Mein Gott kann. -  - E-Book

Mein Gott kann. E-Book

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Beschreibung

Unser Gott ist ein Gott, der es liebt, mit Menschen Geschichten zu schreiben. Geschichten der Befreiung. Geschichten des Heilwerdens. Geschichten der Hoffnung. Geschichten, von denen die Protagonisten nicht schweigen können - und sollen. Denn in der Bibel fordert uns Gott selbst dazu auf, von seinen Wundern zu erzählen, die noch heute geschehen: Sei es ein überlebter Amoklauf, eine innere Wiederherstellung nach langem Kampf oder eine ganz besondere letzte Wegbegleitung. In diesem Buch erzählen drei ganz unterschiedliche Personen von ihren ganz unterschiedlichen Erlebnissen - mit demselben Gott: dem Gott aller Hoffnung, dem nichts unmöglich ist. Diese bewegenden Geschichten sind eine wunderbare Möglichkeit, anderen und sich selbst Hoffnung zwischen zwei Buchdeckeln zu schenken.

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Über die Herausgeberin

Désirée Wiktorski ist Lektorin bei Gerth Medien und Autorin. Es ist ihre große Leidenschaft, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen und um die großen Fragen des Glaubens und des Lebens zu ringen. Das macht sie unter anderem in ihrem eigenen Podcast „Zwischen Himmel und Herz“ und im „Flügelverleih“, dem Podcast von Gerth Medien. In ihrer Freizeit liebt sie es außerdem, Lieder zu schreiben und Lobpreis zu machen, und sie ist Mitgründerin und Leiterin des Gebetshauses Wetzlar. Seit 2020 ist sie glücklich verheiratet.

INHALT

Vorwort

Was Gott aus Scherben wieder aufbauen kann Ulrike Blessing

Wenn alles zerbricht … und eine neue Hoffnung wartet Franziska Römer

Der Vorhang des Himmels Stefanie Kloft

ANHANG

Songliste für einen „Glaubensbooster“

Bibelverse zur Gebetsunterstützung:

VORWORT

Ich habe sie selbst schon mehrfach erlebt, diese Momente, in denen ich mich ohnmächtig gefühlt habe, in denen unschöne Dinge passiert sind, die sich meiner Kontrolle entzogen haben, in denen ich mich wieder einmal mit meiner eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit konfrontiert sah. Diese Momente, in denen alles in mir wortlos schrie: „Ich kann nicht mehr.“

In einem jener Momente fiel mir vor einigen Monaten dieser kurze Gedankenfetzen ins Herz: „Ich kann nicht, aber du kannst, Gott.“ Und es waren diese wenigen Worte, die den Schalter umlegten, die mich wieder den Hoffnungskurs wagen ließen und mir eine ganz neue innere Erlösung brachten – und es seither immer wieder tun, wenn ich an meine Grenzen stoße. Denn sie helfen mir, den Blick von mir selbst und meiner Schwäche abzuwenden und hin zu dem zu schauen, der alles kann und dem alles möglich ist – auch und gerade dann, wenn ich keine Kraft mehr habe. Wenn ich an mir selbst und meinem Glauben zweifle, wenn ich gerade Schlimmes durchleben muss, auf das ich keinen Einfluss habe, oder mich einer Situation schlichtweg nicht gewachsen fühle. Dieses radikale „Von-mir-weg-und-auf-Jesus-Schauen“ ist zum „Game Changer“ meines Glaubens geworden. Es malt mir Gottes Größe und Macht vor Augen, die sich nicht davon einschränken lässt, ob und wie viel ich selbst noch kann.

Ich liebe deshalb Geschichten von Menschen, die das ebenfalls erlebt haben: dass Gott genau dort seine Macht erweist, wo wir am Ende unserer Möglichkeiten angekommen sind. Und dass er selbst aus den schmerzhaftesten Situationen etwas Gutes entstehen lassen kann – und so aus unseren wunden Punkten Wunderpunkte macht.

Die drei Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, könnten dabei unterschiedlicher kaum sein: Drei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten machen in ganz unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens bewegende und teils zutiefst erschütternde Erfahrungen, die sie an ihre Grenzen bringen – und die ohne Gottes Eingreifen hoffnungs- und ausweglos erscheinen. Doch alle drei begegnen mitten in Schmerz, Ohnmacht und Überforderung demselben Gott, der auf wundersame Weise zeigt, dass er das Unmögliche möglich machen kann und sich in ihren Lebensgeschichten verherrlicht.

Interessanterweise tut er dies jedoch nicht, indem er ein Machtwort spricht und von einem Moment auf den anderen alles verändert. Vielmehr flüstert er leise in verletzte Herzen, heilt sachte, stellt schrittweise wieder her, arbeitet geduldig an alten Verletzungen, ungesunden Glaubenssätzen und Traumata, führt behutsam in Freiheit und Vergebung und liebt in unendlicher Sanftmut scheinbar verlorene Menschen und „hoffnungslose Fälle“ nach Hause. Weil er weiß, wie man sich verletzten Menschen nähern muss …

Nein, Gott spricht häufig kein Machtwort, sondern erweist gerade in der Sanftheit, mit der er seinen Kindern begegnet, seine Macht. Es scheint, das ist die DNA unseres Gottes, der sich dazu entschloss, als kleines, bedürftiges Kind auf diese Welt zu kommen, um sie später als verwundeter Heiland (scheinbar) ohnmächtig am Kreuz hängend zu erlösen. Der in seinem von außen betrachtet schwächsten und elendigsten Moment seine größte Macht demonstrierte, als er durch seinen qualvollen Tod und seine Wiederauferstehung ein für alle Mal Sünde, Tod und Teufel entmachtete.

Damit stellt Jesus Christus die Machtverhältnisse dieser Welt endgültig auf den Kopf und bringt unmissverständlich zum Ausdruck: Der allmächtige Herrscher und Schöpfer des gesamten Universums hat eine Schwäche für das Schwache. Für die Schwachen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr können. „Gott hat das Schwache erwählt“ – heißt es in 1. Korinther 1,27.

Wie tröstlich, dass unsere schwächsten und verwundbarsten Momente uns nicht für Gottes Reich disqualifizieren, sondern dass er gerade durch sie Geschichten mit uns schreiben will. Geschichten, die den Glauben stärken und Hoffnung schenken, wie die in diesem Buch enthaltenen. Geschichten, die zeigen: Es gibt keinen Lebensumstand, dem Gott nicht gewachsen ist. Keine innere oder äußere Not, die er nicht lindern oder gänzlich heilen könnte.

Was mich an allen drei Geschichten jedoch am meisten berührt, ist, wie persönlich und individuell Gott den drei Autorinnen in ihren jeweiligen Umständen begegnet. Sie erfahren Hilfe nicht von einer unpersönlichen „höheren Macht“, sondern von einem Gott, der sie beim Namen nennt, der konkret in ihre Lebenssituationen hineinspricht und sich zu ihnen stellt. Von einem Gott, der sich in seinem Wort immer wieder bewusst an seine Menschen bindet, indem er sich immer wieder selbst vorstellt als „Ich bin der Herr, dein Gott“. Ja, der sich sogar namentlich über seine Kinder definiert, wenn er an anderer Stelle sagt: „Ich bin der Gott deiner Vorfahren – der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (2. Mose 3,6). Und ich bin mir sicher, dass du hier genauso gut deinen Namen einsetzen könntest …

Er ist eben kein unpersönlicher, distanzierter Herrscher, sondern ein persönlicher, nahbarer Begleiter, dem zwar alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden (vgl. Matthäus 28,18), der uns aber dennoch auf Augenhöhe begegnet und jeden einzelnen Menschen kennt, sieht und liebt. Und genau das macht den Unterschied: Ein allmächtiger Gott, zu dem wir keine persönliche Beziehung haben können, kann willkürlich und beängstigend wirken; ein allmächtiger Gott, der sich zu mir persönlich stellt, ist hingegen das hoffnungsvollste und glaubensstärkendste Fundament, auf das wir unser Leben bauen können.

Ich wünsche dir, liebe Leserin und lieber Leser, von Herzen, dass du diesem allmächtigen und persönlich zugewandten Gott und Retter in den folgenden Geschichten ganz neu – oder vielleicht sogar zum ersten Mal – begegnest und dass die geschilderten Erlebnisse deinen Glauben so stärken, dass auch in deinem Herzen die Überzeugung wächst: „Mein Gott kann.“

Der Gott, der im Leben dieser Frauen so eindrücklich und wunderbar gewirkt hat, ist derselbe, der auch mit dir durchs Leben geht. Und deshalb kann er dasselbe und noch viel mehr für dich tun, wenn auch du gerade in einer Situation stecken solltest, in der du „nicht mehr kannst“. Ich bete, dass du genau das erlebst: Wie aus deiner Leidensgeschichte eine Hoffnungsgeschichte wird, die später den Glauben anderer stärken kann …

Désirée Wiktorski

MEINE GESCHICHTE

Ich habe mich dazu entschlossen, meine Geschichte aufzuschreiben und zu teilen. Nicht weil ich mich großmachen möchte, sondern weil ich spüre, dass dies mein Auftrag ist, und möchte, dass mein Leben ein lebendiges Zeugnis ist für das, wie Gott ist und was er an mir getan hat.

In meinem Leben gab es einen Cut – ein Davor und ein Danach, etwas, das mein ganzes Ich verändert hat. Es gab einen Tag, nach dem nichts mehr so war wie zuvor! Das war der 11. März 2009. Im Alter von 15 Jahren erlebte ich an meiner Schule einen Amoklauf und verstand danach die Welt nicht mehr.

In meiner Geschichte geht es darum, wie ich mit diesen ganzen Erlebnissen, Ängsten, den Zweifeln und dem Hass umgegangen bin und immer noch umgehe. Ich werde nie verstehen, warum Gott diese schreckliche Tat zugelassen hat, und es wird auch immer ein Fragezeichen bleiben, warum ich überleben durfte und andere nicht. Trotzdem habe ich erlebt, dass Gott mich getragen und aus diesem Strudel der Hoffnungslosigkeit gezogen hat. Über diesen Prozess und einige Schlüsselmomente möchte ich erzählen und hoffe, dass Gott in deiner Geschichte auch so wirken kann und darf wie bei mir … auf seine und deine ganz eigene Art!

DAS SCHWARZE KAPITEL

Einen Tag vor dem Ereignis lag ich bei meiner Oma auf der Couch und wir schauten zusammen fern, wie öfters mal am Abend. In den Nachrichten wurde von einem Amoklauf in Amerika berichtet. Ich war geschockt und fragte meine Oma, was da passiert war, da es das erste Mal war, dass ich bewusst mit diesem Thema konfrontiert wurde. Meine Oma erklärte mir, was ein Amoklauf ist, und ich dachte in diesem Moment noch, dass so etwas ja nur in großen Städten und nur in den USA, aber doch wohl niemals in einer so kleinen und behüteten Stadt wie Winnenden passieren könnte … Am nächsten Tag sollte ich auf schrecklichste Weise herausfinden, dass ich mich geirrt hatte!

Ich ging wie üblich zur Schule, begrüßte noch Mitschülerinnen in den Klassen über mir, die ich auf dem Flur traf, und ging dann in meine Klasse. Bis ca. 9:30 Uhr verlief der Tag wie ein ganz normaler Mittwochmorgen. Wir saßen im Chemiesaal und behandelten das Thema Säuren und Laugen. Die Sitze in unserem Chemiesaal waren angeordnet wie in einem Kino, nur nicht so gemütlich. An diesem Tag hielt unsere Referendarin ihre erste Unterrichtsstunde.

Dann hörten wir merkwürdige Geräusche. Für mich hörte es sich so an, als klopfe jemand immer wieder auf einen Heizkörper. Diese Laute waren eigentlich nur im Hintergrund zu hören, und doch standen sie im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, weil sich die Geräusche ständig wiederholten. Mehrmals fragten wir unseren Lehrer, was das zu bedeuten habe. Doch er hatte auch keine Antwort, und die Referendarin versuchte unbeirrt, uns weiter etwas über Säuren und Laugen beizubringen. Aber keiner hörte mehr zu. Wir wurden alle irgendwie nervös und in unseren Gesichtern standen Fragezeichen.

Ich saß ganz hinten, da Chemie nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern gehörte und es hinten nicht so auffällt, wenn man nicht ganz so gut aufpasst. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich die Feuerleiter, die aus dem Nebenraum herausführte, der unser eigentliches Klassenzimmer war. An sich war das kein spannender Anblick, aber an diesem Tag sah ich da noch etwas ganz anderes.

Meine Mitschüler aus dem Klassenzimmer neben uns standen dort – jeder Einzelne mit einem so versteinerten und angstvollen Blick, wie ich ihn noch nie so gesehen hatte. Ich dachte noch kurz, warum sie bei einer Feuerübung so angespannt sind, und wartete die ganze Zeit nervös darauf, dass einer kommt und lächelt oder zumindest eine etwas entspannte Mimik zeigt, um uns zu beruhigen. Aber ich wartete vergeblich.

Jetzt bekam ich richtig Angst und merkte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte hier. So viele Fragen wirbelten durch meinen Kopf: Was geht hier vor sich? Was bedeuten diese Geräusche? Wer kann uns sagen, was los ist? Wir baten unseren Lehrer mehrmals, dass er herausfinden solle, was hier gerade passiert, und er tat das auch, indem er zur Tür ging und hinausschaute. Was in diesem Moment in ihm vorging, weiß ich nicht und will es mir auch gar nicht vorstellen. Ich weiß nur, dass er den Amokläufer in diesem Augenblick gesehen haben musste, weil er die Tür danach schnell wieder schloss. Er forderte uns auf, sofort in den kleinen Nebenraum zu gehen. (Hier muss kurz erwähnt werden, dass die Tür zum Chemiesaal, soweit ich weiß, die einzige in der ganzen Schule ist, welche man von außen nicht ohne Schlüssel öffnen kann.) Wir ließen alles stehen und liegen und taten, was unser Lehrer angeordnet hatte.

Ab diesem Moment überschlugen sich die Ereignisse, und es ging alles so schnell, dass ich gar nicht mehr genau nachvollziehen kann, was geschehen ist. Irgendwie trugen mich meine Füße die Stufen hinunter in den Nebenraum, bevor der Attentäter zwei Mal durch unsere Tür schoss. Den Luftzug der einen Kugel meinte ich noch an meiner Schulter zu spüren, aber sicher weiß ich das nicht. Das Grausame ist, dass er tatsächlich zwei Mal traf, was ich erst kurze Zeit später erfuhr. Unsere Referendarin wurde mit einem Schuss getroffen. (Manche meiner Mitschüler meinten, sie wollte die Tür noch abschließen oder uns Schülern den Vortritt lassen. Ich weiß nicht, was in ihr vorging. Manche erzählten auch, sie hätte noch gesagt: „Ich bin getroffen!“, aber das habe ich nicht selbst gehört.)

Die Schüler aus unserer Klasse, die sich zu dem Zeitpunkt zu Schulsanitätern ausbilden ließen, versuchten, unserer Referendarin Erste Hilfe zu leisten. Wir gaben alle unsere Schals und Tücher, um das Blut, das aus der Schusswunde austrat, zu stoppen – vergeblich! Ich bin überzeugt, dass keiner von uns in diesem Moment wirklich realisieren und begreifen konnte, was vor sich ging. Wir waren alle in einer Angstwolke gefangen und hofften einfach nur, irgendwie lebend aus der Schule rauszukommen.

Der zweite Schuss, den der Attentäter abfeuerte, traf meiner Information nach erst die Heizung und dann eine Klassenkameradin an der Seite. Sie hatte einen Streifschuss abbekommen, aber GOTT SEI DANK lebte sie. Sie kam zu uns in den Raum und war nur halb bei Bewusstsein. Wir versuchten, sie wachzuhalten und auch ihre Wunde wurde mit Schals abgebunden. Meine Mitschülerin wurde glücklicherweise relativ schnell von Notfallsanitätern versorgt.

So kauerten wir dort im Nebenraum unseres Chemiesaals zwischen all den Requisiten, quetschten uns zwischen die Regale mit Reagenzgläsern und Büchern und bangten um unser Leben. Wir weinten, hielten uns an den Händen, nahmen uns in die Arme, versuchten uns zu trösten und uns zuzusprechen, dass dieser Mensch bestimmt längst von der Polizei gestellt worden war. Wir versuchten, uns zu verstecken, und achteten darauf, dass man uns von außen nicht sehen konnte. Wir hatten solche Angst und keine Ahnung, wo der Attentäter sich im Moment befand. Er könnte uns eventuell über den anderen Raum, der an den Laborraum angrenzt, finden und plötzlich vor uns stehen. Bei dem Gedanken wurde mir ganz anders! Ich will doch noch so viel erleben, ich bin doch noch so jung! Ich will noch nicht sterben.

Schüsse hörten wir keine mehr. Es wurde still, beunruhigend still. Wir begannen, ganz leise zusammen zu singen, um uns zu beruhigen: „Der Herr segne dich“. Das ist ein Lied, das ein paar von uns kannten, da einige Christen in meiner Klasse waren. Ein Mitschüler sagte: „Jetzt hilft nur noch beten!“ Und das machte ich. Ich redete mit Gott, wie ich es erst seit einem Jahr machte, aber an diesem Tag war alles anders. Ich hatte so viel Angst um mein Leben und das der anderen. Ich weiß nicht mehr, was ich genau zu Gott gesagt habe, aber von einem auf den anderen Moment erfüllte mich mitten in dieser Ausnahmesituation ein tiefer Friede. Ich wurde ganz ruhig und sah mein Leben in Bildern an mir vorbeilaufen. Plötzlich hatte ich die tiefe Gewissheit, dass ich bei Gott sein werde, wenn ich jetzt sterben werde, und dass es dort schön sein wird, unvorstellbar schön. Eine Gewissheit, wie ich sie danach nie wieder in dieser Klarheit hatte.

Ich hatte etwas Angst vor den Schmerzen, die ich vielleicht noch ertragen müsste, sollte ich von einem Schuss getroffen werden, und wünschte, ich hätte mein Handy bei mir, um mich bei meiner Familie und meinen Freunden für alles bedanken zu können, aber trotzdem konnte diese Angst mir nicht meinen Frieden nehmen. Ich fühlte mich in dieser schrecklichen Situation geborgen in Gottes Hand.

Dann bekamen wir mit, dass die größte Gefahr vorüber war und wir aus dem Gebäude rauskönnten. Wir stürmten durch das hintere Klassenzimmer und durch unseren Flur und sahen die Schusslöcher in den Fensterscheiben. Wir wollten einfach nur weg. Weg von diesem Ort! Wir rannten unseren Fluchtweg entlang, der zum nahe liegenden Schwimmbad führte, und ab dann verschwimmen meine Erinnerungen wieder. Ich weiß nur noch, dass wir im Schwimmbad standen und das Ganze nicht fassen konnten.

Ich suchte meine Freundinnen aus den oberen Klassen. Wir kannten uns noch nicht lange, aber ich hatte sie in kurzer Zeit schon so lieb gewonnen. Ich fragte einige Leute nach ihnen, vor allem nach einer bestimmten Freundin, und bekam meiner Erinnerung nach die Auskunft, dass diese im Krankenhaus sei. „Im Krankenhaus!“, dachte ich, „Dann geht es ihr ja gut.“ Ich wusste nicht, wie lange wir dort herumstanden, aber ich weiß noch, dass sich der tiefe Friede in ein großes Fragezeichen verwandelte.

Alle standen da, völlig geschockt von dem, was sich in den letzten Stunden abgespielt hatte. Viele weinten, umarmten sich, liefen suchend umher. Ich hörte, dass der Amokläufer noch auf der Flucht sei – und bekam es noch einmal richtig mit der Angst zu tun, weil mir klar wurde, dass er überall sein konnte. Er konnte auch ins Schwimmbad kommen. Mir fiel jetzt erst ein, dass meine Mama Lehrerin in der Schule nebenan ist! Oh nein, bitte nicht! Ich hatte kein Handy dabei, da wir alles stehen und liegen gelassen hatten. Ich konnte keinem schreiben, und niemand wusste, dass ich lebte und es mir gut ging, und ich wusste nicht, was mit meiner Mutter war.

Später erzählte meine Mutter mir, dass in ihrer Schule eine Durchsage gemacht wurde, dass alle Lehrer die Klassenzimmer abschließen sollten und weder Schüler noch Lehrer rausdurften. Meine Mutter unterrichtete mit einer Kollegin zusammen „Technisches Werken“ und gestaltete mit ihren Schülern kleine Kunstwerke. Sie wunderte sich zwar über die Anordnung, hatte aber versucht, ganz normal weiterzumachen, und sich nichts dabei gedacht. Dann bekam sie mit, dass irgendwo ein Amokläufer unterwegs war, aber nichts Genaueres. Dass er in der Schule ihrer Tochter war, hätte sie niemals vermutet. Von der Schulsekretärin erfuhr sie, dass der Amoklauf an meiner Schule war, und im gleichen Satz, dass es mir gut gehe. So quälte sie GOTT SEI DANK nie die zermürbende Frage, was wohl mit ihrer Tochter sei …

Solange wir im Schwimmbad waren, bekamen wir kaum Infos. Zu mir drang jedenfalls nichts durch. Ich kann mich nur noch bruchhaft an diese Stunden erinnern. Ich weiß nicht mehr, wie ich dahin kam, aber meine Erinnerung setzte wieder ein, als ich bei einer Freundin zu Hause mit ihr und ihrer Mutter saß. Wir weinten und warteten. Nebenher lief der Fernseher und berichtete, dass der Amokläufer von Winnenden NOCH IMMER auf der Flucht sei. Wir konnten das gar nicht hören. Mir wurde regelrecht schlecht bei dem Gedanken, dass dieser Mensch da draußen rumläuft und vielleicht weitere Menschen tötet. Deshalb gingen wir in die Küche und schlossen die Tür.

Ich wünschte, wir hätten sie noch viel fester zumachen können, sodass keiner reinkommen könnte und wir hier absolut sicher wären. Selbst durch die geschlossene Tür hörten wir die Stimme der Tagesschausprecherin, die wieder und wieder schlechte Nachrichten verkündete. Wir hielten uns die Ohren zu und warteten, bis wir aus diesem schrecklichen Traum aufwachen dürfen. Aber leider war es kein Traum, sondern die furchtbare Wirklichkeit.

Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. Zuerst erschrak ich sehr über das laute Geräusch, aber dann stellte sich heraus, dass es mein Papa ist, der geklingelt hatte. Mein Papa! Ich habe jetzt noch Tränen in den Augen, wenn ich diesen Moment aufschreibe. Mein Papa nahm mich in den Arm – ganz lange, ganz intensiv und sagte einfach gar nichts. Ich fühlte mich so erleichtert, bei meinem Papa im Arm liegen zu können, aber andererseits auch so leer und voller Gedanken, die sich wild überschlugen. Vor allem Gedanken, die mit diesem großen, schweren Wort „Warum“ anfangen.