Mein Jahr ohne Hosen - Scott Berkun - E-Book

Mein Jahr ohne Hosen E-Book

Scott Berkun

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Beschreibung

Hinter den Kulissen von WordPress: Wie führt man ein global verstreutes Team, das fast ausschließlich virtuell kommuniziert? Scott Berkun hat sich genau dieser Herausforderung gestellt. Der Experte für Teamführung und Projektmanagement hat ein Jahr lang ein virtuelles, innovatives Team bei Automattic geleitet und dabei eine Arbeitswelt kennengelernt, die seinen bisherigen Erfahrungen völlig widersprach. In "Mein Jahr ohne Hosen" schildert er diese spannende Experiment. Traditionelle Unternehmensstrukturen werden hier außer Kraft gesetzt und Teamführung neu erfunden. Kann so etwas funktionieren? Ja, es kann, stellte Berkun fest. Denn der Erfolg von Automattic, dem Unternehmen hinter der erfolgreichen Websoftware, wächst unaufhörlich. Heute ist WordPress weltweit die beliebteste Blogsoftware - und das nicht zuletzt wegen seiner Programmierer. Kein Wunder: Könne sie doch ganz ohne räumliche Beschränkung bequem von zu Hause und überall auf der Welt arbeiten und sich kreativ frei entfalten.

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1. Auflage 2014

Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinemFall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisenund Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung.

 

© 2014 Wiley-VCH Verlag & Co. KGaA, Boschstr. 12, 69469 Weinheim, Germany

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche markiert sind.

Das Original erschien 2013 unter dem Titel The year without pants. WordPress.com and the future of work bei Jossey-Bass, ein Imprint von John Wiley & Sons, Inc. One Montgomery Street, Suite 1200, San Francisco, CA

Copyright © 2013 Scott Berkun.

All Rights Reserved. Authorised translation from the English language edition published by John Wiley & Sons Limited. Responsibility for the accuracy of the translation rests solely with Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA and is not the responsibility of John Wiley & Sons Limited. No part of this book may be reproduced in any form without the written permission of the original copyright holder, John Wiley & Sons Limited.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Umschlaggestaltung: bauer-design, Mannheim

Coverfoto: mens's boxer briefs@nito100/iStock

Satz: inmedialo Digital- und Printmedien UG, Plankstadt

Print ISBN: 978-3-527-50803-7epub ISBN: 978-3-527-68563-9mobi ISBN: 978-3-527-68564-6

Inhaltsverzeichnis

Was Sie wissen müssen

Kapitel 1 Das Hotel Electra

Kapitel 2 Der erste Tag

Kapitel 3 Tickets am Caturday

Kapitel 4 Die Kultur gewinnt immer

Kapitel 5 Meetings werden getippt

Kapitel 6 Der Basar in der Kathedrale

Kapitel 7 Die große Ansprache

Kapitel 8 Die Zukunft der Arbeit, Teil 1

Kapitel 9 Teambildung

Kapitel 10 Wie man ein Feuer entzündet

Kapitel 11 Echte Künstler liefern

Kapitel 12 Fundbüro Athen

Kapitel 13 Double Down

Kapitel 14 Es kann nur einen geben

Kapitel 15 Die Zukunft der Arbeit, Teil 2

Kapitel 16 Innovation und Reibung

Kapitel 17 Die intensive Auseinandersetzung

Kapitel 18 Folge der Sonne

Kapitel 19 Der Aufstieg von Jetpack

Kapitel 20 Zeig mir das Geld

Kapitel 21 Portland und das Kollektiv

Kapitel 22 Das Amt für Sozialisation

Kapitel 23 Abgang über Hawaii

Kapitel 24 Die Zukunft der Arbeit, Teil 3

Epilog: Wo sind sie jetzt?

Anmerkungen

Literaturhinweise

Über den Autor

Danksagungen

Stichwortverzeichnis

Bildnachweise

Stimmen zu Mein Jahr ohne Hosen

Was Sie wissen müssen

Ratschläge zu geben ist leicht – das Schwierige ist, sie zu befolgen. Gerade Autoren vergessen das immer wieder.

Viele Leute fragen sich, was passieren würde, wenn ein renommierter Experte wieder zurück an die Front ginge. Würde diese Person in der Praxis wirklich das umsetzen, was sie aus der sicheren Entfernung, die Bücher und Vorträgen bieten, gepredigt hat? Im Lauf des letzten Jahrzehnts habe ich vier bekannte Bücher geschrieben und ich habe mich gefragt, wie sehr auch ich in diese Falle getappt war. Würde ich meine eigenen Ratschläge befolgen, wenn ich wieder Manager wäre? Das wollte ich herausfinden. Die Frage war nur, wann und wo.

Die perfekte Gelegenheit dazu bot sich, als Matt Mullenweg, der Gründer von WordPress, mich bat, in seine Firma Automattic einzutreten und ein Team zu leiten. WordPress unterstützt bereits fast 20 Prozent aller Websites weltweit, einschließlich der Hälfte aller Top-100-Blogs auf dem Planeten. WordPress.com, wo ich arbeiten sollte, gehörte zu den 15 meistbesuchten Websites. Die Firma war nicht nur erfolgreich, sondern hatte auch eine unkonventionelle Kultur. Die Angestellten waren jung und unabhängig, und sie arbeiteten ganz nach Lust und Laune von überall auf der Welt. Sie benutzten kaum E-Mails, brachten täglich Neuheiten auf den Markt und hatten freizügige Urlaubsregelungen. Wenn irgendeine Arbeitskultur als zukunftsträchtig erschien, dann war es diese. Ich sagte ihm, dass ich einverstanden wäre, wenn ich ein Buch über meine Erfahrungen schreiben könnte. Er sagte ja – und da wären wir!

Dieses Buch hat zwei Anliegen: erstens die Erfahrungen zu teilen, die ich als alter Hase an einem zukunftsweisenden Arbeitsplatz gemacht habe, und zweitens einen Einblick hinter die Kulissen eines guten Teams in einem faszinierenden Unternehmen zu geben. Ich werde zeigen, was ich gelernt habe, was ich toll fand und was mich zum Wahnsinn getrieben hat, sodass die arbeitende Bevölkerung an meinen Erkenntnissen teilhaben kann.

Dieses Buch ist mehr oder weniger chronologisch aufgebaut und basiert auf meinem Tagebuch. Der hochtrabende Begriff für diese Herangehensweise ist partizipatorischerJournalismus, was bedeutet, dass der Autor, in diesem Fall ich, nicht nur vom sicheren Spielfeldrand aus berichtet, sondern direkt aus der Mitte des Geschehens. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist Authentizität. Ich bin so ehrlich, wie es die meisten Bücher nicht sind. Der Nachteil dieser Perspektive: Meine Geschichte steht im Mittelpunkt, auch wenn die Anstrengungen von anderen wichtiger waren, was oft der Fall war. Um das auszugleichen, sind einige Kapitel wesentlich weiter angelegt als meine eigene Geschichte.

WordPress und Automattic haben noble Ziele, und ich wünsche ihnen das Beste. Die Aufrichtigkeit des Folgenden würdigt ihre Arbeit und ihre Bereitschaft zu teilen, damit andere daraus lernen können.

Kapitel 1Das Hotel Electra

Wenn Mike Adams ein Programm schrieb, legte er die Rückseite seines Laptops auf seine Oberschenkel und schaute nach unten auf den Bildschirm. Seine Finger hingen über dem Rand seiner Tastatur, als ob seine Handgelenke gebrochen wären. Er sah aus wie ein frohgemuter Astronaut, der im Weltall schreibt und auf wundersame Weise die Regeln der herkömmlichen Physik außer Kraft setzt. Seine Brillanz spiegelte diese Unabhängigkeit wider, und er bewältigte Herausforderungen immer wieder mit einer Leichtigkeit, mit der es nur eine Handvoll Techniker auf der Welt aufnehmen kann. Mit seinen 29 Jahren war er noch jung genug, um durch den ständigen Stress keine körperlichen Schäden davonzutragen, aber wenn man ihn in seinen komischen Verrenkungen auf verschiedenen Sofas und Sitzgelegenheiten arbeiten sah, fiel es schwer zu glauben, dass das so bleiben würde. Hinter seinen dicken Brillengläsern und dem struppigen Bart nistete ein eiserner Wille, Probleme zu lösen. Er arbeitete oft stundenlang und ignorierte dabei Hunger und andere körperliche Unannehmlichkeiten, bis er endlich mit den gewonnenen Erkenntnissen zufrieden war. Seine Leistungen waren umso beeindruckender, wenn man berücksichtigte, dass er nie ein Buch über Informatik gelesen hatte. Er war ein brillanter, kooperativer und manchmal unglaublich lustiger Autodidakt. Und das Beste daran war, dass er zu meinem Team gehörte.

Wir saßen hart arbeitend zu viert in der Lobby eines Hotels in Athen mit dem unheilverkündenden Namen Electra. Wie bei vielen anderen berühmten griechischen Charakteren ist die Geschichte Elektras eine wunderbare Mischung aus Rache und Muttermord. Laut Sophokles schmiedete sie gemeinsam mit ihrem Bruder den geheimen Plan, ihre Mutter und ihren Stiefvater umbringen zu lassen, um sich für den Mord an ihrem Vater zu rächen. Stellen Sie sich nur mal vor, wie spaßig ein Feiertagsessen bei ihnen zu Hause gewesen sein muss. Die Erzählung von Sophokles könnte Shakespeare zu seinem Hamlet inspiriert haben, aber das weiß keiner so genau. Ich musste jedenfalls jedes Mal, wenn bei der Arbeit in Athen wieder etwas danebenging, automatisch an Elektra und all die Dinge denken, die in Familien und Teams schief laufen können. Ich behielt das natürlich für mich: Chefs sollten nie Witze über Meuterei machen. Unser Team war bisher gut vorangekommen, und ich wollte nicht, dass uns irgendetwas in die Quere kam, egal ob mythologisch oder praktisch.

Wir wurden Team Social genannt und waren eines von vielen Programmierer-Teams, die an einer Website namens WordPress.com arbeiteten. Auf dieser einzigartigen Website existieren Millionen von bekannten Blogs und anderen Websites und auf der Rangliste der meistbesuchten Websites weltweit nimmt sie Platz 15 ein. Die Aufgabe meines Teams war einfach: Dinge zu erfinden, die das Bloggen und das Lesen von Blogs leichter machten. Wenn Sie uns bei der Arbeit in dieser Hotellobby beobachtet hätten, hätten Sie bei uns viele unorthodoxe und abenteuerliche Arbeitsmethoden entdeckt. Aber genau genommen stimmt das nicht. Es existieren zwar viele unorthodoxe Methoden, aber wenn Sie uns bei der Arbeit beobachtet hätten, hätten Sie diese vielleicht gar nicht bemerkt. Bei oberflächlicher Betrachtung hätten Sie wahrscheinlich angenommen, dass wir überhaupt nicht arbeiteten.

 

 

Wir saßen in einer kleinen Lounge gegenüber der Hotelbar, die in einem versteckten Winkel hinter der großen Lobby lag – als hätten die Barkeeper dem Architekten einen Sonderbonus angeboten, damit man die Bar nur schwer findet, und das war ihm gelungen. Wir hatten eine Reihe von tiefen roten Sesseln und Sofas in Beschlag genommen und daraus einen »Halbkreis der Web-Entwicklung« gebildet, ein wahres Bollwerk des Nerdismus. An den gelben Wänden hinter uns hingen in dicken Holzrahmen kleine Drucke mit Familienporträts aus der Renaissance. Sie waren von hell leuchtenden, goldfarbenen Wandlampen flankiert, die kläglich auseinanderkippten und ein Licht verbreiteten, das es uns schwierig machte, unsere Bildschirme gut zu erkennen. Die Glasplatte des Couchtischs zwischen uns war zu niedrig, denn sie war wohl eher für Kaffeetassen und Tüten voller Souvenirs gedacht und nicht als provisorischer Schreibtisch für ein Team von Technikern. Um uns mit Strom zu versorgen, zogen wir den Stecker einer der Stehlampen heraus, was – wie wir glaubten – den einzigen Barkeeper, einen stattlichen Russen mittleren Alters, zu der Weigerung veranlasste, uns zu bedienen; und das trotz unserer Begeisterung für die überteuerten, persönlich servierten und mit Schirmchen verzierten Cocktails.

Obwohl ich zehn Jahre älter bin als der Rest des Teams, sahen wir alle aus, als seien wir Mitte bis Ende 20. Für jeden Beobachter hätten wir einfach wie verwöhnte, junge Touristen ausgesehen, die lieber in diesem schrecklichen Hotel mit seiner Unbequemlichkeit und den geschmacklichen Verirrungen mit ihren Laptops und Geräten spielten, als die prächtigen Touristenattraktionen zu genießen, die Athen zu bieten hat. Wenn wir in der Lobby gestanden und mit Kettensägen Eisskulpturen geformt hätten, hätte diese Arbeit für Zuschauer ein Schauspiel geliefert. Vorbeigehende Hotelgäste wären stehen geblieben, hätten uns zugesehen und neugierig gefragt, was wir da machten und wie man das machte.

Aber unsere Arbeit war vollkommen unsichtbar, versteckt in den leuchtenden Bildschirmen unserer Laptops. Keiner konnte wissen, dass jeder von uns mit dem Klick auf einen Button seines Webbrowser Funktionen in Gang setzen konnte, die augenblicklich eine Auswirkung auf Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben. Für jemanden, der in unserer Nähe saß, sah es allerdings so aus, als würden wir Solitär spielen. Das erstaunliche an unserem digitalen Zeitalter ist die Tatsache, dass die Person, die bei Starbucks neben einem sitzt, vielleicht gerade eine Schweizer Bank hackt oder Marschflugkörper auf einem weit entfernten Kontinent abschießt. Vielleicht ist sie aber auch nur auf Facebook. Man kann den Unterschied nicht feststellen, es sei denn, man ist neugierig genug, um über ihre Schulter zu spähen.

Hinter unserer gewöhnlichen Erscheinung verbargen sich ungewöhnliche Tatsachen. Obwohl wir Arbeitskollegen waren, kam es selten vor, dass wir alle gemeinsam zusammensaßen. Die meiste Zeit arbeiteten wir nur online. Dieses Treffen in Athen war erst das zweite Mal, dass wir alle im selben Raum arbeiteten. Wir hatten uns schon einmal in Seaside, Florida getroffen, wo vor ein paar Wochen das jährliche Firmentreffen stattgefunden hatte. Um die anderen im Electra zu treffen, war ich von Seattle nach Athen geflogen. Mike Adams kam aus Los Angeles. Beau Lebens, der, darauf könnte ich wetten, nebenher als Geheimagent arbeitet, war in Australien geboren, lebte aber in San Francisco. Andy Peatling, ein hinreißend schlauer, englischer Programmierer, verbrachte seine Zeit in Kanada und Irland.

Die Vorstellung, nicht im Büro zu arbeiten, erscheint den meisten Menschen merkwürdig, bis sie sich bewusst machen, wie viel Arbeitszeit man an traditionellen Arbeitsplätzen am Computer verbringt. Wenn 50 Prozent Ihrer Interaktion mit Mitarbeitern online stattfindet, zum Beispiel durch E-Mails und übers Internet, dann sind Sie nicht weit von dem entfernt, was WordPress.com macht. Der Unterschied ist, dass die Arbeit bei WordPress.com hauptsächlich, oft sogar vollständig, online erledigt wird. Manche Leute arbeiten monatelang zusammen, ohne jemals auf demselben Kontinent zu sein. Die Teams dürfen sich ein paar Mal im Jahr irgendwo treffen, um die immateriellen Dinge aufzufrischen, die über die Technik nicht vermittelt werden können, was unseren Trip nach Athen erklärt. Wir hatten Griechenland ausgesucht, weil unser Boss das vorgeschlagen hatte, und wir stimmten schnell zu, bevor er seine Meinung ändern konnte. Den Rest des Jahres arbeiteten wir aber online an verschiedenen Orten, je nachdem, wo wir uns auf der Welt zufällig gerade befanden.

Weil der Ort keine Rolle spielt, kann Automattic, die Betreiberfirma von WordPress.com, die besten Talente weltweit einstellen, egal, wo sie sind. Diese räumliche Unabhängigkeit ist eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für die Art und Weise, wie die im Jahr 2005 gegründete Firma organisiert ist und »gemanagt« wird. Ich habe gemanagt in Anführungszeichen gesetzt, weil – wie ich später erklären werde – wir nicht in dem Sinn gemanagt werden, wie das in der Wirtschaft üblich ist. Zu Beginn hatte die Firma keinerlei Hierarchie und alle Angestellten berichteten direkt an den Firmengründer Matt Mullenweg. 2010 kamen er und Toni Schneider, der CEO, zu dem Schluss, dass die Dinge selbst für sie zu chaotisch geworden waren, und sie fanden für sich einen besseren Weg: Sie teilten die Firma, die zu diesem Zeitpunkt 50 Angestellte hatte, in zehn Teams auf.

Jedes Team hatte einen Leiter, die erste hierarchische Ordnung in der Firmengeschichte. Die Führungsrolle war locker definiert und es blieb jedem Team überlassen, sie für sich selbst zu bestimmen. Matt und Toni fanden es gut, gleichzeitig mit verschiedenen Dingen zu experimentieren. So konnten sie schneller feststellen, was funktionierte und was nicht. Und als ob das nicht schon verrückt genug gewesen wäre, wählten sie zusätzlich eine Person von außerhalb der Firma als Teamleiter aus. Diese Person war ich. Das Meeting in Athen war für die Firma ein historisches Ereignis: Zum ersten Mal traf sich eines der nach dem neuen Prinzip geformten Teams; später wurden diese Meetings Teamtreffen genannt.

Ich war erst seit zehn Wochen bei der Firma und kannte mein Team noch nicht besonders gut, aber es war klar, dass alle talentiert waren. Mike Adams war der achte Angestellte der Firma. Er arbeitete an einer Doktorarbeit in Quanteninformatik, einem Gebiet, das ich nicht mal versuchen werde zu erklären, aber seine lockere Mitarbeit bei WordPress war zu seiner Leidenschaft geworden. Als Matt ihm einen Job anbot, ließ er die Quanteninformatik hinter sich, und seitdem ist er äußerst erfolgreich. Beau Lebens, der vielseitigste Programmierer des Teams, hatte auch schon für andere Unternehmen gearbeitet, eine Erfahrung, über welche die meisten Mitarbeiter bei WordPress.com nicht verfügten. Die Bandbreite seiner Fähigkeiten neben dem Programmieren reichen von Krav Maga (die israelische Selbstverteidigungstechnik) bis zum Überlebenstraining und erklären, warum er an der Spitze meiner Liste von Leuten stand, mit denen ich einen Schützengraben teilen würde. Trotz seiner vielen Talente wirkte er freundlich, bescheiden und besonnen. Andy Peatling ergänzte das Team perfekt: Er tat sich bei allen Arten von Programmierungen hervor, die Beau und Mike nicht beherrschten, vor allem den benutzerseitigen Teilen der Software. Er war sehr schnell, wenn es darum ging, neue Dinge auszuprobieren – eine Fähigkeit, die jedes kreative Team braucht. Die drei zusammen bildeten ein junges, starkes, selbstbewusstes Team, ganz egal, wer sie führte.

Es war meine Erfahrung mit Teamführung in Kombination mit meinem absoluten Mangel an Erfahrung, je bei einer Firma wie WordPress.com gearbeitet zu haben, die mich aus Mullenwegs brillanter – oder vielleicht verrückter – Sicht für den Job interessant machten. Während die Kultur von WordPress.com, einer Firma mit damals sechzig Leuten, äußerst autonom war und in einer Open-Source-Kultur wurzelte, hatte ich meine bisherige Laufbahn bei Microsoft verbracht und andere große Fortune-500-Unternehmen beraten. Die Idee von Teams war für die Firma eine spektakuläre Neuerung, für mich aber nicht. Hier lag die Genialität: Leute zusammenzubringen, die zum Überleben aufeinander angewiesen sind, aber aus verschiedenen Gründen. Mullenweg war überzeugt, dass ich zeigen konnte, wie Teams funktionieren sollten, und die Firma konnte mir eine neue Art des Denkens und Arbeitens beibringen.

Wir waren uns aber auch einig, dass es keine Garantien gab: Meine Anstellung konnte ein Desaster werden. Was, wenn die Unterschiede zu groß waren? Was, wenn es mir nicht gelingen würde, von zu Hause aus produktiv zu arbeiten? Oder wenn die Kultur von WordPress.com die gesamte Idee von Leitung und Teams ablehnte? Es gab viele große Fragezeichen. Ich gebe aber zu, dass vor allem diese Ungewissheit der Grund war, warum ich den Job wollte. Was auch immer passierte: Am Ende würde eine gute Geschichte stehen, die sich zu erzählen lohnte, und diese Geschichte beginnt an meinem ersten Tag.

Kapitel 2Der erste Tag

Ich wurde im August 2010 als Angestellter Nr. 58 bei Automattic eingestellt, drei Monate vor dem Treffen meines Teams in Athen. Bei der Firma gibt es keine formellen Einstellungsgespräche. Keiner stellt Fangfragen von der Sorte, warum Kanaldeckel rund sind oder wie viele Tischtennisbälle in eine Boing 747 passen.[1] Stattdessen wird man auf Probe eingestellt. Das bedeutet, dass man ein einfaches Projekt bearbeiten muss. Man kann auf echte Tools zugreifen und arbeitet an echten Dingen. Wenn man seine Sache gut macht, bekommt man ein Jobangebot. Wenn nicht, dann nicht. Die vielen faulen Tricks, die man von Einstellungsgesprächen kennt, von frisierten Lebensläufen bis hin zu dem Versuch, das zu sagen, von dem man denkt, dass der Interviewer es hören will, fallen weg. Statt sich in Abstraktionen zu ergehen, stellt man seine Fähigkeiten unter Beweis, indem man Aufgaben erledigt, die Teil des zukünftigen Jobs sind. Das ist einfach und brillant. Da die gesamte Arbeit dezentral gemacht werden kann, muss der Bewerber nirgendwohin fliegen. Er kann seine Probearbeit machen, wo immer er sich gerade aufhält. Manche Bewerber finden nicht die Zeit, das Versuchsprojekt zu bearbeiten; sie bleiben zugunsten derjenigen, die sich die Zeit nehmen, auf der Strecke.

Meine Einstellung war einzigartig. Es gab kein einfaches Versuchsprojekt für einen Teamleiter; zum Teil auch deswegen, weil es in der Firma noch keine Führungspositionen gab. Das Unternehmen hatte keinerlei Hierarchien, und jeder berichtete direkt an Mullenweg. Statt mir ein Versuchsprojekt zu geben, hatte Mullenweg meine Bücher gelesen und mich im Lauf der Jahre zwei Mal als Berater für Automattic engagiert. Ich hatte der Firma unter anderem empfohlen, von einer flachen Organisation auf eine Teamstruktur umzustellen. Das war eine einleuchtende Lösung für die Frustration, die bei vielen Angestellten herrschte: dass die Dinge zu sehr auf Matt fokussiert waren und dass sie gern größere Projekte angepackt hätten, die sie aber allein nicht bewältigen konnten. Die Schwierigkeit bestand jedoch darin, dass die Firmenkultur sehr resistent gegen Hierarchien war. Die Angestellten waren extrem unabhängig und wehrten sich gegen alles, was nach Unternehmenskultur roch. Für viele von ihnen war die Firma die größte, in der sie je gearbeitet hatten. Es herrschte große Unklarheit über die Vorstellung von Teams und Führungsrollen. Und auch ich stand vor einer Herausforderung: Durch meinen Eintritt in das Unternehmen würde ich zu einem Instrument meiner eigenen Ratschläge werden. Wenn der Wechsel von der flachen Hierarchie hin zu Teams scheiterte, wäre ich in doppelter Hinsicht verantwortlich. Als ich die Ratschläge gab, hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich einmal eine Rolle bei ihrer Umsetzung spielen würde.

In den Wochen vor meinem ersten Arbeitstag wurde mir mitgeteilt, dass mein erstes Meeting am Montag, den 4. August um 10 Uhr vormittags stattfinden würde; ich hatte also genug Zeit, mir über die Herausforderungen Gedanken zu machen, auf die ich stoßen könnte. Ich war ein Old-School-Typ, und dies war ein New-School-Unternehmen. Was, wenn ich nicht mehr auf dem Laufenden war? Meine besten Führungstricks setzten voraus, dass man mit den Leuten zusammen in einem Raum saß. Leuten in schwierigen Situationen nicht in die Augen schauen zu können, fühlte sich falsch an. Würden Sie jemandem online einen Heiratsantrag machen? Oder einem Kind per SMS mitteilen, dass seine Mutter gestorben ist? Ich machte mir Sorgen, ob sich meine erfolgreiche Arbeit auf ein vollkommen virtuelles Umfeld übertragen ließe. Und außerdem plagten mich auch die üblichen lächerlichen, eingebildeten Bedenken. So grübelte ich zum Beispiel über die Möglichkeit nach, dass Automattic beim Papierkram ein Schreibfehler unterlaufen wäre und eigentlich nicht mich, sondern Flott Ferkun einstellen wollte. Oder die Firma hatte ein hässliches kleines Geheimnis, vielleicht sprachen alle nur Französisch oder hatten das Tourette-Syndrom oder meine Mitarbeiter waren Häftlinge im Knast und saßen lebenslange Strafen wegen Mordes an Schriftstellern ab. Das Universum ist riesig und manchmal grausam, und mit Leuten zu arbeiten, die man noch nicht kennt, ist ein Glücksspiel.

Genug der Bedenken – am 4. August stand ich morgens relativ spät auf. Um 10 Uhr sollte ich mich mit Hanni Ross treffen, einer der Teamleiterinnen bei WordPress.com. Ich hatte jede Menge Zeit, denn mein Weg zur Arbeit dauerte höchstens 15 Sekunden. Wenn mein Rottweiler-Labrador Griz mir nicht den Weg in den Flur versperrt und mich mit seinem dicken Spielzeugseil gezankt hätte, hätte ich es in zehn Sekunden geschafft. Griz folgte mir zum Schreibtisch in meinem Büro und legte sich zu meinen Füßen hin. Ich sagte ihm, dass ich einen neuen Job hätte, aber er glaubte mir nicht. Es war ihm egal. Das ist eines der großen Probleme bei der Heimarbeit: Niemand glaubt dir, dass du überhaupt einen Job hast. Wenn man dich nicht zur Haustür rausgehen sieht, kommen Zweifel auf.

 

 

Mir war gesagt worden, dass ich in meinen ersten drei Tagen ein Training durchlaufen würde, aber zu meiner Überraschung sollte das kein Training für die Tätigkeit sein, für die ich eingestellt worden war. Ich sollte vielmehr im Support, der Kundenbetreuung, trainiert werden. Alle neuen Angestellten arbeiten, bevor sie mit ihrem eigentlichen Job anfangen, zuerst bei dem Team, das für den Support zuständig ist. Im Support zu arbeiten erschien mir als wichtige, aber äußerst undankbare Aufgabe. Es ist in der Weltgeschichte bisher wohl nur sehr selten vorgekommen, dass Leute bei der Hotline anriefen, nur um zu sagen: »Danke, dass ihr so ein tolles Produkt herstellt. Ihr seid super!«, und dann wieder auflegten. Selbst bei kostenlosen Produkten wie WordPress sind wir Geschöpfe, die auf Beschwerden ausgerichtet sind. Anerkennung, so verdient sie auch sein mag, ist viel schwerer zu kriegen. Ich kenne keine einzige Firma, die eine Abteilung für die Entgegennahme von Komplimenten hat, um die für Beschwerden zu ergänzen.

Als ich noch Student an der Carnegie Mellon Universität war, hatte ich schon einmal im Support gearbeitet. Obwohl es eine bewundernswerte Tätigkeit ist, in der Kundenbetreuung zu arbeiten, merkte ich schnell, dass ich für diese Aufgabe nicht geeignet war. Ich kam schnell zu dem Schluss, dass Leute, die den Support kontaktieren, auf zwei lästige Stapel verteilt werden. Auf dem ersten befinden sich diejenigen, die dringende und komplexe Probleme haben. Wenn ihr Problem nicht dringend oder komplex ist, müssen sie sich ihre Antworten woanders suchen. Der zweite – und höhere – Stapel sind die Verlorenen und Faulen (V & F). Die Arbeit im Support bedeutet endlose Wiederholungen, weil die Verlorenen und Faulen immer und immer wieder dieselben fünf grundlegenden Fragen stellen. (An allererster Stelle steht: »Wie setze ich mein Passwort zurück?«) Ich erinnere mich an den Moment, als ich in die existenzielle Krise geriet, in die viele geraten, die im Support arbeiten; der Moment, in dem man dem Universum die Frage stellt: »Wo sind eigentlich all die vernünftigen Leute geblieben?« und gleichzeitig erkennt, dass es nur eine Antwort gibt: »Die meisten vernünftigen Leute kontaktieren den Support nicht.« Sie bekommen Antworten von Freunden oder Mitarbeitern oder benutzen die Informationen, die sie online finden. Meine Rettung war, dass ich wusste, dass der Support bei WordPress.com nur per E-Mail erfolgte. Ich konnte also so abfällig schauen, wie ich wollte, wenn ich lächerliche Anfragen beantworten musste, und keiner außer Griz würde es mitkriegen – und dem war es egal.

Die Belegschaft von WordPress.com nennt die Kundenbetreuung »Happiness«. Deswegen heißt das Kundenbetreuungsteam auch nicht Support-Team, sondern Happiness-Team. Und die Leute, die im Support arbeiten, heißen nicht Mitarbeiter im technischen Support, sondern Happiness Engineers (HE). Das erschien mir fragwürdig. Ich bin skeptisch gegenüber Versuchen, die Wirklichkeit einfach dadurch verändern zu wollen, dass man den Namen von Dingen ändert. Ich könnte Griz einen Wunder-Supergenie-Hund (WSH) nennen, aber das würde ihn nicht davon abhalten, die meisten Tage damit zu verbringen, auf Knochen herumzukauen oder Eichhörnchen zu jagen. Einen Namen zu ändern, verändert die Wirklichkeit nicht. Aber ich hielt mich mit meinem Urteil zurück. Der Weise nimmt alles Neue mit offenem Geist an. Ich würde nichts Neues lernen, wenn ich ein Urteil fällte, bevor ich mir die Hände schmutzig gemacht hatte, auch wenn es viel mehr Spaß machen kann, Dinge mit sauberen Händen zu beurteilen. Nach einigen Tagen im Support änderte ich allerdings meine Meinung.

Mein praxisorientiertes Training bestand aus sechs Halbtages-Sitzungen mit verschiedenen Happiness Engineers. Mein Trainingsplan wurde auf einem der internen Blogs gepostet. Nach dem Ende des Trainings am Mittwoch sollte ich auf die Welt losgelassen werden.

Mo 2. Aug:  10.00 – 13.00 Uhr: Hanni Ross

Mo 2. Aug:  14.00 – 17.00 Uhr: Ryan Markel

Di 3. Aug:   10.00 – 13.00 Uhr: Andrew Spittle

Di 3. Aug:   14.00 – 17.00 Uhr: Sheri Bigelow

Mi 4. Aug:  10.00 – 13.00 Uhr: Zé Fontainhas

Mi 4. Aug:  14.00 – 17.00 Uhr: Hew Sutton

Als ich in den glorreichen Tagen der 1990er Jahre bei Microsoft arbeitete, konnten Angestellte bei Telefonaten mit Kunden, die Schwierigkeiten hatten, mithören. Das handhaben viele Unternehmen so. Kennen Sie diese Sätze vom Band, die in etwa so lauten: »Dieser Anruf kann zur Qualitätskontrolle aufgezeichnet werden«? Es gibt einen Grund dafür: Andere hören zu. Eine Zeitlang war es bei Microsoft Pflicht, mindestens einmal mitzuhören. Microsoft stellte für Manager wie mich sogar eine Datenbank zur Verfügung, die erfasste, welche Produkte und welche Probleme bei welchen Produkten die meisten Anfragen verursachten.

Diese Bemühungen waren nützlich, sie waren aber unpersönlich. Jemand anderem zuzuhören oder einen Bericht zu lesen, führt nicht zu diesem Gefühl, einen Faustschlag in den Magen zu bekommen, wie es der Fall ist, wenn man der Verantwortliche für die Lösung eines Problems ist. Die Verpflichtung, dass alle im Support arbeiten müssen, zwingt jeden dazu, die Kunden ernst zu nehmen. Und das sollten wir tun, denn sie zahlen im Prinzip unser Gehalt. Trotz meiner Abneigung dagegen war es eine fantastische Idee, alle Angestellten ungeachtet ihrer Abneigung am Support zu beteiligen.

Kurz vor 10 Uhr bat mich Hanni um einen Skype-Chat. Jetzt geht’s los, dachte ich. Nach einem Jahrzehnt freiberuflicher Tätigkeit arbeitete ich jetzt wieder für jemand anderen. Beim Skypen kann man direkt mit jemandem sprechen oder in ein Chat-Fenster tippen. Das Chatten war bei Automattic wesentlich beliebter als das Sprechen, was damals merkwürdig erschien. Sollte die Firma nicht bei allem vorne dran sein? Warum tippen, wann man sprechen kann? Mehr dazu später.

Hanni Ross: Hallo, Scott

Berkun: Hi – guten Morgen

Hanni Ross: Willkommen ist wohl das Wort des Tages! :)

Berkun: Stimmt.

Berkun: Ich bin ganz in deinen Händen, sozusagen.

Ross: Das ist alles irgendwie ein merkwürdiger Rückschritt :)

Berkun: Wieso?

Ross: Na ja, weil du schon ein wenig damit vertraut bist, wie die Dinge laufen, schon einen ordentlichen Haufen Leute kennst usw.

Ross: Rückschritt im positiven Sinn!

Berkun: Ach so. Na ja, ich nehme an, dass ich weniger weiß als du denkst :) Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nicht, wie alles genau funktioniert. Und ich weiß definitiv nur wenig darüber, wie der Support funktioniert.

Ross: Aha :)

Ross: Ich muss etwas gestehen.

Berkun: Ich liebe Geständnisse.

Ross: Möglicherweise war ich gestern Abend mit Matt Sake trinken und danach beim Karaoke.

Ross: Möglicherweise hängt es damit zusammen, dass ich beim Tippen ein Auge geschlossen habe.

Berkun: Katerfrühstück mit Sake!

Ross: Mit Crackers und Wasser geht’s mir jetzt auch ganz gut.

Berkun: Klingt nach Gefängnis.

Berkun: Was gelegentlich dasselbe ist wie ein Katerfrühstück.

Ross: Hm, ich habe die möglichen Auswirkungen dieses Zusammenhangs nie in Betracht gezogen.

So was passiert selten am ersten Tag in einem neuen Job: Zwei Minuten nach Beginn meines ersten Meetings war ich schon in die Kultur von Automattic eingetaucht. Obwohl sich Automatticans, der Spitzname der Firma für seine Angestellten, nicht oft sehen, ist der soziale Umgang sehr eng, wenn sie zusammen sind. Diese informellen Firmentreffen sind dadurch häufig wie Familientreffen und fühlen sich auch so an, mit dem Unterschied, dass jeder jeden mag. Und programmieren kann. Ich wusste, dass Hanni, die neben ihrem Vollzeitjob bei WordPress.com Jura studierte, in Paris oder London lebte. Sie musste für wenige Tage zu Besuch in San Francisco gewesen sein. Es gibt noch mehr Automatticans in San Francisco, darunter Beau Lebens, und aller Wahrscheinlichkeit nach waren die auch dabei.

Der Matt, auf den sie sich als ihren Komplizen beim Karaoke bezog, war Matt Mullenweg, der Gründer von WordPress und der Gründer von Automattic, der Firma, die WordPress.com betreibt. Er ist einer jener berühmten Leute, die auf verschiedenen Top-Listen auftauchen: die »Top 50 im Web« von PC World, die »30 unter 30« von Inc.com, »Die 25 einflussreichsten Leute im Web« der BusinessWeek. Ich kenne viele in solchen Machtpositionen, und die meisten von ihnen verwenden ihre Energie darauf, mit denjenigen zu konkurrieren, die weiter oben auf der Liste stehen. Das ist wirklich ziemlich armselig. Im Leben unserer mächtigsten Leute herrscht tiefe Leere. Ihr Machtstreben ist ein Versuch, diese Leere zu füllen. Sie erinnern mich an den Geschäftsmann im Buch Der kleinePrinzvon Antoine de Saint-Exupéry. In diesem Buch besitzt der Geschäftsmann alle Sterne des Universums, aber hat keine Ahnung, wozu sie gut sind: Er will immer mehr davon. Zu viele Firmengründer sammeln einfach nur Sterne. Von allen, die ich kennengelernt habe, ist Mullenweg einer der Wenigen, der etwas so einflussreiches wie WordPress geschaffen hat und trotzdem noch weiß, wozu Sterne gut sind.

Hanni und ich verbrachten den Tag damit, mich mit den verschiedenen Systemen vertraut zu machen. Erwartungsgemäß war alles ziemlich verwirrend. Ich tat einfach, was sie sagte, und wenn die fragliche Website das tat, was sie tun sollte, machten wir weiter. Wenn sie es nicht tat, nahm Hanni sich die Zeit, es hinzukriegen. Sie vergewisserte sich auch, dass ich bei IRC angemeldet war, einem alten Chatprogramm, das ich im College benutzt hatte und das bei Programmierern von Open-Source-Projekten immer noch beliebt ist. IRC war sozusagen der Büroflur der Firma. Während Skype mehr der persönlichen Kommunikation diente, benutzte man IRC, um mit größeren Gruppen zu sprechen, Hilfe zu suchen oder Leute ausfindig zu machen, die Lust auf eine Unterhaltung hatten. Und weil es fast in allen Zeitzonen der Welt Leute gibt, die gerade arbeiten, ist immer jemand online, der einem bei einem Problem helfen kann oder mit einem herumflachst, während man an seiner Arbeit sitzt.

Eines der Konten, die ich einrichten musste, machte Probleme, also leitete Hanni mich an Barry Abrahamson weiter, den huldvollen Herrscher über alle Systeme von WordPress.com. Wenn Sie sich einen geheimen Erdbunker mit endlosen Reihen von summenden Webservern und ein einsames Genie vorstellen, das Zauberformeln murmelt, damit alles funktioniert, dann ist das Barry. Der einzige Unterschied ist, dass es keinen Bunker gibt. Und keine Reihen von Servern, zumindest nicht in seiner Nähe. Alle Anlagen, die benutzt werden, um WordPress.com zu betreiben, sind in Rechenzentren an verschiedenen Orten in den Vereinigten Staaten untergebracht, und Barry steuert sie von seinem Zuhause in Texas aus. Er ist einer der wichtigsten Leute in der Firma, weil die ganze Arbeit, die jeder Einzelne macht, von den Systemen abhängt, die er so gut betreut. Ich hatte ihn schon einmal beim WordCamp in San Francisco 2009 getroffen. Ich hatte bei einem Treffen mitgemacht, das einem Familientreffen ähnelte, und war mit ihm zusammen zurück ins Hotel gefahren. Ich beziehe mich auf mein Recht, die Aussage über das, was er in diesem Chat sagt, zu verweigern:

Barry: howdy

ScottBerkun: yippie, die kavallerie ist da.

Barry: als ich dich das letzte mal gesehen haben, bist du im aufzug umgefallen

Barry: im palomar

ScottBerkun: ich leugne alles

Barry: haha

Barry: ok, zu ein paar organisatorischen dingen

An meinen Chats mit Hanni und Barry lässt sich erkennen, dass sie reizend waren. Und schlau. Und obwohl wir nur schriftlich verkehrten, brachten sie ihre Persönlichkeit und ihre Wärme rüber. Nicht zusammen in einem Büro zu arbeiten, erforderte hohe Kommunikationsfähigkeiten, und die hatten alle. Das war eine der ersten Erkenntnisse, die mich begeisterte. In jedem Unternehmen gibt es dieselben Gemeinplätze über die Bedeutung klarer Kommunikation und trotzdem praktiziert sie keiner. Bei Automattic gab es wenig Fachjargon. Keine »nachrangigen Aktionspunkte« oder »Beschleunigung funktionsübergreifender Ziele«. Die Leute schrieben einfach, direkt und mit großem Charme.

Und im weiteren Verlauf meines ersten Tages wurde mir klar, dass es keine festgelegten Formalitäten gab. Keine Formulare zum Ausfüllen. Keine Checklisten mit langweiligen Dingen, die erledigt werden mussten. Alles war informell, funktionierte aber. Es war Barry persönlich, nicht irgendein unpersönliches Formblatt oder ein Praktikant, der mit mir den langweiligen Ablauf der Einrichtung eines Kontos durchging. Er wollte, dass jeder neue Angestellte ihn kannte. Einiges davon ergab sich einfach aus der Tatsache, dass die Firma klein war. Wenn ein Unternehmen nur fünfzig Angestellte hat, gibt es keinen Verwaltungsaufwand. Jeder arbeitet direkt an irgendetwas. Unabhängig von den Gründen ist es wohltuend, so direkt von Leuten in wichtigen Positionen betreut zu werden.

Eine nervige Aufgabe, die ich erledigen musste, war die manuelle Eingabe meiner Mitarbeiter in mein Skype-Konto. Es gab keine Funktion, mit der man Dutzende von Angestellten automatisch zu den Kontakten hinzufügen konnte. Wenn ich warten musste, weil Hanni oder Barry irgendetwas erledigten, ging ich zu meiner Adressliste und fügte Leute manuell hinzu. Ich fragte, ob es eine Möglichkeit gäbe, das automatisch zu erledigen, wie man es in einer einfallsreichen Firma wie dieser erwarten würde, aber es gab keine.

Währenddessen wurde ich auf Skype von Beau unterbrochen, der erste von vielen unterhaltsamen Skype-Chats, die ich mit ihm haben sollte:

Beau Lebens: [Bitte fügen Sie mich zu Ihren Kontakten hinzu]

Scott Berkun: [Scott Berkun hat Kontaktdetails mit Beau Lebens geteilt]

Lebens: war schneller!

Berkun: du alte ratte

Lebens: ich hab gehört, dass du zu viel spaß hast beim leute adden, da wollte ich den spieß mal umdrehen

Berkun: schön deinen namen zu sehen :)

Berkun: hat Hanni einen schlimmen kater? :) ich nehm mal an, ihr seid beide im HQ[2]?

Lebens: ja, sind beide hier; sie ist erstaunlich fit

Lebens: obwohl ich vorhin dachte, sie würde mir auf die schuhe kotzen

Berkun: das ist ein gutes zeichen – wenn dir niemand vor mittag auf die schuhe kotzt

Mein Vormittag ging mit vielen Unterbrechungen und Neustarts weiter, wie alle ersten Tage. Ein Vorteil bei der Arbeit mit Skype ist, dass man nicht dauernd aufmerksam sein muss. Es kommt selten vor, dass der Andere von dir erwartet, auf jedes Wort zu reagieren, das er oder sie gerade schreibt. Jeder weiß, dass es nur ein Fenster auf dem Bildschirm ist und dass du dich vielleicht gerade auf etwas anderes konzentrierst. Während ich wartete, las ich die Dokumentation über WordPress oder blätterte durch interne Blogs von Automattic. Nach der Mittagspause sollte ich von Ryan weiter trainiert werden. Ryan lebte in St. Louis und war mir zeitlich einige Stunden voraus.

Ryan Markel: sehr pünktlich, mein herr.

Markel: und wie war das training heute vormittag?

Berkun: langsam – nicht hannis schuld – hab aber bisher den großteil des tages damit verbracht, konten und ähnliches ans laufen zu bringen. keine ahnung, ob das normal ist oder nicht.

Markel: doch, das ist ziemlich normal.

Berkun: oh – danke für die vorwarnung. ich muss von 15:30 bis 16 Uhr meiner zeit offline sein. Ich arbeite von zu hause und muss mit griz und max gassi gehen (sonst fressen sie mich auf).

Markel: ich wollte dir gerade sagen, dass ich in dieser zeit mindestens 15 minuten offline bin, um mit meiner familie zu essen, passt also perfekt.

Markel: ok, du hast also das kontozeug abgearbeitet und alles (sollte) funktionieren.

Markel: hast du das wordpress.com admin ui-zeug schon erledigt?

Berkun: nö.

Markel: dann sollten wir damit anfangen.

Markel: vielleicht willst du als erstes einen testblog auf wordpress.com stellen, den du teilweise dafür benutzen kannst.

Ryan erwähnte ganz nebenbei etwas, das er »admin UI-Zeug« nennt. Das klingt lässig, es handelt sich dabei aber um etwas ziemlich Erstaunliches.

Nachdem ich den entsprechenden Sicherheitszugang erhalten hatte, erschien oben in meinem Browserfenster eine kleine Symbolleiste, wenn ich irgendeinen Blog besuchte, der auf den Servern von WordPress.com lief. Diese Symbolleiste, die mir nur zur Verfügung stand, weil ich im Support arbeitete, verlieh mir gottgleiche Macht. Ich konnte das Aussehen von jedem Blog verändern. Ich konnte Beiträge hinzufügen, sie bearbeiten und sogar welche löschen, die schon veröffentlicht worden waren. Die Symbolleiste selbst war klein und voller verwirrender Menüs und merkwürdiger Symbole. Als er mir aber erklärte, was jede Option bewirkte, schrillten in meinem Kopf Alarmglocken. Ich konnte alles machen, was jeder Nutzer irgendeines Blogs machen konnte. Ich konnte sogar Sachen machen, die kein Nutzer machen konnte, zum Beispiel einen Bonus für den Erwerb von Upgrades hinzufügen, einen Blog schließen, indem ich ihn als Spam kennzeichnete und mehr. Je mehr er mir zeigte, desto faszinierter war ich. Es war wie der Moment in einem schlechten Superhelden-Film, wenn das böse Genie schließlich seinen geheimnisvollen Apparat enthüllt, mit dem er alle Computer oder Banken auf der Welt steuern kann und damit seinen Plan umsetzt, die Welt zu beherrschen. In einem Film weißt du, dass es so etwas nicht geben kann, aber hier bei WordPress.com gab es so etwas, und ich konnte darauf zugreifen. Ich war, ohne bewusst darüber nachzudenken, davon ausgegangen, dass ich zum Lernen eine kindersichere Version bekommen würde, bei der alle gefährlichen Dinge nicht zugänglich waren. Ryan versicherte mir, dass das nicht der Fall war.

Das überraschte mich. Die Tatsache, dass ich immer noch allein zu Hause war, mit Griz neben mir, und nicht in einem Büro umgeben von Mitarbeitern, vertiefte das merkwürdige Gefühl, plötzlich so viel Macht zu haben. Im Verlauf des Trainings stellte ich aber fest, dass in vielen Unternehmen etwas Ähnliches existiert. Wir schauen nur selten hinter die Kulissen. Wenn Sie Google oder Facebook benutzen oder Ihr Bankkonto online verwalten, haben einige Angestellte ein ähnliches Werkzeug wie das bei WordPress.com. Anders könnten sie ihre Arbeit nicht machen. Um unsere Probleme zu lösen, müssen sie irgendwie da reinkommen. Das ist natürlich logisch, aber an meinem ersten Trainingstag hatte ich dabei ein irrationales Gefühl von Unbehaglichkeit. Anders als bei jemandem, der mich bittet, sein Auto zu reparieren und der jede meiner Bewegungen unter der Kühlerhaube verfolgen kann, wusste mein Gegenüber bei der Fehlerbehebung seines Blogs gar nicht, dass ich da war.

Kapitel 3Tickets am Caturday

An meinen restlichen Trainingstagen, Dienstag und Mittwoch, ging es vor allem um Tickets. Tickets, Tickets und noch mal Tickets. Nicht so nette Tickets wie die zu einem Spiel der Yankees oder einen Hin- und Rückflug nach Paris. Nein, hier handelte es sich um schmerzhafte Tickets. Es gab ungefähr 20 Millionen Blogs oder Websites, die auf WordPress.com liefen. Jeder und jede davon war die Selbstdarstellung von irgendjemandem im Netz. Von Blogs über Politik zu Fotografie, Kochen oder Geschäft – jede Kategorie, jedes Interessensgebiet und jede Philosophie war vertreten. Und jeder von ihnen dachte, dass seine eigene Online-Veröffentlichung das Wichtigste auf der Welt wäre. Sobald einer dieser Blogger ein Problem hatte, ging er auf WordPress.com/support und meldete seine Leidensgeschichte. Jede Meldung erhielt eine eigene Nummer und wurde von da an von den Angestellten als Ticket bezeichnet – zum Beispiel: »Das ist ein kompliziertes Ticket« oder »Das Ticket hab ich schon mal gesehen« oder »Wie lange arbeitest du schon am selben Ticket, Scott?«

Der Datenbankeintrag für jedes Ticket protokollierte automatisch Informationen über den Nutzer, die der Happiness Engineer vielleicht brauchte, um das Problem zu lösen – Sachen wie den Benutzernamen des Kunden, den Namen des betreffenden Blogs und technische Details des Servers, auf dem der Blog lag. Der größte Joker bei all diesen Daten und die wertvollste Information für jeden Happiness Engineer, der hofft, irgendein Ticket zu lösen, ist die eigene Wahrnehmung des Kunden im Hinblick auf das, was nicht funktioniert. Und die Kluft zwischen dem, was nach Ansicht der Leute nicht funktioniert und dem, was tatsächlich nicht funktioniert, kann ziemlich tief sein.

In manchen Fällen schreiben die Kunden einfach: »Mein Blog ist kaputt«, was natürlich traurig, aber auch unendlich vage ist. Niemand will einen kaputten Blog, aber diese Aussage trägt nicht dazu bei, das Problem zu lösen. Es ist so, als würde man die 112 anrufen und immer wieder »Helfen Sie mir, helfen Sie mir« rufen, als ob das Problem darin bestände, dass die Person am anderen Ende der Leitung nicht begreifen würde, dass Sie Hilfe brauchen. Das ist nie das Problem, weil die Person am anderen Ende der Leitung jeden Tag Menschen hilft. Genau das ist der ganze Job: auf die Anrufe von Menschen zu warten, die Hilfe brauchen.

Es gibt eine Vorstellung, die sich automatisch einstellt, wenn wir in einer Krisensituation sind. Wir verhalten uns, also ob sich das Universum verschoben hätte und zusammengeschrumpft wäre, und als ob unser Problem das wichtigste von allen wäre. Und als ob das nicht schon genug wäre, glauben wir auch noch, dass die Leute, von denen wir Hilfe erwarten, allmächtig wären – dass sie irgendwie alles über uns und das, was wir tun möchten, wüssten und das auch sofort hinkriegen könnten. Solche Tickets sind deshalb besonders traurig, weil ihr Mangel an Details die Garantie dafür liefert, dass es keine sofortige Lösung geben wird. Ihre Panik bewirkt, dass die erste Reaktion auf das Ticket eine Salve von Fragen auslöst, um mehr Informationen zu bekommen. Statt Lebensrettung erfolgt ein Verhör. Das ist für alle Beteiligten enttäuschend.

Einige Monate, bevor ich bei Automattic anfing, untersuchten die Happiness Engineers die Arten der eingehenden Anfragen, und sie stellten fest, dass sie durch eine veränderte Benutzeroberfläche vielleicht von Anfang an bessere Informationen von den Kunden bekommen könnten. Sie beschlossen, dass die Kunden zwingend drei gute Fragen beantworten mussten:

Was haben Sie gemacht?Was haben Sie gesehen?Was haben Sie erwartet?

Das sind schlaue Fragen. Es sind oft die ersten Fragen, die jemand, der im Support arbeitet oder Erste Hilfe leistet, demjenigen stellen könnte, der in Schwierigkeiten ist.

Für den Nutzer, der mir ein Ticket mit folgenden Antworten schickte, reichte das allerdings nicht:

Was haben Sie gemacht? – FehlerWas haben Sie gesehen? – FehlerWas haben Sie erwartet? – Lösungen

Er bekam von mir einen Punkt für Genauigkeit. Ja, natürlich sollte er Lösungen erwarten. Aber diese Art von Klugscheißerantworten verlangsamte den Prozess nur, den Betreffenden glücklich zu machen.

Auf einem anderen Ticket, das ich später bei meinem Training in die Hände bekam, stand nur »Hilfe!« als Antwort auf alle drei Fragen. Die meisten Tickets waren ausführlicher, sie ließen aber alle erkennen, dass die Kunden keine Vorstellung von der Funktionsweise von WordPress.com haben. So wie ein Arzt die laienhafte Beschreibung von Beschwerden in das medizinische Wissen über die Funktionsweise des Körpers übersetzen muss, erforderten selbst gute Problembeschreibungen, dass man ein gedankliches Modell davon erstellte, was der Nutzer zu beschreiben versuchte, und dieses Modell dann auf sein Wissen über die tatsächliche Funktionsweise von WordPress übertrug. Diese Fähigkeit des Übersetzens ist die halbe Miete, nicht nur das Wissen darüber, wie man Dinge in Ordnung bringt. Zu wissen, wie man Dinge in Ordnung bringt, nutzt einem nichts, wenn man nicht weiß, wo das Problem liegt.

In dieser Hinsicht war das Training, das ich erhielt, perfekt. Es war untrennbar mit der Arbeit verbunden. Meine Trainer – Ryan, Andrew, Zé, Sheri und Hew – wählten Tickets vom Stapel der ungelösten Probleme und schickten mir den Link per Skype. Es wurde von mir erwartet, Dinge selbst auszutüfteln und auf eigene Faust Antworten zu finden, und sie gaben mir Tipps, wenn ich nicht weiterkam. Viele Tickets waren für jeden, der WordPress regelmäßig benutzte, einfach zu lösen. Andere stellten grundsätzliche Fragen über Funktionen, von denen ich noch nie gehört hatte, die aber trotzdem leicht zu beantworten waren, wenn man die betreffende Dokumentation las (die von anderen Happiness Engineers geschrieben wurde, welche die Frage schon einmal beantwortet hatten). Einige waren aber sehr komplex und erforderten Hilfe. Dann fragte ich meinen Trainer und er oder sie wies mir den Weg in die richtige Richtung. In einigen Fällen riet man mir, über IRC, das von allen Mitarbeitern benutzte Chatprogramm, um Hilfe zu bitten. Ich war erst skeptisch, merkte aber schnell, dass man immer innerhalb von nur wenigen Sekunden Hilfe bekam, und zwar oft von mehr als einer Person. So funktionierte die Community: Die Leute waren bereit, alles stehen und liegen zu lassen, um jemandem behilflich zu sein, den sie nicht kannten.

Bei den meisten Tickets war es erforderlich, dass ich mir den Blog auf meinem eigenen Browser ansah, um zu erkennen, was los war. Jeden Tag erfuhr ich aus erster Hand, was die Kunden so alles machten. Es gab Blogs über Religion. Blogs über Sport. Leute, die gutes Essen mochten und anderen beibringen wollten, wie man es zubereitet. Jede vorstellbare Leidenschaft – und einige unvorstellbare – gingen durch meine Hände. Ich fühlte mich wie ein digitaler Bibliothekar, der dafür zu sorgen hatte, dass die Bücher in den Regalen in der richtigen Reihenfolge standen. Obwohl ich dafür bezahlt wurde und WordPress.com ein Unternehmen ist, kam mir mehrmals die Tatsache in den Sinn, dass all diese Informationen in all diesen Blogs jedem auf der Welt online und kostenlos zur Verfügung stehen. Wir alle sind bei dem, was wir lesen, voreingenommen und glauben, dass wir eine große Bandbreite von Ideen aufnehmen, aber in Wahrheit filtern wir alles durch unsere politischen Einstellungen und Überzeugungen. Bei der Erledigung meiner Happiness-Aufgaben, sah ich aber wirklich alles, und es gefiel mir, dass es für so viele Menschen eine Möglichkeit gab, ihre unterschiedlichen Ideen zu verbreiten.

Am Ende des Trainings musste ich Tickets selbstständig bearbeiten. Nach ein paar Tagen chattete ich mal wieder mit Matt. Wir hatten mindestens ein Mal pro Tag auf Skype gechattet, wobei ich meistens Fragen über mein Team gestellt hatte und was ich sonst noch wissen musste. Während einer dieser Unterhaltungen fragte mich Matt nach meiner Arbeit als Happiness Engineer. Ich erzählte ihm, dass es gut lief. Ich stellte ihm viele Fragen über meine Teamkollegen, über die Projekte, an denen sie arbeiteten und über seine Erwartungen. Er war höflich und gab mir Auskunft, schlug mir aber oft vor zu warten, bis ich mit meinem Training im Support fertig wäre. Ich blieb hartnäckig. Vielleicht waren die Vorschriften für dieses Training locker und ich konnte es abkürzen. Nachdem ich lange genug genervt hatte, offenbarte Matt mir schließlich eine Überraschung: Es gab Statistiken für die Bearbeitung von Support Tickets, und ich schnitt unterdurchschnittlich ab:

[6.8.2010 10:56:57 AM]

Matt: momentan solltest du dich ganz auf den support konzentrieren, es ist wirklich wichtig, dass du dich da verbesserst, denn bis jetzt bist du ein bisschen langsam und die leute schauen gelegentlich auf diese statistik, um auf künftige leistungen zu schließen

Scott: ok – mach ich.

Scott: niemand hat mir gesagt, dass es eine ergebnistafel gibt!

Matt: mach dir keine gedanken, deine 14 tickets und 1 forum posting sind nicht übel

Scott: ich hab am donnerstag keine mails von beau oder andy bekommen – du?

Matt: mach dir darüber keine gedanken bis du mit dem support fertig bist

Scott: Hast du schon eine automatische antwortfunktion für mich, die sagt »warte bis du mit dem support fertig bist«?

Matt: hehe

Die Ticket-Statistik, über die Matt mich informierte, war sehr ausführlich. Sie zeigte für jeden Angestellten die Tickets pro Tag, Woche, Monat oder Jahr. Ich hatte keinen blassen Schimmer gehabt, dass überhaupt Statistiken geführt wurden. Man konnte sie nach unterschiedlichen, raffinierten Kriterien filtern: nach Uhrzeit, nach Datum, nach Tagessieger oder Wochensieger. Es war eine unkomplizierte Ergebnistafel für die gesamte Firma. Warum hatte ich davon bei meinem Training nichts erfahren? Warum hatte mich niemand darauf hingewiesen?

Ich machte mich wieder an die Tickets und hatte dabei eine Menge Fragen im Kopf. Hätte ich das selbst herausfinden sollen? Wie finde ich es, überwacht zu werden? Das letzte Mal, dass ich einen Job hatte, bei dem kontrolliert wurde, wie viele Widgets ich benutzt hatte, war … nie. Ich hatte mal für ein Inkassounternehmen braune Hängeregistermappen in einen wandgroßen Aktenschrank einsortiert, aber selbst die hatten meine Leistung nicht so genau überwacht. Solange die großen Stapel, die sie mir jeden Morgen gaben, am Abend verschwunden waren, kümmerte es keinen. Meine Mitarbeiter bei WordPress hatten mir genug Feedback gegeben, das darauf schließen ließ, dass meine Arbeit in Ordnung war. Aber allein mit diesen Zahlen in meinem Homeoffice stellte sich mir die Frage, ob ich etwas verpasst hatte. Das Gefühl von Big Brother und gesichtsloser Konkurrenz war schwer abzuschütteln. Am Ende meiner ersten Arbeitswoche hatte ich insgesamt 40 Tickets bearbeitet und eine Frage im öffentlichen Forum beantwortet. Der durchschnittliche Happiness Engineer erledigte das in einer Stunde. Und dabei hatte ich, motiviert durch Matts Tadel, sogar am Caturday[1] Sonderschichten eingelegt. Noch schlimmer als überwacht zu werden, war die Tatsache, überwacht zu werden und Letzter zu sein.

 

 

Das ist der Grund, warum bekannte Fachleute, die Bücher schreiben, nie zurück in reguläre Jobs gehen: Reguläre Jobs sind hart. Reguläre Jobs bedeuten, dass man jemandem Rechenschaft ablegen muss. Reguläre Jobs bedeuten, dass man regelmäßige und oft monotone Dinge tut. Reguläre Jobs bedeuten, dass man nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und Regeln befolgen muss, die von anderen gemacht wurden. Jeder, der ein Experte, Guru, Manager oder Trainer ist, hat wahrscheinlich jeglichen Sinn dafür verloren, was reguläre Arbeit ist. Weil wir Ratschläge geben, nehmen wir an, dass wir denjenigen überlegen sind, die diese Ratschläge befolgen, aber das stimmt nicht.

Schreiben zum Beispiel ist sicher schwierig, und viele tun es nicht gern, aber Autoren können anfangen und aufhören, wann immer sie wollen. Bis die Abhandlung oder das Buch fertig ist, müssen sie sich nicht mit einem Kunden herumstreiten. Wenn wir an einen schwierigen Abschnitt kommen, können wir jederzeit eine Pause einlegen oder an etwas anderem weiterarbeiten. Aber Support ist unerbittlich. Es stimmte, dass ich von jedem beliebigen Zimmer meiner Wohnung oder irgendeinem Café auf der Welt aus arbeiten konnte, aber der Druck hatte nichts mit dem Ort zu tun. Es war vielmehr das Wissen, dass ständig weitere Tickets auf mich warteten, die meine Aufmerksamkeit erfordern. Dieser Druck gab mir das Gefühl, ein echtes Weichei gewesen zu sein, wenn ich mich über Abgabetermine oder ein schwieriges Vortragspublikum beschwert hatte. Das sind vergleichsweise einfache Belastungen, die ich gut kenne und zu handhaben gelernt habe. Die Psychologie des Supports war mir fremd und wirkte bedrohlich auf mich.

Das Gute daran war, dass ich dadurch zum Lernen gezwungen war. Jeden Tag entdeckte ich neue Techniken und Tricks, weil ich sie lernen musste, um schwierige Tickets beantworten zu können. Andrew und Hew