Mein Leben als letzter Wikinger - Ken Stornes - E-Book

Mein Leben als letzter Wikinger E-Book

Ken Stornes

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Beschreibung

Tu immer genau das, wovor du am meisten Angst hast

Das ist das Lebensmotto von Ken Stornes, einem norwegischen Extremsportler, dem es gelungen ist, die Grenzen des Menschenmöglichen immer wieder neu zu definieren. Inspiriert von den unerschütterlichen Tugenden der Wikinger – Ehre, Mut und Ausdauer, Selbstständigkeit, Disziplin, Gastfreundschaft, Treue, Aufrichtigkeit und Fleiß – ist der Norweger zu einem der fittesten Menschen des Planeten geworden.

Vom zweifachen Taekwondo-Landesmeister und Elitesoldaten zum Weltrekordhalter im sogenannten „Death Diving“. Sein mutiger Sprung aus 40,5 Metern Höhe in die eisigen Tiefen eines norwegischen Fjords war eine Sensation. Seine Kraft und Lebensenergie zieht er aus dem archaischen Erbe der Wikinger, die er in der wilden Natur Norwegens spürt.

Der letzte Wikinger ist die fesselnde Geschichte eines Mannes, der das Glück in der Kunst des einfachen Lebens findet und der beweist, dass die wahre Stärke im Überwinden der eigenen Zweifel liegt.

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Seitenzahl: 239

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Inspiriert von den unerschütterlichen Tugenden der Wikinger – Selbstständigkeit, Disziplin, Ehre und Mut, Spiritualität, (Gast)Freundschaft, Treue, Aufrichtigkeit und Ausdauer – ist der Norweger Ken Stornes zum Weltrekordhalter im sogenannten »Death Diving« geworden, ein Extremsport, bei dem man sich mit dem Bauch voran aus großen Höhen ins Wasser stürzt. Seine Kraft und Lebensenergie zieht er aus dem archaischen Erbe der Wikinger, die er in der wilden Natur seines Heimatlandes spürt.

Mein Leben als letzter Wikinger ist die fesselnde Geschichte eines Mannes, der zeigt: Wenn du über deine Grenzen gehst, findest du zu dir selbst.

Autoren

Ken Stornes ist ein echtes Phänomen. 1988 in Harstad, Norwegen, geboren, war er von 2008 bis 2012 Soldat bei einer Infanterie-Eliteeinheit und zweimal in Afghanistan stationiert. Er absolvierte eine Ausbildung zum Sanitäter und arbeitet heute im Gesundheitswesen. 2023 stellte er den Weltrekord im sogenannten »Death Diving« auf. Kens Leben ist für sehr viele Menschen eine Inspiration; auf Social Media folgen ihm über eine Million Menschen. Gemeinsam mit seiner Hündin Ronja lebt er ein minimalistisches Leben in Verbindung mit der norwegischen Natur.

@kenstornes

Heidi Friedrich ist Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher, darunter Aus den Augen, doch im Herzen sowie der Spiegel-Bestseller Klangwunder mit dem Star-Oboisten Albrecht Mayer. Ihre Artikel erscheinen unter anderem in Welt am Sonntag, Spiegel online, Zeit online und Berliner Zeitung.

KEN STORNES

mit Heidi Friedrich

MEIN LEBEN ALS LETZTER

WIKINGER

WIE ICH ZU MAXIMALER AUSDAUER, MUT UND ENTSCHLOSSENHEIT FAND – NEUN TUGENDEN AUS EINER VERGANGENEN ZEIT

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe April 2025

Copyright © 2025: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Doreen Fröhlich

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv und Fotos im Innenteil: © privat

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

AR ∙ MW

ISBN 978-3-641-33011-8V001

www.mosaik-verlag.de

INHALT

Vorwort

1. Selbstständigkeit

2. Disziplin

3. Ehre

4. Mut

5. Spiritualität

6. (Gast-)Freundschaft

7. Treue

8. Aufrichtigkeit

9. Ausdauer

Epilog

Danksagungen

VORWORT

Hätte ich in der Zeit der Wikinger gelebt, wäre ich mit Sicherheit zur See gefahren und hätte so manchen Kampf mitgefochten. Ich hätte zu denen gehört, die mit Ungeduld und voller Enthusiasmus die nächste Erkundungstour in unbekanntes Terrain, die nächste Fahrt aufs offene Meer herbeisehnten. Abenteuerhungrig hätte ich mich zu jeder Zeit bereitgehalten. Meine Schwerter wären stets auf Hochglanz poliert und auf das Schärfste geschliffen gewesen. Mein Körper fit und mein Geist wach. Ich wäre immer für alles bereit gewesen. Ich bin ganz sicher, ich wäre als Erster aufs Schiff gesprungen und hätte mein Gesicht mit salzigem Meereswasser benetzt, damit ich den Wind noch deutlicher spüre. Hätte meinen Blick nach vorn gerichtet, weit auf das unbekannte Ziel hin. Ich hätte aber auch alles dafür getan, dass meine Familie und die Bewohner meines Dorfes in Sicherheit und Wohlstand leben können.

Ich bin ein Nachfahre der Wikinger. Das spüre ich in meinem Körper und in meiner Seele, in meinem ganzen System. Als läge es in der Luft, als übertrüge sich die Energie der uralten Zeiten aus dem Boden meiner Ahnen auf das eigene Sein. Wenn man so aufgewachsen ist wie ich, liegt das nahe: nämlich an der Westküste Norwegens, nördlich des Polarkreises und durch einen Gebirgszug fast abgeschnitte^n vom Rest des Landes. Der einzige Verbindungspass in die jenseits gelegene Welt war nicht selten verschüttet und für mehrere Wochen unbefahrbar. Gegenüber den Bergen nur das weite bewegte Meer. Vier Monate im Jahr sieht man in dieser Gegend keine Sonne. Vier Monate ist man zurückgeworfen auf einen kleinen Radius und vor allem auf das Innere, auf die Visionen, die dort entstehen. Vier Monate lang arbeitet das Gehirn mit Bildern, mit Sehnsüchten, mit Plänen und Absichten, mit dem, was kommt, was kommen soll, was verrichtet werden muss, was erschaffen werden kann. Der Winter ist eine wichtige Phase im Jahr, weil seine Härte die Menschen robust macht, ihren Körper stärkt und abhärtet. Und weil er gleichzeitig ihren Geist geschmeidig hält. Aus den schwierigen Lebensumständen in der dauernden Kälte schöpften auch die Wikinger vor mehr als tausend Jahren ihre unbändige Kraft und Widerstandsfähigkeit. Vier Monate mussten damals auch sie ohne Sonne überbrücken. Es mag in ihnen genauso gebrodelt haben wie in mir. Sie mögen genauso die Lust auf Leben und Tun gespürt haben und dann mit voller Wucht das angegangen sein, was sie sich im Dunkeln ausgemalt hatten. Man sagt den Wikingern brutale Eroberungszüge und Plünderungen nach. Doch zu jener Zeit, im Mittelalter, waren andere Völker und Stämme mit Sicherheit nicht weniger brutal. Man muss die Überlieferungen im Kontext der Zeit sehen. Die Bauern und Fischer an den Küsten Skandinaviens mussten ihre Existenz immer wieder auch durch Kämpfe und Raubzüge sichern. Natürlich ging es damals rau zu, keine Frage. Die Nordlichterromantik am Polarkreis, für die viele Touristen heute eine lange Reise auf sich nehmen, existierte damals noch nicht.

Wenn es endlich, endlich wieder Frühling wird und die Natur von einem Tag auf den anderen explodiert, sind auch die Menschen im Norden schlagartig wie verwandelt. Sie stürzen sich voller Energie in die Aktion, in die Belebung ihres Lebensraums. Sie setzen das um, was sie in der kalten Jahreszeit geplant haben. Der Winter mit seiner Dunkelheit ist kein bisschen schlechter als der Sommer mit seiner warm-weichen Kraft. Beide Phasen gehören gleichermaßen zu dem, was uns hier in Norwegen prägt. Ich liebe den Winter genauso wie den Sommer – beide sind für mich auf ihre Weise Kraftquellen.

Auf die scheinbar unendliche Dunkelheit folgt nun das scheinbar unendliche Licht, die Mittsommernacht, wenn monatelang die Sonne nicht untergeht. Es ist jetzt schwierig, die Tageszeit zu bestimmen. Wer kann, vergisst die Uhr und lässt die Zeit einfach fließen. Es ist egal, wie spät es ist – vier Uhr morgens oder sieben Uhr abends –, wenn man im Ozean badet oder auf einen Berg steigt. Was für Extreme! Fast ein Overkill der Eindrücke. Auch die Wikinger sollen eine andere Seite gehabt haben, neben der grausam-erobernden eine helle, überbordend lebenslustige Euphorie. Sie sollen rauschende Feste gefeiert haben. Und sie sollen sehr spirituell gewesen sein, denn ihre Götter bestimmten ihr Tun: Odin, Thor, Loki, Freyja, Heimdall, Tyr, Frigg … Sie alle waren Teil des alltäglichen Lebens. Ich bin sowohl von der Mystik als auch von den Tugenden meiner Vorfahren fasziniert. Sie hatten nicht nur Kämpfen im Sinn. Natürlich liebten sie es, ausgiebig zu feiern. Sie zollten der Natur ihren gebührenden Respekt, weil sie deren Lebensgrundlage war. Sie führten meist ein einfaches Leben, und sie standen für die Schwachen ein. In meinem Buch knüpfe ich an diese Haltungen und Werte an, bringe sie mit meinem Leben und meinen Erfahrungen in Verbindung. Die neun Tugenden, in die dieses Buch untergliedert ist – Selbstständigkeit, Disziplin, Ehre, Mut, Spiritualität, (Gast-)Freundschaft, Treue, Aufrichtigkeit und Ausdauer –, sollte man aber in einem größeren Zusammenhang sehen, denn man schreibt sie nachträglich nicht nur den Wikingern zu. Die Werte anderer Kulturen und Religionen basieren ebenfalls darauf, deshalb sind sie auch universell gültig. Und vielleicht sollten wir uns wieder mehr auf diese Werte besinnen. Gerade in Zeiten wie heute, wo überall eine große Verunsicherung herrscht, wo viele Menschen Zukunftsängste plagen, können solche ideellen Richtlinien Orientierung geben. Ich auf jeden Fall habe sie zu den Maximen meines eigenen Lebens gemacht, denn ich habe gespürt, dass ich tief in mir darin Halt finde. So gut ich kann, strebe ich danach, ihrer würdig zu sein, denn es handelt sich um hohe Werte, die man nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln kann. Man muss sich dafür auch immer wieder anstrengen. Wann immer es geklappt hat und ich das Gefühl habe, »richtig« gehandelt zu haben, mit Integrität und Anstand, dann fühlt sich das schon sehr gut an.

1. SELBSTSTÄNDIGKEIT

selbstständig: auf eigene Verantwortung, autark, auf eigene Faust

Vierzigeinhalb Meter unter mir treiben riesige eckige Eisschollen im See. Die Wassertemperatur beträgt knapp ein Grad Celsius. Die Luft ist mit minus zehn Grad noch deutlich kälter. Auf den Vorsprüngen der senkrecht-steilen Klippen liegt Schnee. Dezember in Norwegen. Ich nehme jede Faser meines Körpers wahr. Er ist stark. Er ist bereit für die unmittelbar bevorstehende Belastung. Kalt ist mir nicht. Auch als ich mich auf dem provisorisch errichteten Sprungbrett bis auf ein Paar schwarze Badeshorts ausziehe, friere ich nicht. Ich stehe wie in Trance auf der dünnen, lose aufliegenden Holzplatte, deren Unterlage von einem Traktor knapp über den Abgrund gefahren wurde. Direkt vom Klippenrand zu springen, hätte mir nicht genug Abstand vom Berg gegeben. Sorgfältig lege ich meine Kleider, ordentlich gefaltet, neben mich. Meine Konzentration ist wie zu einem Eisenstrang gebündelt. Ich höre nichts um mich herum. Absolute Stille. Als wäre ich ganz allein.

Der Blick nach unten: das Ziel. Doch sosehr ich es auch fixiere, es verschwimmt vor meinen Augen. Ich werde die Entfernung und die Dimensionen erst begreifen und einschätzen können, wenn ich den Felsbrocken, den ich fest in meiner Hand halte, in die Tiefe werfe, während meine Augen ihm folgen. Der Brocken wird die Wasseroberfläche in konzentrischen Kreisen auflockern, damit mein Körper auf weniger Widerstand trifft. Aber vor allem benötige ich den Punkt, den er beim Aufprall markiert, zur Orientierung. Das Wasser ist genau dort fünf Meter tief, dessen habe ich mich vorher vergewissert. Knapp daneben ist es nur einer. Der Stein gibt mir die Flugbahn vor. Ich habe genau so viel Zeit, um meinen Sprung zu visualisieren, bis der Felsbrocken auf das Wasser trifft. Dann muss ich ihm folgen.

Hier. Jetzt. Ich strecke meinen Arm aus, lasse den Brocken los und zähle in Gedanken den Countdown: »Vier.« Ich atme ein: »Drei.« Ich reibe meine Hände kurz aneinander: »Zwei, eins …« Dann mache ich einen schwungvollen Schritt nach vorn. Lasse los, lasse mich fallen. Ins Nichts. In die Erfüllung. In die Schwerelosigkeit. In die Freiheit. Dahin, wo alles Sinn macht und alles möglich ist, wo ich geboren wurde und wo ich sterben werde. Ich öffne Arme und Beine, strecke mich, spanne alle Muskeln an, mache mich hart – und dann fliege ich. Mein Kopf ist leer. Kein einziger Gedanke. In Blitzesschnelle forme ich meinen ganzen Körper instinktiv wie zu einem Ball, damit er so wenig wie möglich Oberfläche und damit Widerstand beim Eintauchen bietet. Wenn das Wasser sich über mir schließt, kommt mein Bewusstsein zurück. Das ist der entscheidende Moment: Ist alles gut gegangen? Fünf Sekunden auf Leben und Tod.

Ich bin 36 Jahre alt und habe schon viele solcher lebensentscheidenden Momente erlebt. Sei es als norwegischer Elitesoldat oder als zweifacher Weltrekordhalter im Death Diving, eine Sportart der Extreme, die in meiner Heimat erfunden wurde. Kein Wunder! Am Polarkreis aufgewachsen, kenne ich viele Extreme, die des Lichts, des Wetters und auch die der Vergangenheit. Meine Ahnen, die Wikinger, brachten einerseits auf ihren abenteuerlichen Überseefahrten Angst und Schrecken in Teile ihrer damaligen Welt, gleichzeitig aber war ihre Kultur geprägt von einer erstaunlichen Ingenieursexpertise und kunstvoller Ästhetik, durchdrungen von vielschichtigen Mythen und spirituellen Sagen. Ich kann diesen Wunsch nach intensivem Erleben, das ich daraus ablese, gut nachempfinden. Er findet seinen Widerhall in meinem Leben, wenn auch weitaus friedlicher.

Aufgewachsen bin ich in Aun, einem 40-Seelen-Dorf am norwegischen Polarkreis, 30 Kilometer entfernt von der nächsten Stadt. Um dort hinzugelangen, muss man erst die gewundene Passstraße über die Bergkette fahren, die das Dorf von der Außenwelt nicht selten ganz isoliert. Im Winter ist diese Straße häufig gesperrt, weil Schneemassen und Geröll sie unpassierbar machen. Es dauert dann manchmal tagelang, bis der Weg endlich wieder frei geräumt ist. Doch selbst wenn man ohne Probleme nach Harstad fahren konnte, taten wir das als Familie in meiner Kindheit nur selten. Mein Vater fuhr dorthin jeden Tag zur Arbeit. Aber meine Mutter und wir Kinder waren nur dabei, wenn wir vielleicht neue Schuhe brauchten oder eine neue Hose oder zu einem Sonntagsausflug. Die meiste Zeit verbrachten wir in unserem beschaulichen Dorf. Das Stadtleben mit all seinen Eindrücken war mir als Junge überhaupt nicht vertraut.

Aun liegt direkt an der Küste im Nordwesten des Landes. Als Kind hatte ich das Meer immer vor Augen. Selbst von meinem Platz in dem kleinen Schulhaus in unmittelbarer Nähe meines Elternhauses konnte ich durch das Fenster sehen, welche Laune die See gerade hatte und wie ihre Wellen gegen die kleine vorgelagerte Felseninsel peitschten. Meist war das Meer ziemlich aufgebracht. Windstille gab es selten. Und das Licht änderte sich ständig. Ich liebte es, wenn der Regen gegen die Scheiben klatschte. Sobald die Sonne in den Raum fiel, konnte ich kaum mehr still sitzen. Ich brauchte diesen Ausblick, diese Perspektive in die Weite, denn ich fand die Schule mit ihrer Handvoll Schüler und Schülerinnen so unglaublich langweilig. Nichts, aber auch gar nichts daran und darin interessierte mich. Ich hasste es jeden Morgen, um halb acht dort hingehen zu müssen. Ich fühlte mich in der Enge der Schule gefangen und war es ja auch. Mir fehlte die Faszination an dem, was mir beigebracht wurde. Ich wollte stattdessen immer nur hinaus. Mich zog es ständig ins Freie, in die Natur. In einem geschlossenen Raum zu sitzen und der Lehrerin zuzuhören, fühlte sich einfach falsch für mich an. Ich wollte barfuß herumlaufen, mit Stöcken als imaginierten Schwertern kämpfen, rennen, auf Felsen klettern, spielen und träumen. Nur wenn ich den Wind, den Regen, den Schnee oder die Sonne im Gesicht spürte, fühlte ich mich in meinem Element. Alles andere stimmte für mich nicht. Sobald ich einigermaßen klettern konnte, rannte ich jeden Tag mindestens einmal zu meinem Lieblingsbaum etwa 200 Meter hinter unserem Haus auf einer Anhöhe. Manchmal folgte mir auch mein kleiner Bruder, immer mit einem Stöckchen in der Hand. Auf einem der Äste sitzend, konnte man auf der einen Seite das Meer und auf der anderen den Wald sehen. Es war eine einzigartige Idylle, wenn die Sonne unterging und unter mir friedlich Schafe grasten und Katzen herumstreunten. Im Sommer roch es nach frischem Heu. Ich ahnte schon als Kind, dass es mehr geben musste als nur das, was wir sehen, fühlen und hören. Denn immer wieder überwältigten mich starke Gefühlsregungen, die mich auf eine mir unerklärliche Weise berührten. Der Sonnenuntergang in der Ferne – so eine tiefe Sehnsucht. Das Glitzern der Schneeoberfläche unter mir – eine Ahnung von himmelhochjauchzend. Irgendwann vergrub ich an diesem magischen Ort auch heimlich eine Kiste, gefüllt mit Gegenständen, die mir etwas bedeuteten, wie besonderen Steinen und anderen Fundstücken aus dem Meer, die ich für die Ewigkeit bewahren wollte. Dort waren sie gut aufgehoben, meine Schätze. Die Kiste muss noch immer an dieser Stelle vergraben sein.

Ich wollte so sein wie die Landschaft um mich herum: wild und stark. Und natürlich wollte ich so sein wie meine Vorfahren, die Wikinger. Ihr Vermächtnis, ihre Geschichten gehörten irgendwie immer dazu, ihre Heldentaten wurden von Generation zu Generation weitererzählt. Mein Großvater, der Fischer war, erwähnte gern, wie fortschrittlich die Wikinger zu ihrer Zeit im Schiffbau waren. Ich war stolz auf meine Vorfahren, ihr Vorbild prägte mich. Ich liebte die Legenden von Dunkelheit und Gefahr, von heroischen Taten, von Eroberungszügen. Die Lebendigkeit der Bilder von den Kämpfen für das Gute, für den Wohlstand und die Freiheit rührten mich schon immer zu Tränen. Mein größter Wunsch war es, solche Erzählungen Realität werden zu lassen, sie wirklich zu leben. Ich dachte früher, dass alle Kinder sich so fühlen müssten wie ich, dass sie ebenfalls diesen immensen Freiheits- und Tatendrang empfänden. Aber das war offensichtlich nicht der Fall. Ich schien der einzige Junge im Dorf zu sein, der Actionfilme nicht nur anschauen, sondern sie auch nachspielen wollte.

Ich glaube, meine Mitschüler fanden mich mit meiner verträumten und gleichzeitig unbändigen Art etwas seltsam. Sie hänselten mich oft, weil ich nicht so war wie sie. Sie wollten nie die gleichen Dinge tun wie ich. Ich fand sie eigentlich ziemlich langweilig. Während sie immer nur Fußball spielten, saß ich lieber auf meinem Baum hinter unserem Haus, schnitzte Speere oder lief zu den Schafen meines Onkels Kristian, der sie weiter oben in Richtung Berge grasen ließ. Kristian war ein Jäger, ein Abenteurer, ein Freigeist und vor allem ein Mann der Natur. Er erzählte mir immer die wildesten Geschichten und inspirierte mich dazu, die Natur so zu bewundern, wie er es tat. Die anderen Kinder fanden es wohl auch lustig, dass ich damals etwas prall war. Auch passte ich mich ungern an und hielt mich nicht an irgendwelche Benimmregeln. Wenn ich laut schreien oder herumtollen wollte, ließ ich mich davon nicht abhalten. Ich tat, was mir gerade in den Sinn kam und mir Spaß machte. Meine Eltern hatten es sicher schwer mit mir. Sie versuchten mich zu ermutigen, mich zuzeiten auch mit etwas mehr Strenge dazu zu drängen, das zu tun, was von mir erwartet wurde. Aber der Erfolg ihrer Erziehungsmaßnahmen, ihrer Drohungen, war mäßig bis nichtig. Ich hörte einfach nicht auf sie. Ich hörte auf niemanden. Ich war ein Kind, das nicht tat, was andere von ihm verlangten. Mir war die Selbstständigkeit – und wahrscheinlich auch die Eigensinnigkeit – einfach in die Wiege gelegt worden. Meine Mutter, das merkte ich schon damals, war ziemlich frustriert, was das anging. Sie hatte sicher Angst, ich würde mich auch später zu wenig anpassen können und deshalb meinen Platz in der Gesellschaft nicht finden. Immer wieder kam derselbe Satz von ihr: »Was wirst du nur tun?« Sie erwartete weder eine Antwort noch eine lange Diskussion. Meist ließ sie es dabei bewenden. 

Bei den Kindern im Dorf war ich zwar kein wirklicher Außenseiter, aber zu unserer sechsköpfigen Clique von damals gehörte ich auch nicht wirklich dazu. Ich fühlte mich von ihnen nie ganz akzeptiert, war so etwas wie ein geduldeter Sonderling. Allerdings ist unser Dorf ja so klein und die Auswahl an Gleichaltrigen sehr begrenzt, da hatte man keine andere Wahl, als sich doch schlussendlich zusammenzuraufen. Dennoch: Ich war oft sehr wütend und fühlte mich unverstanden. In solchen Momenten nahm ich mir vor: »Wenn ich groß bin, werde ich es euch allen zeigen! Ich werde stärker sein als ihr alle zusammen!« Wird man als Kind von Gleichaltrigen gepiesackt und ausgegrenzt, kann das in zwei Richtungen gehen: Entweder man bricht innerlich und verliert mehr und mehr an Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Oder es geschieht das Gegenteil: Man hat den Drang, sich beweisen zu wollen. Dieser Anreiz kann das Beste in einem hervorbringen und einen stärker machen, als man sich das je hätte vorstellen könnte. Gemobbt zu werden zündete in mir ein Feuer an, weckte einen Ehrgeiz, der mir half, mich früh auf mich selbst zu verlassen und selbstständig zu sein. Ich entwickelte einen noch größeren Wunsch, meinen Vorbildern aus Filmen wie Der Herr der Ringe, Gladiator, Rocky und den Brüdern Löwenherz nachzueifern. Und ich hatte später auch Erfolg damit, zumindest was meine körperliche Konstitution anging. Also war es für mich etwas durchaus Positives, keinen einfachen Start im Umgang mit anderen gehabt zu haben. Andererseits brauchte ich sie auch gar nicht so sehr. Ich fühlte mich damals auch allein und in meiner Fantasiewelt wohl. Es dauerte lange, bis ich verstand, wie wichtig es ist, seinen Stamm zu finden, diejenigen, die dich so sehen, verstehen und annehmen, wie du bist. Doch bevor dich dein Stamm finden kann und du ihn, musst du erst einmal herausfinden, wer du selbst bist. Das kann unter Umständen ein ganzes Leben lang dauern.

Die Erfahrungen in meiner Kindheit haben mich gelehrt, mich von den Menschen abzuwenden, die mir nicht guttun. Ich habe gelernt, mit mir allein zurechtzukommen, mir selbst zu genügen. Noch heute umgebe ich mich vor allem mit denjenigen, in deren Seele eine Leidenschaft flammt, die ein außerordentliches Interesse an etwas zeigen. Ich möchte in der Nähe von Menschen sein, die vor Leben sprühen. Ich möchte mit Gleichgesinnten wandern, mit den Träumern, mit den Enthusiasten, mit den Mutigen, mit den gut Gelaunten, mit den Machern.

Als ich etwas älter war, mit zwölf, dreizehn Jahren, bestand meine Lieblingsbeschäftigung darin, mit meinem kleinen Motorboot aufs Meer hinauszufahren. Einmal kam es dabei zu einem dramatischen Ereignis: Im spielerischen Kampf mit einem anderen Jungen, der ebenfalls auf dem Meer unterwegs war, sprangen unsere Boote auf den heftigen Wellen hin und her. Wir fuhren absichtlich aufeinander zu und dann so nah wie möglich aneinander vorbei. Die Spitze meines Bootes ragte bei jeder Drehung weit nach oben aus dem Wasser heraus, ich saß hinten und ließ den Motor aufheulen. Wir hatten einen Riesenspaß dabei, uns zu messen. Als ich allerdings einmal aufstand, um meinem Widersacher ins Auge zu sehen, fiel ich bei einer besonders heftigen Welle aus dem Boot. Gerade so konnte ich mich noch am Rand festhalten. Doch der Motor, der immer noch an war, wirbelte mich mit dem Boot im Kreis herum, der Propeller, der sich unter Wasser weiter wie wild bewegte, gefährlich nah an meiner Brust. Mit aller Kraft schaffte ich es zurück ins Boot und unversehrt ans Land. »Du hättest sterben können!«, rief mir meine Mutter entgegen, als ich total nass nach Hause schlappte. Sie war so was von wütend, weil sie das ganze Drama vom Küchenfenster aus hatte verfolgen müssen, hilflos, nah und fern zugleich, denn mein Elternhaus steht nur etwa 100 Meter vom Wasser entfernt. Sie machte mir aber keine Vorwürfe, auch wenn ihr die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ich fürchtete nur, dass meine Eltern mir nun mein Boot wegnehmen würden, was sie allerdings nicht taten. Auch wenn ich in diesem Moment auf See hätte sterben können, so war ich doch wenig schockiert. Ich wurde davon auch nicht traumatisiert. Ich nahm einfach alles immer so hin, wie es kam. Bei allem Ärger, den ich meinen Eltern immer wieder bescherte, machten sie mir doch das Leben nie schwer. Ich war mir ihrer Liebe immer sicher. Gerade das stärkte mich wahrscheinlich noch in meiner sowieso schon ausgeprägten Persönlichkeit und in meinem Unabhängigkeitsdrang. Kinder, die emotional gut gebunden sind und sich in der Beziehung zu ihren Eltern oder anderen nahen Personen sicher fühlen, können sich umso leichter abnabeln, sagt man.

Ich fühlte mich in meiner Familie, bei meinen Eltern und zusammen mit meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder immer gut aufgehoben. Wir empfanden alle stets eine starke Zugewandtheit und innere Verbindung zueinander, das ist auch heute noch so. Dabei wäre unsere Familie um Haaresbreite gar nicht entstanden. Mein Vater wuchs in Stornes auf und besuchte meine Mutter, in die er sich als Jugendlicher verliebt hatte, regelmäßig in Aun, wo sie lebte. Dafür überquerte er den Berg, der zwischen den beiden Dörfern liegt, mit seinen Skiern. Doch dann trennten sich die beiden wieder. Einige Zeit später passierte ein unglaublicher Zufall beziehungsweise Unfall: Mein Vater fuhr meine Mutter, die gerade aus einem Bus gestiegen war und die Straße überqueren wollte, versehentlich mit dem Auto an. Meine Mutter war so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus musste. Bei seinen vielen Besuchen bei ihr verliebten sich die beiden erneut und wurden wieder ein Paar. Als meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde, zog mein Vater zu ihr nach Aun. Sie heirateten und bekamen uns Kinder. Was mit einem dramatischen Moment begann, mündete in eine solide, ja eine glückliche Ehe mit einer klassischen Rollenverteilung. Meine Mutter kümmerte sich um den Haushalt und um uns. Mein Vater arbeitete als Lkw-Fahrer für Milch. Fahrzeuge aller Art gehörten schon immer zu seiner Leidenschaft, bereits als 14-Jähriger durfte er den Schneepflug der Gegend fahren. Diese Stabilität in der Ehe meiner Eltern hat mich geprägt und auch zu meiner positiven Lebenseinstellung beigetragen. Und die gute Beziehung zu meinen Eltern gehört zu den wichtigsten Dingen in meinem Leben. Die beiden sind einfach wunderbar. Meine Mutter ist eine der freundlichsten Seelen, die ich je getroffen habe. Sie ist liebevoll und fürsorglich. Sie ist irgendwie auch eine Träumerin, so wie ich. Ich habe sie oft beobachtet, wie sie in der Küche saß, durch das Fenster hinausschaute und in ihr Notizbuch schrieb. Was sie schrieb, weiß ich bis heute nicht. Mein Vater hat die Fähigkeit, jeden Raum, den er betritt, zum Leuchten zu bringen. Er spricht mit allen und vermittelt ihnen das Gefühl, dass es gut ist, dass sie da sind. Er hat ein lautes, warmes Lachen. Er ist voller Herzlichkeit.

Wenn andere von ihrer Kindheit erzählen und den traumatischen Erfahrungen, die sie teilweise erleben mussten, wundere ich mich immer über mich selbst: Ich hatte nie das Gefühl, etwas Ähnliches durchgemacht zu haben. Natürlich war auch in meiner Familie nicht immer alles rosarot. Aber ich ließ mich von den traurigen Ereignissen nicht erdrücken. Ich folge da dem Beispiel meiner Mutter. Drei ihrer Geschwister sind früh gestorben. Obwohl sie natürlich traurig war, blieb sie jedes Mal stark und hat nicht aufgegeben. »Solange ich lebe, wird mir das wehtun. Aber dann ist da der neue Tag, und ich tue, was getan werden muss«, sagte sie. Und sie musste auch mit mir ziemlich oft kämpfen, weil ich mal wieder nicht tat, was von mir erwartet wurde. Wenn sie mich schimpfte, weil ich sie zur Weißglut gebracht hatte, war sie sicher im Recht. Ich habe jede einzelne Tirade verdient und verstand sie meist als normale, ja gar gerechte Konsequenz meines Verhaltens. Ich nehme an, man würde das heute mit Resilienz beschreiben. Schon als Kind und Jugendlicher habe ich die Verantwortung übernommen für das, was ich verursacht habe. Ich sehe das auch heute nicht anders, beschwere mich nicht. Meine Geschwister konnten es nicht immer so locker sehen wie ich, wenn es in unserer Familie Auseinandersetzungen gab. Mein Vater ist ein eher ruhiger und zurückhaltender Mensch, der seine Stimme kaum erhebt, meine Mutter emotionaler und auch lauter. Da gab es schon den einen oder anderen Kampf zwischen meiner Schwester und ihr. Meine Schwester kam auch mit der langen Dunkelheit im Winter nicht gut zurecht und beklagte sich viel darüber. Aber für mich war das alles einfach das ganz normale Leben.

Mein Vater war wegen seiner Arbeit immer viel unterwegs. Aber wenn er da war und sich Zeit für mich nahm, war das herrlich. Ich liebte es, mit ihm zusammen auf dem Meer zu fischen. Wir sprachen dann eigentlich nie viel miteinander. Aber es herrschte eine gute, entspannte Stimmung. Wir mochten uns einfach. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich, etwa zehn Jahre alt, um das Leben meines Vaters bangte. Ich durfte ihn auf einer seiner Milch-Touren mit dem Laster begleiten. Als wir gerade bei dem Unternehmen angekommen waren, wo er die Milch abladen sollte, verhaspelte er sich beim Aussteigen mit dem Bein und fiel mit voller Wucht nach vorn auf den Asphalt. Als er versuchte, sich aufzusetzen, sah ich, wie sein Gesicht blutüberströmt war und seine Nase lose herabhing. Was für ein Horror! Ich gab einen lauten Schrei von mir und rannte zum nächsten Gebäude, um Hilfe zu holen. Innerhalb kürzester Zeit hörte man das laute Motorengeräusch eines Helikopters. Der Notarzt brachte meinen Vater ins Krankenhaus. So wurden wir in Aun erzogen: keine Panik! Und wenn man selbst nicht weiterwusste, um Hilfe bitten. Die Dorfbewohner waren ja immer aufeinander angewiesen. So handelte in diesem Moment auch ich. Man könnte nun meinen, dass mich dieses Erlebnis schockiert, dass ich von dem schlimmen Anblick meines Vaters ein Trauma davongetragen hätte. Aber das war nicht der Fall, mich konnte und kann so schnell nichts umhauen. Dennoch war ich natürlich äußerst erleichtert, als mein Vater wieder nach Hause kam – mit angenähter Nase.

Auch mit meinem Onkel Rolf, der ebenfalls im Dorf wohnte, verstand ich mich prächtig. Er hatte eine Schafherde, zu der er mich immer mitnahm, wenn ich wollte. Ich begleitete ihn und seine Herde auf die Weiden rund um unser Dorf. Dort ließen wir die Schafe morgens einfach im Freien loslaufen, ohne Zaun. Von meinem Onkel habe ich viel gelernt, zum Beispiel, wie man mit Lämmern umgeht, wie man Heu macht, wie man die Herde zusammenhält. Am Abend, wenn die Sonne schon tief stand und wir die Schafe wieder zusammentrieben, mit dem Blick auf die Wiesen und Bäume, auf das Meer – ich natürlich barfuß –, das kann ich im Nachhinein nur als episch bezeichnen. Das