Mein Leben ist (k)ein Märchen - Die Marmeladenoma - E-Book

Mein Leben ist (k)ein Märchen E-Book

Die Marmeladenoma

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Beschreibung

Die älteste YouTuberin Europas und Preisträgerin der "Goldenen Erbse" des Europäischen Zentrums für Märchenkultur ist bekannt und geliebt als Marmeladenoma. Mit über 90 Jahren hat sie nun ihr Erstlingswerk geschrieben: "Mein Leben ist (k)ein Märchen" gibt tiefe Einblicke in das bewegte Leben einer starken Frau, die sich selbst durch härteste Schicksalsschläge nicht hat unterkriegen lassen. In ihren Aufzeichnungen mischen sich auf magische Weise Kindheitserinnerungen und Märchengeschichten zu einem Buch, das Jung und Alt mit seiner Herzlichkeit und Liebe umarmt - das perfekte Weihnachtsgeschenk für alle Fans, Märchenliebhaber und all jene, die der tristen Wirklichkeit für eine gute Weile entfliehen möchten.

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Seitenzahl: 148

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Impressum

© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Viola Schmidt, Petra Bradatsch

Co-Autor: Paul Frey

Lektorat: Ulrike Auras

Bildredaktion: Simone Hoffmann

Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Stephanie Reindl

eBook-Herstellung: Chiara Knell

ISBN 978-3-8338-9119-9

1. Auflage 2023

Bildnachweis

Coverabbildung: Marmeladenoma

Alle Archivfotos: Marmeladenoma; Webvideopreis

Syndication: www.seasons.agency

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Gewidmet meinem liebevollen Vater, der mir das Leben und die Märchenwelt schenkte.

Liebe, Vertrauen und Märchen – die wichtigsten Begleiter meiner Kindheit

Märchen durchziehen mein Leben wie ein roter Faden. Die Liebe zu ihnen hat mein Vater in mir geweckt. An Samstagabenden nach einer arbeitsreichen Woche saßen wir, Vater, Mutter, und wir acht Geschwister, in der Wohnküche am großen Tisch. Vater spielte oft auf seiner Geige, wir sangen gemeinsam Lieder, oder es wurde gebastelt und erzählt. Oft las uns Vater auch aus Büchern vor. Geschichten, Gedichte oder, was mir am liebsten war, meine geliebten Märchen. Diese längst vergangene Welt ist nur scheinbar verschwunden, ich kann sie immer wieder vor meinem geistigen Auge erscheinen lassen, denn auch das Vergangene ist Teil der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die ich anhand dieser Geschichte aus meiner Kindheit mit Ihnen teilen will.

Wenn wir zwei Kleinsten, mein jüngerer Bruder, das Hermännle, und ich, abends im Bett lagen, erzählte uns Vater zum Abschluss des Tages stets ein versöhnliches, sanftes Märchen. Er beantwortete geduldig und voller Liebe unsere Kinderfragen, dann gab er uns einen Kuss und deckte uns sorgsam zu. Meine Erinnerung an diese Tage ist erfüllt von dem Gefühl der Geborgenheit. Und die grenzenlose Liebe, die mir geschenkt wurde, gab mir den Freiraum, mich sorglos nach meinen Neigungen und Interessen zu entwickeln.

Ich war ein Kind, das sich gerne in fantasievollen Gedankenspielen verlor. Wenn ich, nahe unserem Haus, auf der großen Wiese lag und vor mich hin tagträumte, bekamen die vorüberziehenden Wolken Gestalten. Mein Schutzengel schwebte hoch oben und wachte über mich, eine gute Fee lächelte mir zu, Schneewittchen, Aschenputtel, Brüderchen und Schwesterchen gaben sich ein Stelldichein. Mit jeder Wolke, die vorbeischwebte, kam ein anderer Gast. Auch die böse Stiefmutter, ein gefährlicher Drache oder finstere Riesen tauchten auf und zogen schließlich weiter. So verbrachte ich oft ganze Sommernachmittage, lebte in meinem märchenhaften Kosmos und war der Wirklichkeit entrückt.

Manchmal entdeckten mich jüngere Nachbarskinder, umringten mich und bettelten, ich solle ihnen ein Märchen erzählen. Dann ließ ich sie an meiner Welt teilhaben und erzählte den atemlos Lauschenden meine Lieblingsmärchen. Ich führte die Kinder in verwunschene Wälder und ferne zeitlose Länder, ließ sie teilhaben an den Abenteuern der märchenhaften Heldinnen und Helden, und gemeinsam erlebten wir immer wieder den unvermeidlichen Sieg des Guten über das Böse. Verzauberte Sommerstunden. Christian Morgenstern hat als Erwachsener einmal gesagt, dass er immer noch im und vom Sonnenschein seiner Kindheit lebe. Dasselbe gilt auch für mich – heute noch.

Manchmal hütete ich die kleinen Kinder der Nachbarn auch zu Hause oder half den Müttern beim Einkaufen oder anderen Dingen des täglichen Lebens. Damals war ich, was man heute nicht mehr vermuten würde, ein schüchternes Kind und sprach mit Erwachsenen nicht mehr als nötig. Die Ausnahme war mein lieber Vater, dem ich grenzenlos vertrauen konnte. Doch Vater arbeitete tagsüber als technischer Zeichner in einem Karlsruher Büro. Abends und am Wochenende malte er zu Hause Landschafts- und Blumenbilder, wie er es einst bei seinem Meister gelernt hatte. Es waren meist Auftragsarbeiten von begüterten Karlsruher Bürgern, und oft durfte ich ihm bei seiner künstlerischen Arbeit über die Schulter sehen. Auch dies Zeiten des Glücks, die sich zu den zahlreichen anderen glücklichen Momenten addierten, die ich mit meinen Geschwistern erlebte.

Ja, es war tatsächlich eine heile Welt, die ich als Kind erleben durfte, eine nahezu unbeschwerte Kindheit im Kreise einer lebendigen und kreativen Familie. Im Rückblick betrachtet, lebte ich in einem märchenhaften, beinahe verwunschenen Paradies am Rande einer großen Stadt.

Im Unterdorf, an einer Straßenkreuzung, stand oft ein fahrbarer Süßwarenstand. Aus dem Fenster blickte eine alte Frau. Ich allein wusste, dass sie in Wirklichkeit eine Fee war. Wenn ich eine Zehnpfennigmünze besaß, ging ich zu ihr und überlegte lange, ob ich mir Lakritz oder eine Wundertüte kaufen sollte. Eine solche Tüte enthielt zerbrochene Kekse, Schokoladenstücke, Bonbons. Manchmal, was ein seltenes Glück war, fand sich darin sogar ein besonderer Schatz, ein kleiner Fingerring aus Blech mit einem Stein aus Glas. Die gute Fee wartete stets geduldig, bis ich meine Entscheidung getroffen hatte. Dann schob sie meine Errungenschaft über den Tresen und legte noch ein Extra dazu – eine Feengabe, wie ich wusste. Wie sehr freuten wir Kinder uns damals über eine so seltene Süßigkeit!

Heute sind die Regale der Supermärkte übervoll mit Süßwaren aller Art – Schokolade, Pralinen, Gebäck und Bonbons. Manchmal komme ich mir vor wie im Schlaraffenland, wo die Dächer aus Pfannkuchen bestehen, wo es Honig regnet und Zucker schneit. Das Überangebot ist für viele heutzutage vielleicht eine Selbstverständlichkeit. Denke ich an meine Kindheit zurück, sind es aber gerade die seltenen Gelegenheiten und die kleinen Mengen, die den Genuss so groß machten. Das Glück, es liegt im Maß, so empfinde ich.

Geborgenheit – das Fundament meiner kindlichen Entwicklung

Wenn Vater ein bestelltes Gemälde fertig hatte, packte er es sorgfältig in Packpapier, holte sein altes, großes Fahrrad aus dem Keller unseres kleinen Reihenhauses, um zu den Auftraggebern zu fahren. Oft durfte ich ihn begleiten, und so setzte ich mich auch diesmal wieder auf den Gepäckträger, spreizte meine Beine weg vom Rad, damit sie nicht in die Speichen gerieten. Vater stellte das Bild, das recht groß war, vertrauensvoll vor mich auf meine Schenkel, und ich umklammerte es mit beiden Händen. Dann fuhren wir los.

Unterwegs hielten wir an den Auen des Flusses, der Alb. Vater nahm mir das Bild ab, stellte es sachte auf den Boden und erklärte mir, wie so oft, wenn wir gemeinsam auf Reisen waren, die Welt. Er lehrte mich die Namen der Blumen, die auf der Wiese wuchsen, und der Bäume, die den Fluss säumten. Und er nahm mich auch oft mit auf eine Märchenreise.

Das Ufer des kleinen Flusses, der gemächlich in Richtung Rhein floss, war gesäumt von mächtigen Weiden, durch deren Blattwerk der Wind wehte. Allein die schwingenden Bewegungen der Äste machten bereits einen nachhaltigen Eindruck auf mich und eröffneten meiner Fantasie neue Räume. Doch die Natur, die uns umgab, hatte noch märchenhaftere Elemente zu bieten, als ich es bisher erahnt hätte. Vater legte seinen Arm auf meine Schulter, und er machte mich auf die langen Wasserpflanzen aufmerksam, die sich sanft in der Strömung wiegten. Diese grünen Strähnen, sagte er, seien in Wirklichkeit die langen Haare von Wassernixen, die sich einen Spaß daraus machten, ihr Antlitz vor den Menschen zu verbergen. Sobald wir unsere Fahrt fortgesetzt hatten, würden sich die Nixen wieder aus ihrem Versteck herausbegeben, um durch den Fluss zu gleiten, neuen Abenteuern entgegen. Wie ist das Leben doch so wunderbar eingerichtet, dachte ich, und die weitere Fahrt zu Vaters Kunden träumte ich vor mich hin.

Am Ziel angekommen nahm er mir das Gemälde wieder ab, wir gingen zur Haustür einer schönen Villa. Er läutete, eine elegante Dame öffnete, begrüßte uns mit einem angedeuteten Kopfnicken, und wir traten in das Foyer, das sehr groß und gediegen eingerichtet war. Die Dame nahm Vater das Bild ab und verschwand damit im Salon. Sie hatte uns keinen Stuhl angeboten und uns einfach, wie Dienstboten, im Vorraum stehen lassen. Ihr Verhalten verstörte mich, ich empfand es als unangemessen und unhöflich. Bei uns zu Hause benahm man sich anders, unseren Besuchern wurde mit aufrichtiger Freundlichkeit begegnet.

Schließlich kam die Dame des Hauses zurück, gab meinem Vater die Schnur und das Packpapier, das er sorgfältig zusammenlegte, zurück. Dann endlich sagte sie mit süßlicher Stimme: »Wie immer sehr schön« und reichte ihm seinen Arbeitslohn. »Ich habe da übrigens noch einen angeschnittenen Kuchen, bei dem ich wohl ein nicht einwandfreies Ei verwendet habe«, fuhr sie fort. »Aber ihre vielen Kinder werden ihn wohl trotzdem aufessen.«

Meine Empörung wuchs. Wie sprach diese eingebildete Person mit meinem lieben Vater, der ihr mit Herzblut ein Bild gemalt hatte und den sie mit ihrer, aus meiner Sicht, vergifteten Spende als Hungerleider und Bittsteller dastehen ließ? Mein Mitgefühl mit meinem Vater ließ mich meine Schüchternheit anderen Erwachsenen gegenüber überwinden: »Wir brauchen Ihren Kuchen nicht«, brach es aus mir heraus, »unsere Mutter backt wunderbaren Kuchen!« Dann stürzte ich schluchzend aus der Villa. Ich hörte noch, wie sich Vater bei seiner Kundin entschuldigte. Dann folgte er mir, in den Händen sein Packpapier – und den Kuchen. Wortlos bestiegen wir das Rad und fuhren nach Hause.

Den Kuchen warf er schweigend den Hühnern vor. Den Rest des Tages verbrachten wir in getrennten Räumen, jeder blieb für sich in seiner Welt. Wir dachten über das Erlebte nach, und wir fühlten uns in das Befinden des anderen ein. Ich bin mir sicher, dass mein Vater überlegte, warum ich so verletzt reagiert hatte. Ich dachte darüber nach, warum mein Vater sich nicht so empört hatte wie ich. War es Höflichkeit? Oder hoffte er auf weitere Aufträge, weil er das Geld für seine große Familie benötigte und keine Missstimmung aufkommen lassen wollte? Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem. Diese Gedanken hatten etwas Versöhnendes, und ich merkte, wie sich meine emotionalen Wogen glätteten.

Am Abend saß Vater, wie immer, an meinem Bett. Er erzählte mir heute kein Märchen, sondern kam auf den Besuch in der Villa zu sprechen. Er erklärte mir, dass die Dame das Angebot, den leicht verdorbenen Kuchen mitzunehmen, nicht böse gemeint hätte. Ich entgegnete, dass ich die Frau eingebildet und unhöflich fände. Vater nickte und sagte, dass man das so sehen könne. Wir waren uns auf jeden Fall einig, dass man niemals herablassend sein sollte.

»Alle Menschen haben das Recht, gleich gut behandelt zu werden«, sagte mein Vater. »Egal, welchen Beruf sie ausüben, welche Kleidung sie tragen, ob sie dick, dünn, schön oder hässlich sind, ob sie alt oder jung sind. Allen Menschen sollten wir mit Liebe und Respekt begegnen.«

Nun erzählte mir Vater doch noch ein Märchen. Ein Märchen der Brüder Grimm, das ich noch nicht kannte: »König Drosselbart«. In diesem Märchen ging es um einen König, der eine wunderschöne Tochter hatte. Doch sie hatte einen Makel, sie war hochnäsig. Der gute König wollte sie verheiraten, doch keiner der Freier war ihr gut genug. Besonders einer, König Drosselbart, zog ihren Spott auf sich, weil ihr sein Äußeres missfiel. Nachdem die Prinzessin alle Bewerber abgelehnt hatte, wurde es ihrem Vater zu bunt, und er vermählte sie kurzerhand mit einem Spielmann, der zufällig das Schloss besuchte. Dieser führte sie zu seinem einfachen Heim, vorbei an Fluren, Wäldern und einer prächtigen Stadt. Nach Aussage des Spielmanns gehörten diese Besitztümer alle König Drosselbart. Da bereute die Prinzessin, dass sie Drosselbart verhöhnt hatte. Zu ihrem Unglück verließ sie auch noch der Spielmann, und so musste sie schließlich alleine in der armseligen Hütte leben. Eines Tages jedoch wurde sie in ein königliches Schloss zu einem Fest geladen. Und nun waren es die Gäste des Königs, die sich über ihre Armut lustig machten. Schließlich gab sich einer der Gäste, der sich bislang zurückgehalten hatte, als König Drosselbart zu erkennen. Er offenbarte ihr, wer er war und dass er sich als Spielmann verkleidet hatte. Da erkannte die Prinzessin, dass sie in ihrer Eitelkeit falsch gehandelt hatte. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken.

»So mag es wohl vielen gehen, die ihr Leben in Hochmut verbringen und meinen, sich über andere erheben zu können«, sagte mein Vater. Dann nahm er mich in Gedanken zurück zu unserem beglückenden Erlebnis am Fluss. Er kam auf die Weiden zu sprechen, deren lange Äste bis ins Wasser ragten, und auf die grünen Haare der Wassernixen. Diese kleine Erinnerungsreise versöhnte mich mit dem heutigen Tag, der eigentlich viel Schönes für mich bereitgehalten hatte.

Bevor mir Vater den üblichen Gutenachtkuss gab, hatte er auf dem Weg in meine Träume noch eine kleine Aufgabe für mich: »Was meinst du, Helgele, haben die Nixen erlebt, nachdem wir mit unserem Rad davongefahren waren?« Was für eine märchenhafte Aufgabe hatte mir mein Vater da aufgetragen. Ich nahm sie mit in meinen Schlaf.

Das liebevolle Verhältnis zu meinem Vater, sein Verständnis für meine Nöte, seine fantasievolle Betrachtung der Natur und seine unendliche Geduld haben meiner kindlichen Seele stets gutgetan. Ich fühlte mich immer liebevoll angenommen und entwickelte dadurch eine Resilienz, eine psychische Widerstandskraft, die mich in späteren Lebensabschnitten in die Lage versetzte, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit, mit neuen Herausforderungen umzugehen, wird in den Kindertagen gelegt. Vertrauen, Liebe, Anerkennung, sich die Zeit für sein Kind zu nehmen sind bedeutende Elemente für die seelische Entwicklung eines Kindes. Und auch viele Märchen erzählen von der Widerstandskraft: Geraten nicht die Heldinnen und Helden immer in hoffnungslose Situationen und gefährliche Abenteuer – aus denen sie letztlich gestärkt und reifer geworden hervorgehen?

Obwohl ich mittlerweile schon über 90 Jahre alt bin, ist mein Vater noch immer an meiner Seite. Oft spreche ich in Gedanken mit ihm und hole mir Rat. Eines meiner täglichen Rituale ist es, jeden Morgen über seine Fotografie zu streicheln, die an meinem Bett steht, und unsere Seelen sind miteinander verbunden. Wie schrieb einmal der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry: »Ich stamme aus meiner Kindheit wie aus einem Land.« Dies trifft auch auf mich zu. Und bis zum heutigen Tage reise ich immer wieder in Gedanken zurück in die frühen Jahre meiner Kindheit und bin dankbar für das Gute und Schöne, das mir damals zuteilgeworden ist.

Mein Refugium selbst geschaffener Geborgenheit: Die Märcheninsel

In meiner Erinnerung ist die Zeit, als meine Mutter noch lebte, von Licht durchflutet. Ein immerwährender Sommer oder ein stetiger Frühling. Hier auf den Wiesen an der Alb, dem Flüsschen, das sich durch unseren Stadtteil Grünwinkel schlängelt, war alles vollkommen. Hier war das Glück zu Hause.

Oft war ich am Waschtag bei den Frauen und älteren Mädchen des Dorfes am Fluss, sah ihnen zu, wie sie gemeinsam die Wäsche wuschen, sich dabei Geschichten erzählten, Neuigkeiten austauschten und scherzten. Wir Kinder spielten gerne auch Fangen oder Verstecken oder trauten uns gar mit unseren großen Brüdern in den nahen Wald, wo wir Tannenzapfen sammelten oder Blumen pflückten, die am Wegrand wuchsen.

Am späten Nachmittag kamen die Pferde der Brauerei Sinner. Die Pferdeknechte saßen mit bloßem Oberkörper und hochgekrempelten Hosenbeinen auf den schönen, schweren Pferden und ritten an das Ufer der Alb. Dort an der Schwemme, die sich neben der Brücke des Flusses befand, tummelten sich gerne die Enten, und die Fische wärmten sich im flachen Wasser. Die Gäule wurden zunächst eingeseift und dann gestriegelt. Danach schwangen sich die Männer wieder auf die Rücken der Pferde und ritten mit ihnen immer tiefer in den Fluss, bis hin zum »Gaulsloch«, das so tief war, dass die Pferde dort schwimmen konnten. Manchmal durfte das Hermännle, vor einem der Männer sitzend, mitreiten. Schließlich kamen die Männer mit den Tieren zurück ans Ufer. Ein unvergesslicher Anblick, wie sie gemeinsam in die langsam sinkende Abendsonne ritten.

Dann war es höchste Zeit für uns, nach Hause zu gehen. Unser Kater Peterle, der uns oft begleitete, stolzierte mit aufgestelltem Schwanz vor uns her, die zwei Brüder zogen den Leiterwagen, der mit Spielsachen, einer Decke und unseren Trinkflaschen mit Essigwasser gefüllt war. Und nach einer Weile nahm Erwin seinen todmüden kleinen Bruder Hermann auf den Rücken. Ich wandelte langsam hinterher, umhüllt von einem Märchentraum. Oben von der Anhöhe erklang Vaters Ruf: »Erwin, Karl-Heinz, Helgele, Hermännle, heimkommen!« Auf dem großen Tisch warteten Schüsseln mit Dickmilch, die Mutter selbst hergestellt hatte und die wir mit Zucker, Zimt und Brotwürfeln vermengt hungrig verspeisten. Das Hermännle schlief danach auf Mutters Schoß ein, meist brachte ihn dann meine große Schwester Rösle zu Bett. Am Tisch hatte jeder seinen angestammten Platz. Bei jedem Essen saß ich an der Schmalseite des Tisches, Vater an der langen Vorderseite, ich umklammerte seine rechte Hand, er musste mit der Linken essen, was er stets geduldig tat.

Die Samstagabende an unserem Tisch sind mir unvergesslich. Wir lachten gemeinsam, spielten, musizierten. Mein Vater und die großen Geschwister diskutierten auch oft. Wir Kleinen saßen dann mit großen Augen dabei, während sich unsere Katzen auf der Eckbank reckten. Mutter saß meist da, eine Handarbeit auf dem Schoß, lächelte still und war glücklich.

Eines Abends blieb der Ruf meines Vaters aus. Hermännle und ich waren allein auf der Wiese unterwegs gewesen, und insgeheim beschlich mich eine dunkle Vorahnung. Mutter war in der letzten Zeit immer stiller geworden, sie habe eine Krankheit, hörte ich Nachbarn hinter vorgehaltener Hand erzählen. Mein Vater bestätigte uns Kindern schließlich, dass es nicht gut um Mutters Gesundheit bestellt sei. Ja, dass sie vielleicht bald werde sterben müssen. Vater erklärte uns Kindern diesen Umstand mit behutsamen Worten, und er verstand es, uns liebevoll auf das Unvermeidliche vorzubereiten.