lichtjahre ausdehnt und von zahlreichen Sternschnuppen geschmückt wird.

»Gibt es dennoch Hoffnung für die Mission, Abgesandter? Trotz Einmischungen und menschlicher, irdischer Liebe, die, wie wir wissen, die schwierigste und gefährlichste Form allen Gefühls ist?«

»Wir werden sehen, Hoheit. Nun hängt alles von unserer Botenseele ab. Von ihrem Mut, ihrem Einfallsreichtum, ihrer Unerschütterlichkeit. Wünschen wir ihr allen kosmischen Beistand, den sie bekommen kann.«

»So sei es. Mögen die Sterne mit ihr sein.«

»Ja. Mögen die Sterne mit ihr sein.«

DOCH NICHT DU!

»Joss.« Ein abgrundtiefer Seufzer erschütterte Frau Heinrichs Brust und sie schob die letzte verbliebene Dokumentenmappe auf ihrem Schreibtisch zur Seite, sodass nichts mehr zwischen uns lag – und doch kam sie mir meilenweit entfernt vor. »Wieso schützt du Maksymilian immer noch? Wir sind unter uns, du kannst mir die Wahrheit sagen!«

»Das habe ich doch.« Zumindest, was diesen Part der Geschichte betraf – alles andere konnte ich sowieso niemandem weismachen. Keiner würde mir glauben, was auf der Belohnungsfahrt der Mittelstufe geschehen war, erst recht nicht Frau Heinrich. »Ich habe Maks zu diesem Feld geführt, und nicht er mich.«

»Ich fürchte, du verstehst mich nicht.« Frau Heinrichs Lächeln, das ohnehin schon starke Ermüdungserscheinungen gezeigt hatte, wich einem eindringlich-strengen Blick. »Wenn du bei dieser Version der Geschichte bleibst, hat das bestimmte – Maßnahmen zur Folge. Daran kommen wir nicht vorbei!«

»Dann ist das eben so«, erwiderte ich mit leiser Bockigkeit. Ich hatte keine Ahnung, was mich an »Maßnahmen« erwartete – doch ich sprach die Wahrheit und ich würde auch in Zukunft dabei bleiben. Ich hatte auf unserer Belohnungsfahrt nachts das Bed & Breakfast in Avebury verlassen, um Maks zu jenem Feld zu führen, in dem vor unseren Augen ein Kornkreis entstanden war, bevor wir Sally, die Sternenabgesandte der Venus, gefunden und die Männer in Schwarz uns umzingelt hatten; alles Dinge, die im Verborgenen bleiben mussten, weil niemand außer mir davon wusste. Maks und ich, wir waren kosmische Auserwählte. Ich hatte das anfangs für einen schlechten Scherz gehalten, ach, für eine Halluzination, die mir wegen eines Erd-nuss-Allergieschocks widerfahren war. Doch dann attackierten mich Zeichen und Hinweise von allen Seiten, als schrie das Schicksal mich an, dem zu glauben, was ich gesehen und gehört hatte – sich drehende Lichter aus dem All und dazu eine mächtige Stimme, die mir mitgeteilt hatte, dass ich die Auserwählte Nummer 1 sei und die anderen Auserwählten finden müsse, denn wir hätten gemeinsam eine Mission zu erfüllen. Wie diese Mission aussah, hatte ich in dieser Nacht vor lauter Aufregung leider vergessen, doch in den Wochen danach suchten mich dafür etliche andere Geistesblitze heim. Irgendwann gab es für mich keine Zweifel mehr. Ich, die schon als Baby in die Sterne geguckt hatte, kam von den Plejaden und Maks vom Mars, der ihm eine feurige Blitz-Pubertät beschert und aus dem unscheinbaren Außenseiter einen Jungen mit wilden rotbraunen Locken und Flammenaugen gezaubert hatte, nach dem sich nun sämtliche Mädchen unserer Jahrgangsstufe umdrehten.

Für Maks und mich war die Sache irgendwann klar gewesen. Wir hatten uns schließlich nie richtig wie Erdlinge gefühlt und waren es herkunftstechnisch auch nicht. Punkt. Dummerweise gab es da eine bedrohliche Macht, mysteriöse Männer in Schwarz, die immer dann auftauchten, wenn wir ein Schrittchen vorankamen. Weder wussten wir, wer genau sie waren, noch warum sie gegen uns arbeiteten. Das machte die Angelegenheit reichlich kompliziert und gefährlich dazu. Aber konnte ich unserer Schul-Chefin von all diesen Dingen auch nur ein Sterbenswörtchen erzählen? Nein.

Für normale Menschen wie Frau Heinrich gab es weder Planetenabgesandte noch Männer in Schwarz noch Kornkreise, die wie von Geisterhand und in Sekundenschnelle von flirrenden Lichtkugeln ins Feld gezeichnet wurden. Selbst Maks würde nicht mehr davon berichten können, obwohl er leibhaftig dabei gewesen war. Denn die Männer in Schwarz hatten in sein Gedächtnis eingegriffen und den Rest der Erinnerungen hatte sein plötzlicher Liebeswahn gelöscht. Schon kurz danach hatte er sich nicht mehr an den Kornkreis erinnern können – und erst recht nicht daran, wie er entstanden war. Im schlimmsten Falle wusste er nicht einmal mehr, dass sein Heimatplanet der Mars war und ich von den Plejaden kam, geschweige denn, dass wir eine gemeinsame Mission zu erfüllen hatten.

Wer diese Zusammenhänge nicht kannte – und kein Erwachsener würde sie uns jemals glauben –, musste wie Frau Heinrich denken, wir seien nachts in einem plötzlichen Anfall pubertärer Rebellion aus dem Bed & Breakfast abgehauen und hätten mit englischen Jugendlichen auf einem Gerstenfeld abgehangen, bis der Bauer uns bemerkt und mit Schüssen aus seiner Schrotflinte zu vertreiben versucht hatte, woraufhin uns die Polizei aufgelesen und zum Revier gebracht hatte. Ich wand mich beinahe vor Unbehagen, als ich an die fassungslosen Gesichter von Mama und Papa dachte, die mit allem gerechnet hätten – Allergieanfällen, Ohnmachten, Nahrungsmittelschocks –, aber nicht damit, dass ihre doch so zuverlässige Tochter mit dem begehrtesten und frühreifsten Jungen der Mittelstufe nachts heimlich abhaute und sie sich in den Getreidefeldern Südenglands herumtrieben. Auch sie glaubten, ich sei Maks gefolgt und nicht umgekehrt, ohne dass dies ihr Entsetzen hätte mindern können. Wie Frau Heinrich konnten sie nicht begreifen, was überhaupt in mich gefahren war.

In ihren Augen war ich von jetzt auf nachher eine schwer erziehbare, unberechenbare Jugendliche geworden – ausgerechnet ihre brave, unauffällige Joss, die jahrelang von ihren Klassenkameraden als Streberin verhöhnt und wegen ihrer eigenartigen Hobbys permanent gehänselt worden war. Was in England geschehen war, passte nicht zu mir – und hatte zu den schönsten und schmerzhaftesten Momenten geführt, die ich je erlebt hatte. Nie hatte ich mich Maks näher gefühlt als in jenem magischen Augenblick, bevor der Kornkreis im Feld erschienen war – und nie ferner, als kurze Zeit später Sally vor ihm gestanden und ihn angeschaut hatte, als sei er ihr Seelengefährte. Noch jetzt musste ich gegen die Tränen ankämpfen, wenn ich daran dachte. Sie hatten unfassbar schön miteinander ausgesehen. Und ich hatte mich unendlich alleine gefühlt.

»Gott, Joss … nun weinst du ja beinahe!« Noch einmal überredete sich Frau Heinrich zu einem mütterlichen Lächeln und ich sah, dass es ihr ernst war. Mein Wohl lag ihr am Herzen. »Du musst das nicht alles ganz alleine auf deine Schultern nehmen. Möchtest du noch einmal unter vier Augen mit Herrn Maziere sprechen? Hm? Wäre das eine Idee?«

Das war ihr letztes Ass im Ärmel. Wir hatten bereits verschiedene langatmige Gesprächskreise in vielfältigen Kombinationen hinter uns gebracht. Meine Eltern und ich. Meine Eltern, Frau Heinrich und ich. Frau Heinrich, Herr Ries – mein Klassenlehrer – und ich. Frau Heinrich, Herr Maziere und ich. Alle hatten das gleiche Ergebnis erbracht. Ich behauptete, dass ich Maks auf das Feld geführt hatte, ohne dass ich klar begründen konnte, warum – und das wollten sie nicht hinnehmen. Herr Maziere, unser Hausmeister, Reisebegleiter und seit Kurzem auch Mediator, war ebenso ratlos wie Frau Heinrich gewesen, doch wir hatten einen guten Draht zueinander – und mir war jeder Grund recht, endlich Frau Heinrichs Büro und ihren Eulenblicken zu entkommen.

»Von mir aus«, murmelte ich lustlos. Auch ihm würde ich nicht die Wahrheit sagen können; so leid es mir tat, ihm einen derartigen Schrecken eingejagt zu haben, nachdem er doch alles in Bewegung gesetzt hatte, um Maks und mir eine schöne England-Reise zu ermöglichen.

Frau Heinrich griff stirnrunzelnd nach dem Telefon, drückte eine Durchwahlnummer und lehnte sich zurück, bis die Scharniere ihres Chefsessels zu knarzen begannen. »Marcel? Ich schicke sie runter. Ja, jetzt gleich.« Schon legte sie wieder auf und schloss kurz die Augen. Zwar saß ihre Frisur perfekt und das Makeup war ebenso makellos wie ihre Bluse, doch sie sah immer noch müde aus. Maks und ich hatten die Mittelstufen-Belohnungsreise gründlich durcheinandergewirbelt und unsere Betreuer an ihre Grenzen gebracht. Wenigstens hatten die anderen Schüler die Tour noch fortsetzen können, während ich zum ersten Mal in meinem Leben Hausarrest bekommen und drei entsetzlich stille Tage auf dem Bett verbracht hatte, wo ich nonstop Maks und Sally vor mir sah, wie sie sich gegenüberstanden und in die Augen schauten. Sie waren so verliebt ineinander gewesen – und ich so dumm. Wieso nur hatte ich nie einen Gedanken daran verschwendet, dass Mars eines Tages Venus begegnen würde, wenn wir nach den anderen Auserwählten suchten? Venus galt immerhin als der Schwesternplanet der Erde! Und warum musste Venus alias Sally die erste von ihnen sein, just an dem Abend, an dem Maks und ich uns so gut verstanden hatten wie nie zuvor? Die ganze Rückreise lang hatte er über kaum etwas anderes geredet als über Sally, und das, ohne zu ahnen, wer sie wahrhaftig war! Niemals durfte ich ihm davon erzählen, sonst würde er Gott und die Welt in Bewegung setzen, um sie zu suchen. Andererseits konnte es sein, dass er nicht mehr das Geringste über seine eigene Herkunft wusste. Alles gelöscht von den Männern in Schwarz, während ich mich an jede Kleinigkeit erinnern konnte.

Und noch immer hatte ich keine Zweifel. Sally musste von der Venus kommen und erlebte wie wir ihre erste Inkarnation als Mensch. Wäre Maks ihr nicht gegenübergetreten, hätte ich es womöglich gar nicht sehen können. Doch die beiden waren wie füreinander geschaffen, sie hatten regelrecht geleuchtet. Eine solche Anziehungskraft gab es nur bei einer Liebe, die seit Ewigkeiten vorherbestimmt war, und nie würde ich damit konkurrieren können. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, sie in dieser Nacht zusammengeführt zu haben. Was nützte mir eine Sternenmission, wenn mir dabei das Herz brach und ich schon auf der ersten Wegetappe meinen wichtigsten Mitstreiter an eine andere Auserwählte verlor? Wo war der Sinn?

»Joss?«

»Ja?« Hastig richtete ich mich auf und stellte errötend fest, dass mir nun doch eine Träne über die Wange lief. Wortlos reichte Frau Heinrich mir ein Taschentuch. Ich schüttelte es aus und drückte es mir gegen beide Augen, sodass sie mein Gesicht nicht mehr sehen konnte. Seit der fünften Klasse war ich der festen Überzeugung gewesen, mich niemals verlieben zu können, weil es den passenden Jungen dafür nicht geben würde. Doch dann hatte sich ausgerechnet mein Leidensgenosse und unser Jahrgangs-Außenseiter binnen weniger Wochen zu einem glutäugigen, wild gelockten Hitzkopf verwandelt, dessen feurige Blicke Brandspuren in meinem Herzen hinterließen und dessen angriffslustige Art mich nicht schreckte, sondern mir Geborgenheit geschenkt hatte. Ich hatte mich bei Maks stets sicher gefühlt – und nun war er es gewesen, der mir schlimmere Verletzungen zugefügt hatte, als es die Männer in Schwarz je vermocht hätten. Meine Brust stand in Flammen und es fühlte sich an, als ob sie mich töten wollten. Das Taschentuch an mein Gesicht gedrückt, atmete ich zweimal langsam ein und aus, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Dann nahm ich es zögernd herunter. Frau Heinrichs Blick war weich und mitfühlend geworden. Ich konnte ihr erzählen, was ich wollte – dass ich unglücklich war, sah man mir an der Nasenspitze an. Jeder machte sich seinen eigenen Reim darauf – doch immer kam das Wort »Maks« vor.

»Herr Maziere ist bereit, dich zu empfangen. Geht es wieder?«

Ich nickte stumm, erhob mich aus meinem Besucherstuhl und brachte ein zittriges »Tschüs« hervor, bevor ich mich auf den Weg in den Keller machte, wo Herr Maziere bereits vor seinem Zimmer auf mich wartete. Er sah ebenso übernächtigt aus wie Frau Heinrich, doch sein herzliches Lächeln vermittelte mir sofort ein tröstendes Gefühl.

»Na, Schätzchen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er beiseite und winkte mich zu sich hinein. Erst als ich mich auf das blaue Sofa gegenüber seinem Schreibtisch niedergelassen hatte, schloss er die Tür und folgte mir.

Wie immer war es kuschelig warm in seinem Raum und die Atmosphäre behaglich. Der Zimmerbrunnen plätscherte sanft vor sich hin und die Himalaya-Salzlampe verbreitete ein mildes, beruhigendes Licht. Doch dieses Mal konnte ich mich nicht darin entspannen oder mich gar darüber freuen, hier zu sein. Mit einem fiesen Stich im Bauch dachte ich an jenen Moment im Frühjahr, als ich genau hier bei Maks gesessen hatte, nachdem er die Treppe heruntergestürzt war, und mit einem Mal seine Veränderungen bemerkt hatte. Sie waren mir wie eine Wunder-Mutation vorgekommen – seine rotbraunen Locken, die glimmenden Funken in seinem Blick, seine athletische Statur und seine sandige, tiefe Stimme. Der Mars war in ihm durchgebrochen, mit all seiner Kriegerkraft und seinem ungestümen, kompromisslosen Veränderungswillen. Jetzt wusste ich, dass ich sofort von ihm fasziniert gewesen war. Ich hatte es nur nicht kapiert.

»Also gut, Joss.« Herr Maziere goss mir einen Becher Tee ein und schob ihn mir entgegen. »Versuchen wir es noch einmal, und danach, ich verspreche es, lassen wir dich in Frieden. Das Problem ist, dass wir nicht glauben können, dass du diesen nächtlichen Ausflug geplant und angeleiert hast. Wir sind überzeugt davon, dass Maks es war – und auch das wäre kein Drama. Er dürfte an unserer Schule bleiben. Wir wollen nur nicht, dass du etwas auf dich nimmst, wofür du gar nicht verantwortlich bist.«

»Warum sollte ich das denn tun?«, fragte ich müde – und leider viel zu unkonzentriert.

»Nun ja – vielleicht, weil du in Maks verliebt bist?« Verdammt, erwischt.

»Bitte was?«, kiekste ich und lachte künstlich auf, doch meine Wangen wurden heiß und ich verschränkte unwillkürlich meine Arme vor der Brust. »Das ist doch … das ist … ach. Blödsinn.«

»Schätzchen, ich habe die ganze Zeit schon gesehen, dass du ihn magst, und in London wurde es offensichtlich«, sagte Herr Maziere und bedachte mich mit einem weiteren verständnisvollen Lächeln. »Du bist ihm nicht eine Minute von der Seite gewichen und …«

»Er ist mir nicht von der Seite gewichen!«, widersprach ich gestikulierend. »Das ging von ihm aus und … und ich …« Verwirrt geriet ich ins Stocken. Ich hatte mich verheddert. »Jedenfalls bin ich nicht in ihn verliebt. – Oh Mann, bin ich eine schlechte Lügnerin …« Stöhnend gab ich auf. Herrn Mazieres Lächeln wurde noch etwas sanfter, doch er gab mir ein wenig Zeit, mich zu sammeln, ohne weitere Mutmaßungen zu äußern. »Na gut, dann bin ich eben in ihn verliebt. Oder nein, Korrektur: war. Ich war es. Ganz kurz. Jetzt will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Trotzdem sage ich die Wahrheit. Ich habe ihn nach draußen auf das Feld gelockt.«

»Okay, von mir aus.« Herr Maziere tippte sich mit beiden Zeigefingern gegen die Schläfen, als wolle er sein Gehirn motivieren, besser zu arbeiten. »Nehmen wir an, es war so, wie du sagst, und du hast ihn auf dieses Feld gelockt. Wieso hast du das getan? Was in Gottes Namen wolltet ihr beide da draußen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

»Hm.« Herrn Mazieres Stirn legte sich in Falten. »Es gab also einen Grund. Richtig?« Ich nickte. »Hatte er mit diesem englischen Mädchen zu tun, das zusammen mit euch festgenommen wurde? Wart ihr mit ihr verabredet?«

»Sozusagen«, erwiderte ich vage. Ja, kosmisch gesehen war es eine Verabredung gewesen, auch wenn ich nicht wusste, was sie mitten in der Nacht noch da draußen getrieben hatte. Vielleicht war sie wie ich ihrer Intuition gefolgt – oder es war eine dieser merkwürdigen Fügungen gewesen, die einer nicht-kausalen Logik folgten und mir in der letzten Zeit immer wieder die Bälle in die Hand gespielt hatten.

»Ihr kennt Sally also?«

»Nein, nicht wirklich. Ich hab sie vorher nie gesehen und Maks auch nicht.«

»Joss.« Seufzend nahm Herr Maziere die Finger von seinem Kopf. »Das ergibt alles keinen Sinn! Die Polizisten sagten, ihr habt dicht beisammengestanden, als sie auf das Feld kamen, und dass du und Sally sogar einander im Arm gehalten habt …«

»Ja, weil wir Angst hatten. Der Bauer hat schließlich um sich geschossen!«, verteidigte ich mich drängend. »Da kann so was passieren, auch wenn man sich nicht kennt, es war eine Ausnahmesituation!«

»Hat sie euch vielleicht auf dieses Feld gelockt? Habt ihr noch Kontakt mit ihr?« Ich schüttelte nur wortlos den Kopf. Kurz, nachdem wir aufs Revier gebracht worden waren, war sie schon von ihren Eltern abgeholt worden. Gesehen hatte ich ihre Eltern nicht. Da sie Britin war, war bei ihr alles sehr schnell gegangen, während Maks und ich einen höheren bürokratischen Aufwand verursacht hatten. Doch den Blick, den sie Maks zugeworfen hatte, bevor sie durch die Tür entschwunden war, würde ich nie vergessen. »Sie war der Polizei nicht bekannt und zuvor nie aufgefallen, deshalb … ist die ganze Geschichte äußerst rätselhaft, zumal ihr weder Bier noch Zigaretten bei euch hattet und der Bauer behauptete, ihr hättet mutwillig sein Feld kaputt getrampelt. Gerste … junge Gerste …«, erinnerte sich Herr Maziere mit halb geschlossenen Augen.

»Haben wir nicht. Wir hatten überhaupt keine Zeit dazu. Warum sollten wir so etwas auch tun?« Der Bauer hatte sein Feld selbst kaputt gefahren – und mit ihm das Zeichen in der Gerste. Er hatte den besten Beweis vernichtet, den wir gehabt hatten.

»Weißt du, wie es für mich aussieht, Joss? Maks wusste mal wieder nicht, wohin mit seiner Energie, wollte was erleben und hat dich zu einem nächtlichen Spaziergang überredet. Und weil du ihn nun mal sehr magst, bist du mit ihm gegangen. Ihr habt bei diesem Trip Sally getroffen, seid zusammen durch die Felder gestromert, dann hat der Bauer euch entdeckt und …« Herr Maziere brach ab, als zweifelte er an seinen eigenen Mutmaßungen.

»Nein, Herr Maziere. Ich bin es gewesen. Ich habe Maks dorthin gebracht. Er ist mir gefolgt, nicht umgekehrt.« Ich hätte es mir so viel leichter gemacht, wenn ich gelogen und Herrn Maziere zugestimmt hätte. Meine Strafe würde milder ausfallen, meine Eltern wären erleichtert und ich hätte meinen Ruf als folgsame, unkomplizierte Schülerin zurück. Doch ich konnte nicht. Ich hätte Maks zu gerne zurück auf den Mars geschossen, auf Nimmerwiedersehen, damit er dort als körperloser Geist sein Unwesen treiben konnte, doch ihn zu Unrecht anzuschwärzen – das brachte ich nicht übers Herz. Vor allem aber wollte ich nicht wieder die Kleine, Brave sein, die sich nur durch andere zu Dummheiten verleiten lässt. Ich hatte die plötzliche Eingebung gehabt, auf dieses Feld zu laufen – auf dieses und auf kein anderes. Das wollte ich mir nicht nehmen lassen, auch wenn außer mir niemand mehr wusste, was dort geschehen war.

»Gut, Joss. Ich akzeptiere jetzt, dass du dich für diese Version entscheidest – und du musst die daraus resultierenden Konsequenzen akzeptieren. Einverstanden?« Herr Maziere sprach ohne Groll, ohne einen Hauch eines Vorwurfs in seiner Stimme – und sein Gleichmut nahm etwas Druck von mir. Endlich würden diese nervenaufreibenden Gespräche aufhören. »Du weißt, dass wir nicht nur ein Belohnungssystem haben, sondern bei Fehlverhalten auf Eigenverantwortung setzen.«

»Ja, ich weiß.« Wer etwas verbockt hatte, musste dafür geradestehen – und sich mit guten Taten für die Schule einsetzen. Olli, unser wildester Oberstufenschüler, hatte die Pausen seines halben letzten Schuljahres damit verbracht, den Zaun des Schulhofs zu entrosten und neu zu streichen, und die dicken Jungs mussten immer wieder auf dem Bolzplatz Unkraut jäten oder an der Bushaltestelle Schülerlostendienste übernehmen. Nun würde auch ich mich in die Gruppe der Missetäter einreihen – allerdings hatte es vor mir noch nie einen Schüler gegeben, der so tief gefallen war. Erst Belohnungsreise für außergewöhnlich gute Leistungen, dann Strafarbeiten. Das war neu.

»Wir haben lange überlegt, wie eine passende Aufgabe für dich aussehen könnte, falls du bei deiner Version bleibst – und ich habe heute früh eine gefunden. Das Schicksal hat sie mir quasi in die Hände gespielt.« Herr Maziere legte eine bedeutungsvolle Pause ein und musterte mich aufmerksam. »Kennst du Julius Sempacher?«

»Oh.« Ein ungutes Gefühl setzte sich klebrig in meinem Magen fest. »Ja, klar. Vom Sehen. Aus der neunten, er ist doch der Schüler im … im …«

»Rollstuhl«, vollendete Herr Maziere mein Stammeln nachsichtig. Alleine an Julius zu denken, machte mich seltsam verlegen – vielleicht, weil er mir immer leidgetan hatte und ich gleichzeitig froh gewesen war, nichts mit ihm zu tun zu haben. Etwas an ihm flößte mir tiefes Unbehagen ein. Lange war er allerdings noch nicht bei uns am Gymnasium – seine Familie war erst vergangenes Jahr aus der Schweiz hierhergezogen. Dort hatte er wohl eine Elite-Schule für hochbegabte Schüler besucht, die behindertengerecht ausgestattet war – ganz anders als unser in die Jahre gekommenes Schulgebäude. »Ja, genau der. Du weißt, dass er von der Hüfte abwärts querschnittsgelähmt ist und in den oberen Wirbeln zudem eine schwere Skoliose hat?«

»Ja«, krächzte ich. Vielleicht war es sogar genau das, was es mir so schwer machte, unbefangen an ihm vorüberzugehen. Er war nicht nur gelähmt, sein Oberkörper war zu allem Überfluss auch vollkommen verdreht, als habe ihm das Schicksal noch zusätzlich eins reinwürgen und ihm jene Bewegungen, die er noch machen konnte, erschweren wollen. Er war nicht fähig, gerade im Rollstuhl zu sitzen, und konnte ihn nur unter großer Anstrengung fortbewegen, doch seine schmalen Augen glänzten stets klar wie dunkle Kristalle. Ich war mir sicher, dass er mir mein Unbehagen schon von Weitem ansah – ein Teufelskreis, dem ich am liebsten entkam, indem ich spontan Umwege wählte, wenn er in mein Sichtfeld kam. Das war nicht schwierig, denn inzwischen wusste ich, wo er auf seine Mutter wartete, die jede Mittagspause in die Schule kam und – ja, was genau machte sie eigentlich? Wozu brauchte er sie?

»Seine Mutter hat beschlossen, wieder zu arbeiten«, beantwortete Herr Maziere meine unausgesprochenen Fragen. »Julius selbst hat sie wohl dazu ermuntert, möchte aber weiterhin das Ganztagsangebot nutzen, und jetzt brauchen wir jemanden, der ihm in den Mittagspausen Gesellschaft leistet.«

»Gesellschaft«, echote ich dünn. Nein, ich wollte nicht seine Gesellschaft sein. Dazu war ich gänzlich ungeeignet. Doch Herr Maziere nickte mir bestätigend zu. »Das heißt also, ich …« Ich schluckte hüstelnd. »Ich … soll ihm in den Pausen … Gesellschaft leisten?«

»Ja, genau.« Herr Maziere ließ sich von meiner Verlegenheit nicht anstecken. »Du holst sein Essen aus der Mensa ab, bringst es ihm, ihr esst gemeinsam, danach verbringt ihr den Rest der Mittagspause zusammen. Ihr könnt erzählen, euch austauschen …«

»Aber worüber denn? Ich kenne ihn doch überhaupt nicht!« Ich klang ebenso panisch, wie ich mich fühlte. Irgendetwas in mir wehrte sich heftig gegen diesen Plan und gleichzeitig wusste ich, dass das nicht sein durfte, dass es nicht richtig war. Ich sollte Mitgefühl mit Julius haben, aufrichtiges Mitgefühl, und froh sein, ihm helfen zu können. Es musste echt beschissen sein, mit sechzehn Jahren schief und krumm im Rollstuhl zu hängen und bisher jede Mittagspause zusammen mit der eigenen Mutter verbracht zu haben, weil unsere Schule es nicht auf die Reihe bekam, die Mensa barrierefrei umzugestalten. Ich mit meinen vielen Zipperlein sollte ihn noch am ehesten verstehen und unterstützen, zumal ich jahrelang geärgert und gemobbt worden war – doch ich hätte lieber jeden Tag sämtliche Schultoiletten geputzt, als mich freiwillig Julius zu nähern. Ich fand es nicht gut, aber es war so.

»Dann lernt ihr euch eben kennen. Ihr habt ja nun genügend Zeit dafür«, entgegnete Herr Maziere sachlich. »Erst zum Beginn des neuen Schuljahres wird ein anderer Schüler übernehmen.«

»Aber ich … ich … ich hab irgendwie Angst vor ihm«, bekannte ich piepsig. »Das ist keine Ausrede, es ist wirklich so. Er guckt immer so – komisch.«

»Berührungsängste mit behinderten Menschen sind ganz normal, Joss. Sie werden sich rasch legen, ich verspreche es dir. Wir sind überzeugt davon, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist und sie prima meistern wirst. Vielleicht tut sie dir sogar gut.«

Ich nickte tapfer, ohne ihm recht glauben zu können. Julius war zwar nur zwei Jahre älter als ich und möglicherweise hatten wir sogar ähnliche Interessen. Er war schließlich trotz seiner Behinderung an diese Schule gekommen, weil wir einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt hatten und er diesen auch in den Nachmittag-AGs vertiefen konnte. Doch von nun an jede Mittagspause mit ihm verbringen zu müssen, war eine Vorstellung, die mich jetzt schon überforderte. Musste das nicht auch für ihn irgendwie beschämend sein? Dass seine Tischgesellschaft organisiert wurde und eine Art Strafe für denjenigen war, der bei ihm sitzen würde?

»Will er das denn überhaupt?«, fragte ich zaghaft nach. »Dass ich ihn betreue?«

»Er möchte den Schatten seiner Mutter loswerden und ist dankbar, dass wir eine Lösung dafür gefunden haben. Julius redet nicht viel, aber so wie ich ihn wahrnehme, hätte er es gesagt, wenn er nicht einverstanden wäre.«

Oh je, er war also auch noch jemand, der lieber schwieg, als zu sprechen – was um Himmels willen sollten wir beide nur zusammen tun? Über welche Themen unterhielt man sich mit jemandem, der ein solch gewaltiges Handicap hatte und kaum den Mund aufbekam?

Doch erst auf meinem künstlich in die Länge gezogenen Heimweg – seit England blieben die Männer in Schwarz fern und ich konnte mir Zeit lassen, nach Hause zu kommen – wurde mir klar, was meine Strafe noch bedeutete. Ich würde meine Pausen und das Mittagessen von nun an nicht mehr zusammen mit Maks an unserem Palmen-Ecktisch verbringen können. Andererseits wollte ich ihn zur Zeit gar nicht sehen und seinen Schutz würde ich bei meiner neuen Aufgabe nicht nötig haben. Noch immer hatten Maks und ich einen Vertrag miteinander, der besagte, dass wir gegenseitig auf uns aufpassten – wir hatten ihn im vergangenen Schuljahr miteinander abgeschlossen, weil wir beide jemanden brauchten, der uns den Rücken freihielt und wusste, was er in einem Allergie-Notfall zu tun hatte (oder, wie ich bei Maks hin und wieder, wie der Heimlich-Griff bei drohendem Ersticken angesetzt werden musste). Doch niemand würde es je wagen, Julius mit Essensresten zu bewerfen oder ihn zu hänseln; das war selbst unter den dicken Jungs tabu – und ab sofort aß ich sowieso getrennt von allen anderen Schülern, weit weg von der Mensa und im Erdgeschoss des Schulgebäudes. Ich war Maks los, ich war die dicken Jungs los.

Ich hatte keine Ahnung, ob das gut oder schlecht war, ob ich mich darüber freuen oder es bedauern sollte.

Alles, was ich wollte, war, die Zeit zurückzudrehen und wieder in Avebury zu sein, in der warmen Abendluft auf der Bank bei den Steinen zu sitzen, in den Himmel zu schauen und Maks’ Hand auf meiner zu spüren.

Doch das würde nie wieder geschehen.

WENN, DANN DU …

»Joss, bist du das?«

»Wer sonst«, wisperte ich und schickte ein gut hörbares »Ja!« hinterher, bevor ich meinen Rucksack auf die unterste Treppenstufe fallen ließ und auf der Stelle verharrte, weil ich nicht wusste, ob ich auf den Dachboden gehen oder mich der Situation stellen sollte. Doch unser Haus war klein; es ergab keinen großen Sinn, mich zu verkriechen.

»Komm mal bitte zu uns, wir sind im Garten!« Mama klang ähnlich bemüht freundlich wie Frau Heinrich heute Morgen, doch ich glaubte, mehr Hoffnung in ihrer Stimme zu hören – Hoffnung, die ich ihr nun leider nehmen musste. Mit einem lautlosen Seufzen löste ich meine Hand vom Treppengeländer und ging durchs Wohnzimmer nach draußen in unseren kleinen Innenstadtgarten, gut einsehbar von sämtlichen Nachbarn und nur von kargem Buschwerk gesäumt. Mama besaß keinen besonders ausgeprägten grünen Daumen und musste die meisten Pflanzen im Frühling neu setzen, weil sie spätestens beim ersten Blattlausbefall im Sommer aufgab, sie zu hegen und zu pflegen, und ihr kläglicher Rest dem ersten scharfen Frost zum Opfer fiel. Immerhin, sie versuchte jedes Frühjahr aufs Neue, unseren Garten zu begrünen, doch noch saßen wir auf dem Präsentierteller. Frau Otto von schräg gegenüber reckte bereits neugierig ihren grauen Schopf über die Balkonbrüstung, wobei sie so tat, als würde sie ihre Primeln gießen, aus deren Töpfen das Wasser längst auf den Boden tropfte. Frau Otto entging nichts.

Während Mama und Papa mir ernst und fragend entgegenblickten und verkrampft auf ihren Stühlen saßen, schien Sam sich prächtig zu amüsieren. Ihre Augen leuchteten und sie platzte schier vor Sensationslust – ganz ähnlich wie Frau Otto. Die Backen voller Zuckerkuchen klopfte sie kameradschaftlich auf den freien Gartenstuhl und lehnte sich genüsslich zurück, sobald ich Platz genommen hatte. Die Show konnte beginnen.

»Und?«, fragte Papa vorsichtig und goss mir eine Tasse Tee ein, während Mama mir zeitgleich einen graubraunen, pupstrockenen Dinkelkeks auf den Teller schob. Normaler Kuchen war in den Augen von Mama für mich nach wie vor tabu, obwohl ich viel weniger Unverträglichkeiten und Allergien hatte, seitdem ich erkannt hatte, dass ich von den Plejaden kam und zu meiner extraterrestrischen Herkunft stand. »Wie war dein Gespräch mit Frau Heinrich? Hast du ihr die Wahrheit gesagt?«

»Habe ich«, antwortete ich reserviert, ohne den Keks anzurühren. Ich wollte lieber ein Stück Zuckerkuchen essen, während ich verhört wurde. Mama atmete erlöst aus und auch Papas Gesicht entspannte sich. »Und ihr kennt sie schon. Ich habe Maks auf das Feld geführt, nicht er mich.« Sofort schwand die Erleichterung aus den Mienen meiner Eltern und Sam verschluckte sich fast an ihrem Kuchen. Prustend nahm sie einen Schluck Bananenmilch, ihre braunen Augen immer noch fest auf mich gerichtet. Für sie musste dieser Tag ein Fest sein.

»Aber Joss, du … ich … wir können das nicht …«

»Es ist aber so!«, fiel ich Mama ins Wort. »Warum glaubt mir das keiner?«

»Weil es nicht zu dir passt, Liebes!« Papa klang ehrlich bestürzt und sofort fühlte ich mich elend. »Wir kennen dich so nicht!«

»Was hat Frau Heinrich denn dazu gesagt?« Mama war blass geworden und schob ihren Teller ein Stück zur Seite. Sam hingegen angelte sich blind ein zweites Stück Kuchen. Sie war so gebannt, dass sie sich nicht einmal ihren Milchbart von der Lippe wischte.

»Nicht viel.« Verschlossen senkte ich meine Lider. »Herr Maziere hat sich eine Maßnahme ausgedacht und sie mir verkündet. Ich muss mich bis zu den Ferien um Julius Sempacher kümmern.«

»Oooh«, raunte Mama bedeutungsvoll und wechselte einen raschen Blick mit Papa. Sie wussten also über Julius Bescheid – es wunderte mich nicht, sie saß schließlich im Elternbeirat.

»Wieso ›oooh‹? Wer ist dieser Julius? Kenne ich ihn?«, bombardierte Sam uns mit Fragen, während ihre geweiteten Augen von einem zum anderen huschten.

»Nein, tust du nicht«, entgegnete ich müde. »Er sitzt im Rollstuhl und ich soll ihm in den Pausen … sein Essen bringen und mich mit ihm unterhalten – und so.«

»Und so?« Sam schlug sich die Hand vor den Mund. »Ach du Scheiße … du musst ihm die Windeln wechseln!« Manchmal war Sam erstaunlich schnell von Begriff – und meistens genau dann, wenn das Thema sie überhaupt nichts anging. »Igitt, das ist ja eklig! Ist das dann nur Pipi oder auch …«

»Sam, es reicht«, beschloss Mama so unterkühlt, dass ich zusammenzuckte. »Joss muss ihm natürlich nicht die Windeln wechseln.« Oh, das hoffte ich auch – darüber hatte ich ja noch gar nicht nachgedacht! Trug Julius etwa Windeln? »Nimm bitte deinen Kuchen und geh auf dein Zimmer, wir wollen gerne mit deiner Schwester alleine sprechen.«

»Is ja gut«, maulte Sam, zog einen dicken Schmollmund und stand betont langsam und umständlich auf, bevor sie in schlurfenden Minischritten davonzog. Erst als wir das Klappern der Gabel auf ihrem Teller nicht mehr hören konnten, nahm Mama den Faden wieder auf.

»Vielleicht ist es ja besser so.«

»Was?«, fragten Papa und ich gleichzeitig.

»Na, dass du Zeit mit Julius verbringst statt mit Maks. Denn ganz ehrlich, Joss, Maks hatte in letzter Zeit keinen guten Einfluss auf dich. Er hat sich stark verändert und ich weiß von Frau Heinrich, dass ihr in London unentwegt zusammen wart, und Maks ist nun mal … sehr unberechenbar.«

Oh ja, das konnte man so sagen. Nicht einmal ich hatte seinen plötzlichen Liebesflash mit Sally vorausahnen können. Trotzdem schüttelte ich stur den Kopf. »Maks ist nicht schuld. Das war alles meine eigene Entscheidung.«

»Gut«, erwiderte Mama ohne jede Überzeugung. »Dann löffelst du dein Süppchen jetzt eben auch alleine aus.«

»Werde ich.«

»Julius ist bestimmt ein interessanter junger Mann.«

Fragend äugte ich Papa an. »Warum? Weil er behindert ist? Macht das Menschen automatisch interessant oder wie meinst du das?«

»Nein, aber … Ach, Joss.« Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Du wirst das schon stemmen, meinst du nicht?«

»Mir bleibt nichts anderes übrig. – Kann ich jetzt auch auf mein Zimmer gehen? Ich hab eh keinen Hunger auf die blöden Kekse.«

Wieder wechselten Mama und Papa einen kurzen Blick, dann nickten sie im Gleichtakt, ihre Gesichter noch sorgenvoller als zu Beginn dieses unerquicklichen Gespräches. Steif stand ich auf, umrundete den Tisch und marschierte zur Treppe, wo ich beinahe über meine neugierige Schwester stolperte, die im Schatten des Geländers auf den Stufen kauerte und kaum zu sehen gewesen war. »Was machst du hier? Lauschst du etwa?«

»Klar! – Los, setz dich …« Sie schnappte sich meinen Ärmel und zog mich zu sich herunter. »Jetzt kommt doch erst der spannendste Teil.«

»Was meinst du?«

»Na, wenn sie nach dem Gespräch zu zweit weiterreden!«, flüsterte sie mir ins Ohr und deutete hektisch zum Wohnzimmer. »Das vorher ist nur die abgespeckte Variante!«

»Sag mal, wie oft hast du das denn schon gemacht?«

Sam winkte lässig ab. Also sehr oft. »Sssst, es geht weiter.«

Seufzend schloss ich die Augen und lehnte mich neben Sam an das Treppengeländer. Wie war das noch mal – der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand?

»Schön, jetzt haben wir also beides im Doppelpack, Pubertät und erste Liebe.« Mama lachte unglücklich auf. »Und das bei Joss … Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet, nicht so früh.«

»Früh? Eigentlich ist sie spät dran.«

»Ja, aber wieso muss es ausgerechnet Maks sein? Wieso er?«

»Wer sollte es denn sonst sein?«, gab Papa zu bedenken und ich hörte, wie einer der beiden sich Tee nachschenkte. »Sie hatte doch bisher mit keinem anderen Jungen Kontakt – und die anderen Mitschüler, naja. Das sind keine Kandidaten für Joss.«

»Aber Maks doch auch nicht – jedenfalls nicht mehr. Die beiden passen überhaupt nicht zueinander! Und du siehst ja, zu welchen Dingen er sie verleitet … und sie schützt ihn auch noch und lügt für ihn …«

»Das wissen wir nicht, Sophie. Wir nehmen es nur an.«

»Glaubst du ihr etwa?«

Eine Pause entstand, in der Sam aufgeregt mein Bein quetschte. »Gleich streiten sie wegen dir!«, wisperte sie verheißungsvoll, als das Schweigen sich ausdehnte. »Das ist die Ruhe vor dem Sturm!«

Papa räusperte sich ausführlich und auch ich verspürte ein Kratzen im Hals, schluckte aber krampfhaft gegen meinen Hustenreiz an.

»Wirklich, du glaubst ihr!?« Oh. Dieser Ton ließ nichts Gutes erahnen.

»Schatz, ich weiß es nicht. Aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie die Wahrheit sagt. Im Zweifel für den Angeklagten, oder?«

»Aber das ist es ja gerade, sie klagt sich selbst an! Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere kleine Joss …«

»Sie ist vierzehn, Sophie! Auch wenn man es ihr nicht ansieht, sie ist vierzehn, und mit vierzehn machen Kinder Sachen, die ihre Eltern vorher nicht für möglich gehalten hätten! Das kriegen wir in unserem Lehreralltag doch täglich live mit. Oder? Sie ist jedenfalls nicht mehr unsere kleine Joss.«

»Trotzdem mache ich mir Sorgen!« Mama klang wieder etwas versöhnlicher, Papa hingegen hatte sich eben beklemmend traurig angehört. »Und mir tut es leid für sie, dass sie sich in Maks verliebt hat und er sie in so einen Mist hineinzieht und dann auch noch ein anderes Mädchen trifft … das muss ihr wehtun, ich sehe es ihr an!«

»Okay, genug jetzt.« Abrupt stand ich auf, las meinen Rucksack vom Boden auf und stiefelte nach oben.

»Joss, warte … hey!« Sam jagte mir hinterher und riss mich am Arm zur Seite, bevor ich die Tür zu meinem Zimmer öffnen konnte. »Hier rein, Schwesterchen!« Resolut schob sie mich in ihr Kuscheldecken-Duftkerzen-Plüschtier-Revier und kickte mit der Ferse die Tür hinter uns zu. »Jetzt reden wir!« Ehe ich michs versah, hatte sie mich an meinem Hosenbund zu sich aufs Bett gezogen. »Also – was ist das mit dir und Maks? Hm?«

»Oh, Sam …« Genervt stöhnte ich auf. »Ich will diese Geschichte nicht noch mal durchkauen …«

»Ach, doch nicht die!« Sam schüttelte übertrieben den Kopf, sodass ihre langen Haare meine Wange streiften. »Sondern die echte Geschichte. Über eure Gefühle und so. Die Liebesgeschichte!«

»Es gibt keine Liebesgeschichte.«

»Aber du hast Liebeskummer«, stellte Sam im Brustton der Überzeugung fest. »Du liegst den ganzen Tag nur im Bett, isst kaum was, hörst Depri-Musik, heulst heimlich – Liebeskummer. Oder bist du etwa schwanger!?«

»Sam!«, rief ich empört. »Spinnst du? Natürlich bin ich nicht schwanger!«

»Wäre auch ein bisschen früh. Aber Liebeskummer hast du, hundertpro, und deshalb … Moment …« Sam sprang vom Bett, klaubte ihr pinkfarbenes Stabfeuerzeug aus ihrer Nachttischschublade und entfachte drei türkis glitzernde Windlichter, um sie feierlich vor meine Füße zu stellen. Sofort stieg ein süßlich-klebriger, künstlicher Duft von ihnen auf. Doch ich war zu frustriert für eine allergische Reaktion. Meine Nase kitzelte nur kurz und gab dann erschöpft Ruhe.

»Was gibt das, wenn es fertig ist?«

Sam hüpfte beschwingt zu ihrem MP3-Player und drückte eine Weile suchend darauf herum, bis sie einen besonders schwülstigen Lovesong gefunden hatte und nicht minder beschwingt zu mir zurücktrabte. Irgendwas an meinem Unglück schien sie schrecklich fröhlich zu stimmen.

»Liebe Joss«, begann sie mit geschwellter Brust und breitete ihre Arme aus. »Hiermit wirst du offiziell in den Club der echten Frauen aufgenommen.«

»Bitte was!?«

»Der Club der echten Frauen!«

»Den gibt es nicht.«

»Doch, ich habe ihn eben gegründet, und da draußen existieren Millionen Mitglieder, die nur noch nicht wissen, dass sie Mitglieder sind. Was macht ein Mädchen zu einer Frau? Na?« Wichtig blinzelte sie mich an. Sie erwartete offenbar wahrhaftig eine Antwort.

»Ihre erste Regelblutung?«, riet ich.

»Oh, Joss! Sei doch nicht immer so wissenschaftlich!« Sam raufte sich in einer Geste aufrichtiger Verzweiflung die Haare, bevor sie erneut die Arme ausbreitete. »Es ist der erste Liebeskummer! Der macht uns zu echten Frauen! Du gehörst jetzt dazu, verstehst du? Du bist eingeweiht!«

»In was? Sich-ätzend-fühlen?«

»Ja, zum Beispiel!« Freudig lachte Sam auf. »Du hast es verstanden! Weißt du auch, was man macht, wenn man Liebeskummer hat? Na?«

Ich überlegte ein Weilchen, aber mir fiel nichts Vernünftiges ein. Das war ja das Niederschmetternde an der ganzen Situation. Ich war machtlos. Alles, was mir blieb, war, meinen Kummer auszuhalten.

»Man stylt sich um!«, trompetete Sam, nachdem ich immer noch nichts sagte. »Man macht sich eine andere Frisur, zieht sich anders an, bewegt sich anders, schminkt sich anders …«

»Wozu?«

»Oh, Joss, du weißt ja wirklich gar nichts! Man tut das, damit der Typ begreift, wen er hätte haben können, aber jetzt nicht mehr kriegen kann!«

»Er kann mich doch noch kriegen«, entgegnete ich dröge.