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Beschreibung

Auf den gefährlichsten Bergen der Welt: Aus dem Leben eines Extrembergsteigers   Die Mount-Everest-Erstbesteigung ohne Sauerstoff zusammen mit Reinhold Messner machte ihn endgültig berühmt. Doch sie war nur eine von vielen Stationen in seinem Leben für die Berge. Peter Habeler feiert seinen 80. Geburtstag – und kann nach wie vor nicht im Tal bleiben.   Gemeinsam mit Marlies Czerny erzählt er von seiner Liebe für den Bergsport, den zahlreichen Herausforderungen, Erfolgen, aber auch Rückschlägen.   - Von den ersten Touren bis zu den Achttausendern: eine Bergsteiger-Biografie   - Wegbegleiter und Seilpartner: Menschen, die Peter Habelers Leben prägten   - Heldentat oder Wahnsinn? Die Besteigung des Mount Everest »by fair means«   - Immer wieder gipfelwärts: Wie die Aussicht auf den nächsten Berg jung hält   Mehr als ein halbes Jahrhundert Alpingeschichte: Weggefährten, Routen, Gipfel  "Die Quintessenz meines Lebens ist, dass ich immer die besten Leute kennenlernen durfte." Heimische Bergführer aus dem Zillertal legten den Grundstein für Peter Habelers Karriere. Später war er mit berühmten Bergsteigern im Hochgebirge auf der ganzen Welt unterwegs. Stark geprägt haben ihn auch persönliche Beziehungen, die fernab von hohen Gipfeln eine bedeutende Rolle in seinem Leben spielten.   Im Gespräch mit Marlies Czerny erinnert sich der Alpinist an zutiefst menschliche Momente auf seinem Weg. Sein Blick richtet sich aber nicht nur zurück, denn seine Freude am Bergsteigen ist nach wie vor ungebrochen. Den nächsten Gipfel, das nächste Ziel hat er immer vor Augen. Mit einem Augenzwinkern verrät er, wie ihn die Liebe zu den Bergen jung hält – und welche Berge er noch zu versetzen plant!  

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Seitenzahl: 196

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PETER HABELER

MEIN NÄCHSTER BERG

erzählt von Marlies Czerny

Inhalt

Höher als der Mount Everest

Gedanken vor dem Losgehen

von Marlies Czerny

1.Eine Kindheit, fast selbst geschaukelt

Toni Volgger

Der Bergführer, der die Vaterrolle übernahm

2.Auch der höchste Turm fängt unten an

Sepp Mayerl, »Blasl-Sepp«

Der Lehrmeister im Fach Fels

3.Der Traum von Big Walls und Big Money

Doug Scott

Der Hippie, der neue Dimensionen eröffnete

4.Die Entstehung einer Vision

Mathias Rebitsch

Das Vorbild mit der großen Vorahnung

5.Zwei zwischen Genie und Wahnsinn

Reinhold Messner

Der Grenzgänger, mit dem es kein »Unmöglich« gab

6.Auf dem Gipfel des Unmöglichen

Alexander und Christian Habeler

Die Söhne zwischen Licht und Schatten

7.Eine Verbindung zum Himmel

Herbert Woopen

Der Pfarrer, der ihn als Schutzengel begleitete

8.Am Seil mit der übernächsten Generation

David Lama

Ein Ausnahmetalent vom Anfang bis zum Ende

9.Vom Wert der Freundschaft

Horst Fankhauser

Der Freund, der andere Wege ging

10.Wenn das Alter zur Nebensache wird

Jutta Wechselberger

Seine liebste Partnerin fürs Seil und Leben

Meine bedeutendsten Berge

Gedanken zum Schluss

von Peter Habeler

Lebenslinie

Wichtige Stationen in Peter Habelers Vita

Zum 80er!

Peter Habeler

gelang 1978 zusammen mit Reinhold Messner die erste Begehung des Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. Dieses Meisterstück machte den Zillertaler Bergführer und Extremalpinisten weltberühmt. Mit vielen weiteren herausragenden alpinen Leistungen, wie dem ersten Achttausender im Alpinstil (Hidden Peak) oder der Durchsteigung der Eiger-Nordwand in Rekordzeit, zählte er viele Jahre zur Spitze des internationalen Bergsports.

Höher als der Mount Everest

Gedanken vor dem Losgehenvon Marlies Czerny

Welchen Berg hat ein Mensch noch vor sich, der schon unzählbar viele bestiegen hat? Der mit dem Mount Everest – gemeinsam mit Reinhold Messner als Erster ohne künstlichen Sauerstoff – das Höchste erreicht hat, was es seinerzeit überhaupt zu erreichen gab? Für Peter Habeler gibt’s einen Berg, der höher ist. Das ist er bis heute, bis zu seinem 80. Geburtstag am 22. Juli 2022.

Peter Habeler versprüht eine ansteckende Freude, die spürt man beim ersten Händedruck. Aus seinem braun gebrannten Gesicht lässt der Bergführer mit dem auffallenden Charme ein gletscherweißes Lächeln strahlen – jede Falte rundherum unterstreicht glaubwürdig seine lustigen, aber auch ernsten Jahre im Gebirge. Der Gipfelstürmer geht trotz seines hohen Alters immer noch mit fast kindlicher Neugier und Esprit, Wohlwollen und Respekt auf Berge zu – und auf Menschen. Sogar, wenn man selbst einen Kopf kleiner ist als er, begegnet er einem auf Augenhöhe.

Es war ein Sommertag 2010, als die Autorin dieser Zeilen Peter Habeler in den Hohen Tauern erstmals die Hand schüttelte. Auf der Gießener Hütte stand die Hochalmspitze am Plan. Peter, der dienstälteste Bergführer einer großen, bunten Gruppe, nutzte jede Verschnaufpause für einen Witz. Er muss nie ganz so viel schnaufen wie seine Wegbegleiter, da bleibt neben dem ernsthaften Bergführen zum Schmähführen immer noch Luft.

Im Vorabendprogramm zur Hochalmspitzen-Besteigung hielt der Extrembergsteiger mit dem Legendenstatus einen Vortrag, jeder in der Hüttenstube hing an seinen Lippen. Peter zeigte unfassbar schöne Himalajagipfel, erzählte von seiner herrlichen Freiheit, frech sein zu dürfen, von seinen prächtigen Partnern und von seinem simplen Stil, dem Alpinstil. Den hat Peter als einer der ersten Bergsteiger auf die Achttausender übertragen. Bald tauchte auf der Leinwand ein Berg auf wie aus einem Bilderbuch, einer aus dem Zillertal. Ich war fasziniert und begann, zu träumen. Wenige Wochen später besuchte ich, damals noch sehr grün hinter den Ohren, meinen ersten Gletscherkurs im Zillertal, nicht bei Peter selbst, doch bei einem seiner Bergführerkollegen. Die Überschreitung des Olperer – dieser Berg, zu dem mich Peter inspirierte – ließ nicht lange auf sich warten, und ich war den gleißenden Gletscherriesen endgültig verfallen. Dafür bin ich Peter heute noch dankbar, denn dieser Berg hat mich zu meinem nächsten geführt. Und irgendwann zu diesem Buch.

Eine Seite Peter Habelers zeigt sich auf den Hütten weniger, die lernt man erst im hinteren Zillertal in seinen vier Wänden kennen. In seinem Wohnzimmer flackert an manchen Tagen eine Kerze, gleich neben dem tannengrünen Kachelofen. »Schade, dass es sie nicht mehr gibt«, sinniert Peter dort oft und denkt dabei an seine Wegbegleiter, die früher gehen mussten als er. »Der Sepp, der Hias, der Doug … und ich kann einfach nicht glauben, dass es den David nicht mehr gibt!« Stimmt nicht, wendet Jutta ein, die kluge Frau, mit der er seine Sorgen und Freuden teilt, »er ist unter uns. Sie sind alle unter uns«.

Natürlich, denkt sich Peter dann. Weil er sie im Kopf habe. Weil er die Bilder im Kopf habe, die er mit ihnen erleben durfte in der Wand oder bei einem Bier. Der größte Schatz, den der sonst so genügsame Peter behütet, ist seine Erinnerung an all die Menschen und Berge, die heute hinter ihm liegen – und die irgendwann auch als nächste Berge vor ihm gestanden sind. »Ich lebe mit Bildern. Bilder sind mein Leben. Man vergisst ja einiges, aber wenn du ein Bild aus vergangener Zeit siehst, dann …« Ja, dann steckt er wieder mittendrin.

Mittendrin in der Big Wall im Yosemite steckt er mit dem legendären Briten Doug Scott, wenn er sich im Erdgeschoss an seinen Schreibtisch setzt. Daneben ringt er gemeinsam mit Reinhold Messner im Gipfelsturm am Mount Everest nach Luft. Pfarrer Herbert Woopen, der sein Schutzengel sein muss, schaut nicht nur im Himmel auf ihn, sondern auch von links aus einem Bilderrahmen. Wenn sich Peter erhebt von seinem Bürosessel, steht er neben David Lama direkt vor der Eigerwand. Im Stiegenhaus trifft er die alte Sherpa-Frau, blickt in ihr ausdrucksstarkes greises Gesicht, das er beim Trekking in Nepal fotografiert hat. Ein paar Stufen weiter steigt Reinhold Messner am Hidden Peak durch eine weiße Leinwand höher, seilfrei und im Alpinstil. »Das war eine bärige Geschichte!«, denkt sich Peter an dieser Stelle oft. Er hat seinen Bruder Roman bei sich im Wohnzimmer sitzen, mit all den Porträts, die dieser malte.

Vor dem Balkonfenster öffnet sich ein Panoramabild, sein vielleicht wichtigstes Bild überhaupt. Zu jedem Gipfel da draußen ruft Peter Erinnerungen ab wie jemand anderer die Computer-Dateien aus einem Ordner. Das Gebirge ist sein liebstes Speichermedium – und bei jedem Berg macht’s klick: Augenblicklich hat er die dazugehörigen Geschichten im Kopf und Menschen vor Augen, mit denen er in den Bergen höher stieg.

Peter Habeler hinterließ Spuren an den Bergen, aber noch mehr Spuren hinterließen seine Wegbegleiter und Seilpartner in ihm. Jede und jeder von ihnen brachte ihn einem nächsten Berg näher – bis er schließlich dort ankam, wo er heute steht. »Die Quintessenz meines Lebens ist, dass ich immer die besten Leute kennenlernen durfte«, erklärt Peter. Dieses Berg-Werk wolle er deshalb auch all jenen Menschen widmen, denen er ewig dankbar ist und die ihn zu dem gemacht haben, was Peter Habeler heute ist.

Sein nächster Berg ist ihm auch heute noch wichtig, vielleicht wichtiger denn je – denn Ziele helfen ihm dabei, jung zu bleiben. Immer unwichtiger wird ihm, wie hoch und prominent so ein Gipfel ist – von kleinen Ausnahmen einmal abgesehen, ein bisschen frech ist er ja immer noch. Doch selbst wenn die Gipfel wieder kleiner werden, Peters Freude – so hat man das Gefühl – wird mit jedem nächsten Berg nur noch größer. Dieser Berg an Begeisterung stellt sogar den Mount Everest in den Schatten. Sich diese grundehrliche Freude und kindliche Neugier ein Leben lang zu bewahren und mit anderen zu teilen, ist die vielleicht höchste Kunst beim Bergsteigen. Neben der Kunst, dabei auch alt zu werden.

Toni Volgger

Der Bergführer, der die Vaterrolle übernahm

Eine Kindheit, fast selbst geschaukelt

Die Nachbarin – sie erzählte es später einmal – beobachtete manchmal heimlich, wie Peter von der Schule nach Hause kam. Nicht durch die Haustüre, nein – er kletterte über den Balkon in die Wohnung. Drinnen in der Kinderstube in der Ortschaft Mayrhofen im Zillertal warteten auch die allerersten Steilstufen auf den blonden Knirps. Mit einer Extraportion an Unbeschwertheit wurde seine Kindheit, die mitten im Krieg begann, nämlich nicht gerade überhäuft. Sein Vater starb sehr früh, seine Mutter war die meiste Zeit ausgeflogen, und sein älterer Bruder lebte mehr in Niederösterreich als in Tirol. Da tat es Peter gut, wenn Hermine Lottersberger vom Balkon des Nachbarhauses herüberwinkte.

Es liegt wohl in Peter Habelers Frohnatur, auch im ersten Kapitel seines Lebens überwiegend die positiven Seiten zu sehen. Man könnte es ja auch als Vorteil betrachten, dass seine Mama nicht immer genau mitbekam, an welchem Felsblock ihr Lausbub herumkraxelte. Oder dass er am Heimweg schon wieder mit seinem Schulfeind gerauft hatte. »Mama hat mich immer ziehen gelassen. Die Überfürsorglichkeit von heute hatten wir damals zum Glück nicht«, sagt Peter gut 70 Jahre später, die eine oder andere Narbe längst verheilt. Er nahm sehr früh selbst die Seilführung für sein Leben in die Hand und fand andere Bezugspersonen. Wie Hermi Lottersberger, die morgens zum Kochlöffel und mittags zu Seil und Karabiner griff. Oder Toni Volgger, ein junger Bergführer – zu erkennen an seinen stets geputzten Lederstiefeln und einer Zigarette im Mundwinkel. Hermi war für Peter wie eine zweite Mutter und Toni viel mehr Vater als sein leiblicher Papa.

Peters Eltern vor dem Baumgartnerhaus in Niederösterreich

Gehen wir aber erst noch ein paar Schritte zurück: Peters Vater Roman Habeler stammte aus Pottschach in Niederösterreich und arbeitete im Semperit-Werk, eine Autostunde südlich von Wien. Bergsteiger war er keiner, dafür ein leidenschaftlicher Jäger. Und als solchen zog es ihn regelmäßig auf den Schneeberg. In der Zwischenkriegszeit bekamen viele Hütten im Wiener Einzugsbereich starken Zulauf, davon bekam man auch im Westen Wind. Peters Mutter Ella – damals noch keine 18 Jahre alt – ging als Hüttengehilfin zu Zillertaler Pächtern aufs Baumgartnerhaus. Heute existieren dort nur noch verfallene Mauern, doch einst blühte das Leben in der größten Unterkunft am Schneeberg. Auf seiner sonnigen Südseite, 1000 Meter oberhalb von Reichenau an der Rax, verliebte sich Roman in die humorvolle und hübsche Ella, die 15 Jahre jünger war als er. Nach der Hochzeit wohnte das Paar in Pottschach bei Romans Schwester. Wohlgefühlt hatte sich die Zillertalerin aber nie in Niederösterreich. Sie zog es wieder zurück nach Mayrhofen, wo sie Peter sechs Jahre nach ihrem ersten Sohn Roman zur Welt brachte. Am 22. Juli 1942 – mitten im Zweiten Weltkrieg.

»Der Krieg war schlichtweg verheerend. Das waren schlimme Zeiten«, sagt Peter Habeler nachdenklich, sodass die Falten auf seiner Stirn, die von so vielen lustigen Berggeschichten erzählen, wie tiefe Gräben wirken. Sein Vater wurde zum Wehrdienst eingezogen. Unter russischen Besatzern musste er schließlich in der Kriegsgefangenschaft am Semmering Holz fällen. Die Inhaftierten schliefen in notdürftigen Holzbaracken, dort erkrankte er schwer an einer Lungenentzündung. Heim kehrte Roman Habeler mit Tuberkulose. Er ging zwar noch nach Mayrhofen zurück, gesund wurde er aber nie mehr. 1947 kam er in eine Lungenheilstätte nach Hochzirl. Es gibt nur einen einzigen Moment, der Peter mit seinem Vater in Erinnerung geblieben ist: »Als er im Krankenbett lag, kurz vorm Sterben. Ich war nicht einmal sechs Jahre alt.«

Peter im Gespräch über seine Kindheit

Ella Habeler mit ihren beiden Söhnen beim Pfisterhaus

Seine Mutter Ella, 35 Jahre jung, bekam eine monatliche Kriegsopferrente von 728 Schilling. Damit musste die Familie auskommen. »Wir wohnten in einer winzigen Zweizimmerwohnung, aus der uns ihr Bruder mit aller Gewalt hinausschmeißen wollte. Wir hatten einfach kein Geld. Aber wir hatten das große Glück, dass uns der Opa bei sich aufgenommen hat. Wäre der Opa nicht gewesen, wüsste ich nicht, wo wir geendet wären«, erzählt Peter. Der Opa, Ellas Vater Johannes Pfister, war als Baumeister auf Hütten spezialisiert. »Honis« baute die Kasseler Hütte, war an der Fertigung der Edelhütte und des Friesenberghauses maßgeblich beteiligt und ritt zu seinen Baustellen immer mit dem Pferd hinauf. Neben einem Sägewerk besaß er auch eine Pension, die Villa Waldheim. »Der Opa hat gut auf uns geschaut. Aber er war auch ein schwieriger und jähzorniger Mensch, ein Patriarch und Schreier.« In der Zwischenkriegszeit heiratete er seine zweite Frau nach dem frühen Tod von Ellas Mutter. Die »Fane« war für Peter wie eine richtige Großmutter. »Da lagen wir dann zu dritt im Bett. Rechts die Oma, links ihre Tochter und in der Mitte ich.« Sein Bruder Roman blieb die meiste Zeit bei der Tante in Niederösterreich. Ella Habeler musste alleine Sorge tragen, Geld für die Familie zu beschaffen. Viel Zeit, sich um die Söhne zu kümmern, blieb da nicht. »Mutti war da und dort als Haushälterin beschäftigt«, erzählt Peter, »sie putzte auch in der Apotheke. Sie war eine sehr leutselige Person und in ihrer freien Zeit viel und gerne bei ihren Freundinnen.«

Als Peter sieben Jahre alt war, machten ihm große Nierenprobleme zu schaffen. Die Medizin? Ganz nach seinem Geschmack. Es hieß: »Den Buben müsst ihr in die Höhe bringen, dann erholt er sich.« Seine Mutter blieb mit ihm einen ganzen Sommer lang auf dem Kolmhaus oberhalb von Brandberg im Zillergrund und bewirtschaftete die Hütte. Wenn die Buben – Peter wurde schnell wieder gesund – ausrückten, erhob sie den Zeigefinger. »Geht’s mir ja nicht auf den Kleinen Kolm«, warnte sie. Denn der Steig führte durch die Latschen entlang einer steilen Felswand.

Habeler trägt in seiner Geldbörse bis heute ein Foto bei sich, das ihn mit seiner »Mutti«, seinem Cousin und einer Ziege vor der Hütte zeigt – und ihn daran erinnert, wie gerne er doch im Sommer 1949 auf den Kleinen Kolm wieselte: »Ich fühlte mich wohl dort oben, da waren wir frei.«

Dieses Foto aus der Zeit vom Kolmhaus trägt Peter immer bei sich.

Wieder unten im Dorf strawanzte Peter gerne zum Tennisplatz. Als Balljunge konnte er sich dort ein paar Schillinge verdienen. Gemeinsam mit einem Schulfreund durfte er auch selbst zum Schläger greifen, weil dessen Vater Platzwart war. Gleich hinter Opas Villa Waldheim hörte Mayrhofen auf, ein Dorf zu sein. Dort begann der Wald, und im Wald begann Peters großer Abenteuerspielplatz. »Dort sind wir herumgekugelt wie die Weltmeister«, erzählt Peter. Bald entdeckte er Granitblöcke und kraxelte liebend gerne auf ihnen herum. Er scheuerte das Moos weg, suchte sich Wurzeln und Henkel als Griffe, turnte auf der einen Seite hinauf und stieg auf der anderen wieder hinunter. »Heute würde man wohl Bouldern dazu sagen«, merkt Habeler grinsend an.

Am Dachboden im Haus seines Großvaters machte er einen anderen bemerkenswerten Fund: ein Pickel mit schlankem Holzgriff, fast noch größer als er selbst, daneben ein geflochtenes Hanfseil, von dem er eine dicke Staubschicht pusten konnte. Sein Opa Honis war Bergführer – zumindest am Papier. Peter sah ihn selbst aber nie in die Berge steigen. »Wahrscheinlich haben ihn seine Brüder zur Ausbildung inspiriert«, vermutet Peter, »die haben mit dem Bergführen vor dem Krieg nämlich gutes Geld verdient. Ihr Tageslohn war der Gegenwert eines handgemachten Bergschuhs.« In der Zwischenkriegszeit strömten viele Gäste ins Zillertal, und die Nachfrage an Führungen auf Dreitausendergipfel wie Olperer, Möseler oder Schwarzenstein war groß. Auf der Berliner Hütte, die heute denkmalgeschützt und eingerahmt von eisbedeckten Urgesteinsgipfel noch immer ein beliebter Stützpunkt ist, war damals sogar eine eigene Kellnerin nur für die Dutzenden Bergführer beschäftigt – zu erkennen an einem Edelweiß in ihrem Haar.

Die Inspiration zum Bergführen fand Peter nicht in seiner Familie. Dafür vor der Haustüre. Als er knapp zehn Jahre alt war und immer wieder die jungen Bergführer rund um Toni Volgger und Otto Geisler am Haus des Großvaters vorbeimarschieren sah – ein Seil um die Schulter geschwungen, den Pickel am Rucksack befestigt und ein Bergführerabzeichen auf der stolzen Brust getragen –, da wusste er, schwer beeindruckt von dem ehrenhaften Emblem am Pullover: »Das will ich auch einmal. Ich will Bergführer werden!«

Den Bergführern heftete sich der neugierige Bub bald an die Fersen. Sie schickten ihn nicht weg – im Gegenteil. Oft ging Peter neben- oder hinterher. »Der Toni war vom Typ ein bisschen wie Luis Trenker – braun gebrannt, fesch, aber ein wortkarger Bursche. Er hat einen ganz eleganten, flotten und leichten Schritt gehabt. Das Gehen und Bewegen habe ich ganz bestimmt von ihm gelernt. Als Kind lernst du ja alleine beim Schauen schon so viel«, erinnert er sich. Im Leben gäbe es kein größeres Pech, ist Peter überzeugt, als in seiner Kindheit an schlechte Lehrer zu gelangen, die einen ängstlich machen und die Motivation nehmen. Er hingegen hatte großes Glück.

Wie groß war erst die Freude, als ihn Toni Volgger auf die Plauener Hütte einlud! Peter lief von Mayrhofen alleine in den hinteren Zillergrund, der unförmige Rucksack wackelte und wog halb so viel wie er selbst. Tonis Vater – er war Südtiroler und verließ unter Mussolini das Land – bewirtschaftete die Plauener Hütte schon während des Zweiten Weltkriegs. Die Einladung ging natürlich aufs Haus. Toni, wie immer mit einem Glimmstängel im Mund, zeigte ihm rund um die Hütte, wie man Haken in Felsritzen schlägt und mit dem Seil umgeht. Ein prägendes Erlebnis.

Vaterfigur: mit Toni Volgger in den Zillertaler Alpen unterwegs

»Ich zehre als 80-Jähriger noch von meiner Kindheit. Dieser Zeit habe ich extrem viel zu verdanken. Nur durch sie habe ich später an den hohen Bergen funktioniert«, betont Peter. Geprägt habe ihn auch Tonis schneller Schritt. Deshalb notierte sich Peter später in seinen Tourenbüchern immer die Zeiten, die er für eine Tour und ihre Teilstücke gebraucht hatte. »Schneller sein bedeutet, früher wieder in die Sicherheit der Hütte oder des Tales zurückzukehren«, lautete Lektion Nummer eins.

Die allerersten Touren hatte Peter freilich noch nicht aufgezeichnet. Nach der Schule marschierte er oft los auf die Berge, die von Mayrhofen aus zu erreichen waren – die Ahornspitze, der Kolm oder Grünberg. »Die Mutti hat mir vertraut. Sie hat mich freigelassen. Ich war wie ein Hund ohne Leine.«

Es war aber nicht so, dass es nur noch Berge im Kopf des jungen Zillertalers gegeben hätte. Als Elfjähriger kam Habeler für ein Jahr in die Hauptschule nach Salzburg. »Die Mama war zu dieser Zeit leider viel im Krankenhaus und war nicht fähig, für mich zu sorgen«, erinnert er sich. Untergebracht war Habeler in einem Knabeninternat auf der Edmundsburg. Dem geistlichen Einfluss dort konnte er viel abgewinnen, und er wurde zum Anführer der Jungschar. »Zu dieser Zeit konnte ich mir sogar vorstellen, dass ich einmal Pfarrer werd.« Das einfache geistliche Leben gefiel ihm: früh aufzustehen, ein einfaches Essen zu bekommen, ganz simpel und spartanisch. »Wie bei den Expeditionen später, da ist’s auch immer ganz einfach zugegangen.« Der Präfekt sei ein sehr angenehmer Mensch gewesen, erzählt Peter. »Nur einmal hat er mir eine teuflische Ohrfeige gegeben. Aber die hatte ich wohl verdient.« Anstatt die Maiandacht zu besuchen, hatte er ein paar der Burschen angestiftet, zum Fußballspielen abzuzweigen. Seine zweite große Leidenschaft.

Zurück im Zillertal – seiner Mutter ging’s wieder besser – verbrachte Habeler seine Freizeit neben der Hauptschule wieder gerne im Gebirge. Entweder heftete er sich an die Bergschuhe vom Toni oder unternahm alleine oder mit Freunden Touren rund um die Hütten in den Zillertaler Alpen. Dort blieb er immer häufiger über Nacht und schlief in einem Kämmerlein, das gerade frei war. Mit dem Hüttenleben tat sich eine neue Welt für ihn auf. Am öftesten marschierte der junge Habeler auf die Greizer Hütte, hoch oben im Floitental über dem Bergsteigerdorf Ginzling. Er rannte hinauf zur Lapenscharte zum Einstieg vom Großen Löffler und lief unten angekommen Hüttenwirtin Hermine Kröll in die offenen Arme. »Die Minal hat mich als Bub geliebt, und auch ich hab sie so gerne mögen.« Bezahlen musste er nie – Peter war auf den Hütten mehr Sohn als Gast –, und gebraucht hatte er ja nicht viel: In der Früh gab es ein Marmeladenbrot und am Abend eine Erbsenwurstsuppe. Damit war er den ganzen Tag lang satt.

Auf dem Weg zu seinem Traumberuf musste Peter Habeler, 14 Jahre jung und ausgeschult, aber doch noch ein paar Umwege in Kauf nehmen. Eine Freundin seiner Mutter, »die Käthi aus Vorarlberg«, meldete sich mit folgendem Vorschlag: Peter könnte die Handelsschule besuchen und beide bei ihr wohnen. Das wollte Peter zwar nicht, doch seine Mutter setzte sich durch. Nach einem Jahr brach er die zweijährige Handelsschule aber auch schon wieder ab und ging zurück ins Zillertal. Dort begleitete er Toni oder Otto auf ihren geführten Touren und verdiente als Hilfsbergführer auf den Großen Möseler seine ersten paar Schillinge. Mit 16 Jahren kaufte sich Habeler eine kleine Eigentumswohnung in Mayrhofen. Leisten konnte er sich diese aber nur dank einer Erbschaft aus Pottschach. 30 Quadratmeter groß, gelegen in der Zollhausgasse – der heutigen Peter-Habeler-Straße. Wenn seine Mutter ins Zillertal kam, lebte sie bei ihm. Oft war sie aber nicht dort.

Die Einsamkeit war natürlich nicht immer einfach. Oft plagte Peter Kopfweh. Hermine Lottersberger, zu dieser Zeit noch nicht ganz so stark mit dem Kletterfieber angesteckt, hatte einen Wohnungsschlüssel. Hin und wieder kochte sie für den Nachbarsjungen und kümmerte sich um den Haushalt, wenn er ausgeflogen war. Und wenn er mit Tränen am Balkon stand, winkte sie ihn herüber und tröstete: »Du, Peter, die Mama kimmt sicher bald wieder hoam.«

Gut aufgehoben wie in einer eigenen Familie fühlte sich Peter auch bei Horst Fankhauser. Die beiden verband eine innige Bergfreundschaft, die auch im Tal bestand. »Gerade in der Adventszeit sind wir immer viel bei uns daheim gewesen«, erzählt Horst. »Da hat Peter diese Wärme gespürt, die er daheim nicht bekommen hat.« Seine eigene Mutter sei eine Reisende gewesen, resümiert Habeler. »Sie war eine ganz tolle Mama – aber sie war auf der einen Seite sehr viel krank und auf der anderen Seite sehr viel weg.« In gewisser Weise habe sie ihm vorgemacht, was er später auch selbst leben sollte.

So wurde das Gebirge immer mehr zu seinem Zuhause, und in diesem Zuhause wurde Toni Volgger immer mehr zu einem Vater. Toni vertraute ihm am Seil auch seine Gattin Hedwig an, wenn er Gäste durchs Zillertal führte. Hedwig unternahm mit Peter gerne Touren – die Fußstein-Nordkante oder die Überschreitung des Olperers zum Beispiel. Und auch Peter war glücklich mit seiner Seilpartnerin. »Die Hedwig geht wie eine Feder«, notierte er in sein Tourenbüchlein.

Auf der Greizer Hütte, 1959, lacht sich Peter ein Mädchen an. Hinter ihm steht Hüttenwirtin Hermine Kröll.

Hier kennt er sich gut aus: Peter (Mitte) ist mit Freunden am Weg zur Reichenspitze in seinen heimischen Bergen.

Einem großen Schritt näher kam Habeler seiner Herzenssache Bergführer, als er in den Weihnachtsferien als Hilfsskilehrer in der Skischule von Riki Maringer und Ernst Spieß anfangen durfte. Die beiden gaben Habeler fortan über viele Jahre hinweg immer wieder Jobs zum Geldverdienen und wurden viel mehr als nur Arbeitgeber. Mit dem Gedanken, dass ihr Sohn mit 16 oder 17 Jahren Bergführer werden sollte, konnte sich Peters Mutter aber nicht recht anfreunden. »Für sie war es schwierig, nachzuvollziehen, wie ich im Gebirge mein Geld verdienen soll«, sagt Peter. Gemeinsam mit seinem Bruder Roman kam damals die Idee auf den Tisch, dass er die vierjährige Glasfachschule in Kramsach besuchen könnte, um das Gewerbe eines Glasmalers und Bleiverglasers zu erlernen. »Roman war ein Künstler und ein großartiger Maler. Das war ich bei Weitem nicht, aber ich hatte grafisches Gespür und einen schönen Strich, wie man so sagt.« Später einmal würde er vielleicht bei Riedl in Kufstein Gläser bemalen können, dachte sich die Familie. Schon bald jedenfalls würde er in den Wänden des Rofans klettern können, dachte sich Peter.

»Dort war ich wirklich glücklich«, sagt Habeler, »weil ich klettern konnte und ganz tolle Lehrer hatte.« Nebenbei blieb er am Ball und spielte eine Zeit lang beim SV Rattenberg in Kramsach Fußball – als Stopper hinten im Mittelfeld. »Ich war stabil, an mir sind sie nicht so schnell vorbeigekommen. Ich hab sie einfach gehaxelt«, erinnert er sich mit einem frechen Grinsen.