Mein Herz, meine Prostata, die Ärzte und Ich - Willi M. Dingens - E-Book

Mein Herz, meine Prostata, die Ärzte und Ich E-Book

Willi M. Dingens

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Beschreibung

Wenn Sie schon immer (nicht) wissen wollten, wie man zu einem Herzinfarkt kommt und wie es ist, wenn dringende Prostata-Reparaturarbeiten fällig werden – Willi M. Dingens kann es Ihnen erzählen. Und er berichtet darüber offen und authentisch, da aus eigenem Erleben und Erdulden. Dem medizinisch noch unbescholtenen Bürger, den es ziemlich plötzlich in die Fänge von Ärzten und Schwestern verschlägt, bietet das medizinische Reparaturwesen viel Spannendes und Aufregendes, Tragisches und Deprimierendes. Der Hang der blutführenden Herzkranzgefäße zu Verengungen, die mühsame Beseitigung der medizinischen Kollateralschäden, der späte Größenwahn der personengebundenen Prostata, die dann unvermeidbaren lästigen Großen Hafenrundfahrten und das PSA-Glücksspiel der Urologen können ein Leben ganz schön verwirbeln. Da kann die freundlichste Patientenbetreuungsstätte schnell zu  einer finsteren Kammer von Folter und Erniedrigung mutieren.   Aber mit ein wenig Abstand und einer gehörigen Portion Gelassenheit kann man auch viel Groteskes und Ulkiges entdecken, wo Ernstes und Tragisches vorherrschten. Es wurde Zeit, einmal aus erster Hand und fast ohne triefende Selbstbemitleidung, dafür streng aus eigenem Erleben zu berichten, wie es sein kann mit Ärzten und Schwestern, vor allem mit dem eigenen Körper, wenn der an besonders empfindlichen Stellen nicht mehr mitspielen will.  Der respektlose Ton soll nicht verharmlosen, was nicht harmlos ist. Denn Gesundheit ist uns sehr wertvoll und – muss man heute hinzufügen – auch sehr teuer. Unser Mühen darum ist mitunter allerdings auch zum Schmunzeln, kann sogar zum Lachen sein. Fast nebenbei über medizinische Sachfragen aus der Sicht eines Patienten aufzuklären, ist auch ein Ziel des Textes. Unerschrockenen Lesern ist von ganzem Herzen viel Spaß zu wünschen – bei der Lektüre.

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Seitenzahl: 576

Veröffentlichungsjahr: 2017

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I m p r e s s u m

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Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen, Vervielfältigungen, Übersetzungen bleiben vorbehalten und sind ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar.

 

Copyright © 2012 Willi M. Dingens

Copyright © 2017 für dieses E-Book

Alphons B. Gamerti

 

c/o Werneburg Internet Marketing und Publikations-Service

Philipp-Kühner-Str. 2

99817 Eisenach

Mail: [email protected]

 

Anmerkung: Bei diesem Text handelt es sich um die E-Book-Fassung jenes Textes, der unter gleichem Titel bis Juni 2017 in gedruckter Form beim Verlag BoD angeboten wurde. Verfasst wurde der Text 2011/2012. Daher kann es sein, dass darin geschilderte medizinische Erkenntnisse und Verfahren inzwischen Änderungen erfahren haben.

 

Blick auf das Ganze

Dies ist ein Krankenbericht der etwas anderen Art.

Es handelt sich um eine elektronische 1 : 1-Auskopplung jenes Text, der unter gleichem Titel bis Juni 2017 in gedruckter Form beim Verlag BoD angeboten wurde. Verfasst wurde der Text 2011/2012. Daher kann es sein, dass darin geschilderte medizinische Erkenntnisse und Verfahren inzwischen Änderungen erfahren haben.

Vielleicht ist der eine oder andere Leser aber nur an dem einen oder dem anderen Thema interessiert. Deshalb bietet der Verlag den Text auch in drei separaten E-Books an:

 

I. Mein Herz, die Ärzte und Ich

(Als Teil I in diesem E-Book sowie unter angeführtem Titel in einem separatem E-Book)

Wenn Sie schon immer (nicht) wissen wollten, wie man auch zu einem Herzinfarkt kommen kannn, hier erzählt Ihnen Willi M. Dingens, wie es ihm ergangen ist. Er berichtet offen und wahrheitsgetreu über die kurze Vorgeschichte, über das dramatische Geschehen und die aufregenden Nachwehen. Fast nebenbei erfahren Sie auch viele Einzelheiten über die medizinisch-technische Methodik - muss man schließlich auch mal wissen.

 

Leseprobe:

Anamnese

Hatte ich schon erwähnt, dass es mich traf, als ich bereits in die Phase der Unsichtbarkeit eingetreten war?

Früher, also noch früher als die nun auch schon leicht zurückliegenden Begebenheiten, sahen mich die jungen und jüngeren Frauen, wenn sie auf der Straße an mir vorbeiwippten. Ich begegnete nicht nur ihnen, sondern ihren Blicken und mitunter auch einem gar nicht so flüchtigen Lächeln, das selten Teilnahmshalbherzigkeit, häufig wohlwollende Kenntnisnahme und mitunter auch ermunterndes Interesse bekundete. Jedenfalls bildete ich mir das ein.

Aber eines Tages – da half auch die Einbildung nicht mehr – bemerkte ich mit Ernüchterung, dass die jungen Dinger und auch schon die älteren, mich nicht mehr bemerkten. Sie konnten dicht an mir vorbei gehen und registrierten nicht einmal meine bloße Existenz. Ihr Blick traf mich manchmal zwar noch, aber er fokussierte mich nicht, nahm mich nicht zur Kenntnis, blieb einfach auf ein ferneres, vielleicht nur unbestimmtes, aber wohl schon offensichtlich lohnenderes Ziel gerichtet; ich war ihm nicht einmal ein physikalisches Hindernis.

Die Physiker kennen solches aus der merkwürdigen Quantenwelt, also jener Region unserer Welt, die nicht von dieser Welt sein kann. Quanten, die Wunder-Teilchen der wunderlichen Physik und der Physiker, können, wenn sie es denn unbedingt wollen, eine im Weg stehende massive Wand einfach durchdringen, ohne sich um das Hindernis scheren zu müssen. Die Physiker nennen es tunneln. Physikalisch ist es ein interessantes und spannendes, aber nicht so recht erklärbares Phänomen; umgangsmenschlich ist es erklärbar, jedoch ziemlich niederschmetternd und entwürdigend.

Aber so wurde mir klar: Ich war für gleich mehrere Generationen des weiblichen Teils der aktuellen Menschheit abgemeldet, aus dem Blickfeld geraten, an den im dicken Nebel liegenden Horizont des Interesses gerutscht. Ich war unsichtbar geworden, die Restlaufzeit war angebrochen und die Garantie jetzt wohl abgelaufen. Das war nicht nur deprimierend, es war mir auch ein Zeichen, nunmehr könnten sowieso ganz andere Dinge auch in die Blickfelder meiner Aufmerksamkeit rücken und meinen Schritten andere Richtungen geben. Das trat dann auch ein und davon will ich berichten.

Der Mensch ist ein vielseitig interessiertes Wesen. Nicht jeder und nicht immer, auch nicht unbedingt immer öfter, aber als Wesen im Wesentlichen schon. Alles Krankenhäusliche ist dabei für viele von uns von ganz besonderem Reiz. Niemand kann genau sagen warum. Vielleicht, weil uns Gesundheit sehr wertvoll und – muss man heute noch hinzufügen – sehr teuer ist.

Vielleicht auch, weil die Medizinmänner sich schon immer, also auch schon zu jenen Zeiten, da die Bürger noch nicht sehr ausgelassen aus Nah- oder Fernerholungsgründen durch Savannen und Wälder und auch über die Sand- und Betonstrände der nahen und fernen Gewässer tobten, als eine geheimnisvolle Berufsgruppe gaben, die mit allerlei Zauber umgehen konnte und mit einer besonders geheimen Verbindung zu den Mächten über die menschliche Natur ausgestattet war, was sich bis heute noch technologisch vervielfacht hat. Uff!

Vielleicht aber auch, weil sich das medizinische Fachpersonal untereinander in einer Art Code verständigen kann. Unverständliche Begriffe und unerschließbarer Sprachgebrauch nötigen dem Unkundigen immer Respekt und Unterwürfigkeit ab. Ganz sicher aber wegen der vielen Krankenschwestern und des erotisch-attraktiven Parts eines Chefarztes, der Intrigen der unterdrückten, aber aufstrebenden Assistenzärzte und der Stutenbissigkeit des sonstigen, hauptsächlich weiblichen Personals. Die Leiden der Patienten treten dahinter regelmäßig als aber so was von unwichtig und nebensächlich zurück; die können es nicht sein, die das Interesse von uns neutralen Beobachtern wecken.

Was haben wir uns vor dem Fernseher schon mit Ärzten, Schwestern und Patienten amüsiert. Ihr Krankenhaus war zwar am Rande der Stadt und auch sonst relativ entfernt, aber ihre Geschichten gingen uns nah. Was habe ich gelacht, als in einem englischen Film eine Horde durchgeknallter Patienten des Nachts einen eingebildeten Kranken eigenhändig zu operieren drohte. Und die Szenen in einem Kriegslazarett-Film waren so was von ulkig, dass das Werk schon internationalen Kultstatus an-nahm. Ach was kann ein amerikanischer Krieg doch zum Schießen sein, wenn er von obercoolen Ärzten und krassgeilen Schwestern bestritten wird und die Soldaten mit abgetrennten Gliedmaßen und herausquellenden Eingeweiden farbig-schmückendes Dekor sind.

Ach ja, Ärzte, Schwestern und Krankenhäuser sind eine gute Mischung und von besonderem Interesse. Erzählungen und Romane, TV-Serien oder Filme, die Ärzte zu ihren Hauptfiguren haben und deren Tun als bestimmende Handlungsstränge aufweisen, sind immer für hohe Einschaltquoten oder verlegerbefriedigende Verkaufszahlen gut. Apotheken und Apotheker sind entschieden langweiliger.

Was soll in einer Apotheke auch schon Aufregendes passieren. Vielleicht ist ein Medikament gerade aus, oder es gibt Trödel, da der Doktor eines verschrieben hat, für das die Krankenkasse die Kostenübernahme verweigert, oder die Mittel zur Bekämpfung von Schnupfen und Heiserkeit werden von einem ungeduldigen Patienten beanstandet, weil sie sein körperliches Befinden nicht von heute auf jetzt aus der akuten Freudlosigkeit herausgehievt haben. Oder die Hämorrhoidenzäpfchen gibt es, wegen der großen Nachfrage nach Charlottes feuchten Lebenserinnerungen, nur auf Bezugsschein mit Stempel vom Bürgeramt, oder Warnwesten für Autofahrer derzeit nur in pink oder dunkelblau, oder die Zeckenzangen nur in akuten Fällen nach 3-monatiger Voranmeldung. Aber das ist doch nicht lustig und spannend auch nicht.

Und die Aushändigung von Leistung steigernden Mittelchen für Sportler erfolgt so nebenbei und unpersönlich, dass darüber selten bis nie etwas zu erfahren ist. Selbst die Beteiligten können sich daran wenig erinnern, so unwichtig und langweilig ist es ihnen. Nein, Apotheken liegen mit ihrem Interessen- und Spannungspotential weit abgeschlagen hinter dem von Krankenhäusern zurück.

Diese Popularität der krankenhäuslichen Ärzte und Schwestern war aber nicht der Grund, warum ich mich entschloss, einiges von meiner knapp gewordenen Lebenszeit abzuzweigen, um diesen Text zu verfassen.

Gut, viele Bürger fühlen sich, wenn ihre zahntechnische Serienausstattung bereits durch altersgerechte und abschließende Nachrüstungen weitestgehend ausgetauscht werden musste, unbedingt zur Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen verpflichtet. Und manche Jungstars weisen uns durch die Fremdanfertigung ihrer Memoiren darauf hin, dass wir von ihnen glücklicherweise auch nicht mehr viel zu erwarten haben.

Obwohl ich Lebenserinnerungen in einer ziemlichen Anzahl vorzuweisen hätte und obwohl die Welt von mir wohl auch nicht mehr viel erwarten wird – ich von ihr allerdings auch nicht –, wollte ich mich da nicht einreihen. Ich stehe jeder schriftlichen oder sonstigen Rechtfertigung oder Schönfärberei meines lebenslangen Tuns und vor allem Lassens sehr prinzipiell ablehnend gegenüber. Warum soll die Welt an meiner Vergangenheit Anteil nehmen? Als sie Gegenwart war, hat sie sich ja auch nicht groß darum geschert.

Na ja, der eigentliche Grund ist freilich meine Abneigung gegen Prozesse und Einstweilige Verfügungen, in die man heute schnell verstrickt werden kann, würde man, und sei es nur in nebulösen und fernen Erinnerungen, andere Menschen und deren Tun vorsichtig zwar und doch kritisch beleuchten. Aber nur meine Fehler zuzugeben und andere Beteiligte stets loben und würdigen zu müssen, erscheint mir ziemlich sinnlos und daneben.

Auch habe ich gehört, man könne als Autor von Lebenserinnerungen sogar gerichtlich dazu angehalten werden, ganze Passagen in einer Veröffentlichung unleserlich zu machen. Nein, wenn ich nicht anschwärzen darf, schwärzen möchte ich mein Leben nicht einmal in der Erinnerung.

Und doch entschloss ich mich schließlich in einem Anflug von Leichtfertigkeit und Übermut, mich der Vergangenheit hinzugeben. Aber nur in einem streng limitierten Maß. Es sind nicht die gesammelten Rückblicke an lange und stressige, vor allem arbeitsreiche und im Durchschnitt kaum lustige Jahrzehnte, sondern nur jene aus wenigen turbulenten Wochen und Monaten, die eine ganz besondere, aufregende und niederschmetternde Rolle in meinem Leben hatten.

Denn wie das so spielt: Ich hatte an nicht viel Böses gedacht, als es mich eines Tages unversehens und gänzlich unerhofft in die blutigen Kampfarenen der Ärzte und Schwestern verschlug. Das wäre verhinderbar gewesen, aber plötzlich war es nicht einmal mehr aufschiebbar. Was soll ich sagen. Das war mit viel Aufregung verbunden, hatte schon Züge von Dramatik, obwohl es manchem Leser in meiner Darstellung im Vergleich zu eigenen Erlebnissen möglicherweise gar nicht so erscheinen mag.

Denn jetzt, einige teure Einkommenseingeständniserklärungen und ganz freiwillige Praxiszutrittsgebührenquartalsentrichtungen weiter, sind mir beim Erinnern so manche Szene und Begebenheit in den Sinn gekommen, die sich aus der inzwischen einigermaßen sicheren zeitlichen und physischen Distanz recht unterhaltsam geben, sogar Züge des Grotesken erkennen lassen. Lesern, die Ähnliches oder noch Schlimmeres erlebt haben, wird meine Art der Beschreibung vielleicht wie Oberflächlichkeit und Verharmlosung vorkommen.

Mit zeitlichem Abstand und inzwischen kräftig ausgebildeter emotionaler Altersgelassenheit sehe ich Einiges, was mich noch vor wenigen Jahren in Angst und Schrecken versetzte und manche depressive Stunde bescherte, heute eben anders, lockerer, unverbissen. Ich versichere, meine Erkrankungen, über die ich berichten will, waren nicht vergnüglich und sind es auch heute nicht. Das war schon bitterer Ernst. Aber so manches aus dem Drumherum – mich selbst und mein Verhalten eingeschlossen – kann ich nicht mehr so ganz ernst nehmen. Soviel Spaß muss sein, soviel Ironie darf sein.

Einiges von dem, was man im Folgenden lesen kann, mag empfindsamen Gemütern allerdings nicht sehr appetitlich vorkommen, als Aussicht auf noch zu Erwartendes auch leicht oder mittelschwer deprimierend. Ich kann jedoch recht glaubwürdig geltend machen: Jeder Mensch ist im Besitz diverser Herzkranzgefäße, die sich verengen können, wenn sie es nicht sogar schon getan haben oder kräftig dabei sind. Und jedes männliche Wesen ist Privateigentümer eines speziellen Drüsengewebes, das sich in der Regel über lange Zeit unauffällig, aber zuverlässig an gewissen Freude spendenden Tätigkeiten beteiligt, aber im Gegensatz zu den blutführenden Gefäßen mehr zu Erweiterung und Vergrößerung neigt, was in diesem speziellen Fall auch nicht angenehm ist. Die Herzkränze und die Prostata sind die von der Evolution sorgfältig und weitsichtig angelegten wichtigsten Sollbruchstellen des männlichen Körpers – nach dem Kopfhaar, dem Bauchbindegewebe und den Backenzähnen natürlich, manchmal auch den Schwellkörpern.

So ist das nun mal und daraus resultieren einige Erschwernisse, die mit statistisch signifikanter Wahrscheinlichkeit früher oder später in die Fänge von blutrünstigen Ärzten und zu den Abenteuern in Praxen und Krankenhäusern führen. Ich habe das erlebt und bin im Folgenden bemüht, es wahrheitsgetreu wiederzugeben.

Das heißt, um genau zu sein: Alles Medizinische, das, was ich als mit Ärzten und in Krankenhäusern Erlebtes hier preisgebe, ist authentisch. Nur an ganz wenigen Stellen habe ich das mal leicht ausgeschmückt. Dafür habe ich auch weggelassen, was mir nicht so interessant schien. Es betrifft aber nur unwichtige Einzelheiten, nicht den Handlungsstrang und die entscheidenden Szenen und Geschehnisse. Die sind mir noch allzu gut im Gedächtnis geblieben.

Gut auch, dass ich wichtige Dossiers, liebevolle, als medizinische Sachverständigengutachten getarnte Grußschreiben der Ärzte an ihre Berufskumpane, in denen sie mich und meine körperliche Konstitution ganz unverschämt denunzierten, – die häufigen Aufforderungen meiner Frau zum Aufräumen stur ignorierend – in diese Tage hinübergerettet habe. Die waren mir nicht nur Faktenlieferanten, sondern halfen auch beim Erinnern.

Mein Name ist, um meine Identität nicht unbedingt preisgeben zu müssen, frei erfunden. Ich möchte nicht im Supermarkt oder auf der Straße das Gefühl haben, die Leute würden sich hinter meinem Rücken zuraunen: Ach, ist das nicht der mit ohne Prostata … armer Kerl. Na ja, vielleicht hat er’s ja verdient.

Auch sind alle Namen, einschließlich derer der Straßen und Krankenhäuser, geändert. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und tatsächlichen Objekten sind nicht zufällig, sondern in voller Absicht gerade so gewählt. In eventuellen Prozessen werde ich das aber vor den Gerichten und Rechtsanwälten entschlossen leugnen.

Warum ich ausgerechnet über zwei nicht sehr erfreuliche und überhaupt nicht lustige Erkrankungen und die damit verbundenen Erlebnisse berichte – und noch dazu in einer etwas unernsten Art? Wie sich dem Leser leicht erschließen wird, handelt es sich um körperliche Gebrechen, die Jeden jederzeit treffen können. Vor allem Männer erwischt es mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später. Das scheint kaum zu verhindern. Aber auch Frauen, die man lange Zeit als vor Herzinfarkten geschützt glaubte, sind inzwischen in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen worden. Über weibliche Prostataleiden ist hingegen nichts bekannt. Alles können die auch nicht haben.

 

II. Meine Reha, die Ärzte und Ich

(Als Teil II in diesem E-Book sowie unter angeführtem Titel in einem separatem E-Book)

In diesem Teil geht es um die Mühen der Ebene. Ein Herzinfarkt hinterlässt Schäden und hat Nachwirkungen. Da muss man Lebensweise verändern, geduldig trainieren, sich immer noch und immer wieder mit den Vorgaben und Vorhaltungen der Ärzte herumschlagen, Blutdruck- und Blutfettwerte zu Maßstäben des persönlichen Erfolgs erheben. Das ist mühsam, manchmal lästig, aber wenn es erfolgreich ist, ziemlich gesund.

Leseprobe:

Die Reha und Ich

Das zivile Dasein zu Hause war nicht das, was ich mir ersehnt hatte, jedenfalls nicht genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Natürlich war es schön, wieder in der vertrauten Umgebung zu sein. Aber es wurden schnell auch Erschwernisse spürbar. Mit diesen hatte ich so gar nicht gerechnet.

Im Krankenhaus fühlt man sich, jedenfalls ging es mir in den letzten Wochen so, gut aufgehoben, geborgen, in Sicherheit. Man weiß ja diverse Ärzte und Schwestern in unmittelbarer Nähe, in aller Regel sozusagen griffbereit, verschiedene überlebenswichtige Gerätschaften und Wiederbelebungsmaschinen inklusive, da kann einem nichts passieren und wenn, ist ja in Sekundenschnelle wenigstens eine sachkundige und geschulte, vor allem hilfreiche Hand zur Stelle. Krankenhaus, das ist für einen Patienten Geborgenheit pur, sollte es jedenfalls sein. Wenn es nicht so ist – folgen Sie meinem nicht ganz freiwilligen Beispiel und machen Sie sich aus dem Staub.

Mit einem sich noch immer, zwar nicht stetig, aber immer noch oft wild gebärdenden Herzmuskel zu Hause zu sein, ist etwas ganz anderes. Plötzlich ist da eine ziemliche Unsicherheit, man lauert auf jedes Zucken, vermutet hinter jeder Herz-Holpererserie das letzte Gefecht. Besonders schlimm, wenn nicht mal die Frau da ist, die ja nicht ständig um einen herum sein kann. Ich entwickelte eine Ängstlichkeit, die ich mir sonst nie gestattet hätte, die ich auch abstreifen wollte, aber in den ersten Wochen nicht konnte. Das ist nervig.

Man hört ständig in sich hinein, beobachtet misstrauisch das Geschehen im Körper, zuckt bei jeder unvermuteten Regung zusammen, vermutet bei jedem winzigen Stich oberhalb der Gürtellinie den Beginn eines erneuten Zusammenbruchs des ganzen Systems, hinter jeder eingebildeten Unregelmäßigkeit einen Katastrophenalarm. Ich erlag dieser Ängstlichkeit immer wieder, bis ich streng mit mir zu Gericht ging und mich beschimpfte, dadurch würde es ja nun auch nicht besser werden, eher im Gegenteil. Ich gab mir kleinlaut Recht.

Mit der Zeit und unter großen emotionalen Anstrengungen und einigem Gutzu(mir)reden überwand ich die Periode der Ängstlichkeit und wurde wieder gelassener. Später gestand mir meine Frau, diese ersten Wochen seien auch für sie recht belastend gewesen. Sie beobachtete mich, krampfhaft um Unauffälligkeit bemüht, ständig und versuchte herauszufinden, ob es mir auch einigermaßen gut geht oder irgendeine Verschlechterung zu bemerken wäre. Sie sei des Nachts häufig aufgeschreckt und habe angestrengt gelauscht, ob sie mich noch atmen höre. Erst wenn sie meine ruhigen Atemzüge zweifelsfrei vernehmen konnte, sei sie wieder beruhigt eingeschlafen. Dabei gaben mir die Nächte am wenigsten Grund zur Unruhe. Sobald ich mich abends niedergelegt hatte, gab das Herz auch schnell Ruhe und ich konnte beschwerdefrei ein- und durchschlafen.

Allerdings stellte sich, sobald ich wieder zu Hause war, noch ein Problem ein, mit dem ich auch nicht gerechnet hatte. Meine unmittelbare Lebensumgebung, also vor allem meine Frau und meine Kinder und Enkel, zeigten sich sehr besorgt, für meinen Geschmack viel zu besorgt. Es kann nämlich ziemlich belastend sein, nicht einmal mehr für fähig gehalten zu werden, nach dem Essen den Tisch abzuräumen oder die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen.

Besonders meine Frau tat sich damit hervor, jeden meiner Schritte sorgfältig zu prüfen, ob ich mich damit auch ja nicht übernehme, mir zu viel zumute oder allzu leichtfertig meine Genesung auf Spiel setzen könnte. Ständig ermahnte sie mich wegen irgendetwas oder – was noch schlimmer war – versuchte, mich aus diesem oder jenem rauszuhalten, es mir auch mal zu untersagen oder es heimlich an mir vorbei zu manövrieren. Ich war, konstatierte ich mit Entsetzen, aus der Diktatur der Ärzte und Krankenschwestern in die kleinste Zelle des Patienten-Überwachungsstaates, die Familie, geraten.

Ich bin kein Macho und muss nicht den starken Mann raushängen lassen. Ich lasse mich auch gern mal bemuttern. Aber die Degradierung zu einer ständig hilfsbedürftigen Person kann sehr nervend sein. Den Angehörigen von nach schwerer Erkrankung Heimgekehrten muss gesagt werden, man kann mit allzu übertriebener Besorgnis dem Betroffenen auch schnell das Gefühl geben, völlig unbrauchbar und damit eigentlich überflüssig zu sein. Ich weiß schon, in meinem Fall und wohl in den meisten anderen Fällen steckt die gute und ehrliche Absicht dahinter, dem Erkrankten zu schneller Genesung zu verhelfen. Übertreibungen können aber gegenteilige Wirkungen haben.

Und so kam es auch, wie es kommen musste, nämlich zu Spannungen zwischen meiner Frau und mir. Die waren überflüssig, aber nicht so recht vermeidbar. Ich begann, mich gegen diese Über-Bemutterung zur Wehr zu setzen, muckte auf, nahm übel, vermutete finstere Machenschaften, nahm noch mehr übel. Meine Frau hatte mich in absoluter Hilflosigkeit gesehen, abhängig von Geräten, Ärzten und Schwestern. Aha, dachte ich, bis dahin waren wir gleichberechtigte Partner gewesen, agierten in aller Regel auf Augenhöhe, jetzt meint sie wohl, mir haushoch überlegen zu sein? Das lasse ich mir nicht bieten. Soweit kommt es noch, dass sie mir abends vor dem Einschlafen Frau Holle oder König Drosselbart vorzulesen versucht, ergänzt mit einem abschließenden Schlafliedgesang.

Ich will gern eingestehen, in dieser Hinsicht auch meinen eigenen Übertreibungen aufgesessen zu sein und übertrieben empfindlich reagiert zu haben. Dazu neigt man wohl in solcher Situation recht schnell; was erklärbar ist, aber wenig berechtigt. Zu meiner Entschuldigung möchte ich aber vorbringen, als Kranker das Recht zu haben, mich nicht noch kranker fühlen zu müssen als unbedingt nötig. Ich begann daher, um meine Wiederanerkennung als vollwertige Persönlichkeit zu kämpfen, nicht immer fair und sachlich, aber entschlossen, mich nicht untermuttern zu lassen.

Auf diese Weise angestachelt, fühlte ich mich nun auch in der Lage und der richtigen Stimmung, mich ausgiebig dem Ärztepfusch zu widmen. Also las ich erst einmal aufmerksam das Info-Material. Die Sache mit den Behandlungsfehlern – umgangssprachlich auch Kunstfehler oder halt rustikal Ärztepfusch genannt – ist in der Bundesrepublik klar geregelt. Der Patient muss sich nicht alles gefallen lassen und keineswegs alle Konsequenzen ärztlicher Tätigkeit widerspruchslos hinnehmen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, einem Arzt Pfusch anzuhängen und Schadenersatz, Schmerzensgeld oder sonstige Genugtuungen abzuverlangen. Das geht einerseits über eine Zivilklage. Diverse Anwaltsvereine sind gern behilflich, einen Rechtsanwalt zu finden, der die Klage für den Patienten vorbereitet und durchzieht, gegen ein angemessenes Entgelt, versteht sich. Es existieren auch zahlreiche Patienteninitiativen und Selbsthilfegruppen, bei denen man als unerfahrener Neuling und unbeholfener Patient Rat einholen kann. Eine zweite Möglichkeit bietet die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Ärztekammern. Über diese kann man eine außergerichtliche Einigung über einen Schadensersatz oder Schmerzensgeld erwirken.

Den Weg über einen Rechtsanwalt schloss ich von vornherein aus. Mir war klar, wenn ich mit dem Schadensersatz nicht durchkäme, würde ich dann wohl auf den Rechtsanwaltskosten sitzen bleiben. Ich vermutete, mein ADAC-Rechtsschutz würde da auch nicht greifen. Also befasste ich mich mit dem Schlichtungsstellenpfad. Da hatte ich ja auch schon einen ausführlichen Fragebogen. Als ich mir den jetzt genauer ansah, war er zu meinem Erstaunen inzwischen auf ganze 18 Fragen geschrumpft. Das sah gut aus.

Dann beschlichen mich aber schnell Bedenken. Da war nämlich zunächst eine harmlos aussehende Schweigepflichtsentbindungserklärung abzugeben. Und da stand, ich solle der Schlichtungsstelle Hannover gestatten, die mich betreffenden Krankenblätter, Krankengeschichten, ärztliche Aufzeichnungen, Untersuchungsbefunde, Röntgenaufnahmen, Gutachten, Akten von Behörden und Versicherungsträgern aller Art, Behandlungs- und Befundberichte von Ärzten und Krankenhäusern, in denen sich Befunde oder Beurteilungen über mich befinden könnten, einzusehen.

Auch sollte ich alle behandelnden und untersuchenden Ärzte, Krankenhäuser, Gutachter, Versicherungsträger aller Art und Behörden von der Pflicht der Verschwiegenheit entbinden. Im Fragebogen war zudem gefordert, alle Ärzte mit Name, Adresse und Fachrichtung aufzuführen, die sich in den fünf Jahren vor der Schädigung und dann danach mit mir und meinem Körper beschäftigt hatten.

Ich sollte also nicht nur zu einem gläsernen Patienten werden, sondern in einer gewissen Öffentlichkeit mein Innerstes nach außen kehren lassen. Noch dazu in Hannover, was mir am meisten widerstrebte. Was geht die im Westen das alles an? Und wer bin ich denn, dass ich gar Versicherungsträger und Behörden aller Art von der Pflicht zur Verschwiegenheit entbinden könnte? Gut, so verschwiegen sind die sowieso nicht. Geheime Akten wurden schon auf Müllhalden und Straßen gefunden, cleveren Journalisten wird so manches erzählt, was nur für die Panzerschränke gedacht war und sogar die Geheimdienste sind nicht so geheim, wie ihr Name vermuten lässt. Mancher Geheimnisträger hat sich schon als lockere Plaudertasche entpuppt und die Staatsmacht will uns ja sogar online ausspähen lassen. Aber warum sollte ich die Offenlegung aller persönlichen Geheimnisse per persönlich erteiltem Dekret offiziell legitimieren?

Dann sollte ich auch noch meine Vorstellungen über die Höhe meiner finanziellen Ansprüche darlegen und begründen. Wie viel war ein vollständig durchblutetes Herz denn in Geld wert? Was sollten die Schmerzen und die anderen Unbilden kosten? Gibt es einen Tarif, nach dem Herzstolpern anhand der Anzahl der Nebenschläge abgegolten wird? 1,50 € pro Schlag oder irgendwie pauschalisiert mit Intensitäts- und Nachtzuschlag und Mengenrabatt? Ich wusste es nicht.

Und dann stand da auch in einem Merkblatt, die Schlichtungsstelle könne nur mit Zustimmung sämtlicher Beteiligter tätig werden. Welche Beteiligte gehören aber zu den Sämtlichen? Stand ich da nicht einer Übermacht an Ärzten und Schwestern, Krankenhäusern und deren Rechtsanwälten gegenüber. Selbst wenn meine Frau auch als ein sämtlich Beteiligter anerkannt werden sollte, wären wir immer noch ein nur kleines Häuflein gegen eine Armada von Medizinmännern und -frauen. Und wer weiß, was die noch so alles an geheimen Dossiers und Verschwörungsriten auf Lager hatten, die sie, wenn es hart auf hart käme, aus dem Ärmel ziehen konnten.

Vielleicht gab es im Medizinwesen ja auch das Gesetz des Schweigens, in Sizilien als Omertá bekannt, oder so etwas wie ein Zeugenschutzprogramm. Möglicherweise lief ich gar Gefahr, dass man mir einen Schadensersatz aufhalste, ich also solchen zahlen müsste, statt ihn kassieren zu können. Was, wenn mein bewegungsarmer Lebenswandel, mein Zigaretten- und Alkoholkonsum plötzlich in den Mittelpunkt der Schadensprüfungen und -gutachten geriet und alle sämtlich Beteiligte mit dem Finger auf mich zeigen würden? Selber schuld! Das war ja auch ganz streng genommen nicht mal von der Hand zu weisen.

Nein, das alles war mir nicht sehr geheuer.

Meine Entscheidung fiel entschlossen und unwiderruflich, als ich noch einmal und ganz genau den Bericht des Friesischen Krankenhauses las und mir dann so meine Gedanken machte. Ich konnte mich ja nun drehen und wenden wie ich wollte, eine Erkrankung meiner Herzkranzgefäße hatte zweifelsfrei vorgelegen, das besagten alle Befunde. Wollte ich allen Ernstes dem Chefarzt vorwerfen, versucht zu haben, die Erkrankung zu lindern? Im Bericht hatte er geschrieben, zunächst sei auf eine Intervention verzichtet worden, aber nach erneuter Ergometrie mit einem deutlichen Nachweis einer Durchblutungsstörung in der Herzwand und laufenden Beschwerden habe man sich dann doch zur Intervention entschlossen. Die zeitliche Abfolge stimmte, auch wenn der sachliche Verlauf ein leicht anderer gewesen war.

Kann man denn, so fragte ich mich, immer gleich Ärztepfusch unterstellen, wenn eine Behandlung nicht zum erwünschten und angekündigten Erfolg führt? Wenn jemand den Hersteller einer Mikrowelle auf Schadenersatz verklagt, weil der darin zum Trocknen eingebrachte Hund die Prozedur zur allgemeinen Überraschung nicht überlebte und der Kläger auch noch recht bekommt, weil der Hersteller nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass die Mikrowelle nicht besonders zum Trocknen frisch gewaschener Hunde geeignet sei, so mag das in dem in so mancher Beziehung wunderlichen Amerika nicht besonders wunderlich sein. Aber in Mitteleuropa? Und gar in Deutschland?

 

III. Meine Prostata, die Ärzte und Ich

(Als Teil III in diesem E-Book sowie unter angeführtem Titel in einem separatem E-Book) Gerade als Dingens dachte, er hätte das Schlimmste überstanden, schlug das Imperium zurück. Jetzt wurde die geheimnisvolle Prostata zum Hauptdarsteller. Eine vorschnelle Diagnose sorgte für besondere Dramatik. Gewisse Reparaturarbeiten wurden trotzdem notwendig. Dingens beschreibt das Geschehen in vielen Einzelheiten. Der Leser muss sich daher auf recht bluttriefende und unappetitliche Schilderungen einstellen. Aber detaillierter Aufklärung über das wunderliche Organ und seine Unregelmäßigkeiten, mit der die Mehrzahl aller Männer im Laufe ihres Lebens in dieser oder jener Weise konfrontiert werden, kann ja nicht schaden.

 

Leseprobe:

Die capsula prostatica

Es gibt ja einige Unterschiede zwischen Mann und Frau, im Ausmaß der Luftverdrängung im Brustbereich zum Beispiel, beim Haarausfall, im Redetrieb, in den Fähigkeiten zum Einparken, im Verständnis der Abseitsregel beim Fußball oder in der Bereitschaft, Eingeborene nach dem Weg zu fragen. Aber diese Verschiedenheiten sind im Speziellen weniger groß, als sie gemeinhin angenommen, propagiert, unterstellt und hervorgehoben, manchmal auch nur von uns Männern als üble Nachrede verbreitet werden. Im Prinzip besitzen Männer und Frauen in Bezug auf Typus, Bestimmung, Funktionsweise und Anzahl die gleichen Organe. Allerdings besitzen Männer auch Organe, die bei Frauen in der Regel überhaupt nicht oder mehr oder weniger modifiziert vorkommen.

Ich will mich im Folgenden einem von diesen ganz und gar männlichen Organen widmen, denn es bescherte mir einige aufregende Erlebnisse mit diversen Weiß- und Grünkitteln.

Es liegt im Unterleib irgendwo in Nähe von Blase, Harnröhre und Darm herum, jeder hat schon von ihm gehört, aber es ist, obwohl es zur Basiskonfiguration des männlichen Organismus gehört, für die meisten Männer, für die Frauen sowieso, eine Terra inkognita, das unbekannteste Organ, das dem Menschen in der langen Geschichte seiner Menschwerdung bekannt wurde. In das Blickfeld der Aufmerksamkeit rückt es meist erst im Alter, nachdem Mann es jahrelang mehr oder weniger häufig benutzt hat, es immer treu seine Pflicht tat und seinen Mann stand.

Aber so ist es ja häufig im Leben. Wer zuverlässig ist, stets zur Verfügung steht wenn er gebraucht wird, problemlos und ohne Ausfälle unauffällig funktioniert, der fällt halt nicht weiter auf, seine Existenz wird als ganz selbstverständlich und auch unbedeutend angesehen und er wird daher kaum beachtet. Erst wenn das nicht mehr so ist, wenn er schwächelt oder ausfällt, wird man auf ihn aufmerksam. Und dann auch noch ohne schlechtes Gewissen, sondern mit Erstaunen und Verärgerung.

Genau so geht es der Prostata, um die es jetzt gehen soll. Genau so erging es im Speziellen auch mir und ihr, also meiner eigenen, privaten und personengebundenen Prostata.

Die Prostata ist von Hause aus eine Drüse. Es gibt sie, dass wissen die meisten Männer vom Hörensagen schon. Aber man braucht sie doch eigentlich nicht, jedenfalls zum Überleben bestimmt nicht. Kreislauf, Verdauung, Atmung, Entgiftung funktionieren auch so, sie wird weder zum Fußballspielen noch beim Skat benötigt, ist nicht hilfreich beim Autofahren und dass sie beim Sex eine Rolle spielen soll, muss wohl ein Gerücht sein. Jedenfalls braucht der Mann bei dieserart Verrichtungen ein ganz anderes Organ, aber doch nicht die Prostata, oder?

Das Einzige, was Mann über sie schon recht früh erfährt, ist die Androhung der Erkrankung des Organs. Da diese aber relativ zuverlässig erst im Alter auftritt, muss man sich bis dahin auch nicht weiter dafür interessieren. Das kommt ja noch früh genug und verhindern kann man es eh nicht. Also was geht mich diese Prostata an. Wenn sie was will, soll sie sich melden, wenn nicht, auch gut.

Da bündelt sich schnell eine Menge Unwissenheit mit hartnäckigem Desinteresse und kann irgendwann zu tragischen Verwicklungen führen. Muss nicht, aber kann. Dem will ich vorbeugen helfen und ein wenig aufklären. Auch, indem ich schildere, was ich an Aufregung mit dem geheimnisvollen Organ erlebt habe.

Zunächst aber etwas trockene Aufklärung. Ja ich kann leider nicht mit Feuchtgebietpoesie dienen. Verbalpornografie liegt mir ohnehin nicht und da über die Prostata so wenig bekannt ist, will ich zunächst einmal nur in medizinisch-volkstümlicher Prosa beschreiben, was es mit dem Organ organisch, historisch und soziokulturell auf sich hat. Auch hier will ich nicht mit Wissen glänzen. Mir ging es nicht anders als anderen Männern. Ich habe mich mit dem wunderlichen Organ auch erst konkret beschäftigt, als ich Probleme bekam. Jetzt, mehrere peinliche Untersuchungen, Diagnosen und eine Operation weiter, kenne ich die Drüse ein wenig besser, freilich ist jetzt von dem mir nun besser bekannten Objekt bei mir nicht mehr viel übrig. Aber davon dann später mehr.

Komisch, mit der historischen Entwicklung des Wissens von der und über die Prostata ist es ganz ähnlich. Von ihrer Existenz hatte die Menschheit schon früh, noch bevor sie von Jesus erfuhr, Kenntnis. Bereits 300 vor der Geburt des Erlösers beschrieb Herophilos von Chalkedon in sehr groben Zügen die Drüse. Höchstwahrscheinlich war das die erste Erwähnung ihrer Existenz. In den Höhlenzeichnungen der Cro Magnon und Neandertaler fand man jedenfalls keine Hinweise. Herophilos hatte ihr den Namen Die Vorstehende verpasst; daher auch ihr deutscher, heute eher ungebräuchlicher Name Vorsteherdrüse. Man(n) wusste also lange von der Existenz der Drüse, aber nichts über ihre Funktion, jedenfalls nichts Genaues.

Noch Leonardo aus Vinci, der neugierige alte Zausel, raffte vergeblich sein ganzes Genie – und davon hatte er einiges – zusammen, um hinter ihre Funktion zu kommen und das Geheimnis zu lüften. Die widerspenstige Drüse jedoch verweigerte sich stur und hartnäckig der Entlarvung.

1538 zeigte Andreas Vesalius die Prostata als Teil des männlichen Urogenitalsystems. Irgendwie sei sie wohl an der Produktion des Urins beteiligt, vermuteten die Mediziner zurückliegender Jahrhunderte. Die Vermutung ergab sich aus ihrer Lage. Die Vorsteherdrüse ist im unteren Bauchraum, unterhalb des Bauchfelles beheimatet; die Harnröhre verläuft direkt durch sie hindurch und die Drüse besitzt Kanäle und Öffnungen zur Harnröhre hin. Da lag es nahe, ihr eine Verbindung zur Urinproduktion anzuhängen. Aber das war nur eine Unterstellung aus Unwissenheit.

Ambroise Paré konnte schließlich schon recht genaue Angaben ihrer Rolle bei der Ejakulation machen; eine erste richtige Beschreibung ihrer Anatomie lieferte schließlich Reinier De Graaf 1668. Und 1761 konnte der italienische Arzt Giovanni Battista Morgagni die Mission der Prostata ziemlich vollständig beschreiben, leider auch schon ihre krankhafte Vergrößerung.

Und das Unheil nahm seinen Lauf: 1889 schnitt Vincens Czerny erstmals eine Prostata vollständig heraus.

Wie es sich für unsere moderne Zeiten gehört, ist die Struktur und Funktionsweise der Prostata heute schon sehr detailliert bekannt und in so vielen Einzelheiten, dass es meine Ambitionen mit diesem Text völlig sprengen würde, wollte ich das alles erläutern. Mal abgesehen davon, dass ich das so detailliert auch nicht könnte. Ich bin nur Prostata-Geschädigter, kein Prostata-Gelehrter.

Trotzdem: Die Prostata ist ein sehr komplexes Gebilde, bestehend aus 30 bis 50 Einzeldrüsen unterschiedlicher Gewebearten und mit verschiedenen Zugängen zur Harnröhre. Dazwischen liegen Muskelfasern, denen eine sehr wichtige Funktion zukommt, und Nervenfasern, die auch nicht unwichtig sind. Nach außen wird der Komplex durch die Capsula prostatica – ein so schöner Name, dass ich mir nicht verkneifen konnte, ihn zu erwähnen – einer Art Schale aus Bindegewebe abgeschlossen.

Stellen sie sich die Prostata als eine Art Apfelsine vor. Eine relativ feste Umhüllung umschließt ein weicheres Gewebe im Innern. Das kann man sich doch gut vorstellen, oder? Die Apfelsine wird in diesem Text gelegentlich noch mal vorbeischauen.

Das Drüsengewebe macht normalerweise das, was dem Drüsengewebe so zukommt: Es produziert ein Drüsensekret. Die Flüssigkeit ist in diesem Fall beim Kindermachen von großer Wichtigkeit, weshalb sie, die Drüse, zu Unrecht so lange von Männern – und Frauen – missachtet wird. Das Sekret ist zunächst nur ein Hilfsmittel; das Medium, in dem sich die kleinen Jungs aus den Hoden, die Spermatozoen, bewegen können. Ohne dieses Sekret säßen die nämlich im Trockenen und da würden sie nicht weit kommen, jedenfalls nicht bis in die angestrebten Feuchtgebiete.

Das Sekret macht die Spermien noch auf andere Weise „Beine“. Es enthält Zitronensäure, die sie erst einmal flott macht. Die kommen nämlich, typisch männlich, als recht träge, um nicht zu sagen faule, verschlafene Typen aus den Hoden bzw. den Samenbläschen getaumelt und müssen erst einmal aus ihrer Bequemlichkeit geholt werden. Sie brauchen eine kräftige Ermunterung, sich auf den Weg zu machen. Das macht die Säure. Die Wegzehrung liefert das Prostatasekret auch noch in Form von Cholesterin, Natrium, Kalium, Zink, Magnesium und – etwas Süßes zum Nachtisch muss sein – auch noch Fruchtzucker.

Die Drüse ist also ein reichlich gedeckter Tisch, an dem sich die Spermien ausgiebig laben und für die lange Reise stärken können. Mich wundert allerdings, warum die Evolution nicht noch Alkohol ins Spiel gebracht hat. Das würde besser zu den Spermien passen und hätte das Angebot erst komplett gemacht. Gut genährt und leicht beschwipst würde das kurze, in aller Regel freudlose und – man glaubt es kaum – auch dazu noch höhepunktarme Leben der Spermien erst wirklich angenehm verlaufen. 99,999999… % von ihnen, meistens sogar 100 % leben ja nicht lange, beenden ihr irdisches Dasein abrupt in der Vagina, im Kondom, in der Schlafanzughose oder wo sie auch immer abgelagert werden.

Mit einem kleinen Schwips würden sie das bestimmt leichter ertragen, vielleicht sogar singend. Die Spermien als grölende Horde Trunkenbolde, kleine Fähnchen in den Vereinsfarben schwenkend, durch die Vagina ziehend – eine lebensnahe Vorstellung, oder? Ho, Ho, Ho, 100 Millionen Mann und 'ne Gallone Eierlikör, Ho, Ho, Ho, Kuckt mal, die Alte war sogar beim Frisör!

Um den Spermien den beschwerlichen Weg durch die Vagina und einem von ihnen die eindringliche Begegnung mit der Eizelle zu erleichtern, steuert die Prostata sogar noch geeignete Enzyme bei. Die weiblichen Empfängnisorgane sind nämlich keineswegs unbedingt empfangswillig. Ihre Gastfreundlichkeit gegenüber den Spermien lässt sehr zu wünschen übrig. Das in ihnen herrschende Klima – feucht, warm und sauer – macht den kleinen Jungs das Leben schwer. Sie müssen sich sehr beeilen und viel Durchsetzungsvermögen zeigen, um nicht vorzeitig auf der Strecke zu bleiben. Da hätte sich das mit der alkoholischen Marscherleichterung doch ganz gut gemacht.

Allerdings: Millionen starten, aber nur einer muss durchkommen. Dass der dann auf jeden Fall nüchtern bleibt, ist vielleicht der entscheidende evolutionäre Schachzug.

 

 

 

 

 

 

Inhalt

I m p r e s s u m

Blick auf das Ganze

Title Page

A n a m n e s e

I. Über die inneren Angelegenheiten

meiner leibeigenen Herzkränze

Auch der Herbst hat schlechte Tage

Das Krankenhaus inmitten der Stadt

Los geht’s – aber nicht gleich

Ruhe vor dem Sturm

Das Unheil nimmt seinen Lauf

Wird schon wieder – aber wann?

Ein Schritt vorwärts …

II. Über die Mühen der Ebene

Die Reha und ich

Praxis und Theorie

Es geht schon wieder los!

Alles auf Anfang

Zwischenbilanz

III. Über die inneren Angelegenheiten

meiner personengebundenen Prostata

Die capsula prostatica

Es geht los

Zurück zu mir.

Auf zur Großen Hafenrundfahrt

Das PSA und der Pistolero bei der Arbeit

Es geht auch anders

Noch ein Krankenhaus inmitten der Stadt

Postoperatives

Es läuft wieder

Nachgetragen

A n a m n e s e

Hatte ich schon erwähnt, dass es mich traf, als ich bereits in die Phase der Unsichtbarkeit eingetreten war?

Früher, also noch früher als die nun auch schon leicht zurückliegenden Begebenheiten, sahen mich die jungen und jüngeren Frauen, wenn sie auf der Straße an mir vorbeiwippten. Ich begegnete nicht nur ihnen, sondern ihren Blicken und mitunter auch einem gar nicht so flüchtigen Lächeln, das selten Teilnahmshalbherzigkeit, häufig wohlwollende Kenntnisnahme und mitunter auch ermunterndes Interesse bekundete. Jedenfalls bildete ich mir das ein.

Aber eines Tages – da half auch die Einbildung nicht mehr – bemerkte ich mit Ernüchterung, dass die jungen Dinger und auch schon die älteren, mich nicht mehr bemerkten. Sie konnten dicht an mir vorbei gehen und registrierten nicht einmal meine bloße Existenz. Ihr Blick traf mich manchmal zwar noch, aber er fokussierte mich nicht, nahm mich nicht zur Kenntnis, blieb einfach auf ein ferneres, vielleicht nur unbestimmtes, aber wohl schon offensichtlich lohnenderes Ziel gerichtet; ich war ihm nicht einmal ein physikalisches Hindernis.

Die Physiker kennen solches aus der merkwürdigen Quantenwelt, also jener Region unserer Welt, die nicht von dieser Welt sein kann. Quanten, die Wunder-Teilchen der wunderlichen Physik und der Physiker, können, wenn sie es denn unbedingt wollen, eine im Weg stehende massive Wand einfach durchdringen, ohne sich um das Hindernis scheren zu müssen. Die Physiker nennen es tunneln. Physikalisch ist es ein interessantes und spannendes, aber nicht so recht erklärbares Phänomen; umgangsmenschlich ist es erklärbar, jedoch ziemlich niederschmetternd und entwürdigend.

Aber so wurde mir klar: Ich war für gleich mehrere Generationen des weiblichen Teils der aktuellen Menschheit abgemeldet, aus dem Blickfeld geraten, an den im dicken Nebel liegenden Horizont des Interesses gerutscht. Ich war unsichtbar geworden, die Restlaufzeit war angebrochen und die Garantie jetzt wohl abgelaufen. Das war nicht nur deprimierend, es war mir auch ein Zeichen, nunmehr könnten sowieso ganz andere Dinge auch in die Blickfelder meiner Aufmerksamkeit rücken und meinen Schritten andere Richtungen geben. Das trat dann auch ein und davon will ich berichten.

Der Mensch ist ein vielseitig interessiertes Wesen. Nicht jeder und nicht immer, auch nicht unbedingt immer öfter, aber als Wesen im Wesentlichen schon. Alles Krankenhäusliche ist dabei für viele von uns von ganz besonderem Reiz. Niemand kann genau sagen warum. Vielleicht, weil uns Gesundheit sehr wertvoll und – muss man heute noch hinzufügen – sehr teuer ist.

Vielleicht auch, weil die Medizinmänner sich schon immer, also auch schon zu jenen Zeiten, da die Bürger noch nicht sehr ausgelassen aus Nah- oder Fernerholungsgründen durch Savannen und Wälder und auch über die Sand- und Betonstrände der nahen und fernen Gewässer tobten, als eine geheimnisvolle Berufsgruppe gaben, die mit allerlei Zauber umgehen konnte und mit einer besonders geheimen Verbindung zu den Mächten über die menschliche Natur ausgestattet war, was sich bis heute noch technologisch vervielfacht hat. Uff!

Vielleicht aber auch, weil sich das medizinische Fachpersonal untereinander in einer Art Code verständigen kann. Unverständliche Begriffe und unerschließbarer Sprachgebrauch nötigen dem Unkundigen immer Respekt und Unterwürfigkeit ab. Ganz sicher aber wegen der vielen Krankenschwestern und des erotisch-attraktiven Parts eines Chefarztes, der Intrigen der unterdrückten, aber aufstrebenden Assistenzärzte und der Stutenbissigkeit des sonstigen, hauptsächlich weiblichen Personals. Die Leiden der Patienten treten dahinter regelmäßig als aber so was von unwichtig und nebensächlich zurück; die können es nicht sein, die das Interesse von uns neutralen Beobachtern wecken.

Was haben wir uns vor dem Fernseher schon mit Ärzten, Schwestern und Patienten amüsiert. Ihr Krankenhaus war zwar am Rande der Stadt und auch sonst relativ entfernt, aber ihre Geschichten gingen uns nah. Was habe ich gelacht, als in einem englischen Film eine Horde durchgeknallter Patienten des Nachts einen eingebildeten Kranken eigenhändig zu operieren drohte. Und die Szenen in einem Kriegslazarett-Film waren so was von ulkig, dass das Werk schon internationalen Kultstatus an-nahm. Ach was kann ein amerikanischer Krieg doch zum Schießen sein, wenn er von obercoolen Ärzten und krassgeilen Schwestern bestritten wird und die Soldaten mit abgetrennten Gliedmaßen und herausquellenden Eingeweiden farbig-schmückendes Dekor sind.

Ach ja, Ärzte, Schwestern und Krankenhäuser sind eine gute Mischung und von besonderem Interesse. Erzählungen und Romane, TV-Serien oder Filme, die Ärzte zu ihren Hauptfiguren haben und deren Tun als bestimmende Handlungsstränge aufweisen, sind immer für hohe Einschaltquoten oder verlegerbefriedigende Verkaufszahlen gut. Apotheken und Apotheker sind entschieden langweiliger.

Was soll in einer Apotheke auch schon Aufregendes passieren. Vielleicht ist ein Medikament gerade aus, oder es gibt Trödel, da der Doktor eines verschrieben hat, für das die Krankenkasse die Kostenübernahme verweigert, oder die Mittel zur Bekämpfung von Schnupfen und Heiserkeit werden von einem ungeduldigen Patienten beanstandet, weil sie sein körperliches Befinden nicht von heute auf jetzt aus der akuten Freudlosigkeit herausgehievt haben. Oder die Hämorrhoidenzäpfchen gibt es, wegen der großen Nachfrage nach Charlottes feuchten Lebenserinnerungen, nur auf Bezugsschein mit Stempel vom Bürgeramt, oder Warnwesten für Autofahrer derzeit nur in pink oder dunkelblau, oder die Zeckenzangen nur in akuten Fällen nach 3-monatiger Voranmeldung. Aber das ist doch nicht lustig und spannend auch nicht.

Und die Aushändigung von Leistung steigernden Mittelchen für Sportler erfolgt so nebenbei und unpersönlich, dass darüber selten bis nie etwas zu erfahren ist. Selbst die Beteiligten können sich daran wenig erinnern, so unwichtig und langweilig ist es ihnen. Nein, Apotheken liegen mit ihrem Interessen- und Spannungspotential weit abgeschlagen hinter dem von Krankenhäusern zurück.

Diese Popularität der krankenhäuslichen Ärzte und Schwestern war aber nicht der Grund, warum ich mich entschloss, einiges von meiner knapp gewordenen Lebenszeit abzuzweigen, um diesen Text zu verfassen.

Gut, viele Bürger fühlen sich, wenn ihre zahntechnische Serienausstattung bereits durch altersgerechte und abschließende Nachrüstungen weitestgehend ausgetauscht werden musste, unbedingt zur Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen verpflichtet. Und manche Jungstars weisen uns durch die Fremdanfertigung ihrer Memoiren darauf hin, dass wir von ihnen glücklicherweise auch nicht mehr viel zu erwarten haben.

Obwohl ich Lebenserinnerungen in einer ziemlichen Anzahl vorzuweisen hätte und obwohl die Welt von mir wohl auch nicht mehr viel erwarten wird – ich von ihr allerdings auch nicht –, wollte ich mich da nicht einreihen. Ich stehe jeder schriftlichen oder sonstigen Rechtfertigung oder Schönfärberei meines lebenslangen Tuns und vor allem Lassens sehr prinzipiell ablehnend gegenüber. Warum soll die Welt an meiner Vergangenheit Anteil nehmen? Als sie Gegenwart war, hat sie sich ja auch nicht groß darum geschert.

Na ja, der eigentliche Grund ist freilich meine Abneigung gegen Prozesse und Einstweilige Verfügungen, in die man heute schnell verstrickt werden kann, würde man, und sei es nur in nebulösen und fernen Erinnerungen, andere Menschen und deren Tun vorsichtig zwar und doch kritisch beleuchten. Aber nur meine Fehler zuzugeben und andere Beteiligte stets loben und würdigen zu müssen, erscheint mir ziemlich sinnlos und daneben.

Auch habe ich gehört, man könne als Autor von Lebenserinnerungen sogar gerichtlich dazu angehalten werden, ganze Passagen in einer Veröffentlichung unleserlich zu machen. Nein, wenn ich nicht anschwärzen darf, schwärzen möchte ich mein Leben nicht einmal in der Erinnerung.

Und doch entschloss ich mich schließlich in einem Anflug von Leichtfertigkeit und Übermut, mich der Vergangenheit hinzugeben. Aber nur in einem streng limitierten Maß. Es sind nicht die gesammelten Rückblicke an lange und stressige, vor allem arbeitsreiche und im Durchschnitt kaum lustige Jahrzehnte, sondern nur jene aus wenigen turbulenten Wochen und Monaten, die eine ganz besondere, aufregende und niederschmetternde Rolle in meinem Leben hatten.

Denn wie das so spielt: Ich hatte an nicht viel Böses gedacht, als es mich eines Tages unversehens und gänzlich unerhofft in die blutigen Kampfarenen der Ärzte und Schwestern verschlug. Das wäre verhinderbar gewesen, aber plötzlich war es nicht einmal mehr aufschiebbar. Was soll ich sagen. Das war mit viel Aufregung verbunden, hatte schon Züge von Dramatik, obwohl es manchem Leser in meiner Darstellung im Vergleich zu eigenen Erlebnissen möglicherweise gar nicht so erscheinen mag.

Denn jetzt, einige teure Einkommenseingeständniserklärungen und ganz freiwillige Praxiszutrittsgebührenquartalsentrichtungen weiter, sind mir beim Erinnern so manche Szene und Begebenheit in den Sinn gekommen, die sich aus der inzwischen einigermaßen sicheren zeitlichen und physischen Distanz recht unterhaltsam geben, sogar Züge des Grotesken erkennen lassen. Lesern, die Ähnliches oder noch Schlimmeres erlebt haben, wird meine Art der Beschreibung vielleicht wie Oberflächlichkeit und Verharmlosung vorkommen.

Mit zeitlichem Abstand und inzwischen kräftig ausgebildeter emotionaler Altersgelassenheit sehe ich Einiges, was mich noch vor wenigen Jahren in Angst und Schrecken versetzte und manche depressive Stunde bescherte, heute eben anders, lockerer, unverbissen. Ich versichere, meine Erkrankungen, über die ich berichten will, waren nicht vergnüglich und sind es auch heute nicht. Das war schon bitterer Ernst. Aber so manches aus dem Drumherum – mich selbst und mein Verhalten eingeschlossen – kann ich nicht mehr so ganz ernst nehmen. Soviel Spaß muss sein, soviel Ironie darf sein.

Einiges von dem, was man im Folgenden lesen kann, mag empfindsamen Gemütern allerdings nicht sehr appetitlich vorkommen, als Aussicht auf noch zu Erwartendes auch leicht oder mittelschwer deprimierend. Ich kann jedoch recht glaubwürdig geltend machen: Jeder Mensch ist im Besitz diverser Herzkranzgefäße, die sich verengen können, wenn sie es nicht sogar schon getan haben oder kräftig dabei sind. Und jedes männliche Wesen ist Privateigentümer eines speziellen Drüsengewebes, das sich in der Regel über lange Zeit unauffällig, aber zuverlässig an gewissen Freude spendenden Tätigkeiten beteiligt, aber im Gegensatz zu den blutführenden Gefäßen mehr zu Erweiterung und Vergrößerung neigt, was in diesem speziellen Fall auch nicht angenehm ist. Die Herzkränze und die Prostata sind die von der Evolution sorgfältig und weitsichtig angelegten wichtigsten Sollbruchstellen des männlichen Körpers – nach dem Kopfhaar, dem Bauchbindegewebe und den Backenzähnen natürlich, manchmal auch den Schwellkörpern.

So ist das nun mal und daraus resultieren einige Erschwernisse, die mit statistisch signifikanter Wahrscheinlichkeit früher oder später in die Fänge von blutrünstigen Ärzten und zu den Abenteuern in Praxen und Krankenhäusern führen. Ich habe das erlebt und bin im Folgenden bemüht, es wahrheitsgetreu wiederzugeben.

Das heißt, um genau zu sein: Alles Medizinische, das, was ich als mit Ärzten und in Krankenhäusern Erlebtes hier preisgebe, ist authentisch. Nur an ganz wenigen Stellen habe ich das mal leicht ausgeschmückt. Dafür habe ich auch weggelassen, was mir nicht so interessant schien. Es betrifft aber nur unwichtige Einzelheiten, nicht den Handlungsstrang und die entscheidenden Szenen und Geschehnisse. Die sind mir noch allzu gut im Gedächtnis geblieben.

Gut auch, dass ich wichtige Dossiers, liebevolle, als medizinische Sachverständigengutachten getarnte Grußschreiben der Ärzte an ihre Berufskumpane, in denen sie mich und meine körperliche Konstitution ganz unverschämt denunzierten, – die häufigen Aufforderungen meiner Frau zum Aufräumen stur ignorierend – in diese Tage hinübergerettet habe. Die waren mir nicht nur Faktenlieferanten, sondern halfen auch beim Erinnern.

Mein Name ist, um meine Identität nicht unbedingt preisgeben zu müssen, frei erfunden. Ich möchte nicht im Supermarkt oder auf der Straße das Gefühl haben, die Leute würden sich hinter meinem Rücken zuraunen: Ach, ist das nicht der mit ohne Prostata … armer Kerl. Na ja, vielleicht hat er’s ja verdient.

Auch sind alle Namen, einschließlich derer der Straßen und Krankenhäuser, geändert. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und tatsächlichen Objekten sind nicht zufällig, sondern in voller Absicht gerade so gewählt. In eventuellen Prozessen werde ich das aber vor den Gerichten und Rechtsanwälten entschlossen leugnen.

Warum ich ausgerechnet über zwei nicht sehr erfreuliche und überhaupt nicht lustige Erkrankungen und die damit verbundenen Erlebnisse berichte – und noch dazu in einer etwas unernsten Art? Wie sich dem Leser leicht erschließen wird, handelt es sich um körperliche Gebrechen, die Jeden jederzeit treffen können. Vor allem Männer erwischt es mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später. Das scheint kaum zu verhindern. Aber auch Frauen, die man lange Zeit als vor Herzinfarkten geschützt glaubte, sind inzwischen in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen worden. Über weibliche Prostataleiden ist hingegen nichts bekannt. Alles können die auch nicht haben.

Ich berichte über die schmerzvollen Niederschläge und die peinlichen Begleitumstände, die mich getroffen hatten, nicht etwa in wehmütiger Erinnerung. Meine Absicht ist es, mich an die vielen Männer zu wenden, die mit mir diese oder jene Erfahrung teilen oder noch teilen werden. Ich will ihnen sagen: Sieh’ste, du bist nicht allein, mir ist es ganz genauso oder doch so ähnlich ergangen. Und wenn es dir noch bevorsteht, hadere nicht mit deinem traurigen Schicksal, denn du teilst es mit mir und vielen anderen und geteiltes Leid ist, wie der lockere Volksmund sagt, doppelt soviel Wert – oder so ähnlich.

Vor allem sollen alle Männer, die in Erwartung dieser schweren Schicksalsschläge von diversen Verunsicherungen niedergedrückt werden, aus erster Hand einiges darüber erfahren. Natürlich können sie die Ärzte befragen. Die wissen Bescheid. Aber die meisten von denen haben den Bescheid auch nur von ihren Professoren oder aus Büchern. Jedenfalls gibt es unter der Ärzteschaft bezüglich der zu schildernden Erkrankungen einen ernsthaften Mangel an persönlichen Erlebens-Erfahrungen. Das freut mich für sie, aber nicht unbedingt für ihre Patienten.

Nun lässt es sich schlecht machen, den Ärzten erst einmal das persönliche Erleben abzuverlangen, nur um den Patienten die Diagnose mit authentischen Berichten ausschmücken zu können. Wer einen Herzinfarkt behandeln will, muss natürlich einen solchen nicht schon mal durchgemacht haben, klar. Aber solches und manches andere Ungemach in den Krankenbetten emotional nachvollziehen kann man nur aus praktischer Anschauung.

Deshalb klingt das, was einem die Ärzte vorab so alles sagen, stets wie technische Erläuterung verbunden mit wüsten Drohungen. Wenn es um mein Herz geht, will ich aber nicht ausschließlich aufgeklärt werden, als würde der Fahrschullehrer über die Funktionsweise eines Ottomotors reden. Und die Vorsteherdrüse möchte ich nicht als Vorhof der Hölle dargestellt wissen. Die Erinnerungen eines gewesenen Betroffenen werden, so hoffe ich, den zukünftig Betroffenen hilfreicher sein.

Ach ja, bei den Ärzten liegen in großer Zahl einschlägige Broschüren aus. Diese sind gar nicht so schlecht, sachlich-informativ-medizinisch gesehen, aber im Leben ist das alles noch anders, teils erdrückender, teils auch lustiger. Deshalb schreibe ich auch leicht unernst darüber, um allen zu-künftigen Herzverengten und/oder Prostatavergrößerten verständliche Ängste abzuschwächen, vielleicht sogar etwas Spannung und freudige Erwartung aufzubauen. Letzteres ist wohl ein zu hoch gegriffenes Unterfangen, aber einen Versuch wert. Mein multipler Sarkasmus, mit dem ich Personen und Vorgänge – und auch mich – großzügig bedenke, mag nicht immer gerecht sein, aber er ist ehrlich – ehrlich. Und er befriedigt, besonders im Nachhinein.

Bei aller nahe liegender Männerbezogenheit: Mein lockerer Bericht soll sich auch an die weiblichen Teile – einschließlich solcher, die dazu zählen wollen – unserer geschlechtsdualen Gesellschaft wenden. Schließlich kann es nicht schaden, wenn die Frauen wenigstens etwas über die Leiden und die Leidensfähigkeit der Männer wissen.

Ich muss allerdings zugeben, mir schon etwas schwermütig darüber im Klaren zu sein, vor allem den Gebär-Müttern, aber auch den Enttäuschten und Betrogenen, den Alleingelassenen und den sowieso Männerfeindlichen auf diese Weise eine so oder so späte und sicher tief empfundene Genugtuung zu bereiten. Sollen die, die uns so viel Schmerzen bereiten, doch auch leiden, mag manche Frau denken, wenn sie davon liest, wie es Männern ergehen kann. Die Genugtuung spende ich ganz freiwillig und aus Überzeugung, aber vor allem, da sie sich nicht vermeiden lässt und auch irgendwie gerecht ist. In Bezug auf die Erkrankungen muss zur Beruhigung ängstlicher Gemüter noch gesagt werden: Statistische Signifikanz bedeutet, die hier zu beschreibenden Leiden können jeden Mann treffen, müssen es aber nicht. Man(n) kann auch Glück haben.

Bemerken möchte ich ausdrücklich: Ich bin von keiner Krankenkasse oder Ärztevereinigung als Werbeträger beauftragt, noch habe ich irgendwelche wirtschaftliche oder sonstige Beziehungen zur Pharmaindustrie oder zur Apothekerinnung. Ich stehe der Regierung und dem Staatsapparat sehr fern, dem Gesundheitsminister auch.

Ich bin auch nicht mit einer Ärztin verheiratet, mit keiner Krankenschwester oder Apothekenhelferin liiert, auch nicht nebenbei. In meiner näheren und ferneren Familie gibt es weder absolvierte noch studierend heranwachsende Mediziner und auch keine sonstige medizinische Zugangsberechtigte (was manchmal bedauerlich ist). Verfeindet oder zerstritten bin ich mit Angehörigen dieser Berufsgruppen nicht im Geringsten und in nicht einem einzigen Fall – soweit ich weiß und bisher.

Ich will mit meinen Darstellungen weder jemanden besonders schonen oder mich bei anderen beliebt machen, noch sehe ich mich veranlasst, Krawall zu machen oder jemanden unbedingt moralisch zu skalpieren. Wenn ich die Missstände und Probleme unseres Gesundheitswesens, wie mancher arg Gebeutelte bestimmt meinen wird, nicht in aller verdienter Schärfe anprangere, dann nicht, weil sie mir nicht bewusst wären, sondern weil ich sie aus eigenem Erleben nur bedingt erfahren habe. Und wenn die meisten Ärzte, Schwestern und auch medizinische Verfahrensweisen bei mir gut wegkommen, dann deshalb, weil ich ihnen und sie mir so begegnet sind. In Einzelfällen war das nicht so ganz der Fall. Aber warum deshalb gleich hinrichten, Missachtung tut es manchmal auch schon. Und Zurückhaltung erspart höchstrichterlich verordneten Schwarztext.

Kurz: Ich beschreibe das alles aus völlig freien Stücken, ohne Auftrag oder Aufforderung, einfach so, weil ich es für mitteilungswürdig halte. Und noch einmal: Meine Erkrankungen waren ernst und ich habe sie ernst genommen. Mir war nicht zum Lachen. Wenn ich heute darüber unernst schreibe, dann nicht, um zu verharmlosen, was nun mal nicht harmlos ist. Aber mit Abstand kann man auch über dies und das schon mal lächeln oder gar lachen. Das übrigens auch, weil man ohnehin, als es ernst war, neben sich stand.

Trotzdem viel Spaß dann – bei der Lektüre des Textes.

 

I. Über die inneren Angelegenheiten

meiner leibeigenen Herzkränze

Auch der Herbst hat schlechte Tage

Es war Herbst – im Wandel der Jahreszeiten wie in meinem Leben. Ein gewöhnlicher Tag schickte sich an, zu brechen und zu einem wichtigen zu werden. Noch hielt der Schlaf, vermischt mit dem Alkohol vom Vortag, mir die Welt in nebliger Distanz. Es war die ungeliebte Stunde, da sich für gewöhnlich die Wirklichkeit mit vorsichtigen, noch diffusen Signalen zu Wort meldet.

Da sorgt vielleicht ein leichter Druck in der Blase für aufkommende Unruhe oder aus der nahen Küche steigt plötzlich der Duft von Latte Macchiato in die Nase und weckt die sich träge räkelnden Lebensgeister; oder die morgendliche Latte Machete trifft an die Grenzen der Schlafanzughose und veranlasst einige hundert ungeduldige Neuronen des sehr zentralen Nervensystems, ziemlich spontan Salven fröhlicher Erregungspotentiale abzufeuern, was ungewollt, aber nicht unbedingt lästig auf manche Vorzüge des wachen Seins verweist.

Oder es ist nur der Wecker, der unsanft und ohne Vorwarnzeit schrille Töne ausspuckt, gegen die man sich verzweifelt zur Wehr zu setzen versucht, indem man sie erst einmal ignoriert – häufig vergeblich.

An jenem Tag aber waren da völlig neue Signale, mit denen die Wirklichkeit ihren Wiedereintritt in mein Bewusstsein anstrebte. Ich war nicht einmal überrascht. Obwohl neu, also niemals zuvor erlebt, wusste ich sogar noch halbschlafend Bescheid.

Die zahlreichen patriotischen Jahre, da mein Zigarettenkonsum wohlwollend und pflichtgemäß auf das ebenso staatliche wie stattliche Steuerwachstumseinnahmebeschleunigungsprogramm ausgerichtet war, mein Alkoholkonsum häufig über dem Eichstrich lag und Essen und Schlaf zu den überflüssigen und überaus lästigen, den Broterwerb zur Unzeit und völlig unberechtigt unterbrechenden, noch dazu unbezahlten Nebentätigkeiten gehörten, denen ich fast ebensoviel Unregelmäßigkeit zubilligte wie der körperlichen Bewegung, waren nun wohl Vergangenheit. Das musste ja so kommen.

Der Schmerz in der Brust war unverkennbar. Ich musste mich nicht besonders mühen, seine Art definieren und seine Quelle lokalisieren zu können. Das war das Herz, das war sofort klar. Was mich kurz bewegte war die Frage, ob der Körper hier bereits ein entschiedenes Stoppzeichen setzte oder das zentrale Nervensystem als meine allmächtige und manchmal lästige, körpereigene Regierungskoalition mir nur mal freundlich signalisieren wollte: So, alter Mongole, jetzt reicht’s!

Das war schon eine wichtige Frage. War es der Körper, so würde eine Schädigung vorliegen, die nicht mehr vollständig aus der Welt zu schaffen wäre. War es der Kopf, so hätte ich noch die Chance, in einem offenen und selbstkritischen Zwei-Augen-Gespräch mit ihm, ihn vielleicht zu überzeugen, dass ich ein sehr reumütiger Sünder sein könnte, der künftig alles anders machen würde, wenn er mir auch etwas entgegen käme. Natürlich hatte ich nicht wirklich die Absicht, alles anders zu machen; etwas vielleicht, Dieses und Jenes, mal dann und wann, da ließe sich drüber reden, ich bin ja immer kompromissbereit; aber alles? Ich bin doch nicht blöd!

Aber das musste der ja nicht gleich wissen. Vielleicht glaubte mein Kopf mir meine Versprechungen vorerst. Der war häufig erschreckend leicht-gläubig. Was der mir schon alles an Ausreden und fadenscheinigen Argumenten abgenommen hatte. Da konnte ich manchmal nur den Kopf schütteln. Und da war es nur zu wahrscheinlich, dass es mir auch in diesem Fall gelingen würde, ihn, und wenn auch nur für einige Zeit, hinters Licht zu führen. Zeit gewinnen kann ja auch ein Gewinn sein.

Aber es dämmerte mir schon, dass wohl eine Zeit der Veränderungen angebrochen war. Das verdrängte ich schnell und freudig, denn im Verlauf des nämlichen Tages verschwand der dämliche Schmerz wieder. Na also, geht doch. Es war wohl doch nur eine Nachricht des Kopfes. Ein Heul-, kein Notsignal. Der Geist kann ja so was von ängstlich sein, der feige Hund.

Das geschah an einem Samstag, der zudem eine Familienfeier sah. Die verlief wie immer komplikationslos. Schwager und Schwägerin waren zu Gast, Kinder und Enkel natürlich sowieso. Reden, Essen, Trinken, Rauchen und dann das Ganze von vorn, aber in variabler Reihenfolge. Mir ging es gut, aber nicht so gut, dass ich mich richtig gut fühlte, aber auch nicht so schlecht, dass ich mich richtig schlecht gefühlt hätte. In Sorge über die morgendlichen Signale war ich schon, aber nicht sehr. Zwei Biere später waren sie sowieso vergessen.

Am Sonntag äußerte meine Schwägerin plötzlich den Wunsch, auf dem Weg in die zartblühende Landschaft der heimatlichen Provinz noch schnell die städtische Wohnstatt meiner Tochter zu besichtigen. Ich weiß nicht, was Frauen daran so interessant finden. Immer wollen sie sehen wie andere wohnen. Mich stürzt das eher in Depressionen, jedenfalls war es früher so.

Dann hörte ich im Fernsehen einen Psychologen – oder war es Dieter Bohlen – erläutern, man würde immer das Gefühl haben, im Supermarkt gerade an der falschen Kasse zu stehen. An der Kasse, an der die Schlange besonders lang ist, oder die Kunden besonders viel im Wagen haben, oder die Kassiererin besonders betulich hantiert und bestimmt die weltweit Langsamste ihrer Art ist, oder besonders viele Kunden eine Schachtel Zigaretten und eine Cola mit Karten bezahlen, die natürlich wieder mal nicht funktionieren wollen, oder eine alte Dame besonders niederträchtig in Zeitlupe Cent für Cent hervorkramt, die von der die Supermarktkasse bedienenden Zeitlupe auch noch niederträchtig Cent für Cent nachgezählt wird.

Auch würde man immer, wenn man eine fremde Wohnung betritt, das sichere Gefühl haben, diese sei viel geschmackvoller, interessanter, wohnlicher eingerichtet und überhaupt großzügiger und heller als die eigene billige und verwahrloste Absteige. Das sei psychologisch, sagte der Experte – oder Dieter Bohlen –, also Einbildung. Seit dem haben fremde Wohnungen für mich etwas an Schrecken verloren. Die Supermarktkassenschlangen nicht so. Da stimmt die psychologische Theorie nicht.

Wie gesagt, meine Schwägerin wollte also die ihr noch fremde Wohnung besichtigen und warum sollten wir ihr das auch abschlagen. Es blieb ja in der Familie. Also fuhren wir gemeinsam in die Maximilianstrasse direkt am bekannten Maximilianplatz. Die Wohnung meiner Tochter, natürlich auch die ihres Mannes, der seinerzeit mein Schwiegersohn war, und der Kinder, die meine Enkel sind, befand sich damals im zehnten Stock.

Damals deshalb, weil sich der ganze Trupp inzwischen in weniger fruchtbare Wohngegenden verstreut hat, wo die Häuser nicht so groß gewachsen sind. In der damaligen Wohnung hatte man einen guten Blick auf den Maximilianplatz, einige wenig interessante Gebäude, die S-Bahn und auf einen riesigen Parkplatz mit den unzähligen PKWs und Bussen zahlreicher auswärtiger Innenstadtbesucher.

Das heißt, der Blick war gut, aber nicht besonders schön, vor allem war er nur früher da. Inzwischen ist er mit unbekanntem Ziel verzogen, denn an seiner Stelle und die des Parkplatzes, auf dem in früheren Jahren im Dezember gigantische Weihnachtsmärkte rumorten, thront inzwischen ein gigantisches Kaufhaus, das Maxima. Auch der gute Blick auf den bekannten Maximilianplatz wurde inzwischen durch einen ebenfalls neuen, in unauffällig-farbenfrohem Bunkergrau gehaltenen Einkaufstempel entschlossen aus dieser Gegend vertrieben. Damals aber, als meine Schwägerin unbedingt die Wohnung meiner Tochter und den guten Blick sehen wollte, war der gute Blick noch anwesend und zu besichtigen, die Wohnung und meine Tochter mit ihrer Familie auch.

In jener sonntäglichen Nachmittagsstunde beging ich freilich einige Fehler. Zum einen hatte ich völlig unbeachtet gelassen, wie sehr von oben herab die Wohnung ihren guten Blick über die breite Gegend schweifen ließ. Meine Schwägerin aber meidet konsequent jeden Fahrstuhl. Das ist keine Marotte. Sie leidet unter Platzangst, jede Enge bereitet ihr große Probleme. Selbst bei Fahrten in die Berge zieht sie einen viele Kilometer langen Umweg vor, nur um nicht einen auf direktem Weg liegenden kurzen und dunklen Autotunnel passieren zu müssen. So eine ist die. Ich wusste das. Wir wohnen in einem Hochhaus. Sie war schon häufig bei uns zu Besuch und scheute nie die 20 Stockwerke – herauf und auch wieder herunter – über eine enge und auch noch finstere Nottreppe. Platzangst ist nicht lustig, aber anstrengend, auch das wusste ich.

Dann übersah ich die Konsequenz der Tatsache, dass mein Schwager uns vor der Haustür mit den großzügigen Worten absetzte: „Geht schon mal hoch, ich suche nur noch ’nen Parkplatz