Mein Freund, der Onkel Doktor - Britta Frey - E-Book

Mein Freund, der Onkel Doktor E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Die junge Frau mit den tizianroten Haaren und den grünen Augen ging unruhig in dem großen Wohnraum des hübschen Bungalows auf und ab. Immer öfter sah sie mit gerunzelten Augenbrauen auf die Uhr. Es war schon neunzehn Uhr, und Nils war immer noch nicht nach Hause gekommen. Dabei hatte sie ihm am Mittag befohlen, spätestens um siebzehn Uhr daheim zu sein. Überhaupt, seit sie sich von ihrem Mann Guido getrennt hatte, wurde der Junge von Tag zu Tag schwieriger. Manchmal war er sogar aggressiv und aufsässig. Seit vor drei Monaten die endgültige Scheidung von Guido ausgesprochen worden war, war es besonders schlimm geworden. Doch es gab auch Augenblicke, in denen Nils ihr nicht von der Seite wich. Madlon van Enken war zweiunddreißig Jahre alt. Sehr früh schon hatte sie ihre erste große Liebe geheiratet. Kaum achtzehn Jahre alt war sie damals gewesen. Ihrer beider Glück schien vollkommen, als sehr bald Nils geboren wurde. Doch das war alles schon lange her, lag schon so weit in der Vergangenheit. Für Madlon zählte jetzt nur ihr Jungey, für den sie das Sorgerecht erhalten hatte. Ja, das Sorgerecht hatte sie zwar, doch Nils verzehrte sich selbst nach diesen langen Monaten der Trennung noch immer nach seinem Vater. Heute war ihr, wie schon so oft, wieder einmal der Verdacht gekommen, daß Nils Geheimnisse vor ihr hatte. Vielleicht traf er sich heimlich mit seinem Vater. Wenn es tatsächlich so war, mußte sie umgehend dafür sorgen, daß diese Zusammenkünfte ein für allemal aufhörten. Würde sie jetzt nicht eingreifen, käme Nils niemals zur Ruhe. Er mußte endlich akzeptieren, daß sie keine Familie mehr waren.

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Kinderärztin Dr. Martens Classic – 22 –

Mein Freund, der Onkel Doktor

Warum kann er nicht mein Papi sein?

Britta Frey

Die junge Frau mit den tizianroten Haaren und den grünen Augen ging unruhig in dem großen Wohnraum des hübschen Bungalows auf und ab. Immer öfter sah sie mit gerunzelten Augenbrauen auf die Uhr. Es war schon neunzehn Uhr, und Nils war immer noch nicht nach Hause gekommen. Dabei hatte sie ihm am Mittag befohlen, spätestens um siebzehn Uhr daheim zu sein. Überhaupt, seit sie sich von ihrem Mann Guido getrennt hatte, wurde der Junge von Tag zu Tag schwieriger. Manchmal war er sogar aggressiv und aufsässig. Seit vor drei Monaten die endgültige Scheidung von Guido ausgesprochen worden war, war es besonders schlimm geworden. Doch es gab auch Augenblicke, in denen Nils ihr nicht von der Seite wich.

Madlon van Enken war zweiunddreißig Jahre alt. Sehr früh schon hatte sie ihre erste große Liebe geheiratet. Kaum achtzehn Jahre alt war sie damals gewesen. Ihrer beider Glück schien vollkommen, als sehr bald Nils geboren wurde.

Doch das war alles schon lange her, lag schon so weit in der Vergangenheit. Für Madlon zählte jetzt nur ihr Jungey, für den sie das Sorgerecht erhalten hatte.

Ja, das Sorgerecht hatte sie zwar, doch Nils verzehrte sich selbst nach diesen langen Monaten der Trennung noch immer nach seinem Vater.

Heute war ihr, wie schon so oft, wieder einmal der Verdacht gekommen, daß Nils Geheimnisse vor ihr hatte. Vielleicht traf er sich heimlich mit seinem Vater. Wenn es tatsächlich so war, mußte sie umgehend dafür sorgen, daß diese Zusammenkünfte ein für allemal aufhörten. Würde sie jetzt nicht eingreifen, käme Nils niemals zur Ruhe. Er mußte endlich akzeptieren, daß sie keine Familie mehr waren.

Madlon warf unwillig den Kopf in den Nacken, denn allein der Gedanke schmerzte schon. Auch der Gedanke an ihr verlorenes Glück schmerzte mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Erneut zog die Uhr ihre Blicke an, und ihr Ärger steigerte sich. Wenn Nils heute nach Hause kam, wollte sie ihm einmal gehörig den Kopf zurechtrücken.

Ihr kam plötzlich eine Idee, wie sie es am besten fertigbringen konnte, Nils seinen Vater endlich vergessen zu lassen. Ja, das war es: Sie würde mit ihm verreisen, irgendwohin, weit weg von dieser Stadt, wo sie einen schönen Urlaub mit Nils verbringen würde. Sie war unabhängig, und gerade hatten die Ferien begonnen. Also war der Zeitpunkt günstig.

Um halb acht kam Nils endlich heim. Er murmelte eine knappe Entschuldigung und wollte sich an ihr vorbeidrücken. Doch sie hielt ihn fest.

»Wo warst du, Nils? Ich möchte eine ehrliche Antwort haben. Rede, laß mich nicht so lange auf eine Antwort waren.«

»Ich habe heute zufällig Vati getroffen, Mutti. Ich war mit Vati zusammen. Ich habe ihn lieb und ich will, daß er wieder zu uns zurückkommt. So, nun weißt du es endlich.«

Nils, mit seinen dreizehn Jahren ein kluger und aufgeweckter Junge, stand mit trotzigem Blick vor seiner Mutter, deren Augen ihn traurig ansahen.

»Das geht doch nicht, Junge. Du bist schon alt genug, um das zu verstehen. Das muß doch endlich in deinen Kopf hineingehen.«

Mit einer mütterlichen Geste strich Madlon ihrem Sohn über das tizianrote, leicht gewellte Haar.

Doch mit einer hastigen Bewegung schüttelte er ihre Hand ab und sagte aufbrausend: »Laß mich, Mutti. Ich will und kann es nicht verstehen. Wenn Vati nicht zu uns zurückkommt, will ich auch nicht hierbleiben.«

Als Madlon ihm kurze Zeit später beim Abendessen gegenübersaß, gab Nils während der ganzen Zeit nicht ein einziges Wort von sich. Nach dem Essen ging er sofort in sein Zimmer.

Madlon wartete, bis das Hausmädchen den Tisch abgeräumt hatte, dann ging sie in Nils’ Zimmer, wo sie ihn schon in seinem Bett vorfand.

Sie setzte sich zu Nils auf die Bettkante und sagte weich:

»Kannst du denn nicht verstehen, daß es mir weh tut, wenn du heimlich mit Vati zusammentriffst? Ich bin deine Mutti, und ich habe dich sehr lieb. Es ist nun mal nicht zu ändern, daß wir keine Familie mehr sind. Und wenn es dich glücklich macht, werde ich mich auch nicht dagegen sträuben, dich für immer zu Vati zu lassen. Ich will nicht, daß du traurig und unglücklich bist.«

»Und du, Mutti, kommst du dann auch mit zu Vati?« fragte Nils sie hoffnungsvoll. »Ich habe dich doch auch lieb. Ich will, daß wir alle zusammen sein können.«

»Das geht nicht mehr, Junge. Entweder Vati oder ich. Beides kannst du nicht haben. Du weißt, daß Vati und ich uns getrennt haben, weil wir uns nur noch gestritten haben. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wir zwei fahren in den nächsten Tagen in die Ferien. Wenn wir zurückkommen, reden wir noch einmal darüber. Einverstanden?«

»Ja, Mutti, wenn du es gern möchtest. Wohin fahren wir denn?«

»Ich habe mir überlegt, daß wir nach Österreich an den Millstätter See fahren. Ich kenne da einen kleinen hübschen Ort. Es wird dir dort gut gefallen. Du kannst im Millstätter See baden, soviel du willst. Glaube mir, es wird bestimmt eine schöne Zeit werden. So, mein Junge, jetzt schlaf schön. Denk immer daran, daß ich dich sehr lieb habe.«

Liebevoll fuhr Madlon über den roten Schopf und hauchte einen sanften Kuß auf seine Stirn.

»Gute Nacht, Mutti, ich habe dich sehr lieb«, entgegnete Nils und kuschelte sich in die Kissen.

*

»So nachdenklich am frühen Morgen, Frau Doktor?«

Schmunzelnd sah Jolande Rilla auf Hanna, die nun schon einige Minuten gedankenverloren in ihrer Kaffeetasse rührte, obwohl sie überhaupt keinen Zucker hineingegeben hatte.

»Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache. Ich muß an meine Mutter denken, die nun schon fast drei Wochen oben in Süddeutschland ist. Sie fehlt mir sehr. Ab morgen früh wird es noch stiller um mich, wenn mein Bruder auch nicht mehr hier ist. Es ist nur gut, daß ich dich um mich habe.«

»Wann fährt dein Bruder denn in Urlaub?«

»Noch heute im Laufe des Tages.«

»Dann liegt ja die ganze Verantwortung für die Kinderklinik bei dir.«

»Das stimmt, aber davor ist mir nicht bange. In der Klinik drüben wird es immer viel zu tun geben, das kenne ich ja. Mir geht es nur darum, daß es privat ein wenig einsam um mich sein wird. Diese Zeit wird auch vergehen. Ich werde jetzt die trübsinnigen Gedanken an die Seite schieben. Ich glaube, es wird heute wieder ein herrlicher Sommertag.«

»Es sieht ganz danach aus. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?«

»Nein, danke. Ich muß jetzt in die Klinik zur Frühbesprechung. Zum Mittagessen komme ich aber wieder ins Doktorhaus zurück. Mein Bruder wird wohl mitkommen, da seine Hausperle ja schon seit gestern im Urlaub ist. Koch uns mal etwas Ausgefallenes, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht. Es soll für meinen Bruder ein kleines Abschiedsessen sein.«

»Das mache ich doch gern. Was ißt dein Bruder denn besonders gern?«

»Oh, da gibt es so einiges. Ich würde vorschlagen, daß du Putenmedaillons mit Dillkräutersoße sowie Butterböhnchen und Kroketten kochst. Als Abschluß vielleicht ein Himbeersorbet mit Vanillesoße. Wird das wohl möglich sein?«

Lächelnd sah Hanna Jolande an.

»Na, sicher, Hanna. Ich würde dazu einen trockenen Weißwein vorschlagen.«

»Fein, ich denke, daß wir da eine Auswahl im Keller haben. Du wirst schon den richtigen Wein auftischen. Jetzt möchte ich aber gehen, ich will niemanden unnötig auf mich warten lassen. Bis nachher.«

Noch ein letztes Lächeln, und schon verließ Hanna mit eiligen Schritten das Doktorhaus.

Schon um diese frühe Morgenstunde spannte sich ein wolkenloser Himmel über der Landschaft. Es hob Hannas Laune noch um einiges mehr. Lächelnd betrat sie Augenblicke später das Klinikgebäude und steuerte direkt auf den Konferenzraum zu, in dem üblicherweise die Frühbesprechungen stattfanden. Wie sie schon geahnt hatte, waren alle da und warteten nur noch auf sie.

Nachdem ihr fröhlicher Morgengruß erwidert worden war, kam Kay gleich auf die anliegenden Dinge zu sprechen. An diesem Morgen dauerte die Besprechung länger als gewöhnlich, da Kay ja am nächsten Morgen nicht mehr da sein würde.

Nach der ausführlichen Besprechung sagte Kay:

»Also, meine Damen und Herren, es bleibt so, wie wir es heute besprochen haben. Für die nächsten vierzehn Tage wenden Sie sich bitte in allem an meine Schwester. Falls jemand Fragen haben sollte, noch bin ich hier.«

Abwartend sah Kay Martens in die Runde seiner Mitarbeiter in der Kinderklinik Birkenhain. Es war für ihn die letzte Frühbesprechung vor Antritt seines Urlaubs.

»Alles klar, Chef. Und im Namen aller möchte ich Ihnen einen angenehmen und erholsamen Urlaub wünschen.«

Malte Dornbach wandte sich mit diesen Worten mit einem offenen Lächeln an seinen Vorgesetzten. Er war Herzspezialist im Kreise seiner Anwesenden. Seine Kollegen bekräftigten seine Worte mit einem zustimmenden Kopfnicken.

Hanna gönnte ihrem Bruder den wohlverdienten Urlaub von ganzem Herzen. Doch während sie zur Krankenstation hinaufging, dachte sie wehmütig an die Zeit zurück, die sie nach ihrer Lungenentzündung im Schwarzwald am Titisee verbracht hatte. Nein, schob sie die Erinnerung zurück, es war vorbei. Für ihr Glück mit einem geliebten Mann war es eben noch zu früh gewesen. Die Zeit sollte nur noch eine schöne Erinnerung bleiben.

Schon Augenblicke später waren ihre privaten Gedanken verflogen, und an deren Stelle traten die täglichen Pflichten in der Klinik.

*

Kay hatte in einem kleinen vorbildlich geführten Familienhotel ein Zimmer gebucht. Er fühlte sich sofort wohl, da er es nicht liebte, von zu großer Hektik und zuviel Rummel umgeben zu sein. Er wollte seinen Urlaub, vierzehn herrliche Tage in Kärnten, voll auskosten und genießen.

Gleich am ersten Tag, Kay hatte das Frühstück ausfallen lassen und richtig ausgeschlafen, betrat er erst gegen Mittag den Speisesaal des Hotels.

Während er auf die die junge Kellnerin wartete, um seine Bestellung aufzugeben, sah er sich unauffällig um. Menschen verschiedenen Alters umgaben ihn und ließen sich ihr Essen gut schmecken. Auch hier fiel ihm angenehm die Ruhe auf, denn auch das Personal war gelassen und ohne Hektik. Das war noch ein Grund mehr für ihn, sich über die Wahl seines Hotels zu freuen. Alles, was er bis zu diesem Zeitpunkt hier kennengelernt hatte, gefiel ihm ausgesprochen gut.

Nach dem Mittagessen machte Kay sich auf den Weg, um die nähere Umgebung von Millstatt zu erkunden, dem Städtchen am See, das er sich für sein Urlaubsquartier ausgewählt hatte.

Eine wunderschöne Umgebung zeigte sich ringsherum. Die hügelige Landschaft bestand zum größten Teil aus weitläufigen Waldgebieten zur einen Seite, und zur anderen Seite blickte man auf die schimmernde Wasserfläche des Millstätter Sees.

Dort zog es Kay jetzt auch hin, und er beobachtete das lustige Treiben vieler badefreudiger Menschen. Ein Sprung ins kühle Naß lockte ihn auch, und er bedauerte, daß er seine Badesachen nicht mitgenommen hatte. Ein Weilchen blieb er stehen und beobachtete eine Gruppe Kinder, die sich am Strandbad tummelten.

Als er sich abwandte, wurden seine Blicke wie magisch von einer jungen Frau angezogen. Ihr langes tizianrotes Haar leuchtete im Sonnenlicht, als sprühe es Funken. Kay konnte seinen Blick nicht von dem schmalen ebenmäßigen Gesicht der hübschen mittelgroßen Frau lösen, die ihn für Sekunden an eine Frau erinnerte, die er sehr mochte, die auch rotes Haar hatte, das jedoch wie dunkelroter Wein schimmerte. Doch er war für die Letztere nur ein guter Bekannter.

Diese Fremde aber ließ seine Bekannte völlig in den Hintergrund treten. Jetzt erst sah Kay, daß an der Seite der schönen Unbekannten ein etwa dreizehnjähriger Junge ging, auf den sie liebevoll einsprach. Der Junge mußte ihr Sohn sein, denn er hatte das gleiche rote Haar wie sie, nur hatte er es zu einer modischen Jungenfrisur geschnitten.

In Kay erwachte der Wunsch, diese Frau näher kennenzulernen.

Ganz plötzlich verdeckte ihm eine Gruppe junger Leute die Sicht, und als sie vorübergegangen waren, war die schöne Fremde verschwunden.

Er schlenderte in der gleichen Richtung weiter, konnte sie jedoch nirgendwo mehr entdecken, und gab seine Suche schließlich auf.

Gemächlich ging er den Weg zum Hotel zurück. Er holte sein Badezeug und suchte sich außerhalb des gut gefüllten Strandbades ein abgelegenes ruhiges Plätzchen.

Doch während des ganzen Nachmittags am See beschäftigte er sich in Gedanken mit dieser beeindruckenden Rothaarigen. So in Gedanken versunken, mit sich und der Natur allein, verstrich der Nachmittag sehr schnell, und er traf später als gewollt wieder im Hotel ein.

Nach einer leichten Abendmahlzeit zog er sich in sein Zimmer zurück, um Hanna, wie versprochen, anzurufen und ihr ausführlich von seinem Urlaubsort zu berichten.

Die gesunde Luft und das lange Bad im See hatten Kay ermüdet, und er ging bald zu Bett. Mit in seine Träume nahm er das Bild der schönen Fremden.

Am nächsten Tag kam ihm der Zufall zu Hilfe. Nachdem er fast den ganzen Tag vergeblich Ausschau gehalten hatte, aber weder sie noch ihren Jungen gesehen hatte, hatte er die Suche für diesen Tag aufgegeben.

Gegen neunzehn Uhr ging er zum Abendessen in den Speisesaal hinunter. Es schien ihm, als hätten sich sämtliche Hotelgäste für den heutigen Abend abgesprochen, zur selben Zeit zu essen, denn bis auf den Tisch, an dem er Platz nahm, waren alle Tische gut besetzt.

Die junge Kellnerin brachte Kay gerade das bestellte Essen, als die Tür zum Speisesaal sich wieder einmal öffnete. Kays Herz begann schneller zu schlagen, als er sah, wer den Raum betrat. Es war die schöne Fremde, und sie sah sich suchend nach einem freien Tisch um. An ihrer Seite war, wie tags zuvor, der Junge.

Die Kellnerin trat auf sie zu, sprach kurz mit ihr und kam dann mit ihr und dem Jungen geradewegs auf seinen Tisch zu.

»Ist es Ihnen recht, wenn die Herrschaften an Ihrem Tisch Platz nehmen, Herr Dr. Martens?« erkundigte sich die Kellnerin mit einem freundlichen Lächeln. »Wir sind wegen der Plätze heute in Verlegenheit geraten.«

»Aber natürlich, Fräulein Resi«, antwortete Kay und machte eine einladende Handbewegung. »Das ist doch wohl selbstverständlich. Es ist genug Platz für alle da.«

Innerlich dankte er dem Zufall für dieses unverhoffte Zusammentreffen.

»Und wir stören Sie auch wirklich nicht?« fragte eine klare helle Frauenstimme mit leisem Zweifel.

»Aber nein, wirklich nicht«, bestätigte Kay.

Er stand auf und schob ihr höflich einen Stuhl zurecht.

»Bitte, setzen Sie sich doch. Und du«, er wandte sich dem Jungen mit freundlicher Stimme zu, »setz dich ruhig auch. Ich beiße nicht.«

Nachdem die Kellnerin die Wünsche der Fremden und des Kindes entgegengenommen hatte, wandte sie sich an Kay und sagte mit ihrer angenehmen Stimme:

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Dr. Martens, nicht wahr? Mein Sohn wollte nicht noch länger mit dem Essen warten. Ich heiße van Enken, und das ist mein Sohn Nils.«

»Angenehm, Frau van Enken. Ich verbringe meinen Urlaub hier, Sie auch?«

Es entwickelte sich eine nette Unterhaltung zwischen den beiden Erwachsenen. Und obwohl Kay sich bemühte, Nils mit in die Unterhaltung einzubeziehen, blieb Nils zunächst doch sehr zurückhaltend.

Kurz nach zwanzig Uhr sagte Madlon zu ihrem Sohn:

»Komm, Nils, es wird Zeit für dich. Wir gehen in unser Zimmer hinauf. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie wandte sich an Kay:

»Vielen Dank für Ihre nette Gesellschaft, Dr. Martens. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.«

»Danke, gleichfalls, Frau van Enken. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben. Ich bin sicher, daß wir uns heute nicht zum letzten Mal gesehen haben. Schlaf du auch gut, Nils «

Kay sah ihnen noch nach, wie sie den Speisesaal verließen, bevor auch er sich erhob, um noch einen Abendspaziergang um den See zu unternehmen.

Zu seiner Freude ergab es sich in den nächsten Tagen fast von allein, daß sie die Mahlzeiten gemeinsam einnahmen, und mehr als einmal erklang Madlons helles perlendes Lachen und machte es ihm immer schwerer, für sich zu behalten, daß er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Bei einer dieser Mahlzeiten erfuhr er auch ihren Vornamen, und als er anschließend wieder allein seinen abendlichen Spaziergang unternahm, blieb er an einer ruhigen Stelle des Sees stehen und sah gedankenverloren auf die spiegelglatte Wasserfläche.

»Madlon«, sagte er leise, »welch ein schöner Name. Und wie gut er zu ihr paßt.«

*

Vier Tage kannten Kay und Madlon van Enken sich nun schon. Auch an diesem vierten Tag hatten Kay, Madlon und Nils viel Zeit zusammen verbracht, und zum ersten Mal war Kay aufgefallen, daß Nils ihm gegenüber immer verschlossener, ja, fast abweisend wurde. Er nahm sich vor, in den kommenden Tagen besonders darauf zu achten, woran das wohl liegen könnte. Es hatte Kay doch sehr befremdet, daß Nils ihm an diesem Abend nicht wie üblich zum Abschied die Hand gereicht hatte.

Doch auch Madlon war das veränderte Verhalten ihres Sohnes nicht entgangen. Als Nils an diesem Abend in seinem Bett lag, setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante und sagte mahnend:

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, Nils. Du warst heute abend Herrn Dr. Martens gegenüber sehr unhöflich. Er hat dir doch gar nichts getan. Ich dachte, daß du ihn genauso nett findest wie ich. Ich möchte nur wissen, was plötzlich in dich gefahren ist.«

»Ich will eben nicht, daß er immer so viel mit uns zusammen ist. Laß uns wieder nach Hause fahren. Ich möchte zu Vati.«

»Nils, du weißt doch, daß das nicht geht. Wir haben für volle vierzehn Tage bezahlt, und diese Zeit bleiben wir auch hier. Ich für meinen Teil unterhalte mich sehr gern mit Dr. Martens. Von dir erwarte ich zumindest, daß du ihm gegenüber höflich bist, hast du mich verstanden?«

»Ja, ja, Mutti«, brummte Nils widerwillig, »aber jetzt laß mich bitte schlafen, ich bin müde.«