Mein letztes Jahr der Unschuld - Daisy Alpert Florin - E-Book

Mein letztes Jahr der Unschuld E-Book

Daisy Alpert Florin

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Beschreibung

In ihrem letzten Jahr am College scheint sich alles, was Isabel Rosen für sicher gehalten hat, aufzulösen: Ihre Freundschaften driften auseinander, und anders als die meisten anderen weiß Isabel noch immer nicht, was sie nach dem Studienabschluss tun will. Mit ihrem Kommilitonen Zev verbindet sie eigentlich nur Freundschaft, doch irgendwie landen die beiden im Bett. Und dann fällt auch noch Isabels Lieblingsdozentin aus, auf deren Kurs im Kreativen Schreiben sie sich den ganzen Sommer gefreut hat. Doch R.H. Connelly, der den Kurs stattdessen übernimmt, fasziniert sie. Er erkennt ihr Talent, fördert sie, glaubt an sie – und gibt Isabel die Orientierung, nach der sie schon lange gesucht hat. Die beiden beginnen eine Affäre, die sie natürlich geheim halten müssen ...

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Seitenzahl: 396

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Das Buch

Isabel Rosen hat noch ein Semester am Wilder College vor sich, als ein neuer Professor ihren Kurs für Kreatives Schreiben übernimmt. R. H. Connelly ist ein charismatischer Lehrer und ein Mann mit Geheimnissen. Er gibt Isabel das Gefühl, gesehen zu werden, schön und talentiert zu sein: die Frau, die sie sein möchte. Die beiden beginnen eine Affäre, die die Grundlagen dessen, wer Isabel zu sein glaubt, immer mehr erschüttert. Während ein weiteres Drama um ein verheiratetes Paar am College alle um sie herum in Atem hält, ahnt Isabel, dass die Grenze zwischen Jugend und Erwachsensein weniger klar ist, als sie dachte.

Die Autorin

DAISY ALPERT FLORIN studierte an der Columbia University und der Bank Street Graduate School of Education. Ihre Texte erscheinen in verschiedenen Literaturmagazinen. Geboren in New York, lebt sie heute mit ihrer Familie in Connecticut. Mein letztes Jahr der Unschuld ist ihr erster Roman, der von Presse und Publikum begeistert aufgenommen wurde.

Daisy Alpert Florin

Mein letztes Jahr der Unschuld

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda

Das Zitat auf der übernächsten Seite stammt aus Joan Didion: Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.

In der Übersetzung von Antje Rávik Strubel.

© 2021 Ullstein Buchverlage, Berlin.

ISBN 978-3-96161-186-7

Die Originalausgabe »My Last Innocent Year«

erschien 2023 bei Henry Holt, New York.

© 2023 Daisy Alpert Florin

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Gestaltung und Satz: Red Cape Production, Berlin

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Design by Nicolette Seeback Ruggiero, Artwork by Leslie Singer

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

1

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Danksagung

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Meiner Mutter, die mich Schönheit lehrte, und meinem Vater, der mir beibrachte, wie man Geschichten erzählt.

Rückblickend scheint es mir, als seien die Tage, bevor ich die Namen all der Brücken kannte, glücklicher gewesen als die, die danach kamen, aber vielleicht werden Sie das im Laufe der Zeit selbst bemerken.

Joan Didion, »Das Spiel ist aus«

1

Ich kann nicht mehr genau sagen, wie ich am Abend vor den Weihnachtsferien in Zev Nemans Schlafzimmer gelandet war. Es war bitterkalt – Dezember in New Hampshire –, und auf dem Rückweg von der Bibliothek hatten wir uns gestritten, diesmal darüber, ob der Windchill-Effekt ein wissenschaftlich fundiertes Wetterphänomen ist, wie Zev glaubte, oder ein Dreh, den irgendwelche Wetteragenten ausgeheckt hatten, um uns von der drohenden globalen Erderwärmung abzulenken.

»Wetteragenten?«, sagte Zev. Er hatte einen leicht israelischen Akzent. »Isabel! So was gibt es doch gar nicht.«

»So ist es aber«, sagte ich und stieg über einen schmutzigen Schneehaufen.

Zev blieb unter einer Straßenlaterne vor seinem Wohnheim stehen und verschränkte die Arme; sein schmales Gesicht war von Schatten zerfurcht. »Ich hab dich nie für eine Verschwörungstheoretikerin gehalten. Eine militante Linke vielleicht, aber Verschwörungstheoretikerin?« Er schüttelte den Kopf.

»Ist aber doch eine Überlegung wert, oder?« Ich versuchte, seinen Blick zu deuten, aber Zev war wie immer undurchschaubar. Der Wind zerrte an meinem Mantel und fuhr mir durch die Jeans bis auf die Haut.

»Egal, jedenfalls ist es verdammt kalt.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Kommst du mit rein?«

Ich zuckte die Achseln und folgte ihm in das niedrige Gebäude.

So also war ich wohl in Zev Nemans Zimmer gelandet: Er hatte mich eingeladen, und ich hatte nicht Nein gesagt.

Sein Einzelzimmer mit Blick aufden Fluss war ordentlich und aufgeräumt. Das Bett war gemacht, auf dem Boden lagen keine Klamotten herum; es roch sogar sauber. Nicht wie die Zimmer anderer Jungs, die ich in meinen fast vier Jahren am Wilder College gesehen hatte. Die Sauberkeit führte ich auf Zevs zweijährigen Dienst in der israelischen Armee zurück, in denen er das jüdische Vaterland verteidigt hatte – mein Vaterland, wie er mir gern ins Gedächtnis rief. Er zog den Parka aus und ließ sich aufs Bett fallen. Auf dem einzigen Stuhl stapelten sich Bücher, deshalb sah ich mir sein Bücherregal an: Fachliteratur zum Thema Ökonomie, Bücher aufHebräisch, ein paar Paperback-Thriller, so dick wie Türstopper. Diesen Teil wollte ich überspringen, den, in dem man sich fragt, wann das, wofür man ins Zimmer eines Jungen gekommen ist, passieren wird, wann man mit dem Small Talk aufhören kann, der einem bloß auf hunderterlei Arten vor Augen führt, dass dieser Junge, überhaupt irgendein Junge, einen nie verstehen wird. Wenn man die Sprache hinter sich lässt und gleich zum Hautkontakt übergeht.

Ich zog eine zerfledderte Ausgabe von Gedankenlos: Das Lied vom Henker aus dem Regal. Daneben stand das gerahmte Foto eines Mädchens am Strand mit schwarzem Bikini und verspiegelter Sonnenbrille.

»Wer ist das?«

Zev warf einen Basketball in seinen Händen hin und her. »Meine Freundin, Yael«, sagte er, als hätten wir gerade über sie gesprochen, obwohl er sie bisher noch nie erwähnt hatte, nicht mal, dass er überhaupt eine Freundin hatte.

Ich nahm das Bild in die Hand. Yael war hübsch. Sehr hübsch sogar. Lange Beine, olivfarbene Haut, sonnengebräunt, von der Sonne ausgebleichtes bernsteinfarbenes Haar. Ich fragte mich, ob ich vielleicht auch so ausgesehen hätte, wenn meine Vorfahren nach links statt nach rechts abgebogen wären, als sie aus Russland auswanderten. Ich war überrascht, dass Zev eine Freundin hatte, und noch überraschter, dass sie so hübsch war. Ich sah zum Bett hinüber, auf dem er ausgestreckt lag, und begriff, dass Yael ihn in einem ganz neuen Licht erscheinen ließ.

»Wieso hast du mir nie von ihr erzählt?«

»Warum hätte ich das tun sollen? Bist du eifersüchtig?«

»Nein«, sagte ich und stellte das Bild zurück ins Regal. Was ich fühlte, war keine Eifersucht, eher Neugier. Wie wurde man zu einem Mädchen, das sich im Badeanzug ablichten lässt? Oder wie konnte man eine Freundin haben, so eine Freundin, ohne sie je zu erwähnen? Hätte ich einen Freund gehabt, da war ich mir sicher, hätte ich ununterbrochen von ihn gesprochen.

Zev warf den Basketball zwischen seinen Händen hin und her, immer schneller, ohne ihn zu verfehlen. »Wieso hätte ich dir von ihr erzählen sollen?«, fragte er. »Außerdem ist sie dort, und ich bin hier, also.« Er zielte mit dem Ball auf einen Korb an der Rückwand seiner Schranktür. »Treffer!«

Ich sah aus dem Fenster aufden Fluss, der im Mondschein schimmerte. So was hielt man am College für selbstverständlich: ein Zimmer mit Blick auf den Fluss. Ich konnte Zev nicht erklären, warum ich es seltsam fand, dass er Yael nie erwähnt hatte, ohne dass es sich so anhörte, als würde es mir etwas ausmachen: So war es nicht. Oder vielleicht doch. Egal, ich dachte, dass man doch genau deswegen eine Freundin hatte, um das hier nicht mehr tun zu müssen.

Das hier. Ich war mir Zevs Anwesenheit sehr bewusst: des Geräuschs seines Atems, der quietschenden Matratze, wenn er sein Gewicht verlagerte. Ich schob das Amulett an meiner Halskette hin und her und horchte auf eine Veränderung seines Atmens oder ein Zeichen, dass er mich berühren würde. Nach ein oder zwei Minuten hörte ich, wie er aufstand und auf mich zukam, langsame Schritte auf dem Linoleumboden. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, drehte mich um, und da war er: mit leicht geöffnetem Mund, als hätte er eine verstopfte Nase. Als er sich unbeholfen vorbeugte und mich küsste, stockte mir der Atem. Ich stieß gegen das Bücherregal und hörte, wie Yaels Foto zu Boden fiel.

Ich weiß nicht mehr, was meiner Ansicht nach passieren würde, oder ob ich überhaupt wollte, dass etwas passierte. Ich war hauptsächlich erleichtert, weil mir jetzt klar war, welche Richtung der Abend nehmen würde. Vielleicht wäre ich genauso erleichtert gewesen, wenn Zev mich gebeten hätte zu gehen, weil er Kopfschmerzen hatte oder für eine Prüfung pauken musste, ja sogar, wenn er gesagt hätte, ich solle mich verdammt noch mal verpissen. Als ich ihn küsste und spürte, wie seine Zunge die Tiefen meines Mundes erforschte, was durchaus nicht unangenehm war, dachte ich zum ersten Mal daran, wie es wäre, mit Zev Neman zu vögeln, und ob ich das wollte. Ich stellte mir vor, wie ich auf zukünftigen Dinnerpartys von uns erzählen würde. »Wir haben uns gleich im ersten Semester kennengelernt, sind uns aber erst im letzten Studienjahr wirklich näher gekommen«, würde ich nachdenklich, mit einem Glas Merlot in der Hand, sagen, während Zev unterm Tisch mein Knie streichelte. Ich dachte an Yael, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag, und fragte mich, wie sie in diese Erzählung hineinpasste. Yael, die lästige Freundin, der Zev das Herz brechen musste, um zu mir zu finden. Zev schob seine Hand unter meine Bluse. Seine Zunge machte weiter, die Dinnerpartys verblassten allmählich. Wenn ich in der Geschichte, die ich eines Tages erzählen würde, ein Wörtchen mitzureden hätte – und mit einundzwanzig war ich mir da ganz und gar nicht sicher –, wusste ich weder, ob ich einen solchen Anfang gewollt hätte, noch, ob mir das Ende recht gewesen wäre.

Als Zev meine Brust ein bisschen zu fest zusammenpresste, dachte ich kurz, dass ich keine Ahnung hatte, was ich hier zu suchen hatte. Ich war eher aus Neugier und Langeweile als aus Verlangen mit in Zevs Zimmer gekommen, weil die Bibliothek, wo wir uns zufällig über den Weg gelaufen waren, früh geschlossen hatte und ich noch keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, und weil es draußen trotz meiner klaren Haltung in Sachen Windchill-Effekt verdammt kalt war. Kurz gesagt, ich war in diese Begegnung hineingestolpert wie in ein dunkles Zimmer: mit ausgestreckter Hand, mich vorwärts tastend, unfähig zu sehen, was an den Wänden war oder wie ich da wieder rauskam.

Es war seltsam, aber Zev kannte ich länger als fast alle anderen in Wilder, länger noch als Debra und Kelsey. Wir waren uns am ersten Freitag des ersten Semesters bei einem Schabbat-Essen im Hillel House begegnet, einem kleinen beigefarbenen Gebäude am Rande des Campus, wo sich Wilders spärliche Anzahl von Juden versammelten. Wie viele Elite-Colleges konnte Wilder auf eine lange Geschichte von institutionellem Antisemitismus zurückblicken, aber auch einen neueren Skandal, bei dem Studenten einer Verbindung eine Gruppe barfüßiger Bewerber in gestreiften Pyjamas gezwungen hatten, schwere Steine über den Rasen zu schleppen. Die Holocaust-Symbolik war unübersehbar, und der Vorfall erregte landesweit Aufmerksamkeit. Doch inzwischen hatten sich die Wogen geglättet, und vor ein paar Jahren hatte eine Gruppe ehemaliger jüdischer Studenten das Geld für die Einrichtung eines Hillel House aufgebracht. Jetzt konnten jüdische Eltern ihre Kinder endlich unbesorgt aufs Wilder College schicken. Mein Vater hatte derlei Bedenken nicht. Ich hatte mein ganzes Leben unter Juden verbracht, und er wollte ausdrücklich, dass ich nach Wilder gehe, um Abstand von ihnen zu gewinnen.

Ich war mit Sally Steinberg von den Bethesda Steinbergs zu dem Abendessen gegangen. Ich hatte sie Anfang der Woche in einem Step-Aerobic-Kurs kennengelernt. Sally war das verwöhnte Einzelkind älterer Eltern, die sich auf der Brandeis University kennengelernt hatten, wohin sie sie unbedingt auch hatten schicken wollen, doch Sally hatte auf Wilder bestanden. Ihre Eltern hatten wie immer nachgegeben und ihr als Bedingung das Versprechen abgenommen, an den wöchentlichen Schabbat-Essen teilzunehmen.

Als wir ankamen, war Zev bereits da und saß an dem langen Esstisch. Der Rabbi, ein junger Mann mit Boston-Red-Sox-Kippa, stellte uns einander vor. Zev gab uns die Hand. Das war typisch für Wilder, wie ich erfahren hatte. Man schüttelte sich die Hand, etwas, das ich bisher nur mit Erwachsenen gemacht hatte, und auch dann nur selten. »Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte er und reichte erst Sally und dann mir die Hand. Sein Händedruck war fest, die Fingerkuppen gelb verfärbt.

»Lass mich raten, woher du kommst«, sagte er zu mir, während Mädchen in langen Röcken mit Plastikbestecken und Traubensaftkrügen um uns herumschwirrten. »New York.«

»Woher weißt du das?«

Er deutete auf meine abgetragenen Doc Martens. »Aber nicht aus Uptown. Und auch nicht von der West Side. Downtown?«

»Alle Achtung! Lower East Side.« Er fragte, womit mein Vater seinen Lebensunterhalt verdiente – auch etwas, das die Leute in Wilder machten –, und ich erzählte ihm, dass er einen Appetizing Store hatte.

“Einen Appetizing Store? Echt? Wow! Ich wusste nicht, dass es noch Juden wie euch gibt.«

»Juden wie was?«

»Juden, die geräucherten Fisch und gesäuertes Brot verkaufen. Ich dachte, solche Geschäfte gäbe es nicht mehr.«

»Na ja, viele sind verschwunden, aber ein paar gibt es noch.« Ich zählte einige auf, Guss’s Pickles, Yonah Shimmel Knishes, Kossar’s Bialys, Russ & Daughters.

»Schön«, sagte Zev. »Wie in einem Roman von Malamud.« Er nahm sich ein Stück Challah. »Und? Hat dein Vater seine Hoffnungen auf dich gesetzt? Hat er dich hierher geschickt, um sich seinen Traum vom sozialen Aufstieg zu erfüllen?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Noch nie hatte jemand die Ambitionen meines Vaters so kurz und bündig zusammengefasst oder auch so krass. Zev sah mich an, als wäre ich ein Einhorn, aber ich wusste nicht, ob seine Augen echte Verwunderung spiegelten oder ob er mich bloß anlocken wollte, um mir das Horn abzusägen. Noch ehe ich antworten konnte, begann der Rabbi mit den Gebeten, um den Schabbat einzuläuten.

Das Abendessen war chaotisch und dauerte ewig. Es gab viele Gänge, die immer wieder von Gebeten und dem Anzünden von Kerzen unterbrochen wurden. Die Mädchen in den langen Röcken, darunter die Ehefrau des Rabbis, räumten die Teller ab und schenkten Wasser nach, während seine beiden Söhne so ausstaffiert herumliefen, als wären sie kleine Versicherungsexperten. Seit ich in Wilder angekommen war, hatte ich nicht so viele Juden um mich gehabt. Nicht, dass wir wirklich viele gewesen wären: Der Raum fühlte sich nur deshalb so voll an, weil er so klein war. Die Juden aus Scarsdale und Great Neck mussten in Wilder zusammenhalten. Während des Essens fand ich heraus, dass Zev wie ich Studienanfänger war, aber älter, weil er diese zwei Jahre in der Armee gedient hatte. Er war untersetzt und kräftig, hatte kurz geschnittenes schwarzes Haar und eine Nase, die aussah, als hätte sie einen Schlag abbekommen. Er sei in Iran geboren, erzählte er, aber nach der Revolution als Kind nach Israel gekommen. Er roch nach Zigaretten und Deodorant. Was uns verband, war vor allem unsere Geringschätzung gegenüber allen anderen Anwesenden, einschließlich Sally, die lauthals erklärte, sie sei nur deshalb zu dem Dinner gekommen, weil ihre Mutter gesagt hatte, es sei eine gute Gelegenheit, um sich nach einem Ehemann umzusehen. (Sie ging an diesem Abend mit Gabe Feldman nach Hause, dem Jungen, der links von ihr saß und den sie später tatsächlich heiratete.) Im Lauf der Jahre stellte ich fest, dass sich Zevs Geringschätzung auf fast jeden in Wilder bezog, möglicherweise sogar aufMenschen im Allgemeinen, aber an diesem Abend machte es mehr Spaß als alles andere seit meiner Ankunft in Wilder, mich mit ihm über die Leute im Hillel House lustig zu machen.

Gegen Ende des Abendessens ließ eins der Mädchen beim Abräumen einen Stapel schmutziger Teller fallen. »Mazel tov!«, riefGabe. Sally lachte. Das Mädchen sah aus, als würde es jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich fühlte mich sofort mit ihr solidarisch und wollte ihr helfen, doch Zev hielt mich am Handgelenk fest.

»Nicht«, sagte er. »Lass sie das machen. Bleib hier und sprich mit mir.« Sein Griff war rau, aber das gefiel mir, der Druck, die Kraft, die darin steckte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich das letzte Mal jemand so intensiv angesehen hatte, wenn überhaupt. Ich setzte mich wieder hin und unterhielt mich für den Rest des Abends mit ihm.

Zev und ich blieben Freunde, obwohl Freunde vielleicht nicht das richtige Wort ist. Wann immer wir uns über den Weg liefen, im Speisesaal oder in der Bibliothek, suchte er meine Nähe, und wir unterhielten uns, nicht über Belanglosigkeiten wie den Beruf seiner Eltern oder ob er ein Haustier hatte, sondern große Themen wie Politik, Wirtschaft, Gott und den Nahen Osten. Zev forderte mich auf, meine Überzeugungen zu begründen, zum Beispiel, warum ich Feministin oder Demokratin war. Ich war von Natur aus nicht besonders redegewandt und hatte irgendwann verstanden, dass das, was ich fühlte, nichts taugte, solange es nicht ausgesprochen oder begründet werden konnte. Vielleicht glaubte ich deshalb, Zev zuhören zu müssen, der klare Überzeugungen hatte und nie an sich zweifelte. Wenn wir uns unterhielten, spürte ich, wie sich mein Horizont erweiterte, um diese neue Weltanschauung – seine Weltanschauung – zu begreifen, aber hauptsächlich wollte ich rauskriegen, ob er mich mochte, ob er mich attraktiv fand, ob er jemals daran dachte, mich zu küssen. Erst später fiel mir auf, dass Zev außer mir überhaupt keine Freunde hatte und immer allein war, wenn ich ihm auf einer Party oder in einer Vorlesung begegnete. Er hatte mich ausgesucht, weil er sonst niemanden hatte, mit dem er sich unterhalten konnte, denn sonst konnte ihn niemand leiden.

Debra zum Beispiel hasste ihn. »Du musst nicht mit ihm befreundet sein, nur weil er Jude ist«, sagte sie, doch das war nicht der Grund. Zev strahlte etwas Gefährliches aus, das mich anzog; er hatte eine kalte, bittere Fassade, die ich unbedingt knacken wollte. Er war exakt die Sorte Mann, der ich aus dem Weg gehen würde, wenn ich älter und erfahrener war, doch das lernt man normalerweise auf die harte Tour.

»Er will dich nur rumkriegen«, sagte Debra, aber da war ich nicht so sicher. Abgesehen von dem Abend im Hillel House, als er mich am Handgelenk gepackt hatte, rührte Zev mich nicht an. Manchmal, nachdem wir eine unserer Diskussionen gehabt hatten, ertappte ich mich dabei, dass ich darauf wartete, seine Hand zu spüren, unaufgefordert, unerwartet.

Die Heizung in der Ecke klopfte, als wäre etwas oder jemand darin gefangen. Zevs spröde, raue Hände waren überall – unter meiner Bluse, zwischen meinen Beinen. Eine Gedichtzeile schoss mir durch den Kopf: Dann wühltest du die ganze Nacht in meinem Fleisch nach jemand anderm. Ich hatte das Gefühl, mitten in einem Geschlechtsakt gelandet zu sein, der schon eine Weile lief. Ich stützte mich mit einer Hand an der Wand hinter mir ab und versuchte, Luft zu holen. Gerade als ich ihn bitten wollte, langsamer zu machen, zog er mich zum Bett.

Zev war kräftig, sein Körper straff wie eine Trommel. Er legte sich auf mich und schob meine Bluse hoch. Ich hörte, wie ein paar Knöpfe absprangen, und musste aus irgendeinem Grund lachen. Doch Zev lachte nicht, und zum ersten Mal an diesem Abend, vielleicht sogar im Leben, bekam ich Angst.

»Hey, nicht so schnell, Soldat«, sagte ich, als er anfing, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen. Aus der Nähe wirkte seine Haut fettig, und seine Augen standen zu dicht beieinander. »Könntest du vielleicht ein bisschen langsamer … ?« Trotz all der Küsse und Berührungen war ich kaum erregt.

Zev japste, als wäre er eine Treppe hochgerannt. »Ich glaub nicht«, sagte er und steckte meine Hand in den Schlitz seiner Boxershorts. Darin war es feucht und warm. »Komm schon«, keuchte er an meinem Hals. »Warum bist du denn sonst mitgekommen?«

Warum war ich mitgekommen, fragte ich mich, als Zevs Hand sich unter die Bluse schlängelte und den BH aufhakte. Er presste mich gegen die extragroße Matratze, und ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass ich meine Tage hatte. Vom Flur kamen Stimmen, Leute gingen vorbei und genossen den Abend. Ich fragte mich, ob ich rufen sollte, aber es passierte ja nichts Außergewöhnliches. Ich kannte das hier – nicht Zevs Zimmer, aber Jungs, die nach Schweiß und ungewaschenen Haaren stanken. Zev griffnach einem Kondom, und ich musste an meinen ersten Schultag vor langer Zeit und an meine Mutter denken und wie sich ihre Dr.-Scholl-Sandalen auf dem Bürgersteig angehört hatten. »Sei ein braves Mädchen, Isabel«, hatte sie gesagt und sich zu mir heruntergebeugt, um mich auf die Nase zu küssen. »Eh du dich versiehst, ist alles vorbei.«

Ich war noch immer trocken, daher leckte Zev seinen Finger ab und steckte ihn in mich hinein, bevor er selbst eindrang. Dann bewegte er seinen Schwanz langsam hin und her und versuchte, einen angenehmen Rhythmus zu finden. Ich wollte meine Bluse zuhalten, weil ich nicht oben ohne vor einem Mann liegen wollte, doch er packte meine Handgelenke und bog sie mir über den Kopf.

Meine Augen waren offen, Zev hatte seine geschlossen, und die Lider flatterten, als beobachtete er etwas, das sich dahinter abspielte. Vielleicht eine Szene aus einem Western, und ich war der Hengst, den er über die staubigen Ebenen ritt. Oder wir galoppierten zusammen durch die wilden Wüsten Israels. Gab es in Israel überhaupt Wüsten? Alles, was ich mir aus diesem Teil der Welt vorstellen konnte, waren Szenen aus Operation Desert Storm. Bei jedem Stoß schlug mein Kopf gegen das metallene Kopfende des Bettes. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, irgendwas, das Referat über das russische Judentum im neunzehnten Jahrhundert, das ich gerade abgegeben hatte, zum Beispiel. Ich sah, wie Schatten über die popcornfarbene Zimmerdecke huschten, lauschte dem Summen der Neonröhren im Flur, während sich Zev immer schneller auf das große Ziel zubewegte. Und dann, nach einigen heftigen Stößen, kam er endlich, lautlos, wie jeder Junge, mit dem ich geschlafen hatte und der nur an Orten Sex gehabt hatte, an denen er leise sein musste. Irgendwas in mir war enttäuscht, weil er nicht laut gestöhnt oder gar aufgeschrien hatte, um mich wissen zu lassen, dass es ihm gefallen hatte, es wenigstens irgendwem gefallen hatte.

»Was machst du in den Ferien?«, fragte Zev, nachdem er das Kondom abgezogen und in den Mülleimer geworfen hatte, wo es zwischen alten Exemplaren des Wall Street Journal und Resten von Zahnseide landete.

»Nichts Besonderes«, sagte ich und knöpfte meine Bluse zu, so gut es ging. »Hauptsächlich im Laden meines Vaters aushelfen. Und du?«

»Ich fahr mit ein paar internationalen Studenten nach Washington. Die Zeit reicht nicht aus, um nach Hause zu fliegen.«

Wir sprachen ein oder zwei Minuten über Washington und was er dort machen sollte. Er müsse auf jeden Fall das Vietnam Veterans Memorial besuchen, sagte ich, da ich sein Interesse an Denkmälern für Massentragödien kannte. Ich erzählte ihm, wie ich mit der Highschool mal nach D.C. gefahren war und ein paar Kids nach Hause geschickt worden waren, weil sie Lachgas geschnüffelt hatten.

»Schöne Ferien«, sagte ich. Dann schnappte ich meine Sachen und ging. Es war jetzt wirklich kalt draußen; der Wind peitschte so heftig, dass ich anfing, meine Meinung zum Thema Windchill-Effekt zu überdenken, falls ich überhaupt jemals eine gehabt hatte. Ich muss Zev das nächste Mal sagen, dass er recht hat, dachte ich, bevor mir bewusst wurde, dass es nie wieder ein nächstes Mal geben würde.

Oft frage ich mich, was geschehen wäre, wenn Debra nicht zu Hause gewesen wäre, als ich zurückkam, denn das kam nur ganz selten vor. Aber an diesem Abend war sie da und saß mit einer Schale Sugar Corn Pops im Papasan-Sessel. Kelsey war schon unterwegs nach Sun Valley, wo sie ein paar Tage mit Jason und seiner Familie Ski fahren wollte, bevor sie über Weihnachten nach New York fuhr. Debra und ich wollten am nächsten Tag aufbrechen. Sie würde mich bis nach Scarsdale mitnehmen, wo ihre Eltern mich in den Zug nach New York setzen sollten.

»Wo warst du?«, fragte Debra, als ich mich auf die Couch fallen ließ. Irgendwo tief in mir tat etwas weh, das ich weder sehen noch benennen konnte. Ich rutschte ein wenig hin und her, bis das Ziehen nachließ.

»Bei Zev Neman«, sagte ich und nahm mir eine Handvoll Cornflakes. Meine Stimme klang zittrig. Ich fand es schwierig, seinen Namen auszusprechen.

»Gelobt sei Jesus. Hast du ihn endlich gebumst?«

Ich dachte daran, die Geschichte so zu erzählen, wie Debra es getan hätte, als einen von vielen verrückten One-Night-Stands mit Jungs oder Mädchen, die sie kaum kannte, Leuten, die sie aufgabelte und mit Leichtigkeit wieder abservierte. Aber ich konnte das, was mit Zev passiert war, nicht aufdiese Art erzählen. Es hatte etwas Dunkles, Schweres, ein bisschen so wie mein Körper kurz vor der Periode. Die Cornflakes waren zu einen ekligen süßen Brei in meinem Mund geworden, und ich fragte mich, ob ich mich übergeben müsste.

»Isabel.« Debra versuchte, sich in dem ungemütlich tiefen Sessel aufzusetzen. »Verdammt. Ist was passiert?« Sie stellte ihre Schale auf dem Überseekoffer ab, den wir als Couchtisch benutzten, und legte die Hände auf die Knie.

Ich weiß nicht mehr genau, was ich sagte. Nur dass Debra aufstand und anfing, hin und her zu gehen, während ich sprach, und dass jedes Mal ihre Oberschenkel bebten, sobald sie den Fuß auf den knarzenden Holzboden setzte. Ihre dunklen störrischen Locken, die sie vergeblich zu bändigen versuchte, standen nach allen Seiten vom Kopf ab, als stünde sie unter Strom. Vielleicht ist das der Grund für ihre unermüdliche Energie, dachte ich, und legte den Kopf auf die Armlehne der Couch. Am Hinterkopf spürte ich eine empfindliche Stelle. Ich betastete sie.

»Scheiße«, sagte sie. »Ich konnte den Kerl noch nie leiden.«

»Tja, du hattest recht. Er ist ein Arsch.«

»Er ist mehr als ein Arsch! Der Typ hat dich vergewaltigt.«

»Mein Gott, Debra, jetzt mach mal halblang.«

»Sorry!!« Sie hörte auf, durchs Zimmer zu tigern. »Wie würdest du es denn nennen?«

»Ich meine, es ging ein bisschen schneller, als mir lieb war, aber gezwungen hat er mich nicht.«

»Wolltest du es überhaupt?«

Wollte ich es? Ich konnte mich nicht erinnern. Vieles an diesem Abend war verschwommen, einiges hingegen sah ich klar und deutlich vor mir. Ich rieb mir die Stirn, um den Knoten zu lösen, der sich zwischen meinen Augenbrauen gebildet hatte. »Keine Ahnung. Ich glaub nicht, aber … ich meine, bitte … als wär dir so was noch nie passiert.«

»Nein, nie, verdammt noch mal.«

Ich hatte die falsche Person gefragt.

Debra tigerte wieder auf und ab. Ich spürte, wie die Dielen unter ihren Schritten vibrierten, während ich den Kopfauf der Armlehne hin und her rollte und jedes Mal den Bluterguss spürte. Debras Wut war greifbar, ein lebendiges, atmendes Ding. Einerseits wollte ich, dass sie sich beruhigte, andererseits war ich froh, dass sie sich so aufregte, auf diese Art blieb es mir erspart.

»Wir müssen ihm zeigen, dass er damit nicht durchkommt«, sagte sie. »Wir sollten die Polizei verständigen. Oder den Dekan – wie heißt er noch?«

»Hansen«, sagte ich. »Aber Debra …«

»Du hast recht. Scheiß auf Hansen. Was soll er schon machen?« Sie kaute auf ihrem Finger herum. »Wir können aber auch nicht einfach hier sitzen und Däumchen drehen.«

»Ich will keine große Sache draus machen. Das ist es nicht wert.«

Sie sah mich an. Sie trug ein übergroßes Lilith-Fair-T-Shirt, unter dessen Saum männliche Boxershorts hervorlugten. »Wenn du so was sagst, Isabel, dann sagst du im Grunde genommen, dass du es nicht wert bist. Ist das dein Ernst?«

Ich seufzte und drehte mich auf die Seite. Es war fast zwei Uhr morgens. Ich fühlte mich weit weg von dem, was mir passiert war. Debras Wut erinnerte mich daran, wie ich mich hätte fühlen müssen, was ich aber nicht tat. Was stimmt nicht mit mir?, fragte ich mich. Warum reagiere ich auf Dinge nicht so wie andere Menschen, auf eine Art, die normal ist? Ich öffnete und schloss die Hand und beobachtete das Zusammenspiel von Sehnen und Knochen. War das wirklich meine Hand? Wenn ja, wie war sie mit dem Rest meines Körpers verbunden? Was war mein Körper überhaupt? Was machte ihn zu meinem Körper?

Debra redete weiter, ging im Zimmer auf und ab und schäumte vor Wut. Ich hätte gar nicht mit Zev schlafen wollen, sagte sie, und er hätte es gewusst, mich aber trotzdem gezwungen, oder? Ich hätte doch Nein gesagt, oder?, aber er hatte nicht zugehört, weil er nie zuhörte. Er hatte mich in sein Zimmer gelockt, um mich zu vergewaltigen, denn das war es doch, was er mit mir gemacht hatte, oder? Er hatte mich vergewaltigt, vergewaltigt, vergewaltigt. Ich schloss die Augen und fragte mich, wie es sich anfühlen würde, wenn ich Debras Worte übernahm, mich an ihnen festhielt und sie mir so zurechtbog, dass sie passten. Denn ich war wütend, auch wenn ich es nicht zeigte, auch wenn sie einen Abend beschrieb, den ich so nicht wiedererkannte. Und je länger ich ihr zuhörte, desto wütender wurde ich. Vor allem, wenn ich daran dachte, wie Zev mein Fleisch wie einen feuchten Klumpen Lehm geknetet, wie er mir die Zunge ins Ohr gesteckt und darin herumgewühlt hatte wie in einem alten Kleidersack.

Aber in Wirklichkeit lag es an Debra. Sie hatte diese Art, einem etwas einzureden, mir etwas einzureden.

Und so kam es, dass ich mich zum zweiten Mal an diesem Abend auf der Treppe zu Zev Nemans Zimmer wiederfand.

Mit einundzwanzig war Debra bereits eine erfahrene Vandalin. Als Redakteurin des Jahrbuchs ihrer Highschool hatte sie auf allen Seiten ihre Botschaften verbreitet – »Schweigen ist tödlich«, »Mein Körper gehört mir«, »Ich glaube Anita« –, ein Code des Widerstands, den man nur verstand, wenn man wusste, wo man suchen musste. Innerhalb weniger Wochen nach ihrer Ankunft auf dem Campus organisierte sie einen Take-Back-The-Night-Marsch, doch als die Reaktion darauf eher verhalten ausfiel, beschloss sie, sich nicht mehr für etwas einzusetzen, das von der Schule sanktioniert war. Deswegen liefen wir eines Winterabends durch den Campus und schmückten alle männlichen Statuen oder vielmehr, wie Debra betonte, alle Statuen überhaupt mit geschmacklosen BHs von Victoria’s Secret. Am nächsten Tag sahen wir zu, wie sie vom Sicherheitsdienst entfernt wurden, und krümmten uns vor Lachen, während die Sicherheitsleute unbeholfen an den Verschlüssen herumfummelten. Ein paar Monate später verteilte eine Gruppe von uns Aufkleber mit der Aufschrift »Womyn Are Everywhere« auf dem Campus. Wir bepflasterten alles damit – Wände, Laternenmasten, Getränkeautomaten, Türen der studentischen Verbindungen. Die Aktion war umstritten – einige Aufkleber, auch der, den wir auf den Wagen des Dekans klebten, ließen sich nicht entfernen, zumindest nicht so einfach. In der College-Zeitung gab es eine Reihe zugespitzter Kommentare von Kolumnisten, es war die Rede davon, Anzeige wegen Vandalismus zu erstatten, aber niemand konnte beweisen, dass wir es gewesen waren. Letztendlich weiß ich nicht, was die Leute mehr aufbrachte, der Vandalismus oder der BegriffWomyn.

Im zweiten Studienjahr klaute Debra einem Kerl, der im Verdacht stand, Mädchen auf Partys zu begrapschen, seinen Ausweis, und wir klebten Kopien davon an die Spiegel aller Toiletten auf dem Campus. Seine Eltern drohten mit einer Anzeige, machten aber einen Rückzieher, als sich ein Dutzend Mädchen meldeten und ihn beschuldigten. (Er schaffte trotzdem seinen Abschluss bei uns, wurde Mitglied im Rat ehemaliger Studenten und unterzeichnet Jahr für Jahr die munteren Spendenaufrufe für die Collegekasse.) Zu dieser Zeit fingen wir an, uns Crushgirls zu nennen. Ein Name, der offizieller – und bedrohlicher – klang als das, was wir waren: ein loser Zusammenschluss von Debra und mir und allen anderen, die wir an jenem Abend hatten auftreiben können. Die Crushgirl-Aktivitäten flauten ab, nachdem Debrabitch slap gegründet hatte, Wilders erste und einzige feministische Zeitschrift, aber sie sprach gelegentlich immer noch davon, sie wiederzubeleben und irgendwas »Großes« auf die Beine zu stellen. Ich hatte Debras Kampagnen immer unterstützt, weil sie Spaß machten und weil sie bereit war, alle Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Zu meiner Erleichterung – und Debras Leidwesen – hatte es bislang noch keine gegeben.

Daher war ich nicht überrascht, als wir vor Zevs Tür standen und sie eine Dose Farbspray aus ihrem Rucksack zog. Es war ein seltsames Gefühl, so schnell wieder hier zu sein. Ich lenkte mich ab, indem ich mich fragte, ob es ein Universum gab, in dem ich auf beiden Seiten von Zevs Tür stehen konnte, so wie Schrödingers Katze.

Debra schüttelte die Sprühdose, und das Geräusch in dem stillen Gang war ohrenbetäubend. Ich wusste nicht, wer noch alles da und wer schon in die Weihnachtsferien aufgebrochen war, deshalb sah ich mich nervös im Gang um und hoffte, dass die Türen geschlossen blieben.

»Kurz und schmerzlos, okay?« Debra nahm den Deckel ab, und ich sah zu, wie sie in großen roten Buchstaben VERGEWALTIGER auf Zevs Tür sprühte.

»Ach du Scheiße!«, sagte ich leise.

»Nicht schlecht, was?«

Nachdem sie die Buchstaben noch einmal nachgebessert hatte, wischte sie mit dem Hemdsärmel die Farbnasen ab, und wir standen da und schwelgten in der Herrlichkeit dessen, was wir getan hatten, was Debra getan hatte. Ich fühlte mich schwindlig und nervös, mein Magen spielte verrückt, was es mir unmöglich machte, meine Gefühle zu sortieren. Das Wort an Zevs Tür war schlimm und brutal, aber zumindest fühlte es sich für den Moment richtig an. Als ich daran dachte, was Debra für mich getan hatte, kamen mir die Tränen. Debra, mein Racheengel. Sie sah mich an und lächelte, und in diesem Augenblick war sie schöner als jemals zuvor.

Das Geräusch eines sich drehenden Türknaufs riss mich aus meiner Träumerei. Die Tür öffnete sich, Zev steckte den Kopf heraus und blinzelte ins Licht. Seine dicke Brille hing ein wenig schief auf der Nase, als hätte er sie gerade erst aufgesetzt.

»Ladies«, sagte er, und sein Blick huschte von Debra zu mir. Er sah rosa aus, als wäre er gerade erst geschlüpft. »Was geht hier ab? Isabel? Bist du das?«

»Gehen wir«, flüsterte ich. Aber Debra rührte sich nicht von der Stelle.

»Was ist denn?«, fragte Zev, immer noch lächelnd, nahm die Brille ab und trat in den Gang hinaus. Er rieb sich die Augen und zupfte am Saum seiner Boxershorts. Er hatte noch nicht gesehen, was wir geschrieben hatten, und ich wollte unbedingt weg, bevor er es entdeckte. Ich zerrte Debra am Ärmel, aber sie stand wie angewurzelt auf dem abgetretenen Teppichboden. Ich sah, wie Zevs Blick von uns zur Tür schweifte und ihm klar wurde, was wir getan hatten.

Eine gefühlte Ewigkeit lang war er still, und ich merkte, wie ich den Atem anhielt. Dann atmete ich langsam durch die Zähne ein und wünschte, ich könnte mich in Luft auflösen. Als würde das helfen, stellte ich mir vor, dass ich wie eine Seifenblase den Gang entlangschwebte und mich dann in Partikel von Dunst und Nebel auflöste.

Zevs Stimme holte mich zurück. »Was zum Teufel …?«, fragte er, lauter jetzt. Ich zerrte an Debras Arm. Sie ignorierte mich.

»Kannst du nicht lesen?«

Zevs Blick wanderte in gerader Linie von Debra zu mir. Jetzt war er ganz wach. Seine Verwirrung war wie weggeblasen, ebenso die Gewissheit, die ich in Bezug auf die Rechtmäßigkeit unserer Tat empfunden hatte. Sie wich einem tiefen Schamgefühl, das sich so vertraut und gewohnt anfühlte wie eine alte Jeans.

»Hast du ihr das erzählt?«, fragte er ungläubig. »Dass ich dich vergewaltigt habe?«

»Sie hat mir nur die Wahrheit erzählt, du Arsch«, sagte Debra.

Zevs Augen blitzten wild auf. Er wirkte verletzt und verwirrt, aber auch erschrocken. »Du weißt, dass das nicht stimmt, Isabel. Sag ihr das. Sag es.«

»Du hast nicht zu entscheiden, was stimmt«, sagte Debra. »Es ist ihr Körper. Sie weiß genau, was du getan hast.«

»Was soll das? Ist das eins deiner dämlichen Späßchen?« Er fuhr sich über den Nasenrücken. »Ich kann’s nicht glauben, dass du dich von ihr dermaßen benutzen lässt, Isabel. Ich hatte dich für klüger gehalten.« Und damit war jeglicher Anflug von Sympathie, den Zev je für mich empfunden haben mochte, Geschichte. Etwas geschah zwischen uns, wir tauschten einen Blick, der all die Jahre unserer Freundschaft zusammenfasste – denn genau das war es wohl gewesen –, und in einer Sekunde war alles wie weggeblasen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn verraten zu haben.

»Komm jetzt, Debra!« Ich zerrte so heftig an ihr, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Ich hörte noch, wie Zev etwas hinter uns her rief, aber da rannte ich schon so schnell die Treppe runter, dass ich auf den letzten Stufen stolperte und mir den Knöchel verstauchte. Hinter mir schlappten Debras Tennisschuhe über den Boden, und ihre Stimme hallte im Treppenhaus wider: »Du hörst noch von uns, du Wichser!«

Als wir wieder in unserem Zimmer waren, klappte ich auf der Couch zusammen. Mein Knöchel schmerzte. Das Blut pochte in meinen Ohren. Debra setzte sich neben mich und legte meinen Kopf auf ihren Schoß. Sie streichelte meine Stirn, massierte mir die Ohrläppchen, knetete die Muskeln rechts und links von meinem Hals. Es fühlte sich so gut an, dass ich am liebsten losgeheult hätte.

»Ach, Honey«, sagte sie mit einer so einschmeichelnden Stimme, dass ich sie kaum wiedererkannte. »Hat deine Mutter dich denn nie vor diesen israelischen Typen gewarnt?«

Jetzt flossen die Tränen, schnell und heiß, durchnässten den feinen Flaum am Haaransatz und sammelten sich in meiner Halsgrube. »Nein«, stieß ich hervor. Nichts davon hatte meine Mutter je erwähnt.

2

Am nächsten Tag fuhr ich für die Weihnachtsferien nach Hause.

Zurück zu Rosen’s Appetizing und der Lower East Side. Zurück zu meinem Vater, Abraham Rosen, den alle Abe nannten, sogar ich. Zurück in die Orchard Street, Essex Street, Rivington, Delancey, alles Straßen, in denen sich um die Jahrhundertwende jüdische Einwanderer mit ihrer Geschichte und ihrer Traurigkeit im Schlepptau niedergelassen hatten. Zev hatte recht: Die meisten waren verschwunden. Wir waren geblieben.

Kelsey kam auch aus New York, und manchmal gingen die Leute davon aus, dass wir uns von da kannten. In den ersten Tagen unserer Freundschaft fragte sie mich oft, ob ich diesen oder jenen Ort, diese oder jene Person kannte. Ich konnte nur verneinen. Sie hatte offensichtlich Mühe zu begreifen, dass es ein New York gab, das sie nicht kannte, doch selbst von ihrem luftigen Hochsitz in der Park Avenue aus konnte sie nicht bis zu den düsteren und verwinkelten Straßen hinunterschauen, in denen ich aufgewachsen war. Wir waren uns nie begegnet, bevor wir nach Wilder kamen – kein Wunder. Wir hätten genauso gut aus verschiedenen Ländern kommen können.

Die meiste Ferienzeit verbrachte ich im Laden. In den Ferien war immer viel los. Es spielte keine Rolle, dass Juden kein Weihnachten feiern, sie kamen trotzdem, um sich mit Heringen und geräuchertem Fisch einzudecken. Abe meinte, sie würden Vorräte anlegen, als bekämen sie nie wieder was zu essen. Dieses Jahr schien mehr los zu sein als sonst; das war gut. Das Viertel veränderte sich, die Junkies wichen den Künstlern. An der Ecke wurde ein Hochhaus gebaut. Es verdrängte die Obdachlosen, die das leere Grundstück als ihr Zuhause betrachtet hatten, seit ich denken konnte. So kamen außer unseren üblichen Kunden nun auch Hipster von Downtown, um eine Kleinigkeit zu kaufen, oder Touristen, die ein Bagel nicht von einem Bialy unterscheiden konnten.

Wenn ich nicht gerade an der Kasse saß, den Boden wischte oder Regale auffüllte, zerbrach ich mir den Kopf, was mich erwartete, wenn ich zum Campus zurückkehrte. Ich hätte gern mit Debra gesprochen, aber sie war bei ihren Großeltern in Boca und zu beschäftigt, um ans Telefon zu gehen. Als ich sie ausnahmsweise einmal erreichte, versicherte sie, dass alles gut werden würde. »Ich bitte dich, Isabel, er glaubt, er käme ungeschoren davon, obwohl er dich vergewaltigt hat. Meinst du, er geht hin und macht Theater wegen dem bisschen Farbe?« Ich hörte, wie sie Eiswürfel zwischen den Zähnen zermahlte. »Glaub mir, der macht sich mehr Sorgen als du.« Ihre Worte trösteten mich, aber nur vorübergehend. Ich fing an zu stricken, so wie immer, wenn ich nervös war. In den zwei Wochen, die ich zu Hause verbrachte, strickte ich einen Schal für Kelsey und ein Paar Fäustlinge für Debra.

Die wenigen Freunde von der Highschool, die ich noch hatte, verbrachten die Feiertage mit ihren Familien, deshalb überredete ich Abe, den Laden an Heiligabend früher als sonst zu schließen, und schleppte ihn in Titanic. Ich fand den Film wunderbar, im Gegensatz zu ihm: »Ich wusste, wie es ausgeht.« Den größten Teil des ersten Weihnachtstages verbrachte er am Küchentisch über einem Haufen Rechnungen, bis ich ihn überredete, mit mir chinesisch essen zu gehen. Am Silvesterabend marschierten wir Arm in Arm zum Briefkasten an der Ecke und schickten meine letzte Studiengebühr ab. In weniger als sechs Monaten würde ich das College abschließen. Abe hatte es irgendwie geschafft. Wilder hatte mir nicht so viel finanzielle Hilfe angeboten wie andere Colleges, aber Abe hatte mir versichert, dass er es hinkriegen würde. »So hatten wir es geplant, deine Mutter und ich, damit du später überallhin kannst«, sagte er bei der ersten Zahlung, und ich beschloss, ihm zu glauben. Später, als die Rechnungen eintrudelten, nicht nur für die Studiengebühren, sondern auch für Unterkunft und Verpflegung, Computer und Bücher, sagte er: »Das kriegen wir schon irgendwie hin.« Und schließlich, als alles noch unsicherer wurde und er mit der einen Hand nahm, was er mit der anderen gab: »Deine Ausbildung kann dir niemand mehr nehmen, nicht wahr?«

Auf dem Kalender ging 1997 in 1998 über, doch für mich fühlte sich alles gleich an. Prinzessin Diana war tot, Mutter Teresa auch. Bill Clinton war im Weißen Haus und tat, was immer Präsidenten an Silvester tun. Monica Lewinsky genoss die letzten Augenblicke ihrer Unbekanntheit: In weniger als drei Wochen würde der Drudge Report einen Artikel veröffentlichen, in dem der Präsident beschuldigt wurde, eine Affäre mit der zweiundzwanzigjährigen Praktikantin gehabt zu haben. An diesem Abend, nach Dick Clark, sah ich zu, wie Abe seinen Teebeutel um einen Löffel wickelte und ihn zur Seite legte, um ihn später erneut zu benutzen, und hörte mir an, wie er die vielen Möglichkeiten aufzählte, die mir nach dem Abschluss offenstünden. Arzt, Anwalt, Senatorin. Ich trank meinen Champagner und fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, was ich in Wilder tatsächlich tat, mit Jungs rummachen, Schuleigentum zerstören und mir Sorgen machen, dass niemand mich jemals lieben würde.

Am ersten Sonntag im Januar nahm ich den Bus zurück nach New Hampshire. Als wir auf den Campus einbogen, dachte ich daran zurück, wie sehr ich mich auf mein letztes Semester gefreut hatte. Ich wollte meine Abschlussarbeit einreichen, einen Job finden und Joanna Maxwells Literaturseminar belegen. Alles hatte sich so gut gefügt, bis zu dem Abend mit Zev und Debras blöder Aktion. Ich klammerte mich an ihr Versprechen, dass alles gut würde, und vergaß dabei, dass sie diejenige war, die mir den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte. Aber vielleicht war es ja doch wie immer ich selbst gewesen.

Als ich am Montag von einer Vorlesung zurückkehrte, wartete eine Nachricht auf mich; Kelsey hatte sie mit ihrer sauberen Handschrift aufs Whiteboard geschrieben.

»Ich hab dir gesagt, dass es so kommen würde«, erklärte ich Debra, als sie vom Fitnesscenter zurückkehrte.

Sie schob sich einen Müsliriegel in den Mund und sah sich die Nachricht an: Du sollst Dean Hansen anrufen.

»Ja, mich hat er auch bestellt.«

»Hat er? Wann denn? Warum hast du mir nichts gesagt?«

»Ich sag’s dir doch gerade.« Mit vier hastigen Bissen hatte sie den Riegel verputzt. »Denk mal nach, Isabel. Was hat Zev gegen uns in der Hand?«

»Er hat uns mit der Sprühdose gesehen. Du hattest sie in der Hand.«

»Das hat nichts zu bedeuten.« Debra zog ihren Hoodie aus und warf ihn auf ihren Schreibtisch neben ein Exemplar von Katie Roiphes jüngstem Buch, das sie für bitch slap besprach. »Erinner dich mal, warum wir überhaupt da waren. Weil er was getan hat, stimmt’s? Vermutlich will der Dekan darüber mit dir reden.«

»Davon geht’s mir auch nicht besser.« Ich ließ mich auf die Couch fallen. »Debra, ich weiß nicht mal mehr, was passiert ist. Vielleicht habe ich einfach überreagiert.«

»Hör auf«, fuhr sie mich an. »Du weißt genau, was er getan hat. Wir erzählen dem Dekan nur, was passiert ist, was wirklich passiert ist. Mal ehrlich, was kann er uns jetzt noch antun? In weniger als sechs Monaten sind wir hier weg. Zev ist derjenige, der sich Sorgen machen muss. Wenn das hier vorbei ist, wird es ihm leidtun, uns jemals begegnet zu sein.«

Ich nahm Roiphes Buch und blätterte darin, während Debra unter die Dusche ging. Die Prellung an meinem Hinterkopf war fast verheilt, aber wenn ich drauf herumdrückte, konnte ich den Schmerz noch immer zurückholen. Das tat ich jetzt, um mich daran zu erinnern, dass ich Haut hatte, Knochen, eine Grenze, die definierte, wo ich aufhörte und jemand anderes begann. Dann warf ich das Buch zur Seite und griff nach meinem Mantel. Ich wollte verschwinden, ehe Debra aus dem Badezimmer kam.

Im holzgetäfelten Lesesaal der Bibliothek war es ruhig, nur eine Handvoll Studenten bereitete sich auf das Semester vor. Der Nachmittagstee, den es jeden Tag um 16 Uhr gab, war gerade zu Ende gegangen; ein Hauch von Earl-Grey hing noch in dem warmen, gemütlichen Raum. Die Anwesenden blickten auf, als ich an ihnen vorbeiging, um herauszufinden, ob ich jemand war, mit dem sie ihre Zeit vergeuden konnten, als wäre das die eigentliche Aufgabe am College: Freunde, Liebhaber und Intrigen, alles andere störte nur. Die Telefonkabinen vor dem Lesesaal waren leer; im Laufe des Semesters würden sie fast immer von Kommilitonen besetzt sein, die zu Hause anriefen, um sich über eine Trennung oder eine schlechte Note auszuheulen. Ich kam an einer Mädchengruppe aus meinem Französischkurs vorbei. »Salut, Isabel«, rief eine von ihnen und sprach meinen Namen so aus wie unser Professor, mit einem scharfen zischenden S. In meinem langen grauen Mantel rauschte ich die Treppe hinauf wie eine russische Prinzessin. Die Heizkörper ächzten und blubberten gegen den Winter in New Hampshire an. Ich passierte die Schleuse und betrat das Magazin.

Hier liebte ich alles, den muffigen Geruch nach Leim und Papier ebenso wie die Tatsache, dass man nur nach Vorlage des Studentenausweises reindurfte, als wäre die Büchersammlung ein wichtiger Würdenträger, den es um jeden Preis zu schützen galt. Langsam schlängelte ich mich durch die Regalreihen und fuhr die Buchrücken mit den Fingern entlang, bis sie schwarz vom Staub waren. Hin und wieder blieb ich stehen, zog ein Buch heraus und las ein paar Seiten über den Zweiten Weltkrieg, Elektrotechnik oder Willa Cather. Bücher auf Chinesisch, Jiddisch, Russisch und Französisch. Bücher über klassische Musik und Film, über die Geschichte antiker und moderner Zivilisationen. Ich liebte das Nebeneinander großer und kleiner Themen, die Art und Weise, wie jeder Autor tief in sein oder ihr Thema eintauchte, wie obskur es auch sein mochte. Alles in allem fühlten sich die Bücher hier größer an als die Welt.

Ich schlenderte herum, bis mein Magen anfing zu knurren und mich daran erinnerte, dass ich noch nichts gegessen hatte. Ich könnte mich auf die Suche nach Kelsey und Jason machen, die mich gefragt hatten, ob ich mit ihnen essen wollte, aber ich blieb vor Andy Dubinskis Kabuff stehen. In der Bibliothek war kaum was los, aber ich wusste, dass ich ihn dort antreffen würde. Wie immer ließ er sich Zeit, um zur Tür zu kommen.

»Isabel?« Er sah aus, als hätte ich ihn aufgeweckt. Andys Hingabe an die Arbeit war Teil seines geheimnisvollen Nimbus, das und sein langes honigblondes Haar. Heute hatte er es hinten zu einem Zopf zusammengebunden, mit einem Gummiband aus den Bürobeständen, eins von denen, mit denen man sich die Haare ausriss. Andy war ein Artefakt, er gehörte einer Gattung an, der ich in der literarischen Welt, die letztendlich auch mein Zuhause wurde, immer wieder begegnen würde. Typen, die einem vorgaukeln, dass das, was sie machen, so schwierig ist, dass man lieber die Finger davon lässt.

»C’est moi«, sagte ich. »Darf ich reinkommen?«

“Oui, oui. Entrez, s’il vous plaît.”

Andys Kabuff war klein, nicht viel größer als eine Duschkabine. Schreibtisch an der Wand, ein winziges Fenster und ein langes Heizungsrohr, das vom Boden bis zur Decke verlief. Andys Computer war ausgeschaltet; er benutzte ihn selten und schrieb seine Gedichte lieber auf Karteikarten, mit Bleistiften, die nicht länger waren als sein Daumen. An der Pinnwand über seinem Schreibtisch hingen Zettel, einige mit nur einem Wort: Granatapfel, Abgrund, Mahnung