Mein Mann, der Rentner, und dieses Internet - Rosa Schmidt - E-Book
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Mein Mann, der Rentner, und dieses Internet E-Book

Rosa Schmidt

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Beschreibung

Der Ruhestand könnte so friedlich verlaufen für das Ehepaar Schmidt, würden sie von ihrer Tochter Julia nicht einen dieser neuen flachen Computer geschenkt bekommen. Während Rosa dem »Tablett« zunächst skeptisch gegenübersteht, ist ihr Günther sofort Feuer und Flamme. Der umtriebige Rentner erobert das Netz – und ehe Rosa sichs versieht, vertraut er Dr. Google mehr als seiner Ehefrau und schmeißt eine Party, die dank Facebook völlig aus dem Ruder läuft. Nun packt Rosa aus. In ihrem Tagebuch erzählt sie vom Leben mit einem Rentner, der zu viel Zeit hat – und jetzt auch noch WLAN!

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Seitenzahl: 350

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ROSA SCHMIDT gibt es wirklich, auch wenn sie in Wirklichkeit anders heißt. Sie ist seit 42 Jahren mit Günther Schmidt verheiratet und lebt in einer Kleinstadt.

Aufgezeichnet wurde das Tagebuch von Anne Hansen. Die Journalistin und Schriftstellerin absolvierte die Kölner Journalistenschule und studierte Politik und VWL in Köln und Potsdam. Heute lebt sie in Berlin und schreibt unter anderem für stern, DIE ZEIT, Brigitte Woman und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Sie hat bereits mehrere Romane veröffentlicht und landete 2014 mit dem Buch Mein Mann, der Rentner einen Spiegel-Bestseller.

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Copyright © 2018 Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Covermotive: Illustration: Peter Bartels

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22659-6 V002

www.penguin-verlag.de

Januar Ommmmmmmmm

Sonntag, 1. Januar

Himmel, bin ich gerädert. Dabei wurde es gestern doch gar nicht so spät. Wir können auch nichts mehr ab. Wie spät ist es? 15 Uhr? Ach so, das geht ja, ich mach die Augen noch mal zu. Hach, tut das gut.

Eine Sekunde später

15 Uhr???

Montag, 2. Januar

Der Morgen nach dem Morgen danach. Das neue Jahr beginnt so schleppend, wie das alte aufgehört hat. Das Problem ist: Bis Oktober waren Günther und ich im permanenten Freizeitstress. Nachdem er vor zwei Jahren in Rente gegangen ist, haben wir die ersten zwölf Monate noch etwas mit dem neuen Status gefremdelt. Nun, das ist vielleicht etwas untertrieben. (Es war zugegebenermaßen ein Schock für uns alle.) Danach aber war der Knoten geplatzt, und wir verfielen in einen gewissen Aktionismus. Kochkurs »Mediterrane Küche« an der VHS, Discofox-Kurs, Golf-Schnupperkurs, Wochenende in Paris. Kurz: Wir waren eines dieser Rentnerpärchen, die auf dem Fahrrad den Nachbarn »Immer auf Achse« zuriefen und die sogar – jaja, ich geb’s zu – Postkarten mit dem Aufdruck »Viele Grüße aus dem Un-Ruhestand« verschickt haben.

Schon im Oktober aber trudelte unser Programm langsam aus.

Im November kam es endgültig zum Erliegen.

Inzwischen habe ich den dummen Verdacht, dass wir unsere Vorhaben hätten einteilen müssen. Ich meine, ich ärgere mich doch auch immer, wenn wir die Crossies während des Tatorts schon aufgegessen haben, bevor das erste Verhör stattfindet. Strecken ist das Stichwort! Bis wir achtzig werden, hätten wir schön im Zweijahrestakt irgendeinen Kurs belegen können. Aber nein, wir mussten ja alles in ein einziges Jahr quetschen.

Als ich zwischen den Jahren Ute (meine beste Freundin) getroffen habe und ihr von Günther erzählte, der mal wieder mit dem Sudoku-Block auf dem Sofa saß und Herrenschokolade futterte, seufzte sie wissend und sagte mit getragener Stimme: »Im ersten Jahr im Ruhestand findet man sich, im zweiten wird man aktiv, und im dritten kommt das große Loch.«

»Ist das ein chinesisches Sprichwort?«, fragte ich.

»Nein, das ist von mir«, sagte Ute. »Erfahrung, meine Liebe. Erfahrung.«

Irgendwann, meinte Ute, leben alle Rentner von Feiertag zu Feiertag. Oder von Renovierung zu Renovierung. »Großer Gott, du müsstest das Haus der Schröders sehen. Wie bei Schöner Wohnen! Aber die sind auch schon acht Jahre in Rente!«

Vielleicht sind die Feiertage für Günther und mich schon einmal ein Anfang. Irgendwas wird kommen. Ist nicht schon bald Ostern? Günther könnte sich doch schon mal in die Vorbereitung stürzen und zum Beispiel diese niedlichen Holzhasen basteln, die sie mal im ARD-Buffet gezeigt haben. Könnte er nicht die ganzen Vorgärten in der Nachbarschaft damit bestücken? Sehe schon vor mir, wie Günther in wochenlanger Heimarbeit Holzhasen aussägt.

18 Uhr

Habe nachgeschaut. Ostern ist dieses Jahr spät. Mitte April. War das nicht manchmal wenigstens schon im März???

Montag, 9. Januar

Das Wetter zermürbt mich. Seit einer Woche haben wir Schneematsch. Und grauen Himmel. Durchgängig. Ich mache mir schon ernsthaft Sorgen um meinen Vitamin-D-Spiegel. Außerdem macht mich Günther in dieser Wetterlage wahnsinnig. Ich meine, einen Sommerrentner lasse ich mir gefallen – gibt es dieses Wort? Nun, es ist klar, was ich meine. Im Sommer gibt es so viel für Günther zu tun (Garten! Vorgarten! Auto putzen! Fahrradtouren!), dass es gar nicht weiter auffällt, dass er keine Fünfzigstundenwoche mehr hat. Aber ein Winterrentner? Das ist die wahre Prüfung! Alles findet drinnen statt. Genauer: in unserem Wohnzimmer. In unserer Küche. Oder in Günthers Arbeitszimmer.

Deswegen beneide ich Leute, die in den Bergen wohnen. Hach, ich stelle mir das herrlich vor. Morgens packen die Rentnermänner dort zeitig ihre Skisachen zusammen, verabreden sich mit anderen Rentnermännern am Sessellift, verbringen den Tag gemeinsam auf der Piste, trinken dann noch ein Bierchen auf einer Hütte und kommen spätabends mit roten Wangen wieder nach Hause. Aber uns im Flachland? Uns bleibt doch nichts.

Habe den ganzen Vormittag ernsthaft darüber nachgedacht, ob wir uns in den Bergen nicht eine neue Existenz aufbauen sollten. Zugegeben, ich kann mir Günther nicht ganz in einer Lederhose vorstellen, aber warum nicht noch einmal ganz neu anfangen?

Musste bei dem Gedanken dann aber doch schlucken und an meine Treffen mit Ute denken. An Tante Lotti (die Schwester meines Vaters), die im Heim lebt und die ich fast jeden Tag besuche. An unseren wunderschönen Garten. An die Geburtstagskaffeerunden mit den Frauen aus der Nachbarschaft. Und selbst die soziale Kontrolle (unsere Nachbarin Doris kann genau in unser Schlafzimmerfenster sehen und beobachtet jeden Tag akribisch, wann wir aufstehen) würde mir fehlen.

Ich hatte mich so in die Vorstellung, das alles hinter mir lassen zu müssen, hineingesteigert, dass mir doch tatsächlich die Tränen in die Augen stiegen. Plötzlich kam Günther ins Wohnzimmer.

»Was hast du?«, fragte er besorgt, als er mich traurig ins Leere starren sah.

»Ach, nichts«, schniefte ich. »Ich dachte nur, wir müssten umziehen.«

Ratloses Schweigen. (Ich weiß seit über vierzig Jahren, dass ein Ingenieur nicht viel spricht, aber irgendwie irritiert es mich immer noch.)

»Und nun?«, fragte er schließlich ein wenig unbeholfen.

»Und nun!«, rief ich. »Genau das frage ich mich auch!«

Zwei Stunden später

Günther steht im Wohnzimmer und bügelt – ich traue meinen Augen nicht – Bettwäsche.

»Die muss doch nicht gebügelt werden«, stoße ich in einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit hervor.

Günther bügelt stoisch weiter und sagt trotzig: »Ich bügele doch nur eine Seite!«

Abends

Eine Stunde mit Julia telefoniert.

»Papa bügelt Bettwäsche.«

Julia lachte, was ich überhaupt nicht witzig fand.

»Papa verfällt wieder in alte Muster«, jammerte ich weiter. Julia lachte wieder. Sie hat einen komischen Humor.

»Mama, seid ihr nicht über den Punkt hinweg? Genieß doch die Ruhe jetzt mal. Ich hör dich schon wieder schimpfen, dass ihr permanent im Freizeitstress seid.«

»Schön wär’s«, murrte ich. »Ich meine, wir haben ja alles schon durch. Was kommt denn jetzt?«

»Irgendwas wird kommen«, seufzte Julia besonnen und klang wie eine Therapeutin, die beruhigend auf eine Depressive einredet.

Haben dann noch lange über ihre neue Arbeit gesprochen. Seit sie nicht mehr in der Buchhandlung arbeitet, sondern in diesem Start-up (keine Ahnung, was sie da genau macht, ich habe es bis heute nicht verstanden), ist sie permanent überlastet. Sogar abends haben die oft noch Sitzungen, das wird dann als »Wir-verstehen-uns-so-gut-dass-Freizeit-und-Arbeit-ineinander-übergehen« verkauft. Nach der anfänglichen Euphorie ist Julia dort inzwischen ziemlich unglücklich (was sie natürlich nie zugeben würde). Aber als sie über Weihnachten zu Hause war, hat sie jeden Tag fast elf Stunden geschlafen. Und war trotzdem noch k.o. Die Situation mit ihrem Freund Richard macht es nicht besser. Er hat ihr schon vor anderthalb Jahren einen Heiratsantrag gemacht. Aber raten Sie mal. Richtig! Bis heute haben sie nicht geheiratet. Der Termin wurde immer wieder verschoben, weil Richard angeblich beruflich so eingespannt ist. Julia tut so, als sei es kein Problem. Aber ich weiß, dass sie eigentlich zutiefst enttäuscht ist. Um sie ein wenig aufzuheitern, mache ich aber gute Miene zum bösen Spiel und sage so abstruse Dinge wie »Es läuft euch ja nicht weg« oder »Wenn man gehetzt heiratet, hat man nicht viel davon«. Von wegen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich meine, wenn Richard sie wirklich heiraten möchte, hätte sich doch schon längst ein Termin finden lassen. Aber was lehrt uns die Erfahrung? Man darf Männer nicht unter Druck setzen. Als ich Günther in den Tennisverein quatschen wollte, nachdem er in Rente gegangen war, schaltete er komplett auf stur und lag danach tagelang nur auf dem Sofa.

Also: Ommmmmmmmm.

Eine Hochzeit wird kommen.

Und eine Beschäftigung für Günther.

Samstag, 14. Januar

Hurra, geht doch! Günther hat ein neues Projekt. Er hat heute feierlich beschlossen, dass unsere Zettelwirtschaft aufhören soll (was ich grundsätzlich begrüße!). Beim Büro Kerber hat er gleich nach dem Frühstück ein DIN A3 großes Haushaltsbuch gekauft. So weit, so gut. Doch nun kommt’s. In das Buch soll alles (!) rein. Also nicht nur unsere Ausgaben und Belege, sondern alle Termine, die wir so haben (Arzttermine, aber auch private Treffen!), und sogar, wen wir angerufen (!) haben.

»Ich fasse mal zusammen«, sage ich, als Günther mir seine Vision für unsere neue Ordnung offenbart. »Wir sollen also über uns selbst eine Stasi-Akte anlegen.«

»Rosa, übertreib doch nicht immer so. Es ist einfach sträflich, dass wir so etwas noch nicht gemacht haben. Wir haben ja überhaupt keinen Überblick über unser Leben.«

Außerdem hat er in einem Prospekt von Netto gesehen, dass es da zwischen sieben und neun Uhr einen Frühaufsteher-Rabatt gibt. Jeder Angebotszettel von den Supermärkten soll fortan aufbewahrt und im Heft abgelegt werden. Zitat Günther: »Achte bitte immer darauf, ob unsere Filiale an der Aktion auch teilnimmt. Du findest eine Auflistung meist auf den Rückseiten. Sonst wäre ja alles umsonst.«

Bis zum jeweiligen fünften Tag des darauffolgenden Monats will Günther dann alle Ausgaben auswerten. Er wird mir dann »eine Analyse präsentieren«. Stelle mir vor, wie er mir eine Excel-Tabelle vorlegt und mit strenger Stimme sagt: »Du hast am Dienstag, den 23. Januar, um 14.02 Uhr bei Aldi einen Original französischen Weichkäse neun Scheiben für 1,19 Euro gekauft. Am Mittwoch, den 24. Januar, warst du um 17.32 Uhr wieder dort und hast drei Milchtüten gekauft. Frage: Hättest du beide Einkäufe nicht zusammenführen können? Anders gefragt: Gab es einen zwingenden Grund, warum der Weichkäse noch am Dienstagabend gegessen werden musste? Und hätte es ein vergleichbares Produkt nicht auch bei Netto gegeben? Wenn du dann zwischen sieben und neun Uhr dort gewesen wärst, hätten wir zehn Prozent Frühaufsteher-Rabatt einstreichen können. Vorausgesetzt, der Grundpreis ist in beiden Läden identisch. Das müsste man beizeiten mal recherchieren.«

Ogottogottogottogott.

Abends

Sitze am Wohnzimmertisch und klebe doch tatsächlich die Belege von heute in das Haushaltsbuch. Wenn wir irgendwann gefragt werden, wie wir unseren Lebensabend verbracht haben, werde ich wohl antworten müssen: »Nun, wir haben Kassenbons sortiert.«

Günther liest währenddessen zufrieden in der Zeitung. Zwischendurch sagt er Dinge wie: »Denk bitte dran, die Bons bündig einzukleben.« Was soll’s. Eine verzweifelte Ehefrau macht auch alles mit.

Plötzlich ruft Günther: »Warum!«

»Warum was?«

»Das wäre doch mal eine schöne neue Rubrik für die Zeitung. Man könnte sich jedes Mal einen Politiker vornehmen. Warum verdient er so viel? Warum ist der noch im Amt? Solche Fragen eben. Man könnte das als wöchentliche Rubrik aufziehen. Warum – kurz und knapp, das merken sich die Leser.« Er macht eine Pause und hält ergriffen inne. »Man müsste sich das Wort schützen lassen.«

»Du hast recht«, antworte ich. Ich hebe das Haushaltsbuch wie ein Protestplakat in die Luft und rufe: »WARUM?«

Freitag, 20. Januar

Wieder lange mit Julia telefoniert. Günther hat heute Morgen zwei gewaschene Handtücher über die Heizung im Wohnzimmer gehängt. Eins vertikal, eins horizontal. Er wollte ausprobieren, »ob die Hängung Auswirkungen auf die Schnelligkeit der Trocknung hat«.

Julia meinte, ich solle mich da nicht hineinsteigern. Im Januar habe doch jeder Probleme, ins neue Jahr durchzustarten. Außerdem machte sie kryptische Andeutungen, dass sie irgendwas in die Post gegeben habe. Was das mit uns zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht.

»Ich drehe wirklich noch durch«, sagte ich. »Gestern habe ich schon überlegt, bei Aldi jedes Teil einzeln zu bezahlen, damit Papa abends mehr Bons zu sortieren hat.« Ich musste schlucken. »Das bin doch gar nicht ich!«

Nachmittags war ich noch kurz in der Stadt Handschuhe kaufen. Meine Finger sind in den letzten Tagen mehrmals richtig eingefroren, als ich draußen war. Fühlte mich wie eine Hundertjährige, deren Arthrose austherapiert ist. Als ich neulich beim Bäcker bezahlen wollte, waren die Finger so steif, dass ich an Edward mit den Scherenhänden denken musste, während ich in meinem Portemonnaie nach den Münzen kramte und keine so richtig zu packen bekam. Also bin ich heute zu Sport-Meyer am Markt gegangen. Ich muss einen ziemlich verfrorenen Eindruck gemacht haben, denn als ich das Wort »Handschuhe« sagte, strahlte der Verkäufer mich an und rief: »Ich habe genau das Richtige für Sie!« Er lief durch den ganzen Laden, ich taperte steif hinter ihm her. Dann hielt er plötzlich vor einem Regal an und zog ein Paar Handschuhe heraus. »Darf ich vorstellen«, sagte er feierlich, »der erste Handschuh mit regulierbarer Heizung. Zwei Heizelemente sind in das Futter integriert, Heizstufenanzeige inklusive. Die Akkus können Sie austauschen. Und das Beste: Die Handschuhe sind gerade im Angebot. Statt 299,95 Euro zahlen Sie nur 269,95 Euro.« Er sah mich erwartungsvoll an. Ich muss nicht nur ziemlich verfroren, sondern auch noch ziemlich reich gewirkt haben. Immerhin. Verließ dankend den Laden und kramte zu Hause noch alte Wildleder-Fäustlinge von Tante Lotti aus einer Schublade, bei denen am Daumen die Nähte gerissen sind.

Den Abend mit Stopfen und danach Kassenbons-Einkleben verbracht. Willkommen im Rentnerdasein.

Februar Familienzuwachs

Mittwoch, 1. Februar

»Hallo ihr zwei, hier kommt euer neues Leben ;) Viel Spaß damit!«

Die Karte von Julia liegt zusammengefaltet in einem hübsch eingepackten Karton, der heute mit der Post gekommen ist. Als Günther und ich in den ersten Monaten seines Ruhestandes in einer Art Schockstarre waren, war Julia fest der Meinung, dass die Anschaffung eines Hundes die Lösung all unserer Probleme wäre. Günther hätte was zu tun (Gassi gehen, Fellpflege, Hundeschule, was da alles zusammenkommt!), und ich hätte mein altes Leben zurück. Mit einem Mann an meiner Seite, der beschäftigt ist.

Schaue auf den Karton und kann mir nicht vorstellen, dass sie da irgendwie einen kleinen wuscheligen Terrier verpackt hat. Aber was versteht sie sonst unter »neuem Leben«? Gespannt öffne ich den Karton, in dem ich unter einer dicken Folie (so eine, bei der man diese kleinen Luftpolsterchen platzen lassen kann) einen kleinen Computer entdecke. Julia hatte so ein Gerät zu Weihnachten mit nach Hause gebracht und uns damit in den Wahnsinn getrieben. Ständig hatte sie das Ding auf dem Schoß (sogar beim Fernsehen!), um was auch immer damit zu tun. (Ich habe den Sinn dieser Dauerberieselung bis heute nicht verstanden.)

Rufe bei Julia an, warum es nicht doch ein Hund getan hätte.

Zwei Stunden später

Wenn es nach Julia geht, sind Günther und ich diejenigen, die das Ding in Zukunft auf dem Schoß haben. »Überleg doch mal, was ihr damit alles machen könnt. Ihr könnt mir E-Mails schreiben, Papa kann alle möglichen technischen Dinge recherchieren, und du …«, sie stockte, »kannst dir neue Rezepte raussuchen.«

Klar, für die Mutter bleiben Rezepte! Was für eine Rollenverteilung haben wir unserem Kind bloß vermittelt?!

Der Computer heißt übrigens »Tablet«, wie Julia mir erklärte, englisch ausgesprochen.

»Ich weiß, dass das ein Tablett ist«, sagte ich.

»Tablet«, korrigierte mich Julia und lachte.

Sie selbst habe von der neuen Firma ein anderes Modell bekommen und dachte, dass es doch eine »super Idee« sei, wenn ihre Eltern »noch einmal dieses Ding namens Internet« entdecken würden, wie sie lachend erzählte.

Ich finde es ja wirklich nett von Julia, dass sie es uns schenkt, aber ich befürchte, dass wir es nicht oft benutzen werden. Ich meine, wir sind nun immerhin schon 65 Jahre ohne dieses Internet ausgekommen.

»Außerdem haben wir ja einen Computer«, sagte ich.

»Mama, du meinst nicht diese Möhre in Papas Arbeitszimmer, oder?«

Noch aus Julias Schulzeiten haben wir einen Computer, an dem sie damals nach der Schule manchmal irgendwelche Spiele gespielt hat. Zugegeben, er ist schon ein wenig in die Jahre gekommen. Wie lange ist Julias Abi her? Gott bewahre, hat sie nicht bald zwanzigjähriges Jubiläum? Aber ich bin mir sicher, dass der Computer noch funktionstüchtig ist. Aber ob der Internet kann?

»Danke«, sagte ich. »Du musst uns aber wirklich nicht so teure Sachen schenken! Das ist doch viel zu viel. Und beschwer dich bitte nicht, wenn der bei uns einstaubt. Du weißt doch, Papa und ich haben es nicht mit so was.«

20 Uhr

Günther sitzt mit dem Tablett am Esstisch und schreibt auf einem großen Zettel fein säuberlich Teile der Bedienungsanleitung ab.

»Bildschirme synchronisieren und Videoausgabe: Unterstützung für bis zu 1080p, anzeigbare Dokumenttypen: .jpg, .tiff und .gif.«

»Sagen dir diese Dinge denn etwas?«, frage ich entgeistert. Ich weiß, dass Günther in der Firma nicht viel mit dem Computer zu tun hatte.

»Noch nicht«, sagt er und betont das »noch«. Sehe, wie er enthusiastisch »Multi-Touch Widescreendisplay mit LED-Hintergrund-Beleuchtung und IPS-Technologie (24,63 cm Diagonale)« notiert und dahinter – warum auch immer – ein großes Ausrufezeichen setzt.

Freitag, 3. Februar

War heute den ganzen Nachmittag bei Tante Lotti im Heim. Eigentlich wollte ich nur kurz auf dem Rückweg aus der Stadt bei ihr vorbeischauen, aber als ich ihr Zimmer betrat und sie mit Wilhelm Reinke Sekt trinkend in der Polsterecke sitzen sah, wusste ich: Da ist was im Busch.

Wilhelm Reinke ist nämlich mit seinen stolzen einundneunzig Jahren immer noch der Charmeur im Heim, und seit zwei Jahren haben er und Tante Lotti eine On-off-Beziehung, wie Julia immer sagt. Sitzen sie den einen Tag Händchen haltend im Wintergarten, spricht Tante Lotti am nächsten Tag kein Wort mehr mit ihm, weil er Frau Bruhns gesagt hat, was für einen schönen Rollator sie doch habe. So geht das nun schon seit zwei Jahren.

(Man kann den tagesindividuellen Zuneigungsstatus übrigens immer daran erkennen, ob Tante Lotti von »Wilhelm« oder von »Wilhelm Reinke« spricht. So wie ich die beiden jetzt sah, waren wir heute eindeutig bei »Wilhelm«. Oder schon »Willi«???)

»Rosa«, raunte Wilhelm Reinke und erhob sich. »Die Sonne geht auf, wenn du kommst.«

Sah, wie Tante Lotti die Augen verdrehte.

»Wilhelm«, seufzte sie und zog ihn am Jackett wieder runter zu sich aufs Sofa.

»Na, ihr habt es euch aber gemütlich gemacht«, sagte ich und lachte. »Gibt es was zu feiern?« Das war eigentlich eine rhetorische Frage, aber zu meiner Überraschung erhob sich Wilhelm Reinke erneut und machte – um Himmels willen, was kam jetzt??? – einen Diener.

»In der Tat. Lotti und ich …« Er räusperte sich. »Liebling, möchtest du?« Er wandte sich an Tante Lotti, die beim Wort »Liebling« rot wie ein Teenager wurde.

»Nun …«, setzte sie an. »Wir wollten es dir und Günther eigentlich am Wochenende in Ruhe sagen. Aber da du nun schon einmal hier bist.« Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Sektglas und stieß schließlich ohne Punkt und Komma hervor: »Wilhelm-hat-mir-einen-Antrag-gemacht-und-ich-möchte-annehmen-aber-Manfred-ist-dagegen-weil-er-meint-dass-ihr-ihm-das-Erbe-wegnehmen-wollt.«

Ich kam überhaupt nicht mehr mit. Wer war Manfred? Welches Erbe? Und überhaupt: Antrag???

Ich musste mich setzen.

Nach und nach rückten Wilhelm Reinke und Tante Lotti mit der Sprache raus.

Wilhelm Reinke hatte ihr an Silvester auf Knien – »Und das mit seiner Prothese, Rosa!« – einen Heiratsantrag gemacht. Nachdem er – immer noch auf Knien! – das Liebesgedicht Meiner Liebe Flammen von Heinrich Heine rezitiert hatte, hielt er um ihre Hand an, und Tante Lotti fing an zu weinen. Schluchzend habe sie irgendwann »Ja« hervorgebracht, woraufhin Wilhelm Reinke endlich wieder aufstehen durfte. Die beiden hatten sich vorgenommen, bis zum Wochenende dichtzuhalten und uns und Manfred, Wilhelm Reinkes Sohn, wie ich jetzt erfuhr, in einer feierlichen Zeremonie von ihren Plänen zu berichten.

Dummerweise war Manfred gestern auf einen spontanen Besuch vorbeigekommen, und so hatten sie ihm von der bevorstehenden Hochzeit erzählt. Manfred war daraufhin »komplett ausgetickt«, wie Tante Lotti erzählte – woher hat sie diesen Ausdruck??? –, und hatte sich überhaupt nicht »zugetan gezeigt«, wie Wilhelm Reinke es nannte. »Das ist noch sehr positiv ausgedrückt, Rosa. Du weißt, wie sorgsam ich meine Worte wähle.« Manfred habe nicht nur gefragt, warum zwei Um-die-Neunzig-Jährige noch heiraten müssen, sondern auch gleich an die erbrechtlichen Konsequenzen gedacht.

»Ich meine«, sagte Tante Lotti und sah mich unglücklich an, »du willst ihm doch nicht das Haus im Schwarzwald wegnehmen, oder?«

»Mein Gott, nein!«, rief ich und holte den Nusslikör aus Tante Lottis Vitrine.

Jetzt brauchte ich Alkohol.

Als ich nach Hause kam, saß Günther mit konzentrierter Miene vor dem Tablett. »Tante Lotti und Wilhelm Reinke wollen heiraten«, stieß ich außer Atem hervor.

»Ha!«, rief Günther und starrte weiter auf den Bildschirm. »Kennwort angenommen. Rosa, wir haben eine E-Mail-Adresse.« Er klatschte sich auf die Schenkel. »Was hast du gesagt?«

Sonntag, 5. Februar

Musste Julia schonend beibringen, dass meine 86-jährige Tante vor ihr heiratet. Sie hat es mit Humor genommen. »Richard und ich können ja Blumenkinder werden«, lachte sie. »Nein, wirklich, ist doch süß, dass Tante Lotti noch mal heiratet. Ich finde das toll!«

Ich finde es mittlerweile auch wunderbar, dass die beiden in ihrem Alter diesen Schritt noch gehen wollen. Bin ja schon wahnsinnig auf MM gespannt – so hat Julia den Sohn von Wilhelm Reinke genannt: Miesmacher Manfred. Nächstes Wochenende soll die große Familienzusammenführung stattfinden, und ich hoffe doch sehr, dass er sich wieder beruhigt hat und sich in der Zwischenzeit auch über die Hochzeit freut. Während des Abendbrots haben Günther und ich überlegt, in welchem familiären Verhältnis MM dann zu uns steht. Günther und ich waren noch nie gut in so etwas, aber dieses Mal mussten wir bei der einen oder anderen Folgerung gehörig durcheinandergekommen sein. Denn plötzlich sagte Günther: »Das würde ja bedeuten, dass Manfred unser Sohn ist.«

Freitag, 10. Februar

Aufregung war völlig umsonst. MM hat das Treffen abgesagt. Er musste kurzfristig beruflich ins Ausland und ist erst in zwei Wochen wieder im Lande. Wie sich herausgestellt hat, ist Manfred zwar schon 68 Jahre alt (und damit Rentner!), aber er arbeitet ehrenamtlich bei einem sogenannten Senioren-Experten-Service, wie Wilhelm Reinke uns erzählt hat. Projektweise geht Manfred für ein paar Wochen im Jahr ins Ausland, um den Menschen vor Ort das Brunnenbauen zu erklären (Kurzfassung). Letztes Jahr war er sogar einen Monat in Tansania. »Seitdem er im Ruhestand ist, ist er ein richtiger Handlungsreisender. Er ist quasi permanent beschäftigt«, erzählte Wilhelm Reinke. »Wobei ich natürlich hoffe, dass er nicht wie William Loman endet.« Muss fragend aus der Wäsche geschaut haben, denn Wilhelm Reinke fügte gnädigerweise hinzu: »Tod eines Handlungsreisenden, Arthur Miller. Starkes Drama. Wobei ich die Schlöndorff-Inszenierung für überschätzt halte.«

Wenn ich die Worte »Ruhestand« und »beschäftigt« höre, zucke ich immer noch kurz zusammen. Aber es gibt Hoffnung. Günther steht seit ein paar Tagen mit dem Tablett im Garten und verfolgt auf irgendeiner Seite, welche Flugzeuge gerade über uns hinwegfliegen. Was weiß ich, wie das geht. Aber er gibt unsere Adresse ein, sieht dann in den Himmel und sagt Sachen wie: »Da, eine Boeing 777-3DZ, Qatar Airways von Doha nach Amsterdam, 577 kts Ground Speed, heiliger Bimbam.«

Er kann das Stunden tun.

Tage.

Jahre?

Ich glaube, jetzt wird alles gut.

Sonntag, 12. Februar

9 Uhr

Grauenhaften Traum gehabt. Gorbatschow saß bei uns in der Gartenlaube und wollte mit mir über Vor- und Nachteile von Drohnen sprechen. Bin vollkommen gerädert. Je älter ich werde, desto wirrer werden die Träume.

Als ich schlaftrunken in die Küche komme, sitzt Günther mit dem Tablett am Tisch. »Morgen. Gut, dass du endlich wach bist: Was meinst du? Soll ich Skype installieren?«

»Skype?« Wovon redet der Mann?

Günther lacht. »Ha! Das war eine Falle. Skype ist natürlich schon installiert. Ich wollte nur dein Gesicht sehen. Meine Güte, Rosa«, er stockt. »Du hast wirklich Nachholbedarf. Willst du nicht mal einen Computerkurs besuchen? Eine Partnerschaft sollte schon auf Augenhöhe sein.«

Zwei Fragen und eine Erkenntnis:

Seit wann redet Günther morgens so viel?Seit wann redet Günther von »einer Partnerschaft auf Augenhöhe«? (Hat er heimlich meine Brigitte gelesen?)Ich brauche jetzt Kaffee!

Abends

Skype, klärte mich Günther in einem Oberlehrerton auf, ist übrigens ein Computerprogramm, mit dem wir mit Julia sprechen und sie dabei sehen können.

»Sie kommt bestimmt bald zu Besuch«, entgegnete ich. »Da können wir auch mit ihr sprechen und sie dabei sehen.« (Messerscharfe Logik, oder?!)

Dienstag, 14. Februar

Julia rief weinend an. »Richard und ich können keine Blumenkinder bei Tante Lotti sein. Er will eine Auszeit.« Sie kommt übers Wochenende spontan zu uns. Will wirklich nicht altklug klingen, aber habe ich nicht gesagt, dass wir dieses Skype nicht brauchen?!

Mittwoch, 15. Februar

11 Uhr

Es ist doch immer wieder seltsam, wie unterschiedlich Männer und Frauen ticken. Während ich die ganze Zeit an Julia denken muss und schon ernsthaft überlegt habe, unser Gästezimmer wieder in ihr Kinderzimmer zu verwandeln, damit sie wieder bei uns einziehen kann (blöder Richard, wie kann er ihr das nur antun?!), ist Günther anscheinend von einem anderen Gedanken besessen: »Rosa soll eine E-Mail schreiben.«

Gerade fing er mich fast schon heimtückisch in der Küche ab. »Gut, dass du da bist«, rief er. »Jetzt bist du dran«, sagte er feierlich und zeigte auf das Tablett vor ihm. »Der große Moment ist gekommen: Du schreibst eine E-Mail!« Er trommelte mit seinen Zeigefingern auf den Tisch, als würde er einen Tusch imitieren.

»Günther, ich hab wirklich gerade keinen Kopf dafür. Ich will gleich in die Stadt, außerdem muss ich noch …«

»Rosa, keine Ausreden! Wenn man etwas wirklich möchte, nimmt man sich die Zeit. Und genau da liegt nämlich auch dein Problem: Du willst es gar nicht.«

»Es geht nicht ums Wollen, ich sehe den Sinn einfach nicht. Wem sollte ich überhaupt eine E-Mail schreiben? Da fängt es doch schon an!«

»Na …«, überlegte er, »Ute zum Beispiel.«

»Ute? Die hat doch keine E-Mail-Adresse.« Ich stieß einen Pff-Laut aus à la »deine Annahme ist wirklich abstrus«.

Günther stieß einen Pff-Laut aus à la »dass du das abstrus findest, ist wirklich abstrus«.

11.02 Uhr

Günther und ich wetten um ein selbst gekochtes Drei-Gänge-Menü, ob Ute eine E-Mail-Adresse hat.

11.05 Uhr

Rufe Ute an, doch sie nimmt nicht ab. Günther sitzt grinsend am Küchentisch und reibt sich den Bauch. »Hast du dir schon überlegt, was du kochen willst?«

11.06 Uhr

Ute nimmt auch auf dem Handy nicht ab. Günther sagt: »Tiramisu hast du auch schon lange nicht mehr gemacht. Ich weiß, es ist aufwendig. Aber nimm dich dem doch mal wieder an!« Er lacht.

12.00 Uhr

Das Telefon klingelt, Ute!

Komme gleich zum Punkt und rufe ohne Erklärung in den Hörer: »Hast du eine E-Mail-Adresse?« (Rege mich immer auf, wenn der Kandidat bei Wer wird Millionär? seinen Telefonjoker anruft und dann durch die langatmige Begrüßung »Hallo Udo«, »Hallo Michael«, »Also, hier ist die Frage: …« wertvolle Sekunden verliert. Ich meine, die haben doch ohnehin nur so wenig Zeit, und dann verplempern sie die ersten fünf Sekunden damit, sich zu sagen, wie sie heißen.)

»Ja, warum fragst du?«, höre ich Ute sagen.

Nein!

Zähneknirschend ihre E-Mail-Adresse aufgeschrieben. Sie habe sie übrigens »für dies und das«.

?????

12.20 Uhr

Habe gerade die E-Mail an Ute rausgeschickt.

Betreff: WARUMHASTDUEINEEMAILADRESSE?

Inhalt: »Liebe Ute, hier kommt eine Test-Mail, zu der Günther mich zwingt. Er sitzt gerade neben mir. Hilfst du mir beim Kochen? Bis bald. Rosa.«

Donnerstag, 16. Februar

Erkenntnis des Tages: Tante Lotti und Julia dürfen sich am Wochenende nicht über den Weg laufen. Tante Lotti schwebt so auf Wolke sieben, dass ich das Julia in ihrer jetzigen Verfassung nicht zumuten kann. Als ich heute kurz im Heim vorbeigefahren bin, waren Tante Lotti und Wilhelm Reinke gerade dabei, ihre Hochzeitsfeier zu organisieren. Sie saßen im Wintergarten und diskutierten, ob es nachmittags lieber Plunder geben soll (»Die können alle gut beißen.«) oder doch lieber die richtig edlen Erdnusspralinen aus der Patisserie Rothschild (»Auch auf die Gefahr hin, dass die eine oder andere Krone über den Jordan geht.«). Tante Lotti hatte rote Wangen und sah aus wie ein verliebter Teenager.

»Ihr wollt also wirklich Nägel mit Köpfen machen?«, fragte ich, woraufhin Wilhelm Reinke »Meine Teuerste lass ich nicht mehr gehen!« rief und Tante Lotti wieder rot wurde. Beziehungsweise: noch röter wurde.

»Und was sagt jetzt Manfred dazu?«

»Wir haben nicht wieder mit ihm gesprochen«, antwortete Wilhelm Reinke. »Wenn er uns seinen Segen geben möchte, freuen wir uns. Ansonsten können wir es leider nicht ändern.«

»Wilhelm vergleicht uns immer mit Tristan und Isolde«, kicherte Tante Lotti. »Wir haben von einem Liebestrunk gekostet und können einfach nicht anders.«

»Nimmt das Stück nicht ein … nun … nicht ganz so schönes Ende?«, fragte ich vorsichtig.

»Wir starten wie Tristan und Isolde und enden wie Leonce und Lena«, verkündete Wilhelm Reinke mit feierlicher Stimme. »Für immer vereint.« Tante Lotti seufzte.

Ein Datum haben die beiden auch schon festgelegt: Es wird der 5. April, der Geburtstag von Wilhelm Reinkes Mutter. Und auch der Ablauf ist bereits fix: Um zehn Uhr kommt Simone und macht Tante Lotti die Haare, um elf Uhr geht es mit dem Taxi zur Kirche, nach der Trauung (alles ist schon mit Pastor Böhnlein besprochen, der im Heim jede Woche die Andacht hält) ist ein Mittagessen mit der Familie (sprich uns und MM) im Hotel Schönbrunn geplant, und danach geht es mit dem Taxi zurück ins Heim (Tante Lotti: »Zwei Taxifahrten an einem Tag, Rosa! Wilhelm und ich lassen es uns so richtig gut gehen!«). Dort wollen sie mit allen Bewohnern zusammen Kaffee trinken. Frau Brandner hätte Tante Lotti am liebsten nicht eingeladen, denn die hatte letztes Jahr ein Auge auf Wilhelm Reinke geworfen (glaubt zumindest Tante Lotti). »Aber wir lassen uns nicht auf ihr Niveau herab«, sagte sie, flüsterte mir dann aber zu: »Ich bete zu Gott, dass sie an dem Tag von ihrer Tochter abgeholt wird.«

»Und was gibt’s bei euch Neues?«, fragte Tante Lotti schließlich pflichtbewusst, obwohl sie mit ihren Gedanken nur bei Wilhelm Reinke war.

»Ach, Julia kommt morgen übers Wochenende. Ihr geht es gerade nicht so gut. Sie und Richard nehmen eine kleine Auszeit. Ich hoffe, wir können sie etwas aufheitern.«

»Das tut mir leid!« Tante Lotti schlug die Hände zusammen. »Aber sie soll sich mal ein Beispiel an Wilhelm und mir nehmen. Die Liebe kommt. Das ist gewiss. Und wenn sie etwas später kommt. Aber sie kommt!«

Weiß nicht, ob ich Julia damit aufheitern kann, dass sie spätestens in fünfzig Jahren ihren Traumprinzen im Altenheim finden wird.

Sonntag, 19. Februar

Vollkommen gerädert. Wusste gar nicht mehr, wie anstrengend zwei Kleinkinder sind (alias Günther und Julia).

Als wir Julia Freitagabend vom Bahnhof abholten, sagte sie sofort, als sie aus dem Zug ausstieg: »Ich möchte nicht darüber reden.« Günther nahm ihr ihren Koffer ab und murmelte irgendetwas vor sich hin. Wir verstanden noch die Bruchstücke »mochte von Anfang an nicht«, woraufhin Julia nach Luft schnappte und vorwurfsvoll »Papa!« rief. Woraufhin ich vorwurfsvoll »Günther!« rief. (Er hatte mir vorab versprochen, das Richard-Thema nur anzusprechen, wenn Julia es von sich aus tat. Aber natürlich konnte es der Ich-habe-es-ja-schon-immer-gewusst-Vater nicht lassen.)

Zwei Stunden später hatten wir schon das magische Gesprächsdreieck erreicht – so nenne ich es immer, wenn man nur noch über Bande miteinander, beziehungsweise übereinander spricht.

»Sag deiner Tochter bitte, dass sie erwachsen genug ist, den Kerl endgültig in den Wind zu schießen.«

»Sag deinem Mann bitte, dass er sich nicht in mein Leben einmischen soll.«

»Sag deiner Tochter bitte, dass ihre Eltern sehr wohl noch immer eine Verantwortung ihr gegenüber tragen.«

»Sag deinem Mann bitte, dass ich erwachsen genug bin. Hat er ja selbst gesagt, ha!« (Lachte hysterisch.)

So ging es den ganzen Samstagvormittag weiter. Ich war als Blitzableiter und Vermittler so am Ende, dass plötzlich die Worte »Bring Papa doch mal was am Tablett bei« aus meinem Mund kamen.

»Was denn?«, fragte Julia gelangweilt, die auf dem Sofa lag und seit zwei Stunden mit leerem Blick in der Landlust blätterte.

»Na ja …«, stotterte ich, als mir plötzlich eine Idee kam. »Dieses Skype zum Beispiel.«

Sah, wie Günther am Esstisch mit den Augen rollte.

»Dass du das kennst, Mama.« Julia musste lachen.

Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz einmal schreiben würde: Aber das Tablett hat doch tatsächlich den Familienfrieden gerettet. Den ganzen restlichen Samstag saßen Günther und Julia zusammen und haben sich friedlich damit beschäftigt. Julia war von Richard abgelenkt, Günther war von Richard abgelenkt, und ich habe gern irrwitzige Szenen wie diese in Kauf genommen:

Julia saß mit ihrem Tablett in der Küche, Günther mit unserem Tablett im Wohnzimmer (Luftlinie drei Meter).

Julia: »Sag doch mal was.«

Günther: »Test, Test, Test.«

Julia: »Und wie geht es euch so?«

Günther: »Das weißt du doch, du sitzt doch nebenan.«

Julia: »Mein Gott, das ist doch nur ein Test.«

Günther (lachte blöde): »Ach ja.«

Am Sonntag ging es weiter mit dem Technikprogramm. Julia zeigte Günther, wie er über die Pyramiden in Ägypten fliegen kann (also virtuell, er saß natürlich immer noch am heimischen Esstisch) und mit einem Klick die gesamte Schrift auf dem Bildschirm um das Zehnfache vergrößern kann. (»Nur für den Fall der Fälle.«)

Irgendwann nutzte ich eine ruhige Minute, um mich ganz zaghaft dem R-Thema anzunähern.

»Sag mal, Julia. Wäre es nicht doch gut, wenn wir darüber spr…«

»Nein!«

»Ganz wie du meinst. Du sollst nur wissen, dass wir immer für dich da sind. Und wenn du reden magst, dann reden wir. Und wenn nicht, nicht. Okay?«

Plötzlich brach alles aus ihr heraus, und sie fing furchtbar an zu weinen. »Ach Mama«, schluchzte sie, und wir umarmten uns gefühlt drei Stunden lang (muss kürzer gewesen sein).

Am Abend hatte sie sich einigermaßen gefangen, und irgendwie hatte es Günther geschafft, das Technikthema wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

»Aber Mama, was ist denn so schlimm daran? Machst du denn gar nichts mit dem Tablet?«

»Doch«, beeilte ich mich zu sagen.

»Und zwar?«, fragte Günther siegessicher. Er wandte sich an Julia: »Deine Mutter verweigert sich!« (Da war es wieder, das magische Gesprächsdreieck!)

Julia gab die nächste Stunde irgendwas im Tablett ein, bis sie schließlich rief: »Da! Tag der offenen Tür im Computerclub! Nächste Woche! Das wäre doch was!«

Es kam zu einem absurden Dialog:

Ich: »Würde es dir besser gehen, wenn wir da hingehen?« (Warum sollte es???)

Julia (schniefte): »Ja!« (WARUM?)

Wie gesagt, es war vollkommen absurd. Aber es scheint wohl ausgemacht: Günther und ich werden zum Tag der offenen Tür gehen. (Wie blöd man nur in solche Sachen hineinrutschen kann!)

Bevor wir sie wieder zum Bahnhof gefahren haben, waren wir noch kurz bei Massimo essen, unserem Lieblingsitaliener in der Stadt. Nach dem vierten Hauswein erschien Julia die Lage mit Richard gar nicht mehr so ausweglos, und wir stießen »auf die Liebe und auf den Computer« an.

Am Bahnhof weinten wir alle kurz (selbst Günther hatte Tränen in den Augen), und Julia winkte uns so lange aus dem Zug heraus, bis wir sie nicht mehr sehen konnten.

Der Computerclub wird übrigens von der Altenbegegnungsstätte organisiert. Altenbegegnungsstätte – das klingt doch nun wirklich nach püriertem Essen und dritten Zähnen. Ich meine, wir sind doch keine neunzig! Streng genommen fühle ich mich ja noch nicht einmal wie Mitte sechzig, aber das geht wohl allen so. Man hängt irgendwie in der Zeit. Julia fühlt sich wie Mitte zwanzig, ich wie Mitte fünfzig, höchstens. Wenn man mir sagen würde, dass ich fünfundvierzig bin, würde ich auch denken: Ja, das passt. (Leider sagt mir das aber niemand, hmpf!)

Ich habe ehrlich gesagt gar nicht mitbekommen, wo die ganzen Jahre geblieben sind. In meiner Wahrnehmung habe ich gerade Julia bekommen – und im nächsten Moment bin ich fünfundsechzig. Da fehlt doch was! Ich habe mal gelesen, dass die verzerrte Wahrnehmung auch davon kommt, dass man sich selbst jeden Tag im Spiegel sieht und so den Alterungsprozess nicht mitbekommt. Wahrscheinlich müsste man mal probeweise alle Spiegel im gesamten Haus ein halbes Jahr zuhängen. Dann würde man zwar in Ohnmacht fallen, wenn man sich danach wieder sieht, aber zumindest hätte man mal wieder einen Realitätscheck. Als ich letztes Jahr mit Ute im Zoo war, gab uns der Kassierer allen Ernstes ungefragt (!) den Seniorenrabatt. Ute und ich waren fix und fertig. Natürlich, ja, wir sind Rentner. Aber wir hätten doch nie damit gerechnet, dass wir auch so aussehen. Sind den ganzen Nachmittag verstört durch die Anlage gelaufen.

Wenn man es so betrachtet, ist die Altenbegegnungsstätte wohl die logische Konsequenz unseres Daseins. Großer Gott, dieses Wort geht mir schwer über die Lippen. Wenn wir da wirklich in Zukunft häufiger hingehen, werde ich erst einmal eine Umbenennung anregen. Silver Generation Club, Best Ager Meeting Point – irgendwas in der Art. Am besten was Englisches, das unsere Misere auf blumig-international klingende Weise verschleiert.

Mittwoch, 22. Februar

Günther macht mir Angst. »Wenn wir dieses Gerät erst einmal im Griff haben, werden sich ganz neue Möglichkeiten ergeben.«

Mit »Gerät« meint Günther das Tablett, das er ständig mit sich rumträgt.

Mit »wir« meint er uns. Befürchte ich.

Mit »neue Möglichkeiten« meint er zum Beispiel ein elektronisches Haushaltsbuch, das er sich in den Kopf gesetzt hat. Habe nur Bruchstücke aufgeschnappt, aber irgendwie von »scannen« und »synchronisieren« war die Rede.

Wenn Sie mich fragen: Das alles ist eine einzige Drohung. Ich meine, uns ging es doch gut ohne diesen Technikkram. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: WARUM???

Der Countdown läuft.

Noch drei Tage bis zum Tag der offenen Tür beim Computerclub.

Noch drei Tage bis zur Vertreibung aus dem Paradies.

Freitag, 24. Februar

Günther ist so ein Streber. Er hat einen DIN-A4-Zettel mit der Überschrift »Abklären« erstellt. Darunter eine Liste mit Computerfragen, die ich alle nicht verstehe. Ich glaube, Günther versteht seine Fragen selbst nicht. Er will mich nur provozieren.

Samstag, 25. Februar

10 Uhr

Sind auf dem Weg zum Tag der offenen Tür des Computerclubs, als uns Ute mit Max, ihrem Enkel, entgegenkommt. Er ist gerade neun geworden und sieht mit seiner runden Brille und den wuscheligen Haaren aus wie ein kleiner Harry Potter. Das darf man aber nicht zu ihm sagen, da er sonst beleidigt ist. (»Du bist aber groß geworden« oder »Du hast aber einen niedlichen Pulli an« darf man auch nicht sagen. Dieser Junge ist ein sprachliches Minenfeld!)

»Hallo!«, ruft Ute. »Ach ja, heute ist ja euer großer Tag!« Sie wendet sich Max zu: »Die beiden lernen heute das Internet kennen.«

»Aha«, brummt Max gelangweilt. Wollen gerade weitergehen, als seine Lebensgeister urplötzlich erwachen. »Sagt mal, wie seid ihr eigentlich damals ins Internet gekommen, als es noch keine Computer gab?« Er sieht uns mit großen Augen an. Großer Gott, dieser Junge weiß ja noch weniger als ich! Oder ist diese Frage jetzt besonders schlau gewesen?

Ute lacht und schüttelt den Kopf. »Ach Liebchen, als es noch keine Computer gab, gab es das Internet doch auch noch nicht.«

»Wie?« Max’ Gesicht verwandelt sich in ein einziges Warum-reden-diese-alten-Menschen-so-wirres-Zeug? Er sieht in seinen Grundfesten erschüttert aus. Ein Leben ohne Internet scheint für ihn so vorstellbar zu sein wie für mich ein Rentner, der beschäftigt ist.

Ob uns das in ein paar Stunden genauso geht?

14 Uhr

Nein!!!

20 Uhr

Der Nachmittag war ein Auf und Ab der Gefühle.

Als wir in der A-Stätte (Sie wissen, was ich meine!) ankamen, begrüßte uns im Eingang ein riesiger Pappaufsteller, auf den jemand einen Computer mit Heiligenschein gemalt hatte. Das ging ja gut los. In welche Sekte waren wir denn hier geraten?! Daneben stand in Großbuchstaben: »TAGDEROFFENENTÜR, ZWEITETÜRLINKS«.

Günther zeigte auf den Heiligenschein und rollte mit den Augen. Noch war ich guter Dinge, dass dies unser erster und letzter Besuch hier sein würde.

Hinter der zweiten Tür auf der linken Seite wartete schon ein älterer Mann mit weißen Haaren (Marke verwirrter Professor) auf uns.

»Hallo«, rief er und breitete die Arme aus. »Herzlich willkommen bei uns im Club! Mein Name ist Günther, wir duzen uns hier.« Er lachte.

»Ebenfalls Günther«, sagte »mein« Günther, und Günther II lachte wieder.

»Na, das passt ja. Immer rein in die gute Stube!«

Er nahm uns unsere Jacken ab und hängte sie an die Garderobe. »Gleich mach ich eine Führung, drei andere sind auch schon da. Habt ihr denn schon Erfahrungen mit dem Computer?«

»Nun, äh …«, stotterte Günther.

»Wir haben ein Tablett«, rief ich geistesgegenwärtig.

»Tablett?« Günther II lachte. »Du meinst: Tablet! Das ist doch schon ein Anfang.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Dann wollen wir mal!«

Der Computerclub bestand aus drei Seminarräumen und einer Teeküche, um »zu quatschen und sich auszutauschen«. Günther II sagte, dies sei das A und O: reden, reden, reden. »Nur zusammen« würde man bei den rasanten technischen Entwicklungen den Durchblick behalten. (Das klang wie eine Drohung, aber ich versuchte, die Fassung zu bewahren.)

»Hier ist auch unser Equipment, das man sich ausleihen kann.« Günther II ging auf einen riesigen Schrank zu und öffnete die Tür. Von oben bis unten stapelten sich kleine Boxen, Lautsprecher, etliche Kabel quollen hervor. »Hier haben wir alles, was das Technikherz begehrt.«

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was wir uns davon jemals ausleihen sollten, aber Günther sagte doch tatsächlich: »Gut zu wissen!« Ich schielte zu ihm rüber, ob er das vielleicht ironisch gemeint hatte, aber er bemerkte meinen Seitenblick gar nicht, sondern guckte interessiert in den Schrank.

»Wir handhaben das ziemlich unbürokratisch«, erzählte Günther II und zog einen DIN-A4-Zettel in Klarsichtfolie aus dem untersten Regal hervor. »Hier trägt jeder einfach ein, wann er was ausgeliehen hat und wann er es wieder zurückgelegt hat. Hier zum Beispiel …«, er zeigte auf eine Zeile, »sehen wir, dass Gisela am 3. Januar den DVI-VGA-Adapter mitgenommen hat.« (Wer ist Gisela? Was ist ein DVI-VGA-Adapter?? Woher weiß Gisela, was ein DVI-VGA-Adapter ist???)

Wollte gerade Günther in die Rippen knuffen, weil die Situation ja nun wohl wirklich vollkommen realitätsfern war, doch Günther fragte ernsthaft: »Gibt es eine maximale Ausleihzeit?«

Günther II