Mein Schicksal heißt Afghanistan - Zoya - E-Book

Mein Schicksal heißt Afghanistan E-Book

Zoya

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Beschreibung

Zoya ist 23 Jahre alt und stammt aus Kabul. Seit 1994 ist sie Mitglied von RAWA, dem revolutionären Frauenverband Afghanistans. Diese Widerstandsbewegung kämpft seit über 20 Jahren gegen fundamentalistische Restriktionen und für eine Gleichheit der Geschlechter, vor allem für Bildung und Gesundheitsversorgung für Frauen. Die sanften Rebellinnen operierten während der Taliban-Herrschaft unter unglaublichen Gefahren von Pakistan aus. Sie schleusen Ärzteteams und Krankenschwestern nach Afghanistan ein und bringen Mädchen und Frauen heimlich Lesen und Schreiben bei. In der pakistanischen Grenzstadt Ouetta haben sie ein Flüchtlingslager mit Krankenhaus und Schule organisiert. Die beiden Journalisten John Follain und Rita Cristofari trafen Zoya in Rom, wo sie Vorträge hielt und Spendengelder für RAWA sammelte. Dort begann Zoya, ihre Lebensgeschichte zu erzählen und von ihrem gefahrvollen Alltag in Afghanistan zu berichten, wo Frauen weniger gelten als Tiere und öffentliche Hinrichtungen in Fußballstadien an der Tagesordnung sind.

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Seitenzahl: 269

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

PROLOG

ERSTER TEIL Ein Geschenk aus Russland

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

ZWEITER TEIL Die blutende Wunde

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

DRITTER TEIL Ein neuer Name für die Freiheit

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

VIERTER TEIL Die schweigende Stadt

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

FÜNFTER TEIL Ein Lager in der Wüste

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

SECHSTER TEIL Jenseits des Schleiers

18. KAPITEL

19. KAPITEL

ZU DIESEM BUCH

CHRONOLOGIE

Über dieses Buch

Zoya wurde in Kabul geboren. Doch als kleines Mädchen musste sie mit ihrer Großmutter nach Pakistan fliehen, wo sie die Schule besuchen durfte und 1994 der Organisation RAWA beitrat. Diese Widerstandsbewegung wurde 1977 gegründet und kämpft gegen fundamentalistische Restriktionen und für die Gleichheit der Geschlechter. Vor allem aber setzt sie sich für Bildung und Gesundheitsversorgung von Frauen ein. Die Rebellinnen, die nicht durch Gewalt, sondern durch Aufklärung Veränderung schaffen wollen, operierten während der Taliban-Herrschaft unter unglaublichen Gefahren von Pakistan aus.

John Follain und Rita Cristofari trafen Zoya in Rom, wo sie Vorträge hielt und Spendengelder für RAWA sammelte. Dort begann die junge Frau, den beiden Journalisten ihre Lebensgeschichte zu erzählen und von ihrem gefahrvollen Alltag in Afghanistan zu berichten.

Über die Autorin

Nach dem Mord an ihren Eltern floh Zoya mit ihrer Großmutter von Afghanistan nach Pakistan. Dort war es ihr möglich, eine Schule zu besuchen, die von der Organisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) geleitet wurde. Seit 1994 ist sie selbst aktives Mitglied dieser Organisation. Einige Jahre später kehrte sie nach Afghanistan zurück und erlebte aus erster Hand die Schrecken des Taliban-Regimes. Seitdem versucht sie, ihrem Volk und den unterdrückten Frauen zu helfen.

ZOYAmit John Follain und Rita Cristofari

Mein Schicksal heißt Afghanistan

Eine Frau kämpft für die Freiheit

Aus dem Englischen von Anja Hansen-Schmidt und Karin Schuler

Deutsche Digitalausgabe

Für die Originalausgabe:

© 2002 by John Follain & Rita Cristofari

Originalausgabe: »Zoya‘s Story«

Erste deutsche Ausgabe:

Copyright © 2002 by Bastei Lübbe AG

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © marin_bulat/shutterstock

E-Book-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-8435-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

PROLOG

Wir erreichten die afghanische Grenze am Khaiberpass in Torkham, und unser Wagen hielt kurz vor dem von Taliban-Soldaten bewachten Grenzübergang. Ehe ich aus dem Auto stieg, half mir Abida, die Burka überzustreifen. Meine Freundin zupfte den Stoff so lange zurecht, bis er mich von Kopf bis Fuß vollständig bedeckte. Ich hatte das Gefühl, in einen Sack gesteckt worden zu sein, und obwohl es mir schwer fiel, mich in diesem engen Überwurf aus billigem, blauen Polyester zu bewegen, schwang ich meine Beine aus dem Auto und kletterte hinaus.

Der Grenzübergang war noch knapp hundert Meter entfernt. Einen Moment lang ruhte mein Blick auf meiner Heimat, die sich hinter ihm erstreckte. Fünf Jahre lang hatte ich im Exil in Pakistan gelebt, dies war meine erste Reise zurück nach Afghanistan. Allerdings musste ich nun seine trockenen und staubigen Berge durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle betrachten. Das Maschennetz mit den winzigen Löchern vor meinen Augen scheuerte gegen meine Augenlider, und als ich versuchte, zum Himmel hinaufzuschauen, versperrte mir der Stoff den Blick.

Die Burka lastete wie ein Leichentuch auf mir. Ich begann, unter der heißen Junisonne zu schwitzen, und der Stoff saugte die Schweißperlen auf meiner Stirn gierig auf. Der Geruch des Parfüms, mit dem ich mich als kleine Geste der Rebellion am Morgen besprüht hatte, verflüchtigte sich sofort. Vor wenigen Augenblicken noch hatte ich leicht und instinktiv geatmet, nun hatte ich plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als hätte mir jemand den Sauerstoff abgedreht.

Ich folgte Javid, der auf den Grenzübergang zuging. Er würde die Rolle unseres Mahram übernehmen, des männlichen Verwandten, ohne den die Frauen unter den Taliban ihre Häuser nicht verlassen durften. Ich konnte die Menschen, die neben mir gingen, nicht sehen, ebenso wenig wie die Straße unter meinen Füßen. Meine Gedanken konzentrierten sich auf die Vorschrift der Taliban, dass mein gesamter Körper, selbst meine Füße und Hände, stets unter der Burka verborgen sein mussten. Schon nach wenigen Schritten geriet ich ins Stolpern und wäre fast gestürzt.

Als ich endlich den Grenzübergang erreichte, sah ich, wie Javid zu einem der Grenzposten ging. Mit seiner Kalaschnikow über der Schulter, seinem fanatischen Blick, dem ungepflegten Bart und den schmutzigen Kleidern sah er genauso wild aus wie die Mudschaheddin, jene Soldaten aus meiner Kindheit, die behauptet hatten, einen »Heiligen Krieg« gegen die Russen zu kämpfen. Ich beobachtete, wie er sich an den Hinterkopf griff und etwas aus seinen Haaren zog, vermutlich eine Laus, die er mit einem hörbaren Knacken zwischen seinen Nägeln zerdrückte. Bei seinem Anblick musste ich daran denken, was meine Großmutter über die Mudschaheddin gesagt hatte: »Wenn sie in mein Haus kommen, brauchen sie mich gar nicht mehr zu töten. Ich werde schon beim Anblick ihrer wilden Gesichter tot umfallen.«

Der Taliban fragte Javid, wo er hinwolle, und er erwiderte, er sei mit diesen Frauen unterwegs, seinen Töchtern. Sie seien nach Pakistan gereist, weil er krank sei und ärztliche Behandlung brauchte. »Jetzt wollen wir wieder zurück nach Kabul.«

Niemand wollte meine Papiere sehen. Man hatte mir erzählt, dass die Burka der einzige Ausweis war, den die Taliban von einer Frau verlangten.

Hätte der Wachposten mir befohlen, meine Tasche zu öffnen, wären die zehn zusammengeschnürten Papierbündel, die ich unter meinen wenigen Habseligkeiten versteckt hatte, sicher entdeckt worden. Sie stammten von der geheimen Organisation, der ich beigetreten war, der Revolutionären Vereinigung der Frauen Afghanistans. Die Unterlagen enthielten zahlreiche Fotos, bei deren Anblick mir immer noch schlecht wurde, egal, wie oft ich sie betrachtete. Sie zeigten öffentliche Hinrichtungen durch Steinigen oder Erhängen, das Amputieren mutmaßlicher Diebe, bei denen Jugendliche den Zuschauern die abgetrennten Gliedmaßen präsentierten, die Qual der Opfer, die mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt wurden, sowie die Massengräber, die im Gefolge der Machtergreifung durch die Taliban überall aufgetaucht waren. All diese Verbrechen des Talibanregimes waren anhand der Berichte unserer Mitglieder in Kabul zusammengetragen worden. Die Unterlagen wurden in die Stadt geschmuggelt, dort tausendfach kopiert und an so viele Menschen wie möglich verteilt.

Glücklicherweise interessierte sich der Wachposten nicht für mich, und so durfte ich schlurfend und stolpernd die Grenze nach Afghanistan passieren, während meine Würde langsam unter der Burka erstickte.

Da es uns nicht erlaubt war, mit dem Fahrer des dreckigen Kleinbusses, der zur Abfahrt nach Kabul bereit stand, zu reden, ging Javid zu ihm und fragte nach dem Preis für die Fahrkarte. Anschließend kletterten Abida und ich in den Bus und setzten uns möglichst weit nach hinten zu den anderen Frauen. Dann mussten wir alle warten, bis ein Taliban kam und kontrollierte, dass sich keine verdächtigen Personen im Bus befanden. Vorher durfte die Reise nicht beginnen. So hätte beispielsweise eine Frau mit weißen Strümpfen Misstrauen erregt, da sie laut einer der lächerlichen Vorschriften der Taliban verboten waren. Weiß war nämlich die Farbe der Talibanflagge, und sie empfanden es als Beleidigung, einen derartig minderwertigen Körperteil wie die Füße mit einem Stoff in dieser Farbe bedeckt zu sehen.

Je länger die Fahrt dauerte, desto enger schien das Stirnband der Burka zu werden, und mein Kopf begann zu schmerzen. Der Stoff klebte an meinen feuchten Wangen, und die heiße Luft, die ich ausatmete, staute sich unter meiner Nase. Der Mangel an Frischluft, die drückende Hitze und der Geruch von Benzin, vermischt mit dem Gestank von Schweiß und ungewaschenen Füßen, der von den Männern vor uns aufstieg, steigerten mein Unwohlsein, bis ich glaubte, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er zerplatzen.

Wir hatten nur eine Wasserflasche dabei. Jedes Mal, wenn ich den Stoff hob, um einen Schluck daraus zu trinken, rieselte das Wasser an meinem Kinn entlang und durchnässte mein Hemd. Irgendwann gelang es mir, eine Aspirin zu nehmen, aber auch das vermochte meinen Zustand nicht zu bessern. Ich versuchte, mir mit einem Stück Karton Luft zuzufächeln, aber dafür musste ich erst mühsam den Stoff vor meinem Gesicht anheben, damit ich die Pappe unter der Burka hin und her bewegen konnte. Schließlich stützte ich meine Füße gegen die Rücklehne des Sitzes vor mir, damit wenigstens an meine Beine etwas Luft kam. Dabei musste ich jedoch ständig Acht geben, nicht zur Seite zu kippen, wenn der Bus mit hoher Geschwindigkeit die engen Kurven der Passstraße nahm. Ich hatte jedes Mal Angst, er könnte in den Abgrund stürzen.

Ab und zu wechselten Abida und ich ein paar Worte, aber wir mussten sehr aufpassen, was wir sagten, und jedes Mal, wenn ich meinen Mund öffnete, presste sich der schweißdurchtränkte Stoff wie eine Gesichtsmaske dagegen. Ich durfte jedoch meinen Kopf an ihre Schulter lehnen, obwohl ihr ebenso heiß war wie mir.

Während dieser Fahrt wurde mir die Bedeutung der Burka erstmals richtig bewusst. Während ich die Frauen um mich herum verstohlen musterte, begann ich zu begreifen, dass sie nicht rückständig waren, wie ich als Kind angenommen hatte. Diese Frauen waren gezwungen, die Burka zu tragen, da sie andernfalls Schläge mit der Peitsche oder mit Ketten zu befürchten hatten. Die Taliban wollten, dass sie ihre Identitäten als Frauen verbargen, dass sie sich ihres Geschlechts schämten und niemals auch nur einen Quadratzentimeter ihres Körpers zeigten.

Die Berge, Wasserfälle und Wüsten, die armseligen Dörfer und zerstörten russischen Panzer, die ich durch die Burka und das dreckverschmierte Fenster sehen konnte, zogen an mir vorbei, ohne dass ich ihnen große Beachtung schenkte. Ich konnte nur noch daran denken, wann die Fahrt endlich zu Ende wäre. Während der sechsstündigen Reise konnten wir Frauen den Bus kein einziges Mal verlassen. Der Fahrer hielt lediglich zu den Gebetszeiten an, und nur die Männer durften aussteigen, um neben der Straße zu beten. Auch Javid schloss sich ihnen an. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten.

ERSTER TEILEin Geschenk aus Russland

1. KAPITEL

Kabul war schon immer dann am schönsten, wenn Schnee lag. Selbst die Haufen verrottenden Mülls in unserer Straße, einzige Nahrungsquelle für die mageren Hühner und Ziegen, die unsere Nachbarn vor ihren Lehmhäusern hielten, sahen in meinen Augen schön aus, wenn sie nach einer der langen Winternächte von einer weißen Schneeschicht überzogen waren.

In jenem Dezember, ich war vier Jahre alt, spielte ich mit einigen Nachbarskindern im Schnee. Wir schubsten uns gegenseitig und drängten einander zur Seite, um den Schneebällen auszuweichen – kein leichtes Unterfangen in einer Gasse, die so schmal war, dass nicht mehr als drei Erwachsene nebeneinander gehen konnten. Irgendwann hörten wir auf herumzutoben, weil einer von uns in den Laden gehen und etwas kaufen wollte. Es war eines der anderen Kinder, denn ich hatte nicht das Geld dafür, obwohl der Ladenbesitzer in unserer Straße gewöhnlich nichts dagegen hatte, wenn ich erst am nächsten Tag bezahlte.

Wir drängten alle in den kleinen Laden hinein, in dem bereits eine russische Soldatin stand. Wie die Soldaten, die ich in der Stadt gesehen hatte, trug auch sie eine dunkelgrüne Uniform und große Stiefel. Sie sah mich an und streckte mir dann einen Schokoriegel hin, der in ein glänzendes, gelbes Papier gewickelt war – meine Lieblingsschokolade. Sie beugte sich zu mir runter und sagte etwas, das ich nicht verstand. So nah war ich noch nie an einen der russischen Eindringlinge herangekommen.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und starrte sie einfach nur an. Sie sah genauso aus wie meine Puppe Mujda (»gute Nachrichten«), mit ihren flachsfarbenen Haaren, der weißen Haut und den grünen Augen. Meine Großmutter hatte mich vor diesen Gesichtern gewarnt. »Du solltest dich vor ihnen hüten«, ermahnte sie mich immer wieder, »es sind Eindringlinge, die Afghanistan besetzt haben. Ihre Hände sind mit roter Farbe befleckt, dem Blut unseres Volkes. Wenn dir einer dieser russischen Eindringlinge etwas anbieten sollte, nimm es nicht an. Und geh auf keinen Fall mit ihm.« Aber sie hatte immer nur von Männern gesprochen, niemals von Frauen.

Die Soldatin hielt mir die Schokolade auffordernd entgegen. Ich versuchte zu sehen, ob an ihrer Hand Blut klebte. Ich hatte Angst, meine Finger könnten ebenfalls blutig werden, wenn ich die Schokolade berührte, und war fest davon überzeugt, dieses Blut nie wieder abwaschen zu können, egal, wie sehr ich meine Hände auch schrubbte. Aber an ihrer Hand war kein Blut. Als ich »Nein« zu ihr sagte, lachte sie nur und sagte wieder etwas, das ich nicht verstand. Dann wandte sie sich an den Ladenbesitzer, der mir erklärte: »Sie sagt, sie mag dich und möchte dir gerne diese Schokolade schenken. Warum willst du sie nicht nehmen?«

Ich erwiderte, was Großmutter mir befohlen hatte, wenn mich ein Russe ansprechen sollte. »Wenn sie eine Russin ist, dann sagen Sie ihr, dass sie aus meinem Land verschwinden soll.« Mit diesen Worten verließ ich den Laden.

Die Soldatin folgte mir auf die Straße. Ich blieb abwartend stehen. Sie stand vor mir, und ich konnte sehen, dass sie weinte. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und drückte es an ihre Augen. Ich hatte noch nie einen der Eindringlinge weinen sehen. Sie tat mir leid. Ich hätte ihr Geschenk gerne angenommen, aber gleichzeitig hatte ich Angst davor, was Großmutter dazu sagen würde. Am liebsten hätte ich gesagt: »Bitte warten Sie. Ich will meine Großmutter fragen, ob ich die Schokolade nehmen darf oder ob ich Ihnen vielleicht noch etwas anderes sagen soll.« Aber mein Hals war wie zugeschnürt, und so machte ich einfach kehrt und rannte schnell nach Hause.

Ich sprang über den schmalen, stinkenden Bach, der an unserem Haus vorbeiführte und den die gesamte Nachbarschaft als Abwasserkanal benutzte, stemmte die Metalltür mit der abgeblätterten blauen Farbe auf und eilte über den Hof, den ich immer als unseren Garten bezeichnete, obwohl dort keine einzige Blume wuchs. Im Haus streifte ich mir schnell die Schuhe ab und lief über die bunten Teppiche zu Großmutters Platz. Sie verbrachte fast den ganzen Tag in einer Ecke im Wohnraum unseres Hauses, wo sie mit einem kleinen Schleier über dem Haar auf einer Matte saß, die zum Sitzen über die Teppiche gelegt wird. Manchmal lehnte sie auch an der Hauswand aus getrocknetem Lehm.

Bei ihr lagen die Tasbih, ihre Gebetskette, die sie den ganzen Tag in den Händen hielt, ihr Asthmaspray und die Arznei gegen ihr Rheuma. Ich kannte niemanden, der so lange betete wie Großmutter. Andere Leute beteten zwei Minuten und erhoben sich dann schnell wieder, aber Großmutter verbrachte stets eine halbe Stunde auf ihrem Gebetsteppich, der ansonsten zusammengerollt an der Wand lag. Wollte ich sie etwas fragen oder mit ihr spazieren gehen, musste ich mich so lange gedulden, bis sie ihr Gebet beendet hatte.

Ihre Ausgabe des Korans, die ich nur berühren durfte, nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, lag, bedeckt mit einem Tuch, auf einem kleinen Holztisch in Reichweite. Großmutter war sehr gebrechlich und hatte Mühe aufzustehen, daher verrichtete sie sämtliche Aufgaben, vom Gemüseputzen bis hin zu den fünf täglichen Gebeten zu Allah, an diesem Platz. Wenn sie in der Küche arbeitete, bewegte sie sich sehr langsam, und es dauerte seine Zeit, bis das Essen zubereitet war.

Als ich an jenem Tag ins Haus gerannt kam, machte sie gerade ihren Mittagsschlaf, und ich wagte es nicht, sie aufzuwecken, weil sie häufig unter Schlafstörungen litt. Ich setzte mich neben sie und versuchte, möglichst leise zu sein. Die Minuten schienen unendlich langsam zu vergehen, daher nahm ich ihre Gebetskette und spielte zur Zerstreuung ein bisschen mit ihr. Wenn Großmutter betete, murmelte sie leise vor sich hin und ließ dabei die braunen Perlen eine nach der anderen, klick, klick, klick, durch ihre Finger gleiten. Ich hatte sie einmal gefragt, welche Worte sie beim Beten spräche, woraufhin sie erklärte, sie würde nur immer wieder meinen Namen sagen. Ich glaubte ihr und war glücklich, weil Großmutter den ganzen Tag lang meinen Namen wiederholte.

Während ich neben ihr saß und an die Soldatin dachte, stieg Scham in mir auf, als hätte ich etwas falsch gemacht. Und nachdem Großmutter endlich aufgewacht war, erzählte ich ihr sofort, was ich erlebt hatte: »Großmutter, die Frau weinte. Sie tat mir so leid. Ich habe die Schokolade abgelehnt, weil du es mir gesagt hast, aber vielleicht hätte ich sie doch nehmen sollen?«

»Meine Tochter«, sagte Großmutter – sie nannte mich immer »Tochter« –, »du hättest die Schokolade nicht deswegen nehmen sollen, weil sie dir von einer weinenden Frau angeboten wurde. Du hättest dich zwar bedanken sollen, aber dennoch war es richtig, das Geschenk abzulehnen. Natürlich sind nicht alle Russen schlecht, viele von ihnen sind Menschen wie du und ich. Aber du darfst nie vergessen, dass sie ohne Einladung in unser Land gekommen sind und uns nun zwingen, das zu tun, was sie wollen. Sie wollen dich zu ihrer Dienerin machen und uns die Schätze unserer Berge rauben, wir aber möchten selbst über unsere Zukunft entscheiden.«

Damals hielten die Russen Afghanistan schon seit drei Jahren besetzt. Als ich ein Jahr alt war, im Dezember 1979, waren sie in das Land eingefallen, und zwar unter dem Vorwand, die kommunistische Regierung zu unterstützen, die nach einem blutigen Militärputsch im April 1978 an die Macht gekommen war. Sie fürchteten, muslimische Fundamentalisten könnten – wie im Iran zu Beginn des Jahres – mit Hilfe der Amerikaner und Chinesen die Macht im Land an sich reißen. Durch die russische Invasion wurde Afghanistan in den Kalten Krieg hineingezogen, da die Mudschaheddin daraufhin die USA um Unterstützung im Kampf gegen die Besatzer baten.

Die Familien meiner Eltern hätten kaum unterschiedlicher sein können. Vater, der Persisch sprach, stammte aus einer Stadt im Süden Afghanistans und gehörte wie Mutter zum Stamm der Paschtunen, den traditionellen Herrschern des Landes. Mutter, die von ihren Eltern zur Schule geschickt worden war und auch die Universität besuchte, hatte keine hohe Meinung von der Familie ihres Mannes. Sie hielt seine Verwandten für rückständig und lud sie nie zu uns ein.

»Alle Frauen in seiner Familie tragen einen Schleier«, erklärte sie mir. »Sie finden es ganz normal, ein Mädchen für ein paar Kühe oder Schafe in die Ehe zu verkaufen. Dein Vater hat sich mit seinem Vater böse gestritten, weil sich dieser noch zwei weitere Ehefrauen nahm, als Vater noch ein Kind war.«

Meine Eltern waren entfernt miteinander verwandt, und ihre Ehe war nach Landessitte von ihren Eltern arrangiert worden. Doch die Art und Weise, wie die Hochzeit gefeiert wurde, entsprach ganz und gar nicht den üblichen Bräuchen. Normalerweise dauern die Festlichkeiten eine ganze Woche. Selbst die ärmsten Familien leihen sich große Summen Geld, um während dieser Woche getrennte Feiern für die Braut und den Bräutigam auszurichten und mehr als tausend Gäste zu bewirten. Eine Hochzeit mit »nur« dreihundert Gästen wurde als armselig angesehen. Darüber hinaus muss die Braut jeden Tag ein neues – und teures – Kleid tragen, stets in einer anderen Farbe, als müsse sie alle Farben des Regenbogens durchprobieren.

Mutter, bei ihrer Hochzeit achtzehn Jahre alt, fand das alles lächerlich, ebenso wie die Tradition in den abgelegeneren Bergdörfern, nach der ersten gemeinsamen Nacht das bräutliche Laken vor das Fenster zu hängen, damit die Leute anhand der Blutflecken sehen können, ob die Braut noch Jungfrau war. Sie bestand auf einer kleinen Feier mit der Begründung, der Erfolg einer Ehe ließe sich nicht nach den Kosten für die Hochzeit bemessen. Sie entschloss sich sogar, am Tag ihrer Hochzeit nicht in den Schönheitssalon zu gehen, weil man ihr dort, wie sie scherzhaft sagte, so viel Schminke ins Gesicht schmieren würde, dass sie bei der Trauung fünf Kilo mehr wöge.

Die Vorstellungen der Braut waren für die Verwandten meines Vaters zu fortschrittlich. Einige von ihnen betonten, dass man nur dann eine kleine Feier abhielte, wenn es sich bei der Braut um eine Witwe handle oder wenn sie sonst einen Makel hätte, zum Beispiel irgendeine Krankheit. Aber Vater, der als Erster in seiner Familie eine richtige Ausbildung erhalten hatte – er hatte in Kabul Biologie studiert –, unterstützte seine Braut. Er hatte es gerne schlicht, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass er je über Geld sprach. So setzten meine Eltern am Ende ihren Willen durch, und es wurden nur vierzig Gäste eingeladen.

Die Trauung fand in dem Haus statt, in dem ich später auch aufwuchs. Es bestand aus vier dunklen Räumen mit Wänden aus hartem Lehm. Manchmal rieselten beim Spielen alte, vertrocknete Lehmstückchen von der Decke auf mich herab.

Die Zeremonie war schnell vorüber. Die Tradition schreibt eigentlich vor, dass Braut und Bräutigam nebeneinander sitzen und einen Spiegel vorgehalten bekommen, in dem sie ihren Partner zum ersten Mal sehen. Aber beide Familien hatten darin eingewilligt, dass meine Eltern sich schon einige Wochen vor der Hochzeit kurz sehen konnten. Bei diesem Treffen wechselten sie lediglich wenige Worte miteinander, und Vater überreichte Mutter einen goldenen Verlobungsring.

Es gab also keinen Spiegel. Meine Mutter trug ein schlichtes, rosafarbenes Kleid, ihr einziger Schmuck waren der Verlobungsring und ein Paar Ohrringe. Sie hatte sich nicht einmal die Hände mit Henna bemalt. Der weiß gekleidete Mullah betrat den Raum und fragte zuerst die Braut und dann den Bräutigam, ob sie bereit wären, sich trauen zu lassen. Die Vorschrift besagt, dass er beide dreimal fragen muss, und auch wenn sie stumm bleiben, zählt dies als Ja. Dann unterzeichneten sie ein Stück Papier, und die Trauung war vorüber. Die Feier dauerte nur einen Tag. Es wurde Kabuli-Reis serviert, unser Nationalgericht, das aus Reis mit Hühnchen, Kohl, Karotten, Rosinen, Mandeln und Pistazien besteht, sowie Bolani, frittierte Kartoffelplätzchen, und danach noch Dessert und Früchte. Laut Großmutter beschwerten sich Vaters Verwandte, die Hochzeit hätte wie eine Beerdigung gewirkt.

Obwohl es sich um eine arrangierte Ehe handelte, entwickelte sich zwischen meinen Eltern echte Liebe. Mein Vater respektierte von Anfang an die Rechte meiner Mutter. Viele afghanische Männer bestehen darauf, dass ihre Frauen, wenn sie studieren oder arbeiten, nach der Hochzeit alles aufgeben und zu Hause bleiben. Vater stellte keine derartigen Forderungen, und Mutter konnte weiterhin Literatur an der Universität in Kabul studieren, die von den Russen erbaut worden war. Sie hatte sogar einige reiche Verehrer mit großen Ländereien und vielen Pferden abgewiesen, weil sie ihr zu traditionell waren. Vater hätte auch nicht im Traum daran gedacht, sich mehr als eine Frau zu nehmen.

Vor mir zeigten meine Eltern ihre Zuneigung nur selten. Mutter las gerne Liebesgedichte, und manchmal las sie Vater diese laut vor. Ich sah nie, wie sie sich küssten, aber wenn Mutter abends müde war, bat sie Vater manchmal darum, sie zu massieren. Ich durfte bei ihnen sitzen bleiben, wenn sie sich auf das Bett legte und er zuerst ihren Kopf und dann ihren Nacken und ihre Schultern massierte, wobei seine Hände allerdings stets über ihrem Nachthemd blieben.

Großmutter erzählte mir, dass sich Vaters Verwandte lautstark beschwert hätten, als ich geboren wurde. Viele von ihnen wären enttäuscht darüber gewesen, dass ich ein Mädchen war. Ich war das erste Kind meiner Eltern, und für die meisten Afghanen ist es von großer Bedeutung, dass das erste Kind ein Junge ist. In den traditionell geprägten Dörfern auf dem Land schreit die Familie bei der Geburt eines Jungen: »Ein Junge ist geboren! Ein Junge ist geboren!« Die Männer schießen zur Feier mit ihren Gewehren in die Luft, und Verwandte und Freunde legen Geldgeschenke in das Bett des Babys oder der Mutter. In einigen Familien bekommen die Jungen sogar mehr zu essen als ihre Schwestern.

Bei der Geburt eines Mädchens ertönt dagegen kein Geschrei, und niemand eilt zum Haus der Eltern, um ihnen zu gratulieren. Es findet sich auch kaum Geld in ihrem Bett. Die Leuten gehen vielmehr zur Mutter und trösten sie: »Keine Sorge, dein nächstes Kind wird bestimmt ein Junge.«

Die Familie meines Vaters wünschte sich einen Jungen, weil Jungen ihrer Meinung nach stärker sind als Mädchen und weil meine Mutter im Alter dann einmal bei ihrem Sohn leben könnte. Bei Töchtern hingegen gab es eine solche Tradition nicht. Aber Vater widersprach seinen Verwandten und erklärte, er hätte mich genauso gern wie einen Sohn.

Oft sagte er zu mir: »Wenn du groß bist, wirst du einmal eine Ärztin werden. Oder eine gute Lehrerin, die das Volk unterrichtet.« Er hatte so viele Pläne mit mir, dass Mutter ihn auslachte und sagte: »Was du dir alles von unserer einzigen Tochter erhoffst! Sie wird deine Träume unmöglich alle erfüllen können.« Vater wurde dann immer ganz ernst und erwiderte: »Du wirst sehen, sie wird später einmal viel Gutes tun. Sie hat das Zeug dazu.«

Als ich Großmutter fragte, was sie davon hielt, dass ich ein Mädchen war, sagte sie: »Ich bin glücklich darüber. Du bist für mich Sohn und Tochter zugleich. Du sollst einmal so stark werden, dass dich niemand für eine Frau hält.«

Einmal wollte ich von ihr wissen, wie ich auf die Welt gekommen war.

»Ich spazierte eines Tages so durch die Straßen«, antwortete sie, »und sah dieses wunderschöne Baby in einem Schaufenster liegen. Ich blieb stehen und betrachtete es ganz genau. Dann ging ich in den Laden und erklärte dem Besitzer, ich hätte zwar kein Geld, würde ihn aber dennoch bitten, mir diese wunderschöne Tochter zu geben. Doch er sagte, nein, du seist sehr teuer. Also ging ich wieder auf die Straße und bettelte so lange, bis ich das Geld zusammen hatte und dich kaufen konnte. Und so wurdest du geboren.«

Von da an war ich ungeheuer stolz darauf, ein teures Baby gewesen zu sein.

2. KAPITEL

Solange ich denken kann, war ich traurig, weil meine Mutter so selten zu Hause war. Sie war groß und schlank und hatte schwarze Augen und wunderschöne schwarze Haare. Wenn sie Zeit hatte, kochte sie etwas Besonderes für mich, Hühnchen und Reis oder Lamm, und dann spielten wir Verstecken oder Blinde Kuh. Ich wusste genau, dass sie schummelte und mich trotz des Tuchs über ihren Augen sehen konnte, aber das war mir egal.

Doch an den meisten Tagen verließ sie das Haus schon früh am Morgen und kehrte erst spätabends wieder zurück. Sie war immer müde und arbeitete anscheinend so viel, dass ich nicht zu fragen wagte, was sie den ganzen Tag machte. Ich begnügte mich mit dem Wissen, dass sie tagsüber zwar wichtigere Dinge zu tun hatte, aber abends wieder zu Hause war und dann ganz mir gehörte. Ich fand mich damit ab.

Oftmals erhielt ich die Anweisung, meine Mutter zu verleugnen, wenn jemand an der Tür nach ihr fragte. Auch wenn sie nicht gerne vor mir über ihre Arbeit sprach, spürte ich genau, dass einige aus ihrer Familie nicht gerade glücklich damit waren, zum Beispiel meine Tante Naseema, eine von Mutters Schwestern. Sie war ganz anders als Mutter, und ich konnte immer schon ihre Absätze im Hof klappern hören, bevor ich sie sah. Bei jedem Besuch trug sie ein anderes Kleid und zog häufig ihren knallrot geschminkten Mund mit dem Lippenstift nach. Sie legte großen Wert auf ein luxuriöses Leben.

An einem Sommertag, ich war etwa fünf Jahre alt, hörte ich zufällig, wie Tante Naseema beim Tee zu Mutter sagte: »Denk doch an deine Familie. Du solltest dir eine ordentliche Stelle suchen, damit du dir bessere Sachen leisten und mehr Zeit mit deiner Tochter verbringen kannst. Schließlich ist sie dein einziges Kind.«

»Niemand zwingt mich, das zu tun«, erwiderte Mutter. »Es ist allein meine Entscheidung.«

»Aber denk doch auch an das Risiko«, beharrte Tante Naseema. »Polizei und Geheimdienst sind heutzutage sehr aktiv, und du hältst dich ständig an diesen gefährlichen Orten auf!«

Sie waren so laut geworden, dass ich mich erhob, um das Zimmer zu verlassen. Meine Eltern mochten es nicht, wenn ich im Raum blieb, wenn Erwachsene sich stritten. Aber ich war noch nicht einmal zur Tür gekommen, als Mutter die Unterredung abrupt beendete: »Genug! Mir ist wichtig, dass ich meine Zeit nicht vergeude; das ist das Einzige, was für mich zählt.«

Ich war böse auf Tante Naseema, weil sie Mutter gegenüber laut geworden war. Ich fand, sie hätte nicht das Recht, Mutter zu kritisieren. Allerdings hatte ich keine Ahnung, was Tante Naseemas Bemerkung über die Polizei und den Geheimdienst zu bedeuten hatte.

Nachdem Naseema unser Haus verlassen hatte und auch Mutter sich bereitmachte zu gehen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte sie: »Warum bist du immer so müde und warum bist du nie bei mir? Die anderen Mütter in unserer Straße sind jeden Tag bei ihren Kindern.«

»Es tut mir wirklich leid, mein Kind, aber ich und meine Freunde haben viel Arbeit. Mir wäre es auch lieber, ich könnte bei dir zu Hause bleiben, aber es gibt sehr, sehr viel für uns zu tun«, antwortete sie.

Ich verstand nur, dass meine Mutter wenig Zeit mit mir verbrachte und sich dadurch von all den anderen Müttern in unserer Straße unterschied. Ich fühlte mich einsam und von den anderen Kindern ausgeschlossen. Die Väter der Nachbarskinder gingen jeden Tag zur Arbeit, so wie mein Vater auch, aber ihre Mütter blieben bei ihnen. Immer, wenn man mich zu Bett schickte, ehe Mutter nach Hause kam, konnte ich nicht einschlafen. Auch Großmutter war mir kein Trost, denn sie konnte dann ebenfalls kaum Schlaf finden, auch wenn sie so tat, als würde sie sich keine Sorgen machen.

»Leg dich jetzt schlafen. Ich kümmere mich um deine Mutter, wenn sie nach Hause kommt«, sagte sie dann. »Sie hat wichtige Dinge zu tun, und eines Tages musst du versuchen, so zu sein wie sie.«

Einige Wochen danach kletterte ich mit meinem Vater auf das Flachdach unseres Hauses, um einen Drachen steigen zu lassen. Es war einer der seltenen Tage, an denen er Zeit für mich hatte. Ich gab Acht, beim Spielen nicht auf die Tomaten zu treten, die in einer Ecke lagen und in der Frühlingssonne trockneten.

Eigentlich war ich noch zu klein, um einen Drachen steigen zu lassen. Regelmäßig rutschte mir die Schnur aus der Hand, und dann winkte mir der Drache mit seinem langen Schwanz ein letztes Mal zum Abschied zu, ehe er hinauf in den Himmel schoss, über die Minarette und die Kuppeln der Moscheen hinweg und höher hinauf noch als die Berge, die meine Heimatstadt umschlossen und mir immer ein Gefühl der Geborgenheit gaben.

Vater war trotzdem nie böse auf mich. Stattdessen bastelte er mir jedes Mal einen neuen Drachen aus dem leuchtend blauen, roten und grünen Papier, das ich in seinem Auftrag in einem Laden in der Nachbarschaft kaufte. Über Kabul schwebten stets Hunderte von Drachen in der Luft, mehr als Vögel. Die Drachen attackierten sich auch gerne gegenseitig, und Vater verstand es meisterhaft, seinen Drachen durch die Luft sausen zu lassen und mit ihm die Schnur eines anderen zu durchtrennen, der dann ebenfalls immer höher stieg, bis er nicht mehr zu sehen war.

Plötzlich klopfte es an der Tür zu unserem Hof. Vater schickte mich hinunter, um nachzuschauen, wer das sei. Ich kletterte langsam die Leiter hinunter und lief durch den staubigen Garten. Als ich die Tür öffnete, war ich überrascht, eine Frau in einer schmutzigen, gelben Burka zu sehen. Sie war allein.

In den Straßen Kabuls hatte ich schon oft Frauen gesehen, die sich unter diesen Burkas versteckten. Sie boten einen merkwürdigen Anblick neben den hübschen, jungen Frauen aus der Stadt, die fröhlich Arm in Arm die Straßen entlangspazierten, geschminkt waren und kurze Röcke trugen. Das Recht der afghanischen Frauen, die Burka abzulegen, hatte einen hohen Preis gekostet: Als sich der Ministerpräsident und sein Kabinett 1959 mit ihren unverschleierten Ehefrauen und Töchtern in der Öffentlichkeit zeigten, riefen die Mullahs zu gewalttätigen Demonstrationen auf, die nur mit Hilfe der Armee niedergeschlagen werden konnten.

Fünf Jahre später wurde in einer neuen Verfassung die Gleichheit von Mann und Frau verkündet. Die religiösen Führer jedoch lehnten den Eintritt der Frauen ins Berufsleben nach wie vor entschieden ab. Als das Marionettenregime dann noch verkündete, Mädchen sollten sich ihre Ehemänner frei wählen dürfen und Ende der siebziger Jahre gar die Schulpflicht für Mädchen eingeführt wurde, bedrohte die Wut der Traditionalisten, die sich in den ländlichen Gebieten am heftigsten entlud, die Existenz des Regimes, das sich daraufhin an die Russen um Hilfe wandte.

Ich starrte die Burkas immer neugierig an und versuchte mir vorzustellen, was für Gesichter sich wohl unter ihnen verbargen. Zu gerne hätte ich die Frauen gefragt, warum sie diesen Umhang trugen, aber ich wagte es nicht. Und noch nie hatte eine von ihnen an unsere Haustür geklopft.