Mein Ich hat Gewicht - Dorothe Verbeek - E-Book

Mein Ich hat Gewicht E-Book

Dorothe Verbeek

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Beschreibung

Magersucht ist mehr als nur ein Wunsch, schlanker zu sein – sie ist eine ernsthafte psychische Erkrankung. Das Buch spricht betroffene junge Mädchen direkt auf Augenhöhe an. Einfühlsam und zugleich wissenschaftlich fundiert erklären Dorothe Verbeek und Gunter Groen, was eine Magersucht genau ist und wie sie entsteht. Schritt für Schritt nehmen sie die Leserinnen mit, ihren Weg aus der Magersucht zu finden und mit sich, ihrem Körper und ihrem Leben Frieden zu schließen. Durch die Erfahrungsberichte von fiktiven Stellvertreterinnen wie Katy, Azra, Caro und Liane wird die Thematik greifbar und nahbar. Deutlich wird: Es geht nicht nur um das Symptom »nicht essen«, sondern um Selbstwert, Emotionen, gesellschaftliche Einflüsse und die persönliche Entwicklung. Ein Buch, das Therapeut*innen, Pädagog*innen und Eltern empfehlen und weitergeben werden. Die Arbeitsblätter aus dem Downloadbereich können sehr gut in der Therapie genutzt werden.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mein ICH hat Gewicht

Stark sein gegen Magersucht

Dorothe Verbeek und Gunter Groen

Dorothe Verbeek und Gunter Groen Mein Ich hat Gewicht Stark sein gegen Magersucht

1. Auflage 2025

ISBN: 978 – 3 – 96605 – 339 – 3 ISBN E-Book (PDF): 978 – 3 – 96605 – 377 – 5 ISBN E-Book (EPUB): 978 – 3 – 96605 – 378 – 2

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://portal.dnb.de abrufbar.

© Psychiatrie Verlag, Köln 2025

Psychiatrie Verlag GmbH Ursulaplatz 1 50668 Köln [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden. Die Nutzung unserer Werke für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Lektorat: Uwe Britten, Eisenach

Illustrationen: Rosa Linke, Weimar

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Michael Schmitz, www.grafikschmitz.de, Arnbruck, unter Verwendung eines Bildes von Ryan Jacobson/unsplash.com

Typografie und Satz: Alexander Klar, Jessen (Elster)

Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau

Inhalt

Vorwort 7

Betroffene Mädchen erzählen 9

Was genau ist Magersucht? 13

Abnehmen – wollen das nicht viele Mädchen? 14

Wissen über Magersucht 15

Welche Auswirkungen hat Hungern auf den Körper und die Psyche? 20

Gibt es noch andere Essstörungen und psychische Erkrankungen? 23

Woher kommt deine Magersucht? 27

Persönliche Themen und deine Entwicklung 30

Die Rolle von Eltern und Familie 42

Körperliche Einflüsse 43

Schlank und schön: Der Einfluss von Gesellschaft und Medien 45

Teufelskreis Abnehmen 48

Du bist mehr als die Magersucht 51

Deine guten Eigenschaften und Stärken 53

Deine Interessen und Hobbys 55

Deine Freund*innen und deine Familie 58

Was du für dich tun kannst 61

Dir zuhören, worum es eigentlich geht 62

Werde zur Expertin deiner Gefühle! 67

Du musst nicht perfekt sein! 78

Wie du Schritt für Schritt wieder angstfrei essen kannst 82

Ein gesundes Gewicht im Blick 92

Du kannst dich in deinem Körper wieder wohlfühlen 98

Wie andere dir helfen können 107

Was Eltern tun können 109

Was Schule und Lehrkräfte tun können 120

Was Freund*innen tun können 122

Professionelle Hilfe: Wer macht was? 125

Ambulante Behandlung 125

Weitere Anlaufstellen 127

Klinikbehandlung 128

Bleib dran, Du schaffst das! 131

Hilfreiche Internetquellen und Bücher 133

Hilfreiche Internetseiten 133

Chatforen und Anlaufstellen in Krisen 134

Hilfreiche Bücher 135

Downloadmaterialien

Arbeitsbögen im Überblick

Typische Merkmale einer ­MagersuchtKörperliche und psychische ­FolgeproblemeWoher kommt meine Magersucht?Das alles bin ichAktivitätenlistePorträt meiner MagersuchtFunktion der MagersuchtWas mir wichtig istAuf dem Weg zu meinen ZielenMein GefühlskreisGefühlswörterProbleme ansprechen: Ich hab was auf dem HerzenMeine Gefühle kennenlernenDie strenge Kritikerin und ­AntreiberinSelbstfürsorge: Die gute Freundin in mirSchenke dir SelbstmitgefühlGut lernen: Ein paar TippsDie Stimme der Magersucht ­entmachtenMagersuchtsgedanken hinterfragen und verändernMein EssprotokollMeine GewichtskurveDinge, die mir und meinem Körper guttunSäulen meiner Gesundheit: Auch in Zukunft gut auf mich achten

Der Zugangscode befindet sich auf ­Seite 16.

Vorwort

Hallo, schön, dass du unser Buch zur Hand genommen hast!

Vielleicht bist du von einer Magersucht betroffen oder leidest unter einem starken Drang, abnehmen zu wollen. Vielleicht bist du dir aber auch gar nicht sicher, ob dein Umgang mit Essen bereits zu einem Problem geworden ist. So oder so, es ist gut, dass du dich mit dem Thema auseinandersetzt und mehr erfahren willst.

Wir wissen aus unserer langjährigen therapeutischen Erfahrung in der Arbeit mit Jugendlichen und auch aus der Forschung: Eine Magersucht ist eine psychische Erkrankung, für die Mädchen oft Jahre benötigen, um sie zu überwinden.

Gerade weil eine Magersucht so schwer zu überwinden ist, möchten wir dir mit unserem Buch zur Seite stehen. Viele Erlebnisse und Erfahrungsberichte unserer Patientinnen fließen in Form der fiktiven Stellvertreterinnen Katy, Azra, Caro und Liane in dieses Buch ein. Vielleicht kennst du das ein oder andere auch von dir und kannst aus ihren Geschichten und Lösungsansätzen etwas dazulernen. Zudem haben wir viele Informationen, Ideen und konkrete Anregungen zusammengestellt, was auf einem Weg aus der Magersucht hilft. Das kann bei jedem Mädchen unterschiedlich sein, schließlich hat jede Jugendliche ihre eigene, persönliche Geschichte. Schau also, was zu dir passt und was für dich persönlich von Bedeutung ist. Sicher ist es manchmal anstrengend, sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Deswegen möchten wir dich ermutigen: Lass dir gerne Zeit bei der Lektüre unseres Buches und achte darauf, wieviel auf einmal dir davon guttut.

Unser Buch »Mein Ich hat Gewicht« möchte dir zeigen, dass du einzigartig und wichtig bist, und zwar mit all deinen inneren Stimmen, Empfindungen, Eigenschaften und Stärken, die zu dir gehören; dass du aber auch Energie und eine körperliche Stabilität benötigst, um all die Kraft, Individualität und Persönlichkeit zu entwickeln, die in dir steckt.

Es gibt viele Gründe, die zu einer Magersucht führen: persönliche, familiäre, körperliche, gesellschaftliche – meist kommt vieles zusammen. Zudem war die Welt in den letzten Jahren von Krisen erschüttert. Die Coronapandemie hat bei vielen Menschen zu einer Zäsur geführt. Vor allem junge Menschen waren mit den Kontaktbeschränkungen und Lockdowns in den Schulen hart getroffen. Bilder von den Auswirkungen der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Umweltkatastrophen als Folge des Klimawandels, eine Verschiebung der politischen Kräfte ins Extreme, wirtschaftliche Unsicherheiten: Es ist nachvollziehbar, wenn manche jungen Menschen das Leben als unberechenbar empfinden und in ihrem Vertrauen in die Verlässlichkeit und Sicherheit in der Welt erschüttert sind. Vielleicht trägt auch diese Entwicklung dazu bei, dass mehr Mädchen in der Kontrollierbarkeit ihres Körpers und im Rückzug nach innen Halt suchen.

Kein Buch kann eine individuelle Psychotherapie ersetzen, die bei einer Magersucht notwendig ist. Aber unser Buch kann dich vielleicht ermutigen und unterstützen. Wenn du bereits eine Therapie machst, entdeckst du sicher viele Themen, die du dort vertiefen kannst. In diesem Sinne eignet es sich auch gut zur Begleitung und Ergänzung einer Behandlung.

Bevor wir beginnen, möchten wir unseren vielen netten, klugen und mutigen Patientinnen danken. Durch eure Offenheit, euer Vertrauen und euren Mut konnten wir eure Erkrankung viel besser verstehen und Wege mit euch aus der Magersucht suchen. Wir danken Frau Koch vom Psychiatrie Verlag und Herrn Britten für das Lektorat und die vielen wertvollen Impulse. Und besonders herzlich bedanken wir uns bei unseren Familien für euren Zuspruch, eure Unterstützung und euren Rat.

Nun wünschen wir dir eine hilfreiche Lesezeit, die dich weiterbringt. Wir hoffen, dass du dich durch die Informationen noch besser kennenlernst und unsere Anregungen und Ideen dir auf deinem Weg helfen, gesund zu werden. Wenn du magst, freuen wir uns über Rückmeldungen an [email protected].

Dorothe Verbeek und Gunter Groen, im Frühjahr 2025

Betroffene Mädchen erzählen

In diesem Buch lassen wir Mädchen zu Wort kommen, die an einer Magersucht erkrankt sind. Katy, Caro, Liane und Azra stehen stellvertretend für all die Jugendlichen, die wir begleiten durften. Sie nehmen uns mit auf ihrem Weg aus der Magersucht. Wir erzählen parallel, was wir über diese Erkrankung wissen und was wir von den Mädchen, die wir in der Praxis behandelt haben, lernen konnten.

Katy, 14 Jahre: »Ich war größer und kräftiger als die anderen Mädchen aus meiner Klasse und habe mich sehr unwohl gefühlt. Ich wollte abnehmen und auch so zierlich aussehen wie Lilly und Maria. Irgendwie hatte ich wohl gehofft, dass die anderen mich dann mehr beachten. Am Anfang habe ich nur die Süßigkeiten weggelassen, aber mit der Zeit habe ich immer weniger gegessen. Meine Eltern haben gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Irgendwann sind sie mit mir zu unserer Kinderärztin gegangen, die erkannte, dass ich eine Magersucht habe.«

Caro, 17 Jahre: »Ich stand unter totalem Druck. Ich wollte unbedingt ein sehr gutes Abitur machen, weil ich Angst hatte, mir sonst meine Zukunft zu ruinieren. Ich hatte jedes Mal eine Art Nervenzusammenbruch, wenn eine Klausur nicht so gelaufen war, wie ich es mir vorgenommen hatte. Durch die Magersucht hatte ich zumindest das Gefühl, irgendwas unter Kontrolle zu haben. Mir war damals nicht klar, wie viel mehr eigentlich hinter der Essstörung stand.«

Liane, 15 Jahre: »Meine Eltern haben sich vor drei Jahren getrennt. Sie haben sich gegenseitig viele Vorwürfe gemacht, oft ist der Streit eskaliert. Jeder von beiden zog über den anderen her. Ich habe das kaum ertragen, hab mich an den Armen selbst verletzt und immer weniger gegessen. Irgendwie half mir das Hungern. Seitdem ich so dünn bin und ins Krankenhaus musste, streiten sie sich weniger und kümmern sich mehr um mich. Ich versuche, mehr mit ihnen zu reden, aber das fällt mir sehr schwer.«

Azra, 16 Jahre: »Ich verstehe mich sehr gut mit meinen Eltern. Sie müssen allerdings viel arbeiten und kommen nachmittags erst spät nach Hause. Sie sind dann ziemlich erschöpft. Ich habe mich um meine Schule gekümmert, die Wäsche und den Abwasch gemacht, gestaubsaugt und das Abendessen zubereitet. Ich wollte, dass alles fertig und schön ist, wenn sie nach Hause kommen, und wir dann Zeit miteinander haben. Irgendwie war es wohl doch alles zu viel für mich, aber das habe ich erst durch die Magersucht begriffen.«

An den verschiedenen Beispielen merkst du sicher schon, wie individuell die Hintergründe für eine Magersucht sein können. Es gibt dabei nicht nur den einen Grund, sondern es kommen verschiedene Dinge zusammen. Wir haben viele der Mädchen, die wir therapeutisch begleitet haben, am Ende der Therapie gefragt, wie sie die Magersucht rückblickend sehen. Häufig ging die Antwort in diese Richtung – aber natürlich gab es auch Mädchen, für die ganz andere Themen zentral waren:

»Es war einfach alles zu viel: zu viel Angst, nicht zu genügen. Zu viel Angst, zu enttäuschen. Zu viele Verletzungen, zu viel Schmerz, zu viel Streit. Zu viel Alleinsein. Zu viel Ohnmacht und Wut. Zu viel schulischer Druck. Zu viel Angst vor der Zukunft. Zu viel Angst, mich so zu zeigen, wie ich wirklich bin.

In der Magersucht war es irgendwie einfacher. Mit dem Abnehmen hatte ich ein Ziel, das ich allein mit meiner Willensstärke erreichen konnte. Jedes runtergehungerte Kilo hat mich stolz und zufrieden gemacht – auch wenn dies nicht lange anhielt. Die vielen Gedanken ums Essen nahmen so viel Raum ein, dass ich mich in einer eigenen, überschaubaren Welt befand. Die anderen, schwierigen Dinge verschwammen dahinter: meine ständige Unsicherheit in der Klasse, meine Zweifel an mir selbst und wie wichtig ich anderen bin, Probleme in unserer Familie und vieles andere. Die Magersucht gab mir auf eine gewisse Art Halt, ein Gefühl von Sicherheit, von Kontrolle über mich und mein Leben. Ein bisschen vermisse ich diesen Zustand sogar.«

Und wie ging es für die Mädchen weiter? Im Buch werden wir Katy, Caro, Liane, Azra und andere immer wieder zu Wort kommen lassen. An dieser Stelle belassen wir es erst einmal dabei, wie sich Caro nach zwei Jahren Therapie äußerte:

Caro: »Ich mach mir nicht mehr so viel Druck. Ich weiß nun besser, was ich kann, und habe mehr Vertrauen zu mir selbst. Aber ich habe auch verstanden, dass ich nicht alles gleich gut können kann – und vor allem, dass ich das auch nicht muss. Ich bin zufriedener mit mir, achte mehr auf meine Grenzen und meine Bedürfnisse und unternehme viel mehr mit anderen. Ich weiß noch nicht genau, was ich nach der Schule machen will, aber ich habe einen groben Plan. Und natürlich habe ich zwischendurch Angst, ob ich die richtigen Entscheidungen treffen werde. Aber mittlerweile weiß ich: Ich krieg das schon hin.«

Fragst du dich, wie Caro das geschafft hat? Auch dazu erfährst du in diesem Buch mehr. Zunächst soll es darum gehen, zu verstehen, was das überhaupt genau ist, eine Magersucht, und was man darüber weiß.

Was genau ist Magersucht?

Viele Mädchen haben Probleme mit ihrem Aussehen, wollen dünner sein und machen zwischendurch eine Diät. Aber nur wenige von ihnen leiden an einer Magersucht. Wann spricht man von einer Magersucht? Woran erkennt man sie? Das sind Fragen, die wir in diesem Kapitel beantworten werden. Vielleicht ist nicht alles gleich relevant für dich. Du entscheidest, worüber du wie viel lesen willst.

Abnehmen – wollen das nicht viele Mädchen?

Kennst du das auch von einigen Klassenkameradinnen oder Freundinnen, dass sie sich viele Gedanken um ihr Aussehen machen und gerne dünner wären? »Schlank sein wollen« ist wirklich ein großes Thema unter Mädchen. Viele sind davon überzeugt, dass man schlank sein muss, um beliebt und glücklich zu sein. Selbst Mädchen im Grundschulalter halten sich schon oft für zu dick. Etwa die Hälfte der Zehnjährigen hat bereits eine Diät gemacht. Besonders zu Beginn der Pubertät nimmt der Druck dann oft noch mal zu, dünner sein zu wollen. Dabei haben die allermeisten eine völlig normale Figur und sind eigentlich gut so, wie sie sind. Auch viele unserer Patientinnen erzählen, dass sie sich lange vor der Erkrankung schon zu dick gefühlt haben, so auch Katy.

Katy: »Als ich neun oder zehn Jahre alt war, hat mein Vater oft in meinen Bauch gekniffen und über meine Speckröllchen gewitzelt. Das war überhaupt nicht böse von ihm gemeint. Aber vielleicht hat das auch dazu beigetragen, dass ich mich irgendwann zu dick fand.«

Phasen, in denen man mit dem Körper unzufrieden ist, gehören zum Erwachsenwerden dazu. Die meisten jugendlichen Mädchen kommen mit den körperlichen Veränderungen einigermaßen gut zurecht und finden sich im Großen und Ganzen in Ordnung. Aber Studien zeigen, dass 25 Prozent der 12- bis 17-jährigen Mädchen Hinweise auf eine Essstörung zeigen, also leidet immerhin jedes vierte Mädchen darunter, sich zu dick zu fühlen, macht sich Sorgen wegen ihrer Figur oder probiert immer mal wieder eine Diät aus. Einige geben an, schon mal Tabletten genommen oder erbrochen zu haben, um abzunehmen. Falls du also den Eindruck hast, dass es in deinem Umfeld etliche Mädchen gibt, die sich auch viele Sorgen um ihr Aussehen machen, und dass Abnehmen ein häufiges Thema unter euch Mädchen ist, dann mag deine Beobachtung durchaus zutreffen.

Wissen über Magersucht

Vielleicht weißt du schon eine Menge über die Magersucht. Wenn du eine Therapie machst oder in einer Klinik warst, dann habt ihr darüber sicher geredet. Möglicherweise hast du auch im Internet recherchiert, entsprechende Social-Media-Seiten verfolgt oder mit anderen darüber geredet. Wenn du merkst, dass dir vieles noch gar nicht so richtig klar ist oder du erst seit Kurzem sehr wenig isst, dann ist es sicher gut, wenn du weiterliest und mehr über die Magersucht erfährst. Und auch, wenn du vieles schon einmal gehört hast, kann sich das Lesen lohnen: Wenn du dich mit deinen Problemen mit dem Essen und deinem Körper auseinandersetzt, ist das ein Prozess, der zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Gedanken und Gefühle in dir anstoßen wird. Mit der Zeit wirst du dich immer mehr verstehen und dich immer besser kennenlernen.

Bevor wir dir die Erkrankung aus fachlicher Sicht beschreiben, lassen wir Azra von sich erzählen.

Azra: »Am Anfang wollte ich nur etwas dünner werden, aber dann wurde der Drang, abzunehmen, immer stärker. Den ganzen Tag habe ich übers Essen nachgedacht, mir Pläne und Listen gemacht, wann ich was esse. Nahrungsmittel habe ich in gute und schlechte eingeteilt, je nachdem, wie viel Fett oder Zucker sie enthalten. ›Gut‹ waren eigentlich nur Gemüse und Salat. Ich habe ständig Kalorien gezählt, immer weiter eingespart und meine Kaloriengrenze immer niedriger gesetzt. Am Anfang habe ich mich einmal, dann mehrmals in der Woche gewogen, später sogar öfter am Tag. Ich hatte immer ein bestimmtes Gewichtsziel vor Augen, und als ich das erreicht hatte, war ich stolz, es geschafft zu haben. Aber kurz danach reichte mir das nicht mehr. Jeden Abend habe ich zusätzlich ein Work-out-Programm gemacht, um abzunehmen. Obwohl ich schon dünn war, konnte ich das selbst nicht richtig sehen. Ich hatte immer das Gefühl, dass mein Bauch und meine Beine zu dick waren.«

Eine Magersucht (der vollständige Fachbegriff lautet »Anorexia nervosa«) ist eine psychische, auch körperlich beeinflusste Erkrankung, die meist im Jugendalter auftritt und oft zu Untergewicht führt. Wer an einer Anorexie leidet, isst absichtlich wenig, um immer weiter abzunehmen. Zugleich besteht eine panische Angst vor einer Gewichtszunahme. Die Gedanken ans Essen und Gewicht bestimmen den gesamten Tag. Viele Mädchen treiben viel Sport oder machen täglich Work-outs, manche nehmen Entwässerungs- oder Abführtabletten oder erbrechen das Essen, um weiter abzunehmen. Dem Körper fehlen durch die Mangel- und Fehlernährung wichtige Nährstoffe, sodass die Erkrankung lebensbedrohlich werden kann. Und auch die Psyche wird durch das Hungern beeinflusst: Die Betroffenen fühlen sich oft traurig, ängstlich, sind schnell gereizt und ziehen sich von anderen zurück. Auch trotz der erheblichen Gewichtsabnahme nehmen sich Mädchen mit einer Anorexie immer noch als zu dick wahr, was als Körperschemastörung bezeichnet wird. Darin mag einer der Gründe liegen, warum Mädchen mit einer Magersucht sich selbst gar nicht als so krank erleben. Auf dem Bogen1 »Typische Merkmale einer Magersucht« haben wir viele Merkmale aufgelistet. Wenn du magst, dann schau mal, was du davon bei dir beobachtest.

Azra: »Ich habe gar keine richtigen Erinnerungen an das letzte Jahr. Ich habe nur weniger werden wollen, habe gehungert, mich gewogen. Das war alles.«

Eine Anorexie beginnt meistens schleichend. Es sind vor allem Mädchen und junge Frauen zwischen 13 und 18 Jahren betroffen. In dieser Lebensphase wird der Druck als besonders groß erlebt, dem gesellschaftlichen Schönheitsideal zu entsprechen. Die Magersucht beeinträchtigt erheblich die Lebensqualität und hat negative Folgen auf die persönliche Entwicklung – auf Schule, Familie, Freundschaften und Freizeit. Bei vielen Betroffenen dauert es Jahre, bis sie die Erkrankung überwunden haben. Nicht wenige benötigen im Verlauf eine monatelange Klinikbehandlung. Aus diesem Grund ist es wichtig, möglichst früh psychotherapeutische und ärztliche Hilfe zu bekommen.

An dieser Stelle wollen wir kurz von Caro berichten, die zwar viel abgenommen hatte, aber nie untergewichtig war. An ihrem Beispiel wird deutlich, wie gefährlich eine Magersucht werden kann.

Caro: »Ich hatte mit 15 Jahren Übergewicht, als ich anfing, abzunehmen. Das fanden eigentlich auch alle gut. Ich habe immer weniger gegessen. Als ich fast zwanzig Kilogramm geschafft hatte, wurde ich einmal in der Schule ohnmächtig und mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Ich war ein paar Tage auf der Intensivstation, weil mein Herz nur noch sehr langsam schlug. Nach zwei Wochen auf einer somatischen Station ging es mir körperlich etwas besser. Dann konnte ich in eine Fachklinik für Essstörungen verlegt werden.«

Du fragst dich vielleicht, wie man überhaupt feststellen kann, ob ein Mädchen normal-, unter- oder übergewichtig ist. Zur Einschätzung nehmen Fachleute BMI-Perzentilen zu Hilfe – wir erklären dir das kurz. Der BMI, der sogenannte Body-Mass-Index, ergibt sich aus dem Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße. Dieser Wert wird in Bezug zu einer Vergleichsgruppe gleichaltriger Mädchen gesetzt. Anhand des BMI ist beurteilbar, ob ein Mädchen ein Normal-, Über- oder Untergewicht hat. Ein BMI im Normalbereich liegt zwischen der 10. und der 90. Perzentile.

Oft liegt das Gewicht bei einer Anorexie im Untergewichtsbereich, das muss aber nicht sein. Die Grenze zum Untergewicht ist die 10. BMI-Perzentile. Das heißt, 90 Prozent der Mädchen gleichen Alters und gleicher Größe wiegen mehr. Unterhalb der 3. BMI-Perzentile spricht man von einem kritischen Untergewicht. Den BMI kann man berechnen mithilfe dieser Internetseite: https://www.kinderaerzte-im-netz.de/mediathek/bmi-rechner/. Schau mal auf die Abbildung 1 mit den Perzentilenkurven – dann ist es leichter zu verstehen.

Abbildung 1: BMI-Perzentilenkurven (nach Kromeyer-Hauschild u. a. 2001)

BMI-Werte und der Gewichtsverlauf über einen längeren Zeitraum helfen Fachleuten dabei, zu beurteilen, ob und wie ausgeprägt eine Magersucht vorliegt. Der BMI ist nicht das Maß aller Dinge, aber er ermöglicht eine schnelle Orientierung.

Für Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen gibt es ein Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in dem alle Erkrankungen anhand bestimmter Kriterien definiert sind. Wenn dich das interessiert, dann findest du hier etwas mehr dazu.

Hintergrundwissen: Kriterien der Anorexia nervosa in der ICD-10

Die ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Ausgabe) ist ein international anerkanntes, medizinisches System, in dem Krankheiten anhand von Diagnosekriterien definiert sind. Bei der Anorexia nervosa sind in der ICD-10 bzw. in den entsprechenden Leitlinien der Fachgesellschaften folgende Kriterien angegeben:

ein durch Hungern entstandenes Untergewicht mit einem BMI unter der sogenannten 10. BMI-Perzentile (siehe Abbildung 1) bei Kindern und Jugendlichen (bei Erwachsenen ein BMI unter 17,5) oder eine Gewichtsabnahme von mindestens 15 Prozent des Ausgangsgewichts,das Gefühl, zu dick zu sein (Körperschemastörung),kreisende Gedanken um die Themen Essen, Gewicht, Figur,körperliche Folgeprobleme wie Ausbleiben der Regelblutung.

Es gibt etliche Mädchen, die sehr viel Gewicht abgenommen haben, auch wenn sie nicht untergewichtig sind. Bisher wurde dann anhand der ICD-10 die Diagnose »Atypische Anorexia nervosa« vergeben. Die Schwere der Erkrankung wurde mit dieser Diagnose vielfach unterschätzt – die körperlichen, psychischen und Entwicklungsrisiken sind vergleichbar. Aus diesem Grund werden sich in der Neuauflage, der ICD-11, die Definitionskriterien für die Anorexie ändern. Dabei wird nicht mehr allein das Untergewicht als Kriterium betont, sondern das Ausmaß der Gewichtsabnahme. Auch ändert sich das BMI-Kriterium: So wird in der ICD-11 ein BMI unter 18,5 für Erwachsene und die 5. BMI-Perzentile für Kinder und Jugendliche als Kriterium angelegt.

Wenn du bereits eine Therapie machst, dann hat man dir vermutlich schon erklärt, wie dein Gewicht mit BMI-Kurven aus gesundheitlicher Perspektive objektiv einzuschätzen ist und welcher Gewichtsbereich für dich gesund ist.

Wenn du einige, aber nicht alle der beschriebenen Merkmale einer Anorexie an dir beobachtest, dann bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass du kein Problem hast, unter dem du leidest. Die Magersucht ist nur eine Art von Essstörung. Es gibt noch andere Formen, die wir in diesem Kapitel ebenfalls beschreiben werden. Wenn du das Gefühl hast, ein Problem mit dem Essen zu haben, du dich in deinem Körper unwohl fühlst und deine Stimmung darunter leidet, dann ist es in jedem Fall gut, mit einer Fachperson zu sprechen. Mit ein paar Gesprächen können Psychotherapeut*innen deine Probleme gut einordnen und auch beurteilen, welche Form von Hilfe für dich sinnvoll ist. Auch wenn das etwas Überwindung und Mut kostet, kannst du dabei nichts verlieren, sondern nur gewinnen. Für manche Mädchen lohnen sich auch bereits ein paar stützende, beratende Gespräche. Und auch in diesem Buch findest du bestimmt das ein oder andere, was dir weiterhelfen kann – auch wenn du nicht an einer Anorexie leidest.

Frida: »Als ich an der Essstörung erkrankt war, habe ich mich verloren gefühlt und wie in einem dauerhaften Kampf mit mir selbst.«

Nicht jede Gewichtsabnahme ist gleich ein Anlass zur Sorge. Aber wenn du einige Kilogramm innerhalb weniger Wochen oder Monate abgenommen hast, eventuell dein Menstruations-Zyklus nicht mehr regelmäßig einsetzt oder du kaum noch isst und trinkst, dann ist ein Besuch bei einer Ärzt*in auf jeden Fall anzuraten. Bei jüngeren Mädchen ist es gar nicht eine Gewichtsabnahme, die auffällt, sondern dass ein Mädchen nicht zunimmt und nicht wächst. Das kann ein Hinweis auf eine Essstörung sein, aber natürlich können auch andere Gründe dahinterstecken.

Die meisten Mädchen erkranken in einem Alter zwischen 13 und 18 Jahren, ein bis zwei Prozent sind betroffen. Diejenigen, die Leistungssport oder Sportarten betreiben, in denen das Körpergewicht eine Rolle spielt, haben ein höheres Risiko für eine Essstörung. Solche Sportarten sind beispielsweise Turnen oder Ballett, aber auch Rudern oder Judo.

So hat uns Felizitas erzählt, dass sie beim Judo möglichst in der leichteren Gewichtsklasse antreten wollte und sollte. Ihr Trainer hat sie darauf hingewiesen, dass sie gegen leichtere Gegnerinnen mehr Chancen hätte. Deshalb hat sie ein paar Kilo abnehmen sollen. Oder wie bei Jenny:

Jenny: »Bis ich zwölf Jahre alt war, war ich immer die Leichteste in meiner Cheerleader-Gruppe. Bei allen Hebefiguren stand ich ganz oben – das habe ich geliebt. Als ich dann in die Pubertät kam und sich mein Körper veränderte, war ich nicht mehr die Leichteste und stand mit den anderen unten – ich wollte unbedingt wieder oben sein.«