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Wie macht man weiter? Eine Fehlgeburt reißt einen zunächst völlig aus dem Leben heraus, der gewohnte Alltag steht plötzlich still. Nur eines ist gewiss: Nichts wird mehr so sein wie zuvor, alle Wertvorstellungen müssen neu überdacht werden. Irgendwann kristallisiert sich heraus, dass der Schmerz und die Erinnerung an den kleinen Menschen immer bestehen bleiben. Zeit kann nicht alle Wunden heilen! Die persönliche Aufarbeitung dieses komplexen und gesellschaftlich oftmals nicht ausreichend gewürdigten Themas bzw. Tragweite einer Fehlgeburt richtet sich vor allem an Frauen, die sich in derselben oder ähnlichen Situation befinden oder diese bereits durchlebt haben und zeigt Möglichkeiten auf, aus der Verzweiflung herauszukommen und wieder an das Wunder des Lebens glauben zu können. Es soll vor allen Dingen Mut machen, sich nicht von der Angst und Verzweiflung beherrschen zu lassen, sondern seinen Traum von der eigenen Familie stets weiterzuverfolgen und diesen nicht aufzugeben. Am eigenen Beispiel zeigt die Autorin auf, dass es sich lohnt, für diesen Traum zu kämpfen, in dem sie von ihrer - trotz aller Widrigkeiten - positiv verlaufenden Folgeschwangerschaft und Geburt ihrer ersten Tochter berichtet.
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Nun hatten wir also traurige Gewissheit. Es ist, wie wenn Dir jemand mit eiskalter Klaue das Herz umfasst und zudrückt oder Dir ein Arm bei einem Unfall weggerissen wird und nur noch der Schockzustand bleibt. Nur mit dem Unterschied, dass mir keine Gliedmaßen weggerissen wurden, rein äußerlich war alles wie immer. Niemand konnte sehen, welch Schmerz ich litt und wie es in mir aussah. Mein Herz raste und ich konnte nur noch daran denken, nicht sofort zusammenzubrechen, sondern mit eiserner Logik und Rationalität Fragen zu stellen. Warum?
Sandra Ursula Nossek studierte Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Englisch und Chinesisch (Mandarin). Nach verschiedenen Tätigkeiten in Wirtschaftsunternehmen ist sie seit einigen Jahren in der Photovoltaikbranche tätig. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in der Nähe von Stuttgart.
„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht!“ (Franz Kafka)
Unserer wundervollen Tochter und allen Frauen, die dasselbe Schicksal teilen
Prolog
Kapitel: Unser erstes Kind
Meine Welt stürzt ein
Die Seele eines Menschen
Wege aus dem tiefen Tal der Verzweiflung
Kapitel: Das Wunder unserer Tochter
Der Kampf beginnt
Ein herber Rückschlag
„Hyperemesis Gravidarum“
Neuanfang
Mutter-sein als Beruf
Der Krankenhausaufenthalt beginnt
Die Angst vor der Frühgeburt
Ein Funken Hoffnung
Die Geburt unserer Tochter
Unser Leben zu Dritt beginnt
Epilog
Meine liebe Tochter,
seit Du auf der Welt bist, scheint für uns die Sonne, blühen für uns die Blumen in den leuchtendsten Farben, erscheint jeder Tag ein wenig heller, kurzum, hat unser Leben einen neuen, tieferen Sinn erhalten. Aber dies alles ist ja nicht erst so, seit Du geboren wurdest, schon als wir wussten, dass Du unterwegs bist, haben sich unsere Leben und unsere Wahrnehmungen komplett verändert. Wichtiges, was uns bislang als das Zentrum unseres Lebens vorgekommen ist, rückte plötzlich in den Hintergrund und da warst nur Du. Wie es Dir geht, was Du machst, was wir schon von Dir auf dem Ultraschallbild sehen konnten, all dies, war für uns entscheidend, der Rest der Welt blieb auf den Straßen rund um meinen Arzt, die Welt hetzte vorbei, aber wir waren im Warte- und Untersuchungszimmer verwurzelt. Ich glaube, draußen hätte eine Bombe explodieren können oder das Nachbarhaus abgerissen werden, es hätte mich nicht gestört bzw. ich hätte es nicht so wahrgenommen, wie ich es vor meiner Schwangerschaft sicherlich wahrgenommen hätte.
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass wir eines Tages so empfinden können, niemals hätte ich geahnt, was alles auf uns zukommen würde, was wir auch alles durchstehen müssen, bis wir Dich endlich auf dem Arm halten dürfen. Eines ist mir sehr bewusst geworden und wird es auch immer bleiben, nämlich, dass das eigene Kind keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine Naturgewalt, die man durch viel Mühsal und Kraft eines Tages empfangen darf, ein Wunder, das wir nicht verstehen können und vermutlich niemals ganz verstehen werden, eine verrückte und wundersame Reise, die uns zu uns selbst und darüber hinaus bringt, die uns wachsen lässt und uns an unsere Grenzen bringt.
Niemals zuvor musste ich so über mich hinauswachsen, niemals zuvor bin ich so gefordert worden, weder im Job, noch anderweitig. Ich sage ja, ich hätte es mir selbst nicht vorstellen können. Früher dachte ich, dass Kinder halt irgendwie dazugehören, wenn überhaupt. Eigentlich wollte ich bis Mitte Dreißig gar keine Kinder, zunächst war mir die Karriere wichtiger. Das moderne Frauenbild der arbeitenden und doch häuslichen Frau, die alles spielend „unter einen Hut bekommt“ hat sicherlich dazu beigetragen. Ich wollte unter allen Umständen vermeiden, als kochende und waschende Hausfrau zu enden, deren Welt sich um schmutzige Unterwäsche und einen nörgelnden Ehemann dreht, dessen Abendessen nicht schmackhaft genug ist. Auf der einen Seite Klischees, aber auf der anderen Seite auch - wie ich finde - berechtigte Ängste, als Frau zurückstecken zu müssen und nach mühsamem Studium nicht das erreichen zu können, was ein Mann locker schaffen kann, da sich diesem die Kinder- und Elternzeitfrage ja gar nicht stellt, und wenn, dann für wenige Monate, wenn überhaupt.
Meine Mutter ist die perfekte Hausfrau und ich meine das nicht im negativen Sinne. Ihre vielversprechende Bankkarriere und Stelle als Zweigstellenleiterin hat sie zugunsten meiner älteren Schwester und mir aufgegeben, um sich komplett der Familie widmen zu können. Immer geduldig, immer in sich ruhend, immer die richtigen Worte zur richtigen Zeit, eine Virtuosin in der Küche und im Garten. Ich habe mich oft gefragt, ob es etwas gibt, das sie nicht kann, es muss doch irgendetwas im Bezug auf Heim und Kinder geben, das sie nicht kann. Selbst das Stricken und Nähen war kein Problem, der eigene Teddy? Kurzum selbst gestrickt, als hätte sie eine Haushaltsschule besucht (wie es ihre Mutter eigentlich wollte), aber nein, weit gefehlt, mit Zahlen konnte und kann sie sehr gut umgehen und daher war ihr die Bankausbildung wie auf den Leib geschneidert.
Aus dieser Erfahrung heraus, dass meine Mutter als Hausfrau rund-um-die-Uhr zur Verfügung stand und -wie ich damals fand- ihre Selbstständigkeit aufgegeben hatwollte ich gerne meine Karriere in den Fokus rücken und keinesfalls irgendwann komplett aus dem Job aussteigen, um mich Heim und Herd zu widmen. Wenn ich mich dazu entschließen sollte, Kinder zu haben, dann sollten diese eben zum geeigneten Zeitpunkt kommen und bitte schön auch in die Lebensplanung bzw. Karriereplanung passen. Ich bin fest davon ausgegangen, dass sich Kinder eben einfach in das eigene Leben einfügen und wenn ich mich dazu entschließe, Kinder zu bekommen, dann wird dies auch im Handumdrehen klappen. Warum sollte es auch nicht so sein?
Rückblickend betrachtet, habe ich mich -glaube ichnoch nie so sehr getäuscht wie in diesen Punkten, was die Wichtigkeit der eigenen Karriere anbelangt, was die schmerzliche Tatsache anbelangt, dass Kinder eben doch nicht wie selbstverständlich in unser Leben gelangen und vor allen Dingen was die eigene „Rolle“ im Leben anbelangt.
Der Wendepunkt, dass ich eine eigene Familie mit anderen Augen sah, kam, als ich meinen heutigen Ehemann kennen lernte. Auf einmal wurde die Beziehung konkreter, ernster, ich bemerkte, dass wir „am selben Strang“ zogen und die gleichen Ziele im Leben hatten. Meine vorherigen Beziehungen waren auch erfüllend und ernsthaft, jedoch hatten sie nicht dieselbe Tiefe, die unsere Beziehung heute hat, wie mein Mann und ich sie führen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich früher ganz andere Ziele hatte und an Kinder gar nicht gedacht habe, daher war ich in meinen vorherigen Beziehungen glücklich, da sie mir zu jedem Lebensabschnitt das gaben, was ich brauchte. Nichtsdestotrotz fühlte ich bei meinem Mann, dass ich angekommen war, dass er ein so wunderbarer Mann ist, dass ich es wagen konnte, den nächsten Schritt zu gehen und zusammen mit ihm eine Zukunft zu planen. Meinem Mann erging es ebenso, er war es leid, Beziehungen einzugehen, die nicht in die Gründung einer eigenen Familie mündeten und nächtelang um die Häuser zu ziehen, wobei er sowieso nicht der Typ ist, der auf Partys und langes Weggehen Wert legt.
Der nächste Schritt bestand für uns daraus, zunächst zusammen zu ziehen und zu prüfen, ob das überhaupt gutgehen würde. Ich muss gestehen, dass ich mit 34 Jahren das erste Mal mit einem Mann zusammengezogen bin, davor stand dieser nächste Schritt einfach nie zur Debatte. Also zogen mein späterer Ehemann und ich zusammen und wir waren überrascht, wie gut wir uns ergänzen können und wie leicht das Leben doch miteinander ist.
Irgendwann konnten wir uns einfach gut vorstellen, miteinander eine Familie zu gründen und das war mein persönlicher Wendepunkt, bei dem ich von dem Gedanken fasziniert war, zusammen mit dem Menschen, den ich am meisten liebe, Kinder zu bekommen und großzuziehen. Wie schön muss es sein, wenn wir an unseren Kindern Gemeinsamkeiten von jedem von uns entdecken und uns in ihnen wiedererkennen können. Wie überwältigend muss es sein, das eigene Kind im Arm zu halten und zu wissen, für den Rest des eigenen Lebens für den kleinen Erdenbürger da sein zu können und ihm alles mitzugeben, was er braucht, ob das alltägliche Dinge wie Nahrung und Kleidung sind oder aber auch erzieherisches und mentales Rüstzeug, das wie ein Panzer schützt und das Kind sicher durchs Leben trägt.
Allmählich rückte meine Empörung darüber, als Frau viele Opfer bringen zu müssen, sobald ich mich für Kinder entscheiden würde, deutlich in den Hintergrund.
Wir konnten unser Glück kaum fassen, als ich nur drei Monate, nachdem wir beschlossen hatten, unsere Familienplanung zu beginnen, schwanger wurde.
Ich war so aufgeregt und verwirrt, ich weiß noch genau, wie ich den positiven Schwangerschaftstest in den Händen hielt und mein Herz so laut gepocht hat, dass ich mich festhalten musste, da ich fürchtete, sonst umzufallen. Ich konnte es wirklich nicht glauben: Es würde sich alles ändern, vom heutigen Tage an würde sich alles um den kleinen Menschen drehen, der da in mir heranwächst.
Die Tatsache, dass ich schwanger war, war unumstößlich und nicht wieder rückgängig zu machen. Unsere kleine Familie wird in neun Monaten existieren, wir waren außer uns vor Freude. Doch es sollte alles anders kommen…..
Wir sind aufgeregt und voller Vorfreude gleich zum Arzt gefahren. Viel war auf dem Ultraschallbild noch nicht zu sehen, aber mein Arzt bestätigte mir meine Schwangerschaft und händigte den Mutterpass aus! Es war die 6. Schwangerschaftswoche.
Unseren Urlaub in Saalbach hatten wir schon länger geplant und so sind wir guten Mutes ein paar Tage weggefahren und haben ruhige Tage inmitten der schönen Berglandschaft und des zauberhaften Städtchens verbracht. Da es Mitte August relativ heiß war, konnten wir schöne Stunden im Freibad und bei Wanderungen verbringen. Die permanente Übelkeit, die ziemlich heftig einsetzte und hartnäckig 24 Stunden am Tag blieb, war der Beweis, dass mit meiner Schwangerschaft alles stimmte und ich mir keine Sorgen machen musste. Am letzten Tag vor unserer Abreise haben wir Halt an einem Baggersee gemacht und ich weiß noch, wie ich weit hinausgeschwommen bin und einfach nur glücklich war, dass wir bald unser Kind in den Armen würden halten dürfen.
Als wir wieder zurück waren, hatte ich gleich einen Kontrolltermin, es war der Beginn der 8. Schwangerschaftswoche. Beim Ultraschall war mein Arzt, der an für sich schon recht ruhig ist, noch ruhiger und hat minutenlang vor sich hin geschwiegen. Ich habe mir erst gar Nichts dabei gedacht, habe mich langsam aber gewundert, warum so wenig auf dem Monitor zu sehen war. Müsste dort nicht ein ganz kleiner Embryo zu sehen sein? Klein, aber doch gut sichtbar? Mein Arzt bestätigte schließlich all meine Befürchtungen und erklärte, dass in dieser Schwangerschaftswoche eigentlich der Embryo zu sehen sein müsste, dies aber bei mir nicht der Fall sei. Er hat sich für den Ultraschall viel Zeit genommen und meinte, dass wir das Wochenende abwarten sollten und ich gleich am Montag wiederkommen solle.
Ich dachte, ich höre nicht richtig, mir war doch permanent übel und alle Zeichen deuteten doch auf eine Schwangerschaft hin. Mein Mann saß wie erstarrt neben mir und konnte gar Nichts mehr sagen. Es war ein Donnerstag und das Wochenende zog sich endlos lange hin, mein Arzt hatte noch etwas Hoffnung, es gebe sog. „Eckenhocker“, die man nicht gleich sehen könne, vielleicht hätten wir ja Glück. Ich überwand mich und rief meine Eltern an und erzählte, dass es nicht gut ausschaue. Meine Eltern waren ebenso zutiefst bestürzt und wussten nicht so recht, was sie dazu sagen sollten. Ich war innerlich zerrissen und verzweifelt und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass unser Kind zur Welt komme. Gleichzeitig spürte ich aber eine Gewissheit, dass es keine Hoffnung mehr gab. Am errechneten Geburtstermin, dem 11. April 2014, würde unser Kind nicht zur Welt kommen. Aus irgendeinem Grund wusste ich es, vielleicht wollte ich mich auch wappnen, dass ich in der Arztpraxis nicht zusammenbreche.
An besagtem Montag, dem Beginn der 9. Schwangerschaftswoche, erklärte mein Arzt schließlich, nach eingehendem Studium des Ultraschalls, dass sich unser Embryo nicht entwickeln würde, dass daraus „nie und nimmer“ ein Kind entstehe, so sein genauer Wortlaut. Diese Worte werde ich mein Lebtag nicht vergessen, ich fand sie auch sehr unsensibel und unpassend. Die Einnistung hatte stattgefunden, der Dottersack war vorhanden und gut sichtbar, aber bei der Zusammensetzung des Embryos hatte irgendetwas nicht geklappt und so war dieser -zumindest mit dem bloßen Auge- nicht sichtbar.
Nun hatten wir also traurige Gewissheit. Es ist, wie wenn Dir jemand mit eiskalter Klaue das Herz umfasst und zudrückt oder Dir ein Arm bei einem Unfall weggerissen wird und nur noch der Schockzustand bleibt. Nur mit dem Unterschied, dass mir keine Gliedmaßen weggerissen wurden, rein äußerlich war alles wie immer. Niemand konnte sehen, welch Schmerz ich litt und wie es in mir aussah. Mein Herz raste und ich konnte nur noch daran denken, nicht sofort zusammenzubrechen, sondern mit eiserner Logik und Rationalität Fragen zu stellen.
Warum?
Eigentlich stellen sich zwei Fragen: Die Frage, warum entwickelt sich unser Kind nicht und -unausgesprochendie daraus folgende Frage, warum passiert dies uns? Auf beide Fragen hat kein Arzt dieser Welt eine Antwort, oder besser gesagt, auf die Folgefrage vermutlich auch kein Philosoph oder Theologe.
Das Alter, wurde lakonisch eingeworfen, mein Arzt holte sogleich eine Statistik heraus, wonach mit steigendem Alter das Risiko einer Fehlgeburt bzw. einer Fehlbildung beim Kind deutlich erhöht sei. Das wollte ich nicht hören, zumal ich zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 34 Jahre alt war. Eine Bekannte meiner Schwester hatte ihr erstes Kind geboren, als sie 30 Jahre alt war und dieses Kind kam mit dem Down-Syndrom auf die Welt.
Kein Wort des Bedauerns, Nichts. Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Ich hatte bis dato noch nie etwas davon gehört, dass es Schwangerschaften geben kann, bei denen zunächst alles gutgeht und dann doch die Entwicklung des Embryos plötzlich aufhört. Ich hatte ständige Übelkeit und auch keine Fehlgeburt erlitten, die Schwangerschaft war für mich völlig intakt. Wir hörten noch, dass wir so schnell wie möglich einen Termin im Krankenhaus ausmachen sollen, wo dann eine Ausschabung vorgenommen werden würde. Ich hatte Alpträume und fand den Gedanken schrecklich, ins Krankenhaus zu gehen und sich das eigene Kind herausholen zu lassen. Nichts lag mir ferner, als diesen Schritt vornehmen zu lassen, doch ich wusste, dieser war unvermeidlich. Wenn ich jemals wieder schwanger werden wollte, musste ich diesen Schritt gehen und mich irgendwie dazu überwinden, ich wusste nur noch nicht, wie.
Ich versank in einem großen Tal der Tränen, das dunkel war und in das mir auch niemand folgen konnte, nicht einmal mein eigener Ehemann. Er konnte nicht nachvollziehen, was dies für mich bedeutete, was es wirklich bedeutete, wenn das eigene Kind im Leib aufhört sich zu entwickeln, aufhört zu existieren, auf einmal nicht mehr lebte. Unser Kind war still von uns gegangen, ohne Abschied. Er litt mit mir mit und war einfühlsam, aber er erlebte es eben nicht am eigenen Leib, was dies für mich bedeutete. Ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass etwas mit meiner Schwangerschaft nicht stimmte. Ich wurde abrupt aus meinem Himmel gerissen und landete tief unten auf der Erde, nicht mal auf der Erde.
Niemand konnte mir helfen, niemand in meiner Familie hatte dies je erlebt, ich stand völlig allein und wusste nicht, wie ich die Kraft aufbringen sollte, weiterzumachen und -irgendwann in ferner Zukunft- wieder schwanger werden und diese Schwangerschaft dann durchstehen sollte.
Es war der 30. August 2014, als wir ins Krankenhaus aufbrachen. Wir sollten um 8 Uhr da sein, da der Eingriff am Vormittag vorgenommen werden sollte. Ich erkannte meine Leidensgenossinnen gleich, die auch schon da waren. Alle mit müden Augen und grauen Gesichtern vor Leid und Angst. Der Freitag war anscheinend der Tag, an dem die Ausschabungen vorgenommen wurden. Meine Mutter meinte, vor 20 Jahren musste man dazu noch stationär aufgenommen werden, aber heutzutage wird dies kurz ambulant in 20 Minuten erledigt und man kann danach gleich nach Hause gehen.
Zu allem Übel musste ich ziemlich lange warten, da davor noch andere Patientinnen „behandelt“ wurden. Irgendwann wurde ich in den Vorraum des ambulanten OP`s gerufen und musste mich umziehen und so ein schreckliches Flügelhemdchen anziehen. Mein Mann durfte nicht mitkommen und musste draußen warten, was ich als zusätzlich belastend empfand und somit ganz auf mich allein gestellt war. Die Schwestern waren sehr nett und zuvorkommend, sie wollten mir die Angst ein wenig nehmen. Das Schlimmste stand mir noch bevor, da ich bei vollem Bewusstsein in den Operationssaal hineingehen musste. Bei fast allen anderen Operationen wird man zumindest hineingefahren oder erhält eine Beruhigungsspritze. Nicht so hier, ich musste hineingehen und sah ihn schon, den Operationsstuhl, der ähnlich aussah, wie der Untersuchungsstuhl beim Frauenarzt. Meine schlimmsten Alpträume schienen sich zu bewahrheiten, ich hatte schon Überwindung gebraucht, mich bei einer Routineuntersuchung beim Arzt in diesen Stuhl zu begeben und nun sollte mein Kind hier herausgeholt werden. Ich kann nicht in Worte fassen, wie ich in diesem Moment fühlte und wie viel es mich an mentaler Überwindung gekostet hat, mich hinzusetzen und die Ärzte machen zu lassen, nur so viel, ich dachte, wenn ich irgendwo noch etwas Kraft herholen kann, dann werde ich diese aufbringen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Kraft dafür ausreichen würde, aber ich würde das letzte kleinste Restchen davon zusammenkratzen und mit mir mitnehmen. Gott sei Dank kam der Anästhesist und hat mir eine Vollnarkose gegeben, eine übliche Narkose für diesen Eingriff. Ich glaube, unter örtlicher Betäubung würden das die Frauen auch nicht durchstehen und ganz bestimmt bleibende Narben davon tragen. Ich bete, dass ich unter der Vollnarkose nur so wenig mitbekommen habe, dass ich zumindest vom Eingriff keine bleibenden seelischen Schäden davontragen werde, denn dass ich von meinem Abort seelische Narben tragen würde und noch trage, war mir sofort in dem Moment klar, als mir der Arzt bestätigte, dass unser Kind nicht auf die Welt kommen würde.
Ich wachte auf und hörte eine sanfte, beruhigende Stimme der Krankenschwester auf der Aufwachstation. Sie meinte, ich hätte ja noch so viel Zeit. Ja, dachte ich, das stimmt, aber niemand kann mir mein Kind zurückgeben, das so einzigartig ist, dass es so nie wieder geboren werden wird. Unser Kind ist einzigartig und Nichts und niemand kann es zurückbringen.
Ich schlug die Augen auf, es war der 30. August 2013 um 10.45 Uhr. Ich hatte gerade unser erstes Kind verloren.
Warum, dachte ich oft, passiert so etwas? Warum lässt der liebe Gott es zu, dass Kinder nicht geboren werden, dass Kinder sterben, dass schreckliche Dinge auf der Welt geschehen?
Ab wann entsteht eigentlich Leben?
Dieser Gedanke hat mich Nachts oft wachgehalten, wie viel war denn von unserem Kind schon entwickelt? Mich belastet besonders, dass unser Kind ganz normal am errechneten Geburtstermin geboren worden wäre, wenn alles gut gegangen wäre. Wäre die Schwangerschaft normal weitergegangen, hätte sich daraus unser Kind entwickelt. Alle Voraussetzungen waren hierfür geschaffen, es fehlte nur noch der Embryo. Aber wer kann sagen, wie weit dieser schon entwickelt war?
Mich quälen diese Gedanken bis heute und ich werde sie auch nicht mehr los, aber ich versuche, damit umzugehen. Ich denke, unabhängig davon, wie weit unser Kind entwickelt war, oder auch nicht, es war unser Kind und wir werden es immer in unseren Herzen tragen und nie vergessen. Und es wird eine Zeit geben, in der wir uns wiedersehen und ich bin so gespannt darauf, wie Du aussiehst und wie Du sein wirst. Denn in einer anderen Welt werden wir unsere körperliche Hülle abstreifen und Grenzen zwischen Körper und Geist werden aufgelöst sein und es wird nur noch der Geist existieren. Dann werden wir uns wiedersehen können und es wird egal sein, ob Du auf unserer Erde warst oder nicht. Wir werden uns wiedersehen und ich kann den Tag nicht erwarten, an dem es so weit sein wird. Aber vorher haben wir hier noch eine große Aufgabe zu erledigen…..
Ab wann entwickelt sich die Seele eines Menschen?
Natürlich quälen diese Gedanken noch zusätzlich zu dem Verlust, den mein Mann und ich zu verkraften haben, aber sie lassen sich nicht einfach leugnen und in eine Schublade sperren. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir unsere Ängste erst dann besiegen können, wenn wir uns diesen stellen und diese auch als Teil von uns akzeptieren.
Verdrängung kann niemals eine Therapie sein, allenthalben eine kurz- oder mittelfristige Lösung zur Bewältigung des Schmerzes. Erst wenn einige Zeit ins Land gegangen ist, nach einem Schock oder traumatischen Erfahrungen, sind wir in der Lage, uns dem zu stellen, wenn wir uns schon in einer anderen, positiven Situation befinden. Dann können wir „aus sicherer Entfernung“ die Vergangenheit aufarbeiten, wenn diese nicht mehr so sehr schmerzt. Ich hätte es kurz nach dieser schmerzhaften Erfahrung nicht geschafft, mich all dem zu stellen und aufzuarbeiten. Da ging es nur darum, einen Schritt vor den anderen zu setzen, irgendwie weiterzumachen, in der Hoffnung, dass irgendwann eine bessere Zeit anbricht und dass es uns vergönnt sein wird, ein Baby in den Armen halten zu können.