Mein Herz bleibt bei Dir - Kim Vogel Sawyer - E-Book

Mein Herz bleibt bei Dir E-Book

Kim Vogel Sawyer

4,9

Beschreibung

Libby, Bennett und Pete sind im selben Waisenhaus aufgewachsen. Die drei Freunde haben große Träume für ihre Zukunft und tragen schwer an ihrer Vergangenheit und an dem Gedanken, dass ihre Eltern sie im Stich gelassen haben. In einer Welt, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg steht, versucht jeder von ihnen einen Platz zu finden. Plötzlich entdeckt Libby ein dunkles Geheimnis in Petes Vergangenheit. Wird ihre Freundschaft daran zerbrechen oder kann etwas Neues entstehen?

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Bestell-Nr. 395.355

ISBN 978-3-7751-7105-2 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5355-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2012SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: In Every Heartbeat© der Originalausgabe 2010 by Kim Vogel SawyerPublished by Bethany House, a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.Cover art used by permission of Bethany House Publishers.All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Übersetzung: Ulrike Chuchra, M.A.Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.chSatz: Satz & Medien Wieser, StolbergDruck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Für meine Seelenschwester Sabra.An vielen Punkten unterscheiden wir uns stark,aber Gott hat es geschenkt, dass wir Freundinnengeworden sind. Dafür bin ich sehr dankbar.Du bedeutest mir viel!

»Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind,und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind.«1. Korinther 1,25

1

Chambers, MissouriSeptember 1914

Nur keine Tränen.

Libby Conley ließ die Schranktür vor ihren spärlichen Habseligkeiten zuschnappen und drehte sich schnell zu ihrer Mentorin und Freundin um. »Na gut, ich glaube, das war's dann.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt und ihre Stimme klang eine Oktave höher als sonst. Sie würde Maelle so sehr vermissen!

Sie zwang ihre bebenden Lippen zu einem Lächeln. »Vielen Dank, dass ihr die Jungs und mich zum College gebracht habt. Es war so schön, im Zug eure Gesellschaft zu haben. Aber …« Sie hob die Hände in die Luft und reckte das Kinn. »Ich schätze, jetzt seid ihr mich los.«

Maelle Harders ließ ihren Mann stehen und nahm Libby fest in die Arme. Libby schloss die Augen und ließ die Umarmung zu, erwiderte sie jedoch nicht. Wenn sie sich jetzt an Maelle festhielte, würde sie sie womöglich nie mehr loslassen.

»Wir sind dich los? Ach, Quatsch.« In Maelles kräftiger Stimme schwang ein humorvoller Ton mit. »Ich denke, wir werden dich wiedersehen.« Sie ließ Libby los und zwickte sie leicht ins Kinn, eine liebevolle Geste, die aus Libbys Kindheit übrig geblieben war. »Schließlich werdet ihr – du, Pete und Bennett – in knapp sechs Wochen bereits wieder nach Shay's Ford zurückkommen, wenn Matt heiratet. Mattie wird alle seine Trauzeugen benötigen.«

Libby nickte. Die Gewissheit, dass sie bald wieder in der Waisenschule sein würde, die in den vergangenen acht Jahren ihr Zuhause gewesen war, hatte ihr gestern geholfen, sich von den Leitern des Hauses, Aaron und Isabelle Rowley, zu verabschieden. Eine vorübergehende Trennung konnte Libby ertragen, aber sie sagte niemals Lebewohl, wenn sie davon ausging, dass es ein dauerhafter Abschied war. Sie hatte nicht vor, Lebewohl zu Maelle zu sagen, dem liebsten Menschen, den es für sie auf der Welt gab, obwohl sie wusste, dass es bald ein Wiedersehen geben würde. Sie verabscheute das Wort Lebewohl.

»Ich werde ganz bestimmt dabei sein. Ich freue mich schon auf das Tanzen nach der Trauung deines Bruders.« Libby hob ihren nagelneuen Rock und machte ein paar schnelle Tanzschritte, bis der braune Stoff über dem Schaft ihrer stabilen Lederstiefel wirbelte. Sie hatte vor, mit Bennett zu tanzen und auch mit Petey, obwohl er mit seinem Holzbein ein bisschen unbeholfen war.

»Es wird großartig.« Maelle lächelte und um ihre goldbraunen Augen bildeten sich kleine Fältchen. Sie legte ihre Hand in Jacksons Armbeuge und strahlte zu ihm auf. »Genauso schön wie die Feier nach unserer Trauung.«

Libby senkte den Blick auf die Spitzen ihrer neuen Schuhe, als die Blicke zwischen Maelle und Jackson intensiver wurden. Obwohl man sie keinesfalls mehr frisch verheiratet nennen konnte – ihre Hochzeit war sofort nach Jacksons Rückkehr von seiner Amtsperiode in Missouri vor fünf Jahren gewesen –, hatten die beiden nur Augen füreinander. Libby musste sich eingestehen, dass sie eine gewisse Eifersucht gespürt hatte, als Jackson nach Shay's Ford zurückgekehrt war. Bis dahin hatte sie Maelle für sich allein gehabt. Sie schloss die Augen und ließ einen vertrauten Tagtraum aufsteigen.

»Du wirst also wirklich meine Mutter?« Das Glücksgefühl, das in Libbys Innerem explodierte, brach als freudiges Kichern hervor.

Maelle strich Libby das wilde Haar aus dem Gesicht. »Ja, natürlich. Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht und kann mir keine bessere vorstellen als dich, Libby.«

Libby warf sich Maelle in die Arme. »Ach, ich bin so glücklich, dass du mich adoptierst! Danke!«

»Nein, ich möchte dir danken, mein Liebes.« Maelle legte ihre Wange auf Libbys Scheitel und die Berührung fühlte sich warm und tröstlich an. »Du hast mich zur glücklichsten Mutter der Welt gemacht …«

Ein Räuspern vertrieb die Fantasiebilder. Libby hob den Kopf und merkte, dass Maelle und Jackson sie angrinsten. Jackson sagte: »Entschuldige bitte, Libby.« Er legte seinen Arm um Maelles Taille. »Manchmal verliere ich mich im betörenden Blick meiner reizenden Frau und vergesse, dass es auch noch andere Menschen auf der Welt gibt.«

Maelle schüttelte den Kopf und ihre ungebändigten braunen Locken hüpften dabei. »Meine Güte, was du für Sachen sagst …« Aber der zärtliche Blick, den sie Jackson zuwarf, stand im Widerspruch zu ihrer sanften Zurechtweisung.

Libby presste die Lippen fest aufeinander, als ihr Zorn wuchs. Warum hatten Maelle und Jackson sie nicht adoptiert? Als Libby zehn Jahre alt gewesen war, hatte sie Maelle gebeten, ihre Mutter zu werden. Maelle hatte ihr liebevoll erklärt, dass sie Libby das Vorrecht gönnen wollte, mit Mutter und Vater aufzuwachsen. Aber dann war Jackson zurückgekehrt. Er und Maelle hatten geheiratet, und nicht einmal dann hatten sie Libby adoptiert.

Jetzt war es zu spät. Niemand hatte Libby im Alter von zehn Jahren haben wollen, warum sollte also jemand – selbst Maelle, die behauptete, sie wirklich zu lieben – eine Achtzehnjährige adoptieren? Sie würde nie das Glück erleben, Maelle Mama zu nennen, so wie sie es sich ersehnte.

Maelle wandte sich an Libby. »Sollen wir schauen, wo die Jungs sind? Ich vermute, dass Bennett inzwischen Hunger haben wird.«

Jackson streckte die Hand Richtung Tür aus und Libby ging schnell an ihm vorbei. Als sie aus dem Zimmer eilte, stieß sie im Flur beinahe mit zwei Mädchen zusammen. Sofort erinnerte sie sich an Isabelle Rowleys Lektionen über gutes Benehmen und entschuldigte sich automatisch.

Die beiden musterten Libby von oben bis unten, bevor sie einen schnellen hochmütigen Blick wechselten. Die größere der beiden sagte: »Du musst langsamer gehen.«

»Oder zumindest aufpassen, wenn du dein Zimmer verlässt«, ergänzte die zweite.

Libby verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe mich entschuldigt. Und es ist ja nicht so, als hätte ich die Absicht gehabt, euch umzurennen. Es war einfach ein ungünstiges Zusammentreffen.«

Die größere öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, traten Maelle und Jackson in den Flur. Das Mädchen überlegte es sich anders, fasste die Kameradin am Ellbogen und eilte mit ihr zur Treppe.

Mädchen! Libby hatte sich nie gut mit anderen Mädchen verstanden. Sie waren zu hochnäsig, zu zimperlich oder zu albern. Der herablassende, tadelnde Ton der Mädchen im Flur hatte zu sehr nach der Gründerin des Waisenhauses geklungen. Wie oft hatte Mrs Rowley mit Libby geschimpft, weil sie sich in Tagträume flüchtete oder undamenhaft auf Bäume kletterte oder Frösche fing? Mit der Zeit hatte Libby Mrs Rowley ins Herz geschlossen, aber sie hatte sich nie völlig von ihr angenommen gefühlt. Mit Mädchen konnte man keinen Spaß haben. Außer mit Maelle.

Libby verschränkte die Hände unter dem Kinn und schenkte Maelle ihren flehendsten Blick. »Kann ich nicht mit dir und Jackson nach Shay's Ford zurückkehren?«

Verwirrt runzelte Maelle die Stirn. »Warum solltest du das wollen? Du hast dich so darauf gefreut, auf die Universität zu gehen.«

Das war vor meinem Zusammenstoß mit Hochnäsig eins und zwei. Libby griff nach Maelles Arm. »Wenn ich zu alt bin, um in der Waisenschule zu bleiben, könnte ich mir eine Stelle bei der Zeitung besorgen oder vielleicht sogar als deine Assistentin arbeiten.« Sie konnte mit Maelles Kamera umgehen. Sie hatte so viel Zeit in Maelles Fotostudio verbracht, dass sie sich dort genauso zu Hause fühlte wie in ihrem Zimmer im Waisenhaus.

»Libby, du weißt doch, dass es dich nicht glücklich machen würde, in meinem Studio zu arbeiten.« Maelles Stimme war freundlich, doch bestimmt. »Du wolltest immer Schriftstellerin werden. Gott muss diese Tür für dich geöffnet haben, denn hier bist du genau am richtigen Ort, um das Handwerk des Journalismus zu lernen. Nicht jedes College in Missouri lässt weibliche Studenten zum Journalismus-Studiengang zu, aber hier an der University of Southern Missouri können Frauen Seite an Seite mit Männern lernen.«

Libby wusste bereits, dass sie eine großartige Chance erhalten hatte, obwohl sie das Stipendium nicht so sehr Gott zuschrieb, sondern eher Mrs Rowleys Begabung, überzeugende Briefe zu schreiben. Wie sehr hatte sie sich darauf gefreut, von ausgezeichneten Professoren angeleitet zu werden und zu lernen, wie man die Worte so setzte, dass sie die Gefühle der Leser anrührten! Maelle hatte das Fotografieren durch die Praxis gelernt, demnach könnte Libby das Verfassen von Zeitungsartikeln sicher ebenfalls durch Praxis lernen. »Ich weiß, aber …«

»Wenn Gott eine Tür öffnet, muss man hindurchgehen. Sonst verpasst man den Segen, den er einem zugedacht hat.« Sanft nahm Maelle Libbys Hand von ihrem Arm. »Außerdem hat sich meine Schwester so große Mühe gegeben, um diese Stipendien für dich, Pete und Bennett zu bekommen. Überleg doch mal, wie enttäuscht Isabelle wäre, wenn du all das einfach wegwerfen würdest.«

Libby biss sich auf die Unterlippe. Mrs Rowley war vor Aufregung fast schwindelig geworden, als sich ein Spender bereit erklärte, die ersten Schulabgänger des Waisenhauses finanziell zu unterstützen – es war der Trostpreis dafür, dass sie nie adoptiert worden waren. Sie hatten ihr, Pete und Bennett endlose Vorträge darüber gehalten, dass sie diese großartige Chance nutzen sollten. Nein, Isabelle Rowley wäre nicht glücklich darüber, wenn Libby nach Shay's Ford zurückkäme.

Sie seufzte. »Ich fürchte, du hast recht.«

Jackson trat einen Schritt vor. »Es ist verständlich, dass du ein bisschen Angst hast, Elisabet. Das ist eine große Veränderung für dich – du verlässt dein Zuhause und triffst neue Menschen. Als ich von Shay's Ford wegging, um Jura zu studieren, hatte ich Heimweh und fragte mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es dauerte eine Weile, aber schließlich lebte ich mich ein.«

Andächtig lauschte Libby Jacksons aufmunternden Worten. Würde ein Vater genauso mit ihr reden?

Er lächelte und drückte sie leicht am Oberarm. »Also wart's ab. Ich wette, dass es dir hier in einem Monat so gut gefällt, dass du nicht einmal zu einem Wochenendbesuch weg möchtest.«

Libbys Mund wurde trocken. Nicht mehr den Wunsch haben, nach Shay's Ford zurückzukehren, nicht einmal für einen Besuch – könnte das College eine solche Veränderung bei ihr bewirken? »M-meinst du wirklich?«

Maelle zog Libby sanft an einer herabhängenden Locke. »Die Gelegenheit, dich zu bilden, solltest du niemals vergeuden. Nicht jeder hat so eine Gelegenheit.«

Libby wusste, wie sehr Maelle es bedauerte, so wenig Bildung genossen zu haben. In ihrer Kindheit war sie im Wagen eines Fotografen von Staat zu Staat gereist und hatte das Fotografieren als Handwerk gelernt. Obwohl sie sich ein gutes Leben aufgebaut hatte, hatte sie Libby immer ermutigt, fleißig zu lernen und Gebrauch von den Bildungsmöglichkeiten zu machen, die die Waisenschule ihr bot. Libby war es viel wichtiger, Maelle nicht zu enttäuschen, als Mrs Rowley zufriedenzustellen.

»Na gut. Ich werde es versuchen.«

»Prima.« Maelle lächelte und bei dieser Anerkennung wurde es Libby warm ums Herz. »Du wirst merken, dass es keinen Grund gibt, sich zu fürchten.«

Libby hob das Kinn. »Ich fürchte mich nicht.«

Maelles Lächeln blieb unverändert. »Das weiß ich, Libby.« Sie legte Libby den Arm um die Schultern. »Auf geht's, schauen wir, wo die Jungs sind, damit wir uns verabschieden können. Jackson und ich werden unseren Zug verpassen, wenn wir uns nicht bald aus dem Staub machen.«

Als Libby, Maelle und Jackson über den dicken Grasteppich auf das prächtige steinerne Gebäude zumarschierten, in dem sich der Speisesaal befand, seufzte Libby erleichtert auf. Wenigstens würde sie hier in Chambers nicht allein sein. Ihre langjährigen Kameraden Petey Leidig und Bennett Martin waren ebenfalls hier auf dem Campus der University of Southern Missouri. Diese vertrauten Gesichter aus dem Reginald-Standler-Heim für verwaiste und verlassene Kinder würden ihr helfen, das Heimweh niederzukämpfen, das ihr den Magen zusammendrückte. Allerdings waren Petey und Bennett Jungen und hatten andere Studienfächer, was bedeutete, dass sie alle in verschiedenen Häusern wohnten. Es würde nicht mehr so sein wie im Waisenhaus, wo sie auf verschiedenen Stockwerken unter einem Dach gelebt hatten.

Sie näherten sich dem Speisesaal und Jackson streckte den Finger aus. »Ist das Pete dort auf der Terrasse?«

Petey musste sie zur selben Zeit entdeckt haben, denn er hob winkend die Hand und kam auf sie zugestapft. Der Wind hob die frisch geschnittenen Strähnen seines dicken blonden Haars. Dank des neuen Haarschnitts und dem brandneuen Nadelstreifenanzug wirkte er so würdevoll wie Jackson, der Anwalt war. Libbys Herz hüpfte vor Stolz über ihren Freund. Aufgrund seines Holzbeins – die Folge eines Unfalls in seiner Kindheit – hinkte er, aber das störte Libby nicht. Er zeigte kein Selbstmitleid, deshalb hatte sie nie das Gefühl gehabt, ihn bedauern zu müssen. Er war einfach Petey, ihr bester Freund und Vertrauter.

Als sie sich auf einem sonnigen Flecken in der Mitte des Hofs trafen, fragte Libby: »Wo ist Bennett?«

»Er ist schon hineingegangen.« Petey zog eine Augenbraue hoch. »Du weißt ja, wie er ist, wenn es ums Essen geht … Er sagte, er könne nicht warten.«

Jackson lachte und in den Winkeln seiner dunklen Augen bildeten sich lustige Fältchen. »Das ist okay. Du kannst ihn von uns grüßen.« Er streckte die Hand aus und schlang den Arm um Peteys Hals. Die beiden Männer drückten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. »Pass gut auf dich auf, Pete.« Jackson löste sich aus der Umarmung und warf ein neckendes Lächeln in Libbys Richtung. »Und behalte auch unser Mädchen im Auge.«

Libbys Herz schlug höher, weil er sie »unser Mädchen« genannt hatte. Ach, wenn sie doch wirklich ihr Mädchen wäre!

»Pass auf, dass sie keinen Unfug macht«, fügte Jackson hinzu.

Petey lachte in sich hinein. »Als wenn ich das könnte! Niemand kann Libby zähmen.«

Libby schnaubte und sah die beiden finster an. »Also, ehrlich! Als müsste mich jemand zähmen.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich Maelle zu. Ein großer Klumpen hing ihr in der Kehle. Sie wollte nicht, dass Maelle ging. Ihre Lippen zitterten, aber es gelang ihr, ein schwaches Lächeln aufzusetzen. »Ich wünsche euch eine gute Heimreise.«

Tränen glänzten in Maelles Augen, aber sie blinzelte sie weg. »Und du lern eifrig, damit wir alle stolz auf dich sein können.«

»Das werde ich. Versprochen.«

Maelle drückte Libby fest an sich und diesmal erwiderte Libby die Umarmung. Maelles Schultern bebten – weinte sie? Maelle weinte nie, sie war stark, genau wie Libby. Dann hörte Libby ein Schniefen an ihrem Ohr. Maelle weinte tatsächlich. Der Drang, ebenfalls zu weinen, brannte wie Feuer, aber Libby kniff die Augen fest zu, um ihm nicht nachzugeben. Sie würde nicht weinen. Nein, auf keinen Fall!

Jacksons Stimme platzte in die Szene. »Maelle, wir müssen los.«

Maelle drückte Libby noch einmal fest an sich und trat dann zurück. Libby schlang sich die Arme um den Leib und blinzelte heftig. Maelle öffnete ihren Mund, doch bevor sie Lebewohl sagen konnte, stieß Libby hervor: »Wir sehen uns dann in sechs Wochen bei der Hochzeit.« Sie packte Petey am Arm. »Komm, wir gehen. Ich habe Hunger.«

2

Pete drückte sich den Arm fest an die Rippen und ließ sich nicht von Libby wegziehen. »Warte. Ich will mich ordentlich von Jackson und Maelle verabschieden.«

Libby stieß ein kleines ärgerliches Schnauben aus, aber Pete beachtete es nicht. Er war an Libbys Schnauben gewöhnt. Es war das einzige mädchenhafte Verhalten, das sie an den Tag legte, und es war harmlos. Er blieb stehen und sah Jackson und Maelle nach, bis sie die hohe Steinmauer erreicht hatten, die das Campusgelände umgab. Wie er es vermutet hatte, hielten sie dort an und drehten sich um. Sie winkten beide.

Petey winkte mit hoch erhobener Hand zurück. Eine lebhafte Erinnerung kam ihm in den Sinn: wie er vor dem Mietshaus seiner Familie stand, zum Fenster starrte und darauf wartete, dass jemand hinausschaute und zum Abschied winkte. Er hatte stundenlang dort gestanden, doch nie hatte jemand gewunken.

Er nickte Libby zu. »Siehst du? Wie wäre es für sie gewesen, wenn sie zurückgeblickt und festgestellt hätten, dass niemand ihnen nachschaut?«

»Traurig.« Libbys Ton entsprach ganz ihrer kurzen Antwort und schien das Gefühl aufzunehmen, das er selbst im Herzen trug. Sie winkte flüchtig und zog wieder an seinem Arm. »Na gut, jetzt hast du sie ordentlich verabschiedet. Lass uns endlich essen gehen.«

Pete lachte, als er sich dem Speisesaal zuwandte. Er musste kleine Sprünge mit seinem Holzbein machen, um mit ihr Schritt halten zu können. »Ich habe noch nie erlebt, dass du so auf eine Mahlzeit aus warst. Du musst vom Verstauen deiner Sachen Hunger bekommen haben. Aber mach ein bisschen langsamer, sonst kippe ich noch um.«

Sie blieb so abrupt stehen, dass er fast nach vorn fiel. Er sah auf sie herunter und wollte sich beschweren, aber die Tränen, die in ihren samtbraunen Augen glitzerten, hielten ihn davon ab. Er hatte Libby noch nie weinen sehen – nicht damals, als sie vom Baum gefallen war und sich am Kinn verletzt hatte, auch nicht, als Bennett sie aus Versehen mit einem selbst gebastelten Baseball hart getroffen hatte, und nicht einmal dann, als sie sich eine Tracht Prügel eingehandelt hatte, weil sie am Rosenspalier des Schulwohnheims hochgeklettert war.

Besorgt legte er seine Hand auf ihre. »Libby, was ist los?«

Sie gab keine Antwort, sondern wandte sich von ihm ab und blickte über den Campus. »Ich habe meine Meinung geändert. Ich … ich glaube, ich könnte keinen Bissen herunterbringen. Ich werde stattdessen einen Spaziergang machen.« Mit entschlossenem Schritt marschierte sie los und schwang die Arme beim Gehen mit.

»Warte!« Pete trabte ihr nach, wobei er immer zweimal auf seinem gesunden Bein und einmal auf seinem Holzbein hüpfte. Selbst nach jahrelanger Übung mit dem hölzernen Ersatz für Fleisch und Blut drückte es noch schmerzhaft in seine Hüfte, wenn er sich zu schnell bewegte. Er verzog das Gesicht, holte Libby jedoch ein. Er fasste nach ihrem Arm und zwang sie anzuhalten. »Was ist los? Sag's mir.« Über die Jahre war er zum Mitwisser ihrer Geheimnisse geworden, sie hatte ihm ihre Sorgen und Enttäuschungen anvertraut. Er wartete gespannt auf eine Antwort. Doch zu seiner Überraschung blieb sie stur.

»Nichts ist los. Ich will einfach nur spazieren gehen. Geh du zum Essen.« Sie versetzte ihm einen kleinen Schubs. »Bennett hält dir vermutlich einen Platz frei. Also geh jetzt.«

Obwohl sein Magen hungrig grummelte, schüttelte Pete den Kopf. »Nein. Du weißt doch, dass Bennett alles andere vergisst, wenn er Essen vor sich hat. Er wird nicht einmal merken, dass ich nicht da bin. Stattdessen werde ich dich begleiten.«

Sie schürzte die Lippen und einen Moment lang dachte Pete, sie würde ihn wegschicken. Aber schließlich stieß sie ein weiteres leises Schnauben aus. »Na gut. Gehen wir. Hier entlang.« Die Arme vor dem Körper verschränkt und den Kopf gesenkt schlug Libby die entgegengesetzte Richtung zu dem Pfad ein, den Jackson und Maelle vorher genommen hatten. Ab und zu trat sie gegen einen Stein. Ihre Bewegungen wirkten fahrig, fast unkontrolliert, und ließen ihre übliche Anmut vermissen. Obwohl Pete sich wunderte, dass sie so aufgewühlt war, stellte er keine Fragen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es manchmal am besten war, Libby in ihrem Zorn schmoren zu lassen. Irgendwann würde sie Dampf ablassen und dann wüsste er, was los war.

Sie gingen einen von Bäumen gesäumten Pfad entlang, der an einer ungemähten, stellenweise von Wildblumen übersäten Wiese endete. Libby blieb stehen und schaute nach links und rechts, als überlege sie, welche Richtung sie einschlagen solle. Er wartete geduldig auf ihre Entscheidung und achtete darauf, nicht herumzuzappeln, obwohl das Stillstehen den Schmerz in seiner Hüfte verschlimmerte. Egal welche Richtung sie wählte, er würde ihr folgen.

Sie runzelte die Stirn und senkte den Kopf. »Was ist das?« Sie bewegte sich vorwärts und ihre Füße zertraten das dreißig Zentimeter hohe Gras. Pete ging ihr nach, den Blick auf die glänzenden Locken ihrer schwarzen Haare gerichtet, die ihr fast bis zur Taille reichten. Sie hielt so plötzlich an, dass er fast mit ihr zusammengestoßen wäre.

Sie verschränkte die Hände unter ihrem Kinn und lachte erfreut auf. »Wir haben es gefunden!«

Er schaute umher und konnte nichts Bedeutsames entdecken. »Was haben wir gefunden?«

»Das Fundament.« Libby hüpfte nach vorn und ging dann in die Hocke. Mit der Hand strich sie über eine grobe Steinmauer, die nur ein paar Zentimeter hoch war. Das hochgewachsene Gras und die vielen Wildblumen hatten sie verdeckt. Pete stützte die Hände in die Hüften und betrachtete die grauen verwitterten Steine, die ein großes Rechteck bildeten.

»Weißt du noch, was Mrs Rowley erzählt hat?« Aufregung schwang in Libbys Stimme mit. »Das Originalgebäude der Universität brannte in den späten 1870er-Jahren nieder; man beschloss, ein neues Gebäude näher an der Straße zu errichten, statt wieder auf den alten Fundamenten aufzubauen.« Ihr Blick folgte der steinernen Linie und auf ihren vollen Lippen lag ein staunendes Lächeln. »Aber es ist immer noch hier, tief auf den Erdboden geduckt, wie eine geheime Festung für Streifenhörnchen oder Eichhörnchen.« Ihre Stimme nahm einen verträumten Klang an und Petey wusste, dass sie in eine ihrer Fantasiewelten abglitt.

Mit einem kleinen Kichern stieg sie auf die Grundmauer und streckte die Arme aus. Pete griff automatisch nach einer Hand und ihre Grübchen zeigten sich, als sie lächelte. Sie hielt sich an seinen Fingerspitzen fest, setzte einen Fuß vor den anderen und lief die gesamte Länge der kleinen Mauer ab, das Kinn gereckt, einen ernsthaften Ausdruck auf dem Gesicht. Während er sie beobachtete, musste Pete unwillkürlich lächeln. Libby hatte so eine Art, gewöhnlichen Augenblicken den Glanz des Besonderen zu geben.

Sie erreichte die Ecke, sprang herunter und machte einen übertriebenen Knicks. Sie lachte und drehte sich dann wieder zu der Mauer um. Ernüchtert tippte sie sich mit dem Finger ans Kinn. »Es ist irgendwie traurig, dass dieses prachtvolle Gebäude heruntergebrannt und verschwunden ist und dass nur noch diese paar Steine geblieben sind, oder etwa nicht? Ich wünschte, ich hätte es sehen können, als es noch stand.« Ihr Blick hob sich langsam und Petey wusste, dass sie versuchte, sich das Gebäude vorzustellen. Er blieb still und gestattete ihr diesen Moment der lautlosen Innenschau. Wenn sie genug von ihrer Träumerei hatte, würde sie sich wieder anderen Dingen zuwenden und er würde ihr folgen. Wie immer.

Nach einigen langen Sekunden stieß sie ein tiefes Seufzen aus und drehte sich in die andere Richtung um. Plötzlich riss sie die Augen weit auf und schnappte nach Luft. »Petey!« Sie rannte zu der Lichtung zwischen den Bäumen.

»Was ist?« Hinkend trat er neben sie und sah in ihr verwundertes Gesicht.

»Ach … schau nur!« Sie zeigte auf den Weg, den sie gekommen waren. Ihre Augen schienen hin und her zu huschen. »Siehst du, wie die Bäume den Weg überdachen? Und wie die Sonne sich zwischen den Blättern hindurchstiehlt und den Pfad mit Licht sprenkelt? Er ist völlig übersät mit Sonnen- und Schattenflecken. Wie entzückend!« Sie lachte und klatschte in die Hände. »Sieht er nicht wie ein verzauberter Weg aus?«

Pete klopfte mit dem Holzbein auf den Boden. Auf diese Weise kämpfte er gegen das Gefühl der Taubheit in seinem fehlenden Körperteil an. »Ein verzauberter Weg?«

Sie knuffte seine Schulter, wie sie es damals, als sie jünger gewesen waren, immer gemacht hatte, wenn er sie geärgert hatte. Doch sie grinste ihn dabei an. »Mach dich nicht über mich lustig.«

Er streckte beide Hände nach oben. »Tue ich nicht. Du hast recht. Es ist … bezaubernd.« Aber seine Augen blieben fest auf ihr Gesicht gerichtet. Sonnenstrahlen schlüpften durch die Zweige über ihnen. Sie brachten Glanz in ihr Haar und einen Schimmer in ihre Augen. Wenigstens waren die Tränen daraus verschwunden.

Er runzelte die Stirn. »Libby? Vorhin warst du den Tränen nahe. Warum?«

Der fröhliche Ausdruck verschwand mit einem Mal von ihrem Gesicht. »Ich weine nie.«

»Das weiß ich. Deshalb mache ich mir ja Sorgen.«

Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Du machst dir wirklich Sorgen um mich?«

Er zuckte die Achseln. »Na klar. Schließlich sind wir … sind wir Freunde, oder nicht?« In letzter Zeit fiel es ihm schwer, mit Libby nur befreundet zu sein. Ein Teil von ihm – der größere Teil, wie ihm bewusst war – sehnte sich danach, sie zu beschützen, sie mit kleinen Geschenken und zärtlichen Worten zu überschütten, ihr zu sagen, dass er sie für die faszinierendste Frau hielt, die Gott jemals in die Welt gesetzt hatte. Aber er hielt diese Worte zurück. Libby war so unabhängig und hatte so hochtrabende Pläne für eine erfolgreiche Zukunft. Er konnte in keiner Weise mit ihren Träumen konkurrieren. Sie wollte große Städte bereisen und Artikel schreiben, mit denen sie die Aufmerksamkeit bedeutender Zeitungsverleger auf sich zog. Sein Leben war bewahrt worden, damit er Gott diente. Warum sollte sie auf die Chance verzichten, groß herauszukommen, um stattdessen die Frau eines einbeinigen Pfarrers zu werden?

Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich hatte einen vorübergehenden Anfall von Melancholie. Ich war noch nicht bereit, mich von Maelle zu trennen.« Ihr Kinn zitterte einen Moment lang, aber sie biss die Zähne aufeinander und ihre braunen Augen funkelten entschlossen. »Jetzt geht es mir wieder gut, wie du sehen kannst. Außerdem sollten wir wahrscheinlich zu unseren Wohnheimen zurückkehren. Wenn wir an unserem ersten Tag auf dem Campus zu spät zur Nachtruhe kommen, wird das den Lehrern nichts Gutes verheißen.«

Pete bot ihr den Arm an. Mit einem kleinen Kichern hakte sich Libby bei ihm unter und er eskortierte sie den von Bäumen gesäumten Weg zum Hauptteil des Campus zurück. Sie gingen schweigend, was Pete nicht störte. Im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen im Waisenhaus schien Libby nicht ständig plappern zu müssen, um sich wohlzufühlen. Das schätzte er an ihr. Als Mann konnte er einfach mit ihr zusammen sein und musste sich nicht abmühen, sie zu beeindrucken.

Er verkniff sich ein Lachen, als er daran zurückdachte, wie sie früher für ihn ganz selbstverständlich zu den Jungen gehört hatte. Isabelle Rowley, die förmlichste, korrekteste Frau, die er kannte, hatte Libby niemals erlaubt, Jungenhosen zu tragen, egal, wie oft sie darum bettelte. Aber selbst in einem Kleid und mit einer Anmut, wie kein Junge sie beherrschte, hatte Libby nie mädchenhaft gewirkt. Mit wehenden dicken schwarzen Zöpfen hatte sie bei Wettrennen Schritt gehalten, ebenso hohe Bäume erklommen und beim Messerwerfen ihr Ziel mit erstaunlicher Genauigkeit getroffen.

Doch eines Tages, kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag, hatte er sie angesehen und festgestellt, wie schön sie war. Er hatte es ihr auch gesagt. Sein Arm hatte noch zwei Tage lang wehgetan von dem Schlag, den sie ihm versetzt hatte. Er würde es ihr nicht noch einmal sagen. Aber sie konnte ihn nicht davon abhalten, es zu denken.

»Na so was, Claude, schau dir das an. Wir haben uns ein paar Turteltäubchen geschnappt.«

Instinktiv drückte Pete seinen Arm fest an den Körper, sodass Libbys Hand zwischen seinem Ellbogen und Brustkasten eingeklemmt war. Er hoffte, der Druck würde sie veranlassen, den Mund zu halten. Zwei junge Männer stolzierten mit übermütigem Grinsen auf sie zu. Sie trugen die gleichen Jacken mit dem Emblem ihrer Studentenverbindung. Daran erkannte Pete, dass sie Collegestudenten waren. Sein Magen zog sich ängstlich zusammen. Jackson hatte ihm von den Schikanen erzählt, die Studienanfänger erwarteten. Pete hatte nicht die Absicht, einer Studentenverbindung beizutreten, deshalb hatte er gehofft, dieser Tradition zu entgehen. Aber der Ausdruck auf den Gesichtern der Männer ließ ihn vermuten, dass sie entschlossen waren, ihren Spaß mit ihm zu haben.

Die beiden hielten direkt vor Pete an. Breitbeinig, die Hände auf die Hüften gestützt, versperrten sie Pete und Libby den Weg. »Und, habe ich recht?«, fragte der größere der beiden in affektiertem Ton. »Seid ihr zwei Turteltäubchen?«

Libby richtete sich empört auf. »Natürlich nicht! Wir sind …«

Pete bewegte ruckartig seinen Arm und zu seiner Erleichterung verstummte sie. »Ich begleite Miss Conley zu ihrem Wohnheim, damit sie nicht zu spät zur Nachtruhe kommt. Wenn Sie uns bitte entschuldigen.«

»Miss Conley, was?« Der Mann, der bisher der Sprecher gewesen war, trat einen Schritt näher und beugte sich dicht zu Libby vor. Sie drückte ihre Wange an Petes Schulter und verzog angewidert das Gesicht. Der Mann lachte und schlug sich ans Bein. »Es ist noch Zeit bis zur Nachtruhe. Ich würde mir gern diesen kleinen Schatz genauer anschauen. Sie ist echt ein Hingucker, oder, Claude?«

»Unbedingt, Roy.« Claude wackelte mit den Augenbrauen und grinste Libby an. »Mir gefällt es, wenn ein Mädchen etwas Farbe im Gesicht hat. Und all das offene schwarze Haar. Es erinnert mich an ein Bild im Kalender, den mein Vater hinten in seiner Werkstatt versteckt hatte, damit meine Mutter ihn nicht sah.«

Wut über die Unverschämtheit des Mannes stieg in Pete auf. Auch wenn sie zur gehobenen Gesellschaft gehörten, hatten sie nicht das Recht, Libby zu beleidigen. »Gentlemen«, sagte Pete mit zusammengebissenen Zähnen, »Sie hatten Ihren Spaß. Lassen Sie uns jetzt vorbei.«

»Ach, unser Spaß fängt gerade erst an, mein lieber Junge.« Der Student, der Roy hieß, versetzte Pete mit dem Handrücken einen Schlag an die Schulter.

Pete setzte sein Holzbein fest auf und es gelang ihm, trotz dieser rauen Behandlung das Gleichgewicht zu behalten.

»Ihr seid neu, stimmt's?«

Pete warf Libby einen kurzen Blick zu und nickte zögernd.

»Habe ich mir gleich gedacht. Das bedeutet, dass wir eine höhere Position haben. Und das bedeutet, dass ihr tun müsst, was wir sagen. Stimmt's, Claude?«

Claude grinste. »Das stimmt, Roy.«

»Gut, als Erstes …« Roy trat einen drohenden Schritt vor und blieb nur Zentimeter von Pete entfernt stehen. »Lass die Hand dieses süßen kleinen Dings los.«

Libby sog scharf die Luft ein. Pete schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.«

Roys dicke Augenbrauen gingen in die Höhe. »Habe ich eben ein Nein gehört?«

Herr, hilf mir. Ich will nicht, dass dies eine hässliche Szene wird. Libby könnte verletzt werden. Pete füllte seine Lungen mit Luft und sah seinem Angreifer direkt in die Augen. »Ja, so war es. Ich werde die Hand meiner Freundin nicht loslassen, und ich erlaube Ihnen nicht, sie weiter zu belästigen. Treten Sie jetzt sofort zur Seite und lassen Sie uns vorbei.«

Ungläubig starrte Roy Pete mit offenem Mund an, bevor er dröhnend auflachte. Er packte Claude am Arm und schüttelte ihn. »Hast du das gehört, Claude? Der hübsche Junge hier meint, er würde mir nicht erlauben, sein kleines Täubchen zu belästigen.« Das Lachen brach ab und Roys Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Ich bin neugierig, mein Hübscher, wie du mich davon abhalten willst, sie zu belästigen.«

Aaron Rowley, Petes Pflegevater für den Großteil seines Lebens, hatte ihm beigebracht, bei einer Auseinandersetzung den Kopf statt der Fäuste zu gebrauchen. Aarons Rat war sinnvoll – Gewalt brachte selten eine dauerhafte Lösung hervor, und mit seinem Holzbein war Pete bei jedem körperlichen Zusammenstoß benachteiligt. Deshalb hatte er sich stets an Aarons Anweisung gehalten. Der Ausdruck auf Roys Gesicht ließ Pete jedoch vermuten, dass in dieser Situation mit Reden nicht viel zu erreichen war. Um den Mann loszuwerden, würde er seine Fäuste benutzen müssen. Er fasste Libby an den Schultern und schob sie zur Seite.

Sie riss die Augen weit auf, als ihr klar wurde, was er vorhatte. »Nicht, Petey!«

»Petey?« Roy stieß wieder ein Lachen aus. »O Claude, hast du das gehört? Sein Name ist Petey!«

Mit einem Ruck wirbelte Libby zu den Männern herum. »Hört auf, ihn auszulachen!« Sie stützte die Fäuste auf die Hüften und warf ihnen einen flammenden Blick zu. Pete zuckte zusammen. Er erkannte die Anzeichen, dass Libby sich innerlich auf einen Kampf vorbereitete.

»Oh, wie mutig ihr seid – zwei gegen einen«, fuhr sie fort. »Aber schaut euch nur an, wie er es mit euch aufnimmt! Er hat doppelt so viel Mut wie einer von euch allein!« Ihr Gesicht lief vor Empörung rot an und gleichzeitig steigerte sich auch ihre Lautstärke. Andere Studenten, die vor dem Speisesaal herumschlenderten, wandten sich in ihre Richtung.

Pete warf Libby einen flehenden Blick zu, aber sie wedelte mit den Händen. »Macht euch davon! Wie könnt ihr es wagen, eine Frau und einen Krüppel anzugreifen!«

Eine Welle der Scham überflutete Pete. Sie hielt ihn für einen Krüppel? »Libby, das reicht.«

Aber sie legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief den näher kommenden Studenten zu: »Schaut euch alle diese großen Männer an! Sie belästigen eine Frau und einen Mann mit einem Holzbein. Ist jemand von euch bereit, es mit ihnen aufzunehmen?«

Plötzlich löste sich ein Mann aus der Menge und rannte über das Gelände. Pete stöhnte auf, als er Bennetts feuerrotes Haar erkannte. Hatten Libbys Rufe ihn nicht schon genug gedemütigt? Musste jetzt auch noch sein Kindheitsfreund kommen und ihn retten?

»Bennett, halte du dich da raus«, knurrte Pete, sobald Bennett sie erreicht hatte.

Aber Bennett grinste. »Mach dir keine Sorgen, Pete. Ich werde ihnen einen Dämpfer geben. Ich habe kein falsches Bein, das mich davon abhält.« Bennett hob die Fäuste und duckte sich kampfbereit. »In Ordnung, Leute. Das Einzige, was ich will, ist, dass einer nach dem anderen kommt. Das ist nur fair, oder?«

»Klar, das ist fair«, stimmte Roy zu und hob winkend den Arm. Ein halbes Dutzend junger Männer, alle mit den gleichen dunkelblauen Jacken und dem goldenen Emblem an der linken Schulter, trabten über den Rasen und schlossen sich Roy und Claude an. »Wir überlassen dir sogar die Wahl, mit wem du anfangen willst.«

Bennett rieb sich mit dem Daumen die Nase und ließ den Blick über den Kreis der Männer schweifen. Bevor er sich einen von ihnen als ersten Gegner aussuchen konnte, schnellte Pete nach vorn.

»Das ist lächerlich!« Bei seinem zweiten Schritt rutschte sein Holzbein im Gras aus. Er schwankte.

Bennett griff nach Petes Arm und verhinderte seinen Sturz. »Tritt zurück, Kumpel. Ich kümmere mich darum.«

»Aber das ist nicht nötig.« Pete wollte Bennett am Ellbogen packen, doch sein Freund tänzelte zur Seite und wich seinem Griff aus.

Bennett hob die Fäuste und beschrieb damit kleine Kreise in der Luft. »Los geht's. Ich bin bereit. Wer will anfangen?«

Die Menge der Schaulustigen nahm zu. Sie bestand aus Männern und Frauen. Ihr neugieriges Gaffen und erwartungsvolles Grinsen verriet, dass sie sich alle auf ein Handgemenge freuten. Pete schaute sich frustriert um. Genügte es nicht, dass die Zeitungen voll waren mit Berichten über den Krieg, der in Europa tobte? Es bestand keine Notwendigkeit für eine Auseinandersetzung hier auf dem Campus der University of Southern Missouri.

»Bennett, hör auf, so anzugeben. Lass mich das selbst regeln.« Pete bekam Bennetts Arm zu fassen, aber sein Freund schüttelte ihn ab.

»Ich kann es mit ihnen aufnehmen.« Bennetts zusammengekniffene Augen wanderten von einem Gegner zum nächsten. »Du musst mir nur aus dem Weg gehen.«

Zwei von Roys Freunden befreiten sich aus ihren Jacken und marschierten vor, bis sie nur noch Zentimeter von Bennett entfernt waren. Der eine zeigte auf Pete: »Fangen wir an.«

Mit einem Ruck richtete Bennett sich auf. »Moment mal. Pete kämpft nicht.«

»Er hat das Ganze angefangen«, rief Roy von der Seite her, »also wird er auch helfen, es zu beenden.«

Der Mann, der auf Pete gezeigt hatte, rückte vor.

Libby schoss über das Gras und warf sich vor Pete. »Wag es nicht, ihn zu berühren!«

Verblüfft blieb der Mann stehen. Die Menge brach in Gelächter aus.

Pete stöhnte auf. Es war noch keine Stunde her, dass Jackson ihn ermahnt hatte, Libby von Dummheiten abzuhalten. Und was hatte er getan – er hatte einen Aufruhr ausgelöst, und sie befand sich mittendrin. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Libby, bitte …«

»Nein!« Sie schlug seine Hand weg, während ihr das Haar wild ums Gesicht flog. Sie breitete die Arme aus und versperrte Pete den Weg. »Wenn du meinst, du müsstest mit jemandem kämpfen, musst du es mit mir aufnehmen.«

Der Mann schaute an Libby vorbei zu Pete. Verächtlich kräuselte er die Lippen. »Du lässt dieses Mädchen deinen Kampf für dich austragen?«

»Nein.« Pete packte Libby mit beiden Händen an der Taille und hob sie hoch. Sie kreischte auf und schlug nach ihm. Der Schmerz schoss ihm vom Beinstumpf bis zur Hüfte und er brauchte sämtliche Kraft, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Aber zu seiner Erleichterung blieb er aufrecht stehen und ließ Libby neben sich herunter.

Kaum hatte er sie losgelassen, spurtete sie wieder vor ihn. Sie funkelte ihn wütend an, bevor sie sich zu dem anderen Mann drehte. »Wenn du kämpfen willst, dann kämpf mit mir. Du wirst Petey nicht anrühren.«

Pete wünschte, der Boden würde sich unter ihm auftun und ihn verschlingen.

3

Bennett musterte den großen Mann mit lockigem Haar vorn in der Menge. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und lachte. Ihm gefiel wohl Libbys Aufführung. Die gute alte Lib, immer war sie mittendrin, wenn es einen Tumult gab. Ihre Possen verschafften Bennett die nötige Zeit, um die Lage einzuschätzen.

Sich auf den Straßen in Shay's Ford in Missouri herumzutreiben, hatte ihn einige Überlebensstrategien gelehrt und eine der wichtigsten Lektionen war, den Anführer einer Bande zu erkennen. Bennett musste nur den Anführer zu Fall bringen, dann würde sich die Truppe zerstreuen. Das funktionierte immer.

»Hey! Du da!« Bennett trat einen Schritt auf den lockigen Mann zu, der über Libby lachte.

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