Mein Glück kennt nicht nur helle Tage - Gabriele Noack - E-Book
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Mein Glück kennt nicht nur helle Tage E-Book

Gabriele Noack

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Beschreibung

Voller Freude erwartet Gabriele Noack die Geburt ihres zweiten Sohnes, doch das Glück wird erschüttert: Der kleine Julius ist schwer behindert. Für die junge Mutter bricht eine Welt zusammen, ihr Traum vom perfekten Familienleben scheint in unerreichbare Ferne gerückt. Warum bloß hat es ausgerechnet ihr Kind getroffen? Sie fühlt sich Julius Krankheit nicht gewachsen, Scham und Schuldgefühle rauben ihr die Kraft. Gleichzeitig spürt sie tiefe Liebe und eine besondere Verbindung zu ihrem Sohn. Langsam und vorsichtig findet sie sich in ihrem neuen Alltag ein und entwickelt durch die erzwungene Entschleunigung einen völlig anderen Blick auf die Welt ...

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Inhalt

CoverInhaltÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog4. April 2008Sechs Jahre vorherDrei Wochen späterSonntag, 19. August 2012Vier Jahre späterMontag, 8. Oktober 2012Bald ist es so weit19. Oktober 2012Ein FreitagDie GeburtSamstag, 20. Oktober 2012Der erste SchockEin etwas anderes GehirnAbtransport in die KinderklinikEine Vollnarkose und hoffnungslose DiagnosenAufatmenEs geht nicht bergaufAndersDonnerstag, 13. Juni 2013Die Wahrheit ist schwer zu ertragenJuli 2013FrühförderungBodenseeausflugNur wenige Tage späterDie Ohnmacht ist nicht auszuhaltenFrühfördertreffen und UrlaubserlebnisseMontag, 25. November 2013Tom und der Schalter im KopfMontag, 16. Dezember 2013Schmerzender AlltagSonntag, 22. Dezember 2013Das erste Mal im NotarztwagenDonnerstag, 16. Januar 2014Unten angekommenSonntag, 2.Februar 2014Wieder im SchwimmbadDienstag, 25. Februar 2014Die Epilepsie beginntZusammenbruchSamstag, 5. April 2014Vielleicht steht die Antwort in den Sternen?Wir müssen beginnen, mit der Epilepsie zu lebenNähorgienEin paar Tage später …Computerkurs und BlaulichtSegelwocheKinderfragenGrenzenMetamorphose, drei Wochen späterDiebstahlKreißsaalführungAutokaufWochenendausflugHüttenwanderungGutachtenFernsteuerungCirca drei Monate späterKarrentourWeitere fünf Monate späterNachwortDanksagung

Über die Autorin

Gabriele Noack absolvierte nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zur Krankenschwester, studierte danach Sozialwesen und begann nach etlichen Jahren Berufserfahrung und der Geburt ihres ersten Sohnes ein Studium zur analytischen Kinder und Jugendtherapeutin. 2012 kam ihr zweiter Sohn Julius zur Welt. Danach war nichts mehr so wie zuvor.

Gabriele Noack

Meine Glück kenntnicht nur helle Tage

Wie mein behindertes Kindmir beibrachte, die Welt mitanderen Augen zu sehen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Redaktionelle Beratung: Ulrike Renk

Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Titelmotiv: © Gabriele Noack

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-2373-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Ben und Julius, die mich auf eine lange Reise schickten.

Und für Herrn B., der mich eine lange Zeit geduldig auf dem Rücksitz begleitete.

Prolog

Der Klang der drei Holzfiguren. Ein klares Schlagen und Klopfen, wenn sie aneinanderstoßen. Es tönt wie eine beruhigende Hintergrundmusik in meinen Ohren. Diese Laute bedeuten, dass alles in Ordnung ist. Julius spielt. Er liegt nebenan auf der Krabbeldecke im Wohnzimmer unter seinem Spielbogen. Seit zwei Jahren ist er davon fasziniert, dabei ist es ein Spielzeug für Babys. Mit großer Anstrengung versucht er das rote Männchen zu erwischen. Immer das rote. Es baumelt zwischen einem blauen und einem grünen Greifring an einer dünnen Kordel wild vor seinem Gesicht hin und her. Es will ihm nicht gelingen. Wie ein glitschiger Aal gleitet es ihm immer wieder aus seinem linken Händchen.

Ich stehe am Herd und koche. Freudlos, aber immerhin, ich koche. Auch wenn es nur ein paar Nudeln mit einer langweiligen Fertigtomatensoße aus dem Glas sind, die ich zubereite. Michael, mein Mann, sitzt an seinem Laptop am Küchentisch und bearbeitet Mails. Unser großer Sohn Tom rutscht auf seinem Kinderstuhl von einer Pobacke auf die andere. Er versucht gerade konzentriert, einen Legopolizeiwagen zusammenzubauen, den er bei einer Einkaufstour mit seinem Opa erstanden hat. Mein Blick bleibt für einen Moment an ihm hängen. Kaum zu glauben, dass er in wenigen Monaten ein Schulkind sein wird.

Plötzlich ist etwas anders.

Ich merke es sofort.

Ist es dieser siebte Sinn? Mutterinstinkt? Oder höre ich einfach nur gut?

Das Geräusch des Spielbogens ist verstummt.

Ich renne die vier Schritte zu Julius, doch mein Herz schlägt bereits wie nach einem Marathonlauf. Ich blicke auf seine blauen Lippen und sein aschgraues Gesicht. Die Augen unseres Jungen sind verdreht und nach links oben gerichtet. Panik breitet sich in mir aus, als ich seinen steifen Körper packe und an mich drücke. Ich erhasche Michaels Blick und forme die Lippen zu einem stimmlosen »Anfall!«.

Innerlich brülle und schreie ich dieses Unwort des Schreckens, diesen Ausdruck des Unheils aus mir heraus, doch Tom soll nichts mitbekommen.

Nur für einen kurzen Moment kauere ich mit Julius auf dem Boden. Es vergehen Sekunden, in denen ich mich in einem zeitlosen Raum befinde, fern von der Wirklichkeit. Wir warten. Warten auf das Vorüberziehen des Blitzgewitters in seinem Kopf, wie wir seine schweren und nicht behandelbaren epileptischen Anfälle nennen. Er liegt in meinen Armen, die nichts tun können, als ihn hilflos an mich zu drücken.

Trauer löst die Panik in meinem Inneren ab, weil ich schmerzlich erkenne, dass der Anfall auch dieses Mal nicht ohne Notfallmedikament enden wird.

Währenddessen kümmert sich Michael um Tom. »Es ist eh bald Zeit, ins Bett zu gehen. Willst du noch ein bisschen fernsehen?«, fragt er ihn betont gelassen. Eigentlich keine Frage, denn Fernsehen ist eine von den Beschäftigungen, zu denen Tom niemals überredet werden muss. »Ich habe doch letztes Wochenende Pinocchio aufgenommen. Das stell ich dir an«, sagt Michael.

Ohne näher nachzufragen, flitzt Tom an uns vorbei, hüpft auf das Sofa, schlingt sich die Wolldecke gemütlich über die Beine und erwartet, sichtlich zufrieden, die bewegten Bilder.

Ich bin bereits dabei, mit Julius nach oben ins Bad zu eilen. Dort schnappe ich mir die kleine silberne Aluminiumpackung auf der Wickelkommode, in der das Valiumklistier luftdicht verpackt ist, und reiße sie auf. Dann befreie ich unseren kleinen Sohn von Strumpfhose und Windel.

Als Michael zur Tür hereinkommt, habe ich Julius bereits das Medikament verabreicht.

Der Notfallplan läuft wie üblich ab. Und wie üblich, dauert es fast eine Dreiviertelstunde, ehe es Julius wieder besser geht und er einschläft. Danach trotten wir drei, müde und erschöpft wie nach einer verlorenen Schlacht, nach unten ins Wohnzimmer.

Tom starrt immer noch mit aufgerissenen Augen mucksmäuschenstill in den Flimmerkasten.

Ich richte meinen Blick auf den Fernseher und stiere auf ein furchteinflößendes Bild. Zwei schwarz verkohlte Bündel liegen in einem Haufen aus Trümmern und Asche. Es dauert einen kurzen Augenblick, bis ich begreife, dass es sich um verbrannte Leichen handelt. Just in diesem Augenblick huscht Krister Henriksson alias Kommissar Kurt Wallander über den Bildschirm. Da fällt mir ein, woher ich diese Szene kenne.

»Tom, was schaust du denn da?«, rufe ich in den Raum, während ich mich hektisch und schützend vor den Fernseher stelle.

»Pinocchio!«, brüllt Tom zurück.

Wir waren wohl so lange mit Julius beschäftigt, dass die Festplatte des Fernsehers automatisch die nächste Aufnahme gestartet hat.

Allmählich läuft hier alles aus dem Ruder, geht es mir verzweifelt durch den Kopf. Mein Leben ist mir aus den Händen geglitten, so wie das rote Holzmännchen immer Julius entgleitet.

Dabei schien doch erst einmal alles ganz normal zu sein.

4. April 2008

Sechs Jahre vorher

Ich feiere zum vierunddreißigsten Mal meinen Geburtstag. Aber zum allerersten Mal mit einem Kind in meinem Bauch.

Auf dem Glastisch vor mir stapeln sich, neben zerknüllten Geschenkpapierfetzen, nagelneue DVD-Boxen. »Greys Anatomy« – die komplette zweite Staffel, »Friends – Episode 1–10«, »Emergency room« – Staffel 1. Keine Klamotten, keine Schals, Parfumflacons oder gar Unterwäsche. Die mitgebrachten Präsente meiner zwei Freundinnen sind eher zweckmäßig. Ich muss noch über acht Wochen mit meinem dicken Bauch auf dem Sofa ausharren.

Seit sieben Monaten wächst ein Kind in mir heran. Seit sieben Monaten mache ich mir Sorgen und Gedanken, wie wohl alles werden wird. Gedanken, die ich mir nie machen wollte.

Wird Michael mich mit Kind noch attraktiv finden? Sind wir womöglich doch schon zu alt? Werden wir als Eltern alles richtig machen?

Kann das Kind in mir schlafen, auch wenn ich mal wieder vor lauter Grübeleien in der Nacht kein Auge zumache? Geht es ihm gut, auch wenn ich furchtbar aufgeregt bin? Hat es womöglich rote Haare wie ich? Was hatte ich als kleines Mädchen unter meinem Kupferdach gelitten!

»Guter Hoffnung sein« kann man meinen Zustand nicht unbedingt nennen. Michael hatte recht, ich mache mir viele Gedanken, viel zu viele Gedanken. So viele, dass sie mich beunruhigen. Am allermeisten verunsichern mich diese Wehen, die ich schon seit Wochen habe. Meine Frauenärztin hat mir Schonung verordnet, sieht aber sonst keinen Handlungsbedarf.

»Ich merke, Sie denken zu viel nach! Aber nun bleiben Sie eben zu Hause und ruhen sich aus. Ich schreib Sie jetzt krank, das tut Ihnen vielleicht gut!«, meinte sie vor einigen Wochen, nachdem ich wieder einmal kurzfristig wegen Bauchschmerzen außerhalb der normalen Vorsorgeuntersuchungen bei ihr in der Praxis erschien.

»Diese ganzen zusätzlichen Untersuchungen bekommen wir alle von der Krankenkasse nicht bezahlt!«, erklärte mir die Arzthelferin mit einem Lächeln und einem reizenden Augenaufschlag. »Die sind auch oft unnötig.« Sie hat schon drei Kinder auf die Welt gebracht und weiß Bescheid, das hatte sie mir stolz bereits beim vorletzten Besuch mitgeteilt. Ich war mir sicher, in ihren Augen den Ausdruck »hysterische Erstgebärende« lesen zu können.

Seither verbringe ich fast den ganzen Tag auf dem Sofa. Ich schlage die Zeit mit dem Glotzen von hirnlosen Daily Soaps und Kochsendungen tot. Das Grinsen von Johann Lafer hat sich bereits in meinem Gehirn festgefressen. In meinen naiven Träumen von einer Schwangerschaft habe ich mich in hübschen Umstandskleidchen und mit rosiger Gesichtsfarbe bei der Arbeit gesehen. Jetzt trage ich täglich dieselben schwarzen Leggings und ein weites Schlabber-Shirt. Das Haus verlasse ich kaum noch.

Michael ist erst vor ein paar Monaten bei mir eingezogen. Er renoviert gerade noch einen Bereich im Obergeschoss für sich. Schließlich braucht sein Klavier, besser gesagt: sein Flügel, eine würdige Bleibe. Ich (und wahrscheinlich der Rest meiner Nachbarschaft) werde den Tag nie vergessen, als sich ein riesiger Schwerlastkran in unsere kleine Sackgasse zu meiner Doppelhaushälfte zwängte. Der LKW mit dem wertvollen Piano im Laderaum versperrte bereits die komplette Straße von der entgegengesetzten Seite aus.

Kurz darauf versammelte sich in meinem beschaulichen schwäbischen Dorf, in meinem idyllischen Sträßchen, eine nicht geringe Menschentraube, und fassungslose Gesichter starrten mit offenen Mündern in den Himmel. Man hätte vermuten können, sie beobachteten gerade, wie sich E.T., der Außerirdische mit dem Fahrrad, über die Dächer ihrer Häuser hinweg auf den Weg nach Hause macht.

Hier aber schwebte ein Kawaiflügel, festgehalten von ein paar Zurrgurten, hoch in den Himmel, wurde immer kleiner und kleiner, ehe er in der Balkontür des dritten Obergeschosses meines Hauses verschwand.

Jetzt verstanden auch alle neugierigen Nachbarn, warum einige Tage zuvor ein großes Stück Balkongeländer weggeschweißt worden war. Nur so war es überhaupt möglich, das imposante Musikinstrument direkt ins Haus zu schwingen. Ich liebe Michael. Er soll sich wohlfühlen bei mir. Und wenn es hätte sein müssen, hätte ich auch das Dach abdecken lassen, um seinen Flügel irgendwie in dieses Haus zu bekommen.

Michael und ich hatten lange über die Form unseres Zusammenlebens nachgedacht. Und ich konnte es gut verstehen, dass ihm die Entscheidung zu mir zu ziehen schwerfiel. In mein Haus. In die vier Wände, die ich verputzt und gestrichen hatte. Eingerichtet mit Möbeln, die ich ausgesucht hatte. Mir bedeutete mein Heim viel, ich wollte es nicht aufgeben. Im Winter 2002 hatte ich es meiner mittlerweile verstorbenen Tante abgekauft. Das Haus war alt und renovierungsbedürftig. Einige Monate davor hatte ich, nach meinem Studium in Fulda, eine Anstellung als betriebliche Sozialberaterin in einem großen Stuttgarter Unternehmen gefunden. Damit war klar, dass ich wieder in meine alte Heimat, das Schwabenland, ziehen würde. Das Haus meiner Tante bot sich geradezu an.

Ich hatte damals kein Geld, doch viele Freunde, die mithalfen, Decken einzuziehen, Fenster und Türen einzubauen und wild wuchernde Bäume im Garten zu fällen.

Es ist keineswegs das perfekte schwäbische Haus entstanden, aber ein gemütliches und individuelles Zuhause mit vielen Erinnerungen an früher.

Das zweite Obergeschoss war bisher nicht bewohnt. Ich hatte die Tür nach oben einfach zugeschlossen, bis Michael einzog. Daran denke ich, während ich an meinem Geburtstag auf dem Sofa liege.

»Am Montag musst du unbedingt in die Klinik fahren! Ich verstehe die Frauenärztin nicht. Du brauchst doch Wehenhemmer! In so einem Fall geht man doch auf Nummer sicher!« Meine Freundin Moni, die mit einem Gläschen Sekt neben mir sitzt, ist empört. Sie ist Ärztin und fühlt sich für mich verantwortlich. Moni war schon immer diejenige von uns, die man als Erste um Rat fragte und die auch gerne einen solchen erteilte. Früher ging es hauptsächlich um Liebesthemen: Konnte man sich bei seinem Schwarm schon telefonisch melden, oder sollte man doch lieber warten, bis er anrief? Stellte die Ex von ihm noch eine Gefahr dar? Gab es noch eine Chance, den Herzensbrecher zurückzugewinnen? Moni wusste immer, was zu tun war, und schien stets fest von dem überzeugt, was sie sagte.

»Ich würde mich einfach nicht mehr vom Sofa wegbewegen! Ist doch toll, du kannst lesen, fernsehen und dich versorgen lassen! Was gibt es Schöneres? Ich kapiere nicht, dass du trotzdem noch so viel herumläufst!« Claudi sitzt mit ihrem Milchkaffee in der Hand in meinem »Sorgensitz«, einem roten Schaukelsessel, und wippt neben uns gemütlich hin und her. Der Sessel ist mein Lieblingsplatz hier im Haus. Auf ihm kann man sich so herrlich Sorgen machen, während man in meinen kleinen, bunt bepflanzten Garten blickt. Es ist nichts Neues, dass Claudi mich nicht versteht. Das Leben zu meistern gleicht bei ihr der Lösung mathematischer Aufgaben: Hat man Bauchschmerzen, legt man sich hin. Vom Joggen kriegt man Muskelkater, also lässt man es besser sein. Will man später genügend Geld zur Verfügung haben, muss man eben einen gut bezahlten Beruf erlernen oder einen reichen Mann heiraten. Oder beides. Für sie folgt das Leben einer Art Rechenaufgabe. Zählt man die Zahlen richtig zusammen, kommt am Ende auch das korrekte Ergebnis heraus.

Ich habe Mathematik allerdings schon immer gehasst. Bei mir ging die Rechnung zum Schluss nie auf. Ohne Claudis Nachhilfe hätte ich im Mathe-Abitur gnadenlos versagt. Dabei ist es keineswegs so, dass ich nicht kalkulieren oder planen könnte. Oder überhaupt nicht daran interessiert wäre, exakte Lösungen herauszufinden. Ganz im Gegenteil! Ich habe sehr wohl den Anspruch an mein Leben, es solle bitteschön eine Erfolgsgeschichte sein. Keine mit großem Brimborium oder Trara, aber eine mit großen Gefühlen. Und mit Happyend.

Doch vielleicht wähle ich in meinem Leben öfter die komplexen Aufgaben aus. Die mit den vielen Unbekannten. Davon würde meine Freundin Claudi von vornherein die Finger lassen.

Wie hübsch meine beiden Freundinnen aussehen, denke ich. Die eine blond, die andere dunkelbraun. Ich sitze mit meinem Kupferhaar dazwischen. Schwarz, Rot, Gold. Das sind wir. Wir drei Frauen, die wir fast unser ganzes Leben zusammen verbracht haben. Mit Moni habe ich schon im Kindergarten gemeinsam Laternen gebastelt, Claudi habe ich auf dem Gymnasium kennengelernt.

So verschieden unsere Haarfarben sind, so unterschiedlich sind auch unsere Lebensgeschichten. Claudi hat nach dem Abitur Betriebswirtschaft studiert und arbeitet nun schon seit Jahren im Controlling eines weltbekannten Bekleidungsunternehmens. Wir alle profitieren davon und tragen seither Klamotten, die wir uns sonst nicht leisten könnten. Jacken, Hosen, Röcke – häufig günstige Mitarbeitereinkäufe, die Claudi gerne an uns verteilt. Mode ist wahrscheinlich eines der Themen, die uns drei gleichermaßen interessieren. Wobei dieses Thema in letzter Zeit in den Hintergrund rückt, weil wir uns hauptsächlich mit der menschlichen Fortpflanzung beschäftigten. Claudis kleine Tochter Lilly ist mittlerweile fast drei Jahre alt und mein sogenanntes Patenkind. Sie ist zwar nicht getauft, aber falls Claudi und ihrem Mann etwas passiert, ist klar, dass ich für Lilly sorgen werde. So haben wir es vereinbart.

Claudis Schwangerschaft lief nicht ganz nach Plan, obwohl die fruchtbaren Tage und der Moment des Eisprungs vorher genau berechnet wurden. Sie wurde von einer so heftigen und nicht vorhersehbaren Übelkeit begleitet, dass sie zehn Kilo abnahm, statt Pfunde zuzulegen. Ihre Umstandskleider bestellte sie sich gegen Ende der qualvollen Zeit in Größe 34. Diese Kleider werde ich mir wohl niemals ausleihen können, nicht einmal unschwanger. Die ersten Monate mit Lilly im Bauch lag Claudi stumm und leichenblass neben ihrer Spuckschüssel im Bett. Ich liege auf dem Sofa und esse.

Monis Plan ist noch gar nicht aufgegangen. Sie wartet bereits seit Jahren darauf, endlich schwanger zu werden. Mit ihr verbindet mich seit einiger Zeit die Gemeinsamkeit, mit einem älteren Mann zusammen zu sein. Fünfzehn Jahre liegen zwischen Michael und mir. Ein älterer Mann, einer mit Vorgeschichte und »Erstfamilie«. Das ist so eine von den Aufgaben, die Claudi nie auswählen würde. Und jetzt erwarte ich auch noch ein Kind von Michael.

»Hast du dir das gut überlegt? Was ist, wenn er bald stirbt? Oder krank wird? Dann sitzt du mit dem Kind allein da!«, hat sie mich gewarnt. »Oder kannst dich womöglich auch noch um ihn kümmern! Das wäre mein Albtraum! Aber gut, ich weiß schon, du siehst das anders!«

Ich kann ihre Reaktion auf meine Familienplanung wie Alarmglocken in meinen Ohren läuten hören. Und ich würde lügen, wenn ich die Schwierigkeiten, die Michaels Vorleben mit in unsere Beziehung brachte, als harmlos beschreiben würde.

Denn als wir uns kennenlernten, war Michael noch verheiratet und hatte bereits zwei Kinder. Aber wir waren uns so sicher. Ganz sicher: Wir hatten beide die große Liebe gefunden – auch wenn das jetzt schnulzig klingt.

Michael trennte sich, ließ sich scheiden, und wir wussten, wir würden das mit der Patchworkfamilie irgendwie hinbekommen. Drei Jahre ist das jetzt her. Drei Jahre haben wir an unserem »Flickenteppich genäht«. Und er hält. Man kann mittlerweile getrost daran reißen und ziehen.

Alexander, sein Sohn, ist neunzehn Jahre alt und lebte nach der Trennung von Michael und seiner ersten Frau noch eine Zeitlang bei Michael. Eine Art Männer-WG, die Michael einige Nerven gekostet hat. Nicht angemeldete Hauspartys mit anschließendem Renovierungsbedarf, überfüllte Aschenbecher in jeder Ecke und merkwürdige Übernachtungsgäste auf dem Sofa, die selbst Alexander am nächsten Morgen nicht mehr kannte, waren keine Seltenheit. Mittlerweile ist Alexander nach Berlin gezogen und macht dort eine Ausbildung.

Charlotte, die Kleine, ist inzwischen fünfzehn und schminkt sich die Augen so schwarz, als wollte sie jederzeit bereit sein, Robert Smith von The Cure bei einem seiner Konzerte zu vertreten. Auch wenn sie hauptsächlich bei ihrer Mutter wohnt, hatte sie bisher immer ein Zimmer – erst bei Michael und nun bei uns in meinem Haus.

Ich habe seine beiden Kinder ins Herz geschlossen. Aber ich habe sie nicht unter meinem Herzen getragen. Und das war ein Problem. Für mich. Und somit auch für uns.

Ich kann mich an so viele Diskussionen erinnern. Und alle endeten gleichermaßen. »Ich habe doch schon Kinder«, sagte Michael, als ich vor vielen Monaten an einem Abend bei einem Glas Wein wieder einmal das Thema »Baby« aufgriff. »Das weißt du doch.« Er lächelte. Gequält.

»Aber nicht mit mir.« Ich schaute ihn an. Wir saßen auf der Terrasse meines Hauses. Man hörte Kinderlachen und Vogelgezwitscher in der Nachbarschaft.

»Kinder zu bekommen ist kein Zuckerschlecken.«

»Ach, Michael, Millionen Paare haben Kinder bekommen und es überlebt. Du hast Kinder. Und jetzt? Sieh dich doch an! Sie sind das Wichtigste für dich! Ich kann aber nicht noch zehn Jahre darüber nachdenken.«

»Das weiß ich. Vielleicht bin ich dann der falsche Partner für dich.« Er sah mich an, und unsere Blicke tauchten ineinander.

Ich liebte diesen Mann, und er, das wusste und spürte ich, liebte mich. Aber aus irgendwelchen mir damals nicht nachvollziehbaren tiefen Gründen wollte er kein Kind mit mir. Obwohl seine zwei Exemplare doch so wundervoll waren.

»Ich verspüre diesen Kinderwunsch einfach nicht mehr!«

Das konnte ich nicht begreifen. Wenn man sich liebte, hatte man doch ein Verlangen danach, aus dieser Liebe etwas Großartiges entstehen zu lassen. Ein Kind. Das war meine romantische Überzeugung.

Was, wenn er sich nicht darauf einließ? Wenn er tatsächlich kein Kind mit mir bekommen wollte? Niemals? War er dann wirklich der richtige Mann für mich? Der Mann, mit dem ich auch kinderlos alt werden wollte?

»Ich denke darüber nach«, sagte er. Mehrfach. Oft. Wir diskutierten. Redeten. Stritten. Wir versöhnten uns, diskutierten wieder.

»Außerdem traue ich es dir nicht zu«, gestand mir Michael irgendwann. »Du wirst das nicht schaffen. Mit Kind kannst du nicht einfach mal für eine Woche in die Berge abhauen und deine Freiheit genießen! Stattdessen gibt es durchwachte Nächte und Gebrüll, Tränen, Stress. Kinder bekommen ist nicht wie in der Werbung. Es ist anstrengend und niemals perfekt. Bei dir muss doch immer alles perfekt laufen! Nachher steh ich mit dem Baby da, weil du zwar ein Kind wolltest, aber das Muttersein nicht erträgst. Und dazu bin ich echt zu alt.«

Aber ich war doch so anders, als er dachte. Ich fühlte mich zwar stark und frei, war aber auch unendlich pflichtbewusst und überhaupt, wie viele Frauen haben schon Kinder bekommen, ohne sich großartig Gedanken darüber zu machen?

Natürlich war ich finanziell unabhängig von ihm, wollte und konnte es bleiben. Schließlich hatte ich einen gut bezahlten und unbefristeten Job. Es gab die Elternzeit und sogar noch Elterngeld!

Zwei Jahre redeten, diskutierten, stritten wir, diskutierten wieder.

»Du willst es wirklich?«, resignierte Michael schließlich. »Ganz sicher?«

»Klar!« Ich war überzeugt von meinem Wunsch. Ich würde es schaffen, zur Not auch ohne ihn.

»Zumindest beginnt dann jetzt eine tolle Zeit! Die Zeugungszeit ist das Allerbeste daran!« Wir lachten.

Claudi wirft mir einen Blick zu und holt mich in die Gegenwart zurück. »Na ja, immerhin musst du dir in dieser Situation keine Sorgen ums Geld machen. Du kannst dich echt entspannen und die Schwangerschaft vollends auf dem Sofa genießen! Auch wenn das Kind da ist, verdient Michael erst mal genug für euch alle.« Ein Punkt, der Claudi, wie ich weiß, sehr beruhigt. Sie wirft einen kurzen Blick zu Moni, die ihr ausweicht und so tut, als ob sie diese Äußerung gar nicht wahrgenommen hätte. Wobei mir klar ist, was Claudi denkt, aber nicht ausspricht. Michael ist Arzt. Sein Job ist sicher, gut bezahlt, anerkannt. Hier hat er die volle Punktzahl.

Monis Freund ist Künstler. Fotograf. Freischaffend. Ganz schlecht. Für Moni ist es der erste Mann, mit dem sie es längere Zeit aushält. Alle anderen vielversprechenden Verehrer hatten nicht mal den Ansatz einer Chance auf eine dauerhafte Beziehung mit ihr. Und es gab einige.

Obwohl Moni das wohl aufwendigste Studium von uns allen absolviert hat und gegenwärtig noch in ihrer Ausbildung zur Neurologin steckt, stehen für sie ihre Freundinnen immer im Vordergrund. Sie hätte ebenso gut eine Mitwirkende dieser ganzen Ärzteserien sein können, die ich momentan sehe. Bei all unseren Treffen, habe ich immer wieder die Fantasie, Moni würde diesen Arztkittel nur als eine Art Verkleidung tragen. Vielleicht, um ihrer erotischen Ausstrahlung den letzten Kick zu geben. Was er zweifellos tut. Und ihren Arzttitel, um ihren geschätzten Beratungsgesprächen noch eine wissenschaftliche Grundlage zu verleihen. Was ebenso der Fall ist. Schon oft habe ich mir vorgenommen, sie bei ihrer Arbeit zu besuchen, um mich endgültig einmal vergewissern zu können, dass sie als wahrhaftige Ärztin im Krankenhaus ernsthaft ihrer Tätigkeit nachgeht.

Obwohl sich Monis medizinischer Ehrgeiz in Grenzen hält (sie ist wahrscheinlich die Einzige ihrer Art, die kurz vor Abschluss ihrer Promotion alles hinschmeißt, weil die ganze Arbeit mit diesem Computer ihr doch zu viel wird), überspringt sie alle Hürden eines Medizinerlebens mit charmanter Leichtigkeit. So richtig verwundert hatte es mich deshalb auch nicht, dass sie vor einiger Zeit, kurz nach ihrer Festanstellung als Assistenzärztin, bei ihrem Arbeitgeber einen Teilzeitvertrag beantragte. Und das unverheiratet und ohne Kinder. In einer Zeit, in der wir Studienabsolventen uns, strebsam wie wir waren, nach gut angesehenen Jobs mit Aufstiegsmöglichkeiten sehnten.

»Claudi, du weißt doch, wie schwer es mir schon fällt, mal einen Sonntag lesend auf dem Sofa zu verbringen«, jammere ich nun. »Es gibt so viel zu tun. Wenn ich in den Garten schaue, dann sehe ich, dass man dringend den Rasen düngen müsste. Die Äste gehören auch geschnitten!«

»Das kann doch jetzt Michael machen! Für was ist er denn bei dir eingezogen?«, erwidert Claudi kühl, sieht meinen verletzten Blick und lacht dann versöhnlich.

»Du musst jetzt lernen, Dinge stehen zu lassen! Auch wenn sie in deinen Augen nicht perfekt sind! Was glaubst du, wie das erst sein wird, wenn das Kind da ist? Da wirst du vieles nicht mehr erledigen können!«, schließt sich Moni an. Wenigstens in diesem Punkt scheinen sich meine Freundinnen einig zu sein.

»Ich muss jetzt los, sonst wird es für mich zu spät. Ich habe morgen Frühdienst!« Zum Studiumsbeginn ist Moni leider nach Heidelberg gezogen, und dort sitzt sie seither fest. So hat sie jedes Mal eine gute Stunde Fahrzeit vor sich, wenn sie uns besuchen kommt oder wieder nach Hause fährt. Schon seit Jahren halten wir unsere regelmäßigen Lebensberatungsstunden deshalb eher telefonisch ab.

»Ich bleibe noch«, sagt Claudi. Schließlich wohnt sie nur drei Straßen weiter.

»Du versprichst mir, dass du morgen früh in die Klinik fährst, ja?« Moni schlüpft in ihren grasgrünen Tweedmantel und steckt ihre enge Jeans in die halbhohen Boots. »Und jetzt bleibst du sitzen! Ich finde allein raus!«

»Ja, versprochen«, erwidere ich artig.

»Tschüs, Michael!«, brüllt Moni im Hausflur nach oben. Dorthin hat er sich nach Ankunft der Weiberschar zur Sicherheit verzogen. Dann hören wir die Tür hinter ihr ins Schloss fallen.

»So, jetzt würde ich auch ein Sektchen nehmen.« Claudi macht sich auf den Weg zum Kühlschrank. »Und dir schenk ich noch mal vom leckeren Orangensaft nach.« Dabei grinst sie mich spöttisch an.

Drei Wochen später

»Bist du sicher, dass ich fliegen kann?« Michael steht in Anzug und Krawatte neben meinem Bett und schaut besorgt auf mich herab. Es ist kurz vor sechs Uhr, und ich bin hundemüde, weil ich wieder einmal kaum geschlafen habe. Mir wird bewusst, dass Michael heute zu irgendeinem Kongress nach Berlin reisen muss. Er soll dort einen Vortrag zum Thema »Impfschutz bei Auslandsreisen« halten.

»Ja, klar! Du kommst doch morgen schon wieder! Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ausgerechnet jetzt losgeht«, lüge ich.

Eigentlich habe ich ununterbrochen das Gefühl, das Kind würde aus mir herausrutschen, sobald ich mich in die Senkrechte begebe. Diese Gedanken sind jedoch wohl unbegründet.

Nach meinem Geburtstag hatte ich mich, so wie ich es Moni versprochen hatte, ins Krankenhaus begeben. Die Ärzte haben mich zur Sicherheit knappe zwei Wochen dortbehalten. Bei der Entlassung haben sie mir mitgeteilt, dass es nicht so aussehe, als ob es in den nächsten Tagen so weit sei. Und wenn doch, sei das auch in Ordnung. Die Lunge des Babys sei jetzt ausgereift. Um das zu erreichen, haben sie mir, über drei Tage verteilt, schmerzhafte und in Medizinerkreisen durchaus umstrittene Kortisonspritzen verabreicht. Diese sogenannten Lungenreifungsspritzen könnten allerdings unter anderem verantwortlich sein für spätere Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyperaktivitätsprobleme bei Kindern, erklärten sie. Na, super, dachte ich. Als ob dieses kleine Wesen nicht schon genügend Stresshormone über die Nabelschnur verabreicht bekommen hätte. Wenn da mal nicht ein völliger Adrenalinjunkie auf die Welt kommt!

»Das Handy lasse ich ständig an«, sagt Michael und schaut mich besorgt an. Er weiß, wie nervös ich bin. »Außer im Flieger natürlich, da muss ich es ja ausschalten. Du meldest dich, wenn was ist.«

»Na logisch!«

Michael drückt mir einen Kuss auf den Mund und geht.

Ich kuschele mich wieder in die Daunendecke, lege mich bequem auf die Seite und bette mein oberes Bein auf das große Stillkissen. Keine Stunde später beginnen die Bauchkrämpfe.

Gestern Abend habe ich vorschriftsmäßig die letzte Tablette der Wehenhemmer eingenommen. »Ab Woche 34 können Sie damit aufhören«, meinten die Doktoren. Woche 34 beginnt ganz genau heute. Kann das Absetzen bereits ein paar Stunden später Wehen verursachen?

Mein Bauch wird regelmäßig hart. Ich werde immer nervöser. Vielleicht sollte ich mir einen Tee machen, überlege ich. Zuvor muss ich noch auf die Toilette, und dort trifft mich der Schlag. Beim Herunterziehen der Unterhose starre ich auf glibbriges Blut. Das ist bestimmt der Schleimpfropf. Davon hatte die Hebamme im Geburtsvorbereitungskurs erzählt.

»Mist! Mist! Mist!«, schimpfe ich laut und starre auf die Uhr. Vielleicht ist Michael noch nicht im Flieger. Ich mache mich schnell »trocken«, ziehe mich an und schnappe das Telefon. Mit zittrigen Fingern tippe ich seine Nummer.

Der gewählte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar.

»Mist! Mist! Mist!«

Also gut, dann muss Claudi dran glauben. Ich wähle ihre Nummer. Es klingelt ewig. »Jaaaaa?«, höre ich die vertraute Stimme völlig verschlafen.

Ich bin gerettet! »Claudi, du musst sofort kommen! Es geht los!«

»Wie bitte?«, fragt sie plötzlich hellwach. »Wo ist denn Michael?«

»In Berlin!«

»Ach du meine Güte! Was macht der denn jetzt in Berlin? Warte, ich muss erst Lilly wecken! Ich bring sie zu meinen Eltern, dann komme ich sofort. Hältst du es so lange noch aus?«

»Klar!« Eigentlich haben die Bauchschmerzen schon wieder aufgehört.

»Aber ich kann dich nur hinfahren. Was machen wir, wenn das Kind jetzt kommt? Also, ich kann da nicht mit rein. Oh nein, das schaff ich nicht. Ich warte draußen, da musst du alleine durch. Nein, das pack ich nicht.« Dann höre ich ein leises Klicken. Aufgelegt.

Das war mir klar. Claudi hat schließlich Lilly mittels geplantem Kaiserschnitt zur Welt gebracht. All das Blut und das Geschrei, das ist nichts für sie. Ich lege mich auf das Sofa und versuche ruhig zu atmen. Dann klingelt mein Handy.

»Hallo Schatz! Ich bin gerade gelandet! Hast du angerufen?«, vernehme ich die gut gelaunte Stimme von Michael in meinem Ohr.

»Du kannst sofort wieder zurückfliegen!« Ich fasele etwas von Schleimpfropf, Blut, Geburt, Claudi und lege auf.

Eine Stunde später liege ich in der Entbindungsklinik auf dem Untersuchungsstuhl. Der diensthabende Arzt meint nur trocken: »Ihr Mann sollte mal auf die Tube drücken!«

Ha, wie denn? Doch alles geht gut. Das Baby wartet brav, bis der Papa eintrifft.

Am nächsten Morgen um halb zehn liegt unser Junge nach einer Bilderbuchgeburt für wenige Minuten in meinen Armen.

»Wir bringen ihn jetzt auf die Säuglingsstation«, meint die Kinderkrankenschwester.

Wie? Was? Warum denn?

»Er ist sechs Wochen zu früh und noch zu klein. Wir müssen ihn zur Sicherheit überwachen«, werde ich informiert.

Das war mir so nicht klar gewesen. Mir wird bewusst, dass ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht hatte. Alle hatten mir versichert, dass eine Geburt ab der vierunddreißigsten Woche überhaupt kein Problem sei. Ich bin davon ausgegangen, dass unser Kind auf keinerlei medizinische Hilfe angewiesen sein wird. Es wird schreien, Hunger haben, an der Brust trinken, schlafen. So hatte ich es erwartet. Doch wie es aussieht, verläuft das Kinderkriegen grundsätzlich anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Michael und ich bleiben alleine im Kreißsaal zurück.

»Wie nennen wir ihn denn jetzt?« Michael schaut mich mit strahlenden Augen an.

»Ich bin nach wie vor für Tom!« Schon seit Langem habe ich beschlossen, dass mir dieser Name am besten gefällt. Charlotte, Michaels Tochter, ist für »Felix«.

»Wir nennen ihn einfach Tom Felix. Das ist doch schön! Tom Felix. Das heißt dann der glückliche Tom!« Michael wirkt zutiefst zufrieden.

»Ja, klingt wunderschön.« Ich strahle zurück.

Ich darf duschen, und danach werden wir beide endlich zu Tom, unserem Baby, gebracht. Die Tür zur Kinderintensivstation öffnet sich automatisch, und wir treten in einen abgedunkelten Raum.

Verstohlen versuche ich links und rechts einen Blick auf die anderen Babys zu werfen, sehe aber nur übergroße Glaskästen, die teilweise mit dunklen Tüchern abgedeckt sind.

Wir bleiben vor unserem »Kasten« stehen. Wie ein Museumswächter zeigt mir die freundliche Dame den gut gesicherten »Schatz«. Ich fühle mich wie eine staunende Kunstbetrachterin, die in diesem Augenblick ein unfassbares Wunder zu sehen bekommt.

Und dann überkommt es mich. Eine Tränenflut löst sich in meinem Inneren und scheint alles mitzureißen – meinen Magen, meine Lunge und mein Herz.

Es ist der Augenblick, in dem mir schmerzhaft bewusst wird, dass ab jetzt alles anders ist. Ich bin verwundbar. Ich habe jetzt eine ungeschützte Stelle. Bei Siegfried aus der Nibelungensage befand sie sich auf seinem Rücken. Meine liegt hier direkt vor mir.

Sonntag, 19. August 2012

Vier Jahre später

Bäume, Häuser, Felder und Wiesen ziehen in rasender Geschwindigkeit an uns vorbei. Zum Glück haben wir den zähen Stau vor Ulm hinter uns. Jetzt läuft der Verkehr endlich wieder. Es ist, wie so oft, einiges los auf der A7 in Richtung Süden. Aber wir haben damit gerechnet, dass an diesem herrlichen Sommertag nicht nur wir einen Ausflug an den Bodensee machen werden.

Mein dicker Bauch fängt an, ein wenig zu ziehen. Ich lockere mit einer Hand den unteren Teil meines Sicherheitsgurtes. Mit der anderen umgreife ich weiterhin fest das Lenkrad. Außerdem meldet sich meine Blase mal wieder. Dabei habe ich in weiser Voraussicht zu Hause kaum etwas getrunken. Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel.

Tom trägt seine überdimensional großen weißen Kopfhörer und ist schon seit der Abfahrt völlig in seine Hörspiel-CD versunken. Wahrscheinlich läuft die gleiche Geschichte bereits zum dritten Mal. Aber egal. So können Michael und ich die Zeit im Auto zum Unterhalten nutzen. Wenn wir ansonsten zu dritt beieinander sind, ist eine einigermaßen störungsfreie Erwachsenenkommunikation nur ab einer Körpertemperatur von 39,5 Grad unseres Vierjährigen möglich. Im gesunden Zustand weiß Tom immer etwas zu erzählen.

»Ist das nicht toll, dass wir immer noch Ausflüge machen können?«, meint Michael auf dem Beifahrersitz. »Ich freu mich für dich, dass du dieses Mal so eine schöne Schwangerschaft erleben kannst!«

Ich wende nur kurz meinen Kopf, grinse ihn an und blicke sofort wieder auf die Straße vor mir.

»Du hast bis jetzt noch überhaupt keine Nacht schlecht geschlafen! Dieses Mal läuft es wirklich ganz, ganz anders als in der Schwangerschaft mit Tom! Das hätte ich nicht gedacht!«

Ätsch!, denke ich im Stillen für mich. Du hast eben keine Ahnung, was alles so in mir steckt. Okay, dass ich irgendwann so gut in meine Mutterrolle finde, war im ersten Jahr nach Toms Geburt nicht abzusehen.

Wieso schlief ein Säugling nicht, wenn man ihn ins Bett legte? Dabei hatte ich doch alle Regeln eingehalten. Ich achtete auf strikte Einschlafzeiten, hielt immer gleich ablaufende Einschlafrituale ab und wechselte fast nie den Schlafplatz. Trotzdem schlief Tom nur schwer ein, schlief nie durch und war meist gegen fünf Uhr morgens oder noch früher wieder hellwach. In meiner Verzweiflung ließ ich sogar den Staubsauger, den Föhn und irgendwann stundenlang eine im Internet erstandene Schlafbrummis-CD neben seinem Bettchen laufen. Auf ihr waren sämtliche angeblich beruhigenden Klänge zu hören: Waschmaschinengetöse, Autofahrgeräusche und Blinkergeknatter.

Damit könne man angeblich die Geräusche im Mutterleib nachahmen, und das solle auf Babys sehr beruhigend wirken. So stand es auf der CD-Hülle.

Auf Tom wirkte es wohl eher nicht. Nicht beruhigend zumindest.

Seine Erinnerungen an die Zeit im Uterus schienen ihn eher anzuregen. Es war nicht anders zu erwarten nach dieser angespannten Schwangerschaft. Seine anfänglichen Schlafschwierigkeiten hatten sicherlich vorgeburtliche Ursachen. Aus ihm würde nie ein in sich ruhendes Kind werden, da waren Michael und ich einer Meinung.

Beim zweiten Kind wird mir das nicht passieren. Eine zweite Schwangerschaft werde ich ruhiger erleben. Das nahm ich mir fest vor. Und mein Plan schien aufzugehen. Ich hatte allerdings auch einiges dafür getan.

»Nach fast dreihundert Psychoanalysestunden fühle ich mich bestens vorbereitet und ziemlich entspannt«, erkläre ich Michael überzeugt.

»Das merkt man. Die Ausbildung scheint dir wirklich gutzutun. Auch das hätte ich nie gedacht! Aber trotzdem, mir wäre das alles viel zu viel. Ich bewundere dich, wie du das hinbekommst. Zweimal in der Woche abends die Seminare in eurem Institut, die ganzen Diagnostikstunden, Supervisionssitzungen, und dann fährst du auch noch dreimal die Woche zu deinem Analytiker, um dich dort auf die Couch zu legen. Und nebenher arbeitest du immer noch in deinem Job! Der ziemlich stressig ist. Chapeau!«

Es stimmt. Das Studium zur psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichentherapeutin ist sehr zeitaufwendig. Aber gleichzeitig ist es für mich eine riesengroße Bereicherung. Als Tom ein gutes Jahr alt war, wollte ich mich beruflich und persönlich weiterentwickeln. Außerdem drängte mein Inneres danach, die Erfahrungen meiner Mutterschaft zu verarbeiten. Und zwar richtig. Ich wollte in die Tiefe gehen. Genau an die Stellen, an denen es noch ganz dunkel war. Da wollte ich das Licht anknipsen. Auch wenn ich wusste, dass das ziemlich schmerzhaft werden konnte. Auf irgendwelche oberflächlichen, seichten Psychoweiterbildungen hatte ich keine Lust mehr. Davon hatte ich mittlerweile genügend absolviert.

Also entschied ich mich nach einer ausreichenden Bedenkzeit für eine Bewerbung zur Ausbildung am Stuttgarter Institut für Psychoanalyse.

Obwohl mein Tagesplan seither ziemlich durchorganisiert ist, habe ich diese Entscheidung niemals bereut. Ganz im Gegenteil, ich bin mittlerweile überzeugt von der Freudschen Methode. Voll und ganz. Auch wenn die Therapieprozesse intensiv und langwierig sind. Aber wie können Menschen glauben, dass sich prägende Kindheitserfahrungen und über Jahre festgefahrene psychische Muster in nur wenigen Therapiesitzungen auflösen ließen? Das wäre meiner Meinung nach viel zu einfach und würde der Komplexität des menschlichen Gefühlslebens nicht gerecht.

Außerdem zähle ich auch noch zu den menschlichen Exemplaren mit besonders verworrenen emotionalen Vorgängen, deshalb war die Analyse genau das Richtige für mich. Seit über zwei Jahren bin ich nun dabei, die menschliche Psyche, allen voran meine eigene, zu ergründen.

Kann es etwas Spannenderes geben?

»Musst du es dir immer so schwer machen?«, meinte Claudi, als ich ihr damals von meinen beruflichen Plänen erzählte. »Dann hör wenigstens auf zu arbeiten!«

»Du weißt doch, ich muss mein eigenes Geld verdienen. Ich will nicht von Michael abhängig sein«, antwortete ich ihr.

Und es funktionierte. Während meiner Arbeitstage wurde Tom in einer Kindertagesstätte betreut. An meinen Seminarabenden kümmerte sich Michael um ihn, ebenso an den Wochenenden, wenn ich über den Büchern hing und mich darin übte, Therapieanträge zu schreiben und Patientenkontakte zu dokumentieren. Einen Tag in der Woche hatte ich komplett frei, und den genoss ich mit Tom.

Es lief so gut, dass ich ein zweites Kind wollte.

»Bist du wahnsinnig?«, rief Michael, als ich ihm meinen Wunsch mitteilte. »Was willst du denn noch alles?« Er schlug lachend beide Hände vors Gesicht.

»Aber schau doch mal. Es läuft alles so gut! Wie schön wäre es, wenn Tom ein großer Bruder werden würde. Er könnte sich mit seinem Geschwisterchen nachts heimlich unter der Bettdecke Gruselgeschichten erzählen. Sie könnten sich gemeinsam Streiche überlegen und würden sich beim Essen um den ersten Pfannkuchen streiten. Es wäre Trubel im Haus. Du weißt doch, dass mir so was gefällt!«

»Und was ist, wenn dir was passiert? Oder du wochenlang wegen Wehen ins Krankenhaus musst? Ich krieg Herzrasen, wenn ich nur daran denke!«, konterte Michael.

»Tom könnte seinem Bruder oder seiner Schwester das Fahrradfahren beibringen. Und das Laufen! Und das Lesen! Ach, er wäre sicherlich ein stolzer großer Bruder!«, schwärmte ich.

»Und deine Ausbildung? Mit zwei Kindern kriegst du das alles nicht mehr unter einen Hut!«

»Nach meiner Vorprüfung kann ich locker ein Jahr Pause machen. Danach fängt dann die richtige Therapeutenzeit an. Das ist doch optimal. Ich kann meine Sitzungstermine so legen, wie es mir passt. Außerdem verdiene ich dann damit bereits Geld und kann meinen Job kündigen. Tom wird bald bei uns im Ort auf die Schule gehen. Nebendran ist der Kindergarten. Und wenn ich erst mal eine Praxis eröffne, können beide sogar mittags immer zum Essen heimkommen. Das ist doch super! Komm, du weißt: Eins ist keins!«

»Na ja, auf Tom trifft das aber nicht zu. Du weißt, wie anstrengend es mit ihm oft ist. Für einen Tom ziehe ich dir locker drei harmlose Mädels auf!«

»Aber es ist wunderschön, das kannst du nicht leugnen!«

»Nein, das will ich auch nicht. Und ich muss dir auch sagen: Du bist eine tolle Mutter! Ich habe dich echt unterschätzt«, lobte Michael.

»Oh, das hast du mir noch nie so gesagt.« Ich weiß noch genau, wie gerührt ich von diesen Worten war.

Danach ging alles ganz schnell. Ein Schuss, ein Treffer, frotzelten wir beide noch. Unser zweites Kind war auf dem Weg.

Daran denke ich auf der Fahrt an den Bodensee, während Michael seine Hand auf meinen Oberschenkel legt. In der anderen hält er einen Apfel, in den er immer wieder genüsslich hineinbeißt.

Keine einzige schlaflose Nacht habe ich in dieser Schwangerschaft erlebt, das hat er richtig beobachtet, überlege ich mir. »Na, dieses Mal ist es doch eine super Schwangerschaft, oder?«, meinte sogar meine Frauenärztin beim letzten Vorsorgetermin.

Natürlich habe ich schon seit Längerem häufiger einen harten Bauch und oft ein schmerzhaftes Ziehen. Aber das macht mir keine große Angst mehr.