Mein Stück vom Himmel - Robin Gold - E-Book

Mein Stück vom Himmel E-Book

Robin Gold

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Beschreibung

Das Glück ist wie eine Kugel Eis: Man muss es genießen, bevor es schmilzt.

Clover Gray ist verzweifelt: Ihr Traum von der eigenen Bäckerei ist zerbrochen, und wenn sie nicht bald Geld auftreibt, wird sie das geliebte Haus ihrer Großmutter verlieren. Als ein landesweiter Eis-Wettbewerb ausgerufen wird, wittert Clover ihre Chance für einen Neuanfang – denn sie hat ein Händchen für süße Köstlichkeiten und das perfekte Rezept im Kopf. Doch dann verliebt sie sich in ihren gefährlichsten Rivalen Cal, für den der Sieg mindestens genauso wichtig ist wie für Clover. Denn das Leben seiner kleinen Tochter hängt davon ab …

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Seitenzahl: 430

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Robin Gold

Mein Stück vom Himmel

Roman

Aus dem Amerikanischen von Carolin Müller

Erste Auflage

Erstveröffentlichung August 2015 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Robin Gold

Englischer Titel: An Éclair to Remember

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Redaktion: Susann Rehlein

ES · Herstellung: AM

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15809-5

www.blanvalet.de

I scream, you scream, we all scream for ice cream!

Howard Johnson, Billy Moll und Robert A. K. King

PROLOG

Eine Böe Schneeluft begleitete Rosie, als sie durch die Tür des Schuhgeschäfts hopste. Aufgekratzt wegen der Aussicht auf ein neues Paar Turnschuhe, vielleicht auch wegen der Gummibärchen, die sie im Auto genascht hatte, sah sie sich in dem kleinen Laden um, ihre Blicke schweiften von einem Regal voller herrlicher Schuhe zum anderen.

Und dann sah sie sie, glitzernd in einer Sonderauslage für festliche Anlässe. Es war, als würde ein Engelschor anfangen zu singen. Rosie stand mit offenem Mund da. Sie riss sich die Fäustlinge herunter, die an ihren Ärmeln befestigt waren, eilte im Galopp direkt zu den fuchsiafarbenen, mit Pailletten besetzten Stöckelschuhen und griff nach einem davon. »Ooh … sind die toll!«, rief sie. »Die muss ich haben!«

»Du bist fünf!« Ihr Vater schüttelte amüsiert den Kopf. »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Kleines, aber ich fürchte, dass es diese ganz schön hohen Schuhe vermutlich nicht in deiner Größe gibt.«

Rosie sah ihn tadelnd an. »Sei doch nicht so negativ, Daddy«, hielt sie dagegen. »Es gibt sie bestimmt in meiner Größe. Und schau! Sie passen sogar zu meiner Jacke und zu meiner Mütze!« Sie zeigte erst auf ihre rosa Bommelmütze und dann auf ihren Winteranorak, der ebenfalls rosa war, mit rotem Herzmuster drauf, bevor sie den Schuh fest an sich drückte. »Ich werde sie jeden Tag tragen! Lass uns jemanden fragen!«

Als die Verkäuferin schließlich bestätigte, dass ihr Vater leider recht hatte und es die Designerschuhe mit den Pfennigabsätzen wirklich nicht in der Größe von Kindergartenkindern gab, seufzte Rosie und stopfte sich ein Gummibärchen in den Mund, das sie heimlich in ihrer Jackentasche gebunkert hatte.

»Vergessen wir nicht, dass wir eigentlich hergekommen sind, um dir ein neues Paar Turnschuhe zu kaufen«, sagte ihr Vater.

Widerstrebend stellte Rosie den Schuh wieder in die Auslage zurück. »Hast du was, das mich aufmuntert?«, fragte sie die Verkäuferin.

»Bestimmt. Komm mal mit. Gleich hier lang.« Die Verkäuferin führte sie in Richtung Kinderabteilung. Rosie hopste neben ihr her.

Sobald sie die Turnschuhe mit Cinderella darauf erblickte, bekam sie ganz große Augen. Sie schnappte sich einen aus dem Regal, ging in die Hocke und klopfte mit der Sohle auf den Boden. Der Schuh fing an, in allen Regenbogenfarben zu blinken. Rosie strahlte. »Ja!« Entzückt drückte sie den Schuh erneut gegen den Boden. »Ooh! Wie schön. Die sind super, super, super!«

Die Verkäuferin lachte.

»Kann ich die anprobieren, Daddy?«

»Warum nicht?«, antwortete er.

Die Verkäuferin eilte ins Lager und kehrte ein paar Minuten später mit zwei Kartons zurück.

Schon das erste Paar, in das Rosie schlüpfte, passte ihr wie angegossen. »Warum läufst du nicht mal ein paar Schritte, um zu sehen, wie sie sich anfühlen?«

Eifrig folgte Rosie der Aufforderung und fing an, im Kreis zu gehen. Mit begeisterter Ehrfurcht beobachtete sie, wie die Schuhe bei jedem ihrer Schritte blinkten. »Wow! Wahnsinn … Schau mal! Super! Siehst du das, Daddy?!«

»Oh ja, ich seh’s«, erwiderte er schmunzelnd. »Sehr cool. Was will man mehr von einem Schuh?«

Rosie hielt inne und blieb stehen. Sie sah ihren Vater an und faltete dann die Hände wie im Gebet. »Darf ich die bitte haben? Nettes Bitte mit Zuckerguss drauf? Ich verspreche auch, dass ich wirklich gut auf sie aufpasse.«

Ihr Vater gab sich nachdenklich. »Hm, ich weiß nicht. Hältst du dann auch Ordnung in deinem Zimmer?«

»Ja!«, versicherte Rosie ihm. »Ja, immer.«

»Machst du auch keinen Aufstand mehr, wenn du Gemüse essen sollst?«

»Ja! Ich esse Brokkoli zum Frühstück! Versprochen!«

»Versteckst du auch nicht mehr im ganzen Haus Gummibärchen? Und das schließt deine Taschen ein.«

»So lange ich lebe, verstecke ich kein einziges Gummibärchen mehr«, versprach sie feierlich und nahm sich vor, heute Abend ihren Geheimvorrat an Süßigkeiten zu verputzen, den sie in der Schublade mit ihren Schlafanzügen lagerte.

Schließlich nickte ihr Vater. »Also wenn das so ist …« Er lächelte. »Dann sollen die Schuhe dir gehören.«

»Wirklich?«, hauchte Rosie.

»Wirklich und wahrhaftig.«

»Jaaa!!« Rosi riss beide Arme in die Luft und hüpfte, so hoch sie konnte, mit solcher Begeisterung, dass sie aus Versehen ihre Mütze verlor und darunter ein fast kahler Kopf mit bloß ein paar verbliebenen Haarbüscheln hier und da zum Vorschein kam.

1

Clover versenkte ihre Hand in die Riesentüte Toffee-Haferkekse mit Kirschstückchen – ihre Lieblingskekse. Zu besorgt, um schlafen zu können, hatte sie die Ladung gestern spät am Abend gebacken und mittlerweile bereits einen beachtlichen Teil davon verdrückt.

Sie knöpfte ihren mintgrünen Wintermantel zu, wickelte sich den Schal fest um den Hals und atmete tief durch. Sie war schon halb aus der Küche, als sie es sich in letzter Minute anders überlegte, sich noch einmal umdrehte und die Kekstüte in ihre übergroße Handtasche stopfte. Stressfutter. Dass sie nicht den Körperumfang einer der vielen Scheunen in ihrem Heimatort Pleasant Hills in Wisconsin hatte – umgeben von malerischen Landschaften aus hügeligen Feldern voller saftigem Gras, Nutzpflanzen und versprengten Windmühlen am Horizont –, blieb eines der großen Geheimnisse des Lebens.

Wie gewöhnlich versuchte sie, nicht zu stolpern, als sie eilig das Wohnzimmer durchquerte, das dank seiner praktischen Lage direkt neben der Küche dicht an dicht angefüllt war mit Stapeln von professionellem Backzubehör. Seit Monaten schon waren weder die Couch, die übersät war von verschiedensten Teigwerkzeugen, noch der Wohnzimmertisch, der unter Großhandelspackungen von Zutaten verschwand, erkennbar. Obwohl es angenehm nach Muskatnuss und Schokolade duftete, war das vollgestopfte, unordentliche Zimmer ein Spiegel ihres Versagens und ihrer sich zuspitzenden finanziellen Sorgen. Angesichts ihres nächsten Ziels überfiel Clover der Verdacht, dass sich ihre Stimmung nicht unbedingt aufhellen würde.

Sie nahm den schweren Pappkarton, gefüllt mit einer Auswahl ihrer wertvollsten Habseligkeiten, und öffnete die Haustür, durch die ein Schwall eisiger Januarluft hereindrang. Sie hastete zu ihrem verbeulten Honda und hinterließ dabei Fußabdrücke auf der verschneiten Einfahrt. Je schneller sie es hinter sich brachte, desto besser.

* * *

Als sie vor dem Leihhaus ankam, hatte sie zwei weitere Kekse verschlungen und zusätzlich eine halbe Rolle Drops, die sie zu ihrer Überraschung ganz unten in ihrer Handtasche gefunden hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie sich dort schon befunden hatte, aber das war ihr auch egal.

Clover hatte Orte wie diesen schon mal im Fernsehen und im Kino gesehen, aber noch nie zuvor hatte sie selbst einen Fuß hineingesetzt. Allerdings hatte sie sich auch noch nie in einer so misslichen Lage befunden. In dem vollgestopften kleinen Geschäft war es gemütlich warm, und als der kahlköpfige Mann hinter der Ladentheke sie lächelnd zu sich winkte und »Nur hereinspaziert!« rief, drängte sich Clover der Gedanke auf, dass sich diese Erfahrung am Ende vielleicht als weniger schlimm entpuppen könnte, als sie anfangs befürchtet hatte.

Mit einem Ächzen hievte sie ihren Karton auf die gläserne Ladentheke und lächelte den muskulösen Mann verlegen an, der sich daraufhin als Gary vorstellte.

»Also, was führt Sie zu mir?«, erkundigte er sich.

Clover überlegte, ob sie direkt auf den Punkt kommen und ehrlich »die pure und totale Verzweiflung!« antworten sollte. Stattdessen schob sie ihr schulterlanges braunes Haar hinters Ohr und stammelte: »Na ja, ich …, äh …« Sie schluckte schwer. »Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht an der einen oder anderen Sache, die ich hier habe, interessiert.«

Gary krempelte die Ärmel seines Karohemds hoch und enthüllte auf seinem Unterarm ein verschlungenes Rosen-Tattoo mit dem Schriftzug »Irma«.

»Und wollen Sie es versetzen oder direkt verkaufen?«

»Verkaufen.« Allein bei dem Wort zuckte sie zusammen. Genau in diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie zog es aus der Manteltasche, warf einen Blick auf das Wort »unbekannt« auf dem Display und beschloss – wie immer – nicht ranzugehen.

»Gut! Also Verkauf!« Gary klatschte in die Hände. »Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier alles haben …« Er spähte in den Karton. »Darf ich?«

»Oh ja, natürlich. Nur zu.« Sie war ihm behilflich und holte eine alte Violine in einem ledernen Tragekoffer heraus. »Sie wurde seit Jahren nicht mehr angefasst, aber sie ist in perfektem Zustand.« Clover hatte das Instrument vor einer Ewigkeit in der Schule gespielt. Weil sie das größte Mädchen im Orchester war, hatte die Orchesterleiterin unermüdlich versucht, sie davon zu überzeugen, doch lieber Cello zu lernen, doch Clover hatte ihr Herz nun mal an die Violine gehängt, die sie heimlich Veronica nannte. Also hatte sie sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen lassen. Wie es eben schon damals ihre Art war, hatte sie sich stur geweigert nachzugeben. Für Clover war Veronica mehr als bloß ein Instrument; sie war das Symbol ihres Triumphs. Dennoch war die gute alte Veronica nun schon seit Jahrzehnten in einem Schrank verstaubt, und als Clover recherchierte, fand sie heraus, dass sich Musikinstrumente im Leihhaus gut zu Geld machen ließen.

Ein Grinsen breitete sich auf Garys Gesicht aus. »Hübsch. Da hab ich im Verkauf bestimmt kein Problem. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Ich bin Clover.«

»Clover – wie der Klee? Wenn das mal kein Name ist, der Glück bringt.« Gary holte zwei glänzende Kerzenhalter aus massivem Silber aus der Box.

Clover entfuhr ein bitteres Lachen. »Das Glück war in letzter Zeit nicht gerade auf meiner Seite.«

»Nicht?« Gary maß die Größe der Kerzenhalter mit einem Zollstock.

»Es reicht wohl, wenn ich sage, dass ich im Moment ziemlich schlechte Karten habe«, sagte sie leise.

Er nickte wissend. »Kein Glück im Spiel gehabt?«

»Ich wünschte, es wäre nur das.«

»Zu viel für Weihnachtsgeschenke ausgegeben?« Gary holte eine prächtige Kristallvase von Tiffany aus dem Karton und hielt sie gegen das Licht.

»Glücklicherweise nicht.« Ganz im Gegenteil, Clover war zum ersten Mal in ihrem achtunddreißigjährigen Leben zu pleite gewesen, um Weihnachtsgeschenke kaufen zu können. Stattdessen hatte sie selbstgemachtes Schokoladeneis mit Zuckerstangensplittern verschenkt (niemand hatte ihre »Topsecret«-Zutaten Irish Whiskey und Mrs.-Butterworth-Sirup erraten). Die Schalen hatte sie in Trockeneis verpackt und mit einer lustigen rot-grünen Schleife versehen. »Dieses Jahr nicht«, fügte sie etwas barscher hinzu, als sie beabsichtigt hatte. Das Letzte, was Clover jetzt wollte, war, diesem vollkommen Fremden beschämende Details über ihre missliche Lage zu erzählen. Da waren der mögliche Verlust ihres Hauses, ihre Arbeitslosigkeit, der hässliche Rechtsstreit, die Schuldenberge, in denen sie sowieso schon versank, und die Tatsache, dass sie heute Morgen in ihrer Zerstreutheit zwei verschiedene Socken angezogen und außerdem keinen Pfennig Geld mehr in der Tasche hatte, um ihrem Golden Retriever Bob Futter zu kaufen, das ihr bereits vor zwei Tagen ausgegangen war. Seither bekam er bloß noch Götterspeise und Kroketten, das ging so nicht weiter, auch wenn sich Bob, ein gutmütiger Kerl, nicht über die Änderung seines Speiseplans beschwerte.

Aus der Kiste holte Clover eine tadellose Erstausgabe von »Alice im Wunderland«, gefolgt von einer seltenen signierten Ausgabe von Julia Childs berühmtem Kochbuch »The French Chef«. Die Widmung lautete: »Für Clover Gray – Bon Appetit, Julia Child.«

»Außergewöhnlich!«, rief Gary strahlend und untersuchte den Buchrücken. »Das ist ja ein tolles Exemplar dieses Klassikers, signiert und sogar mit persönlicher Widmung, das ist selten. Woher haben Sie das?«

Clover konnte es kaum ertragen, das Buch anzusehen. »Das hat mir mein Vater geschenkt, als ich mein BWL-Studium abgeschlossen habe. Er wusste, dass meine wahre Leidenschaft nicht der Vorstandsetage galt, sondern der Küche, das Buch lag mir immer sehr am Herzen.« Sie hatte keine Ahnung, warum sie ihm diese sehr persönlichen Dinge gerade mitgeteilt hatte.

»Tja, wirklich, ein echtes Schmuckstück«, stellte Gary fest. »›The French Chef‹ hat Julia Child berühmt gemacht und die Art, wie Amerika kocht, für immer verändert. Es hat sicher seinen Wert. Ich gebe Ihnen tausend Dollar dafür.«

»Tausend Dollar?«, wiederholte Clover fassungslos. Vielleicht hatte sie sich verhört. Sie hatte den Wert des Buches recherchiert, und dieses mickrige Angebot kam dem nicht einmal ansatzweise nahe. »Ich will nicht lügen. Das kommt mir doch sehr niedrig vor. Ich weiß, dass ein ähnliches Exemplar kürzlich auf einer Auktion in New York für mehrere tausend Dollar versteigert wurde.«

»Ja, aber wir sind hier nicht in New York«, Gary legte Mitgefühl in seine Stimme. »Und das hier ist keine exklusive Auktion. Glauben Sie mir, das ist ein faires Angebot.«

Clover seufzte und bastelte sich eilig eine neue Taktik zurecht. »Okay … Wie wär’s, wenn wir uns irgendwo in der Mitte treffen? Vielleicht siebzehnhundert?«

»Tut mir leid.« Gary schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht machen.«

Verflucht, das war vielleicht peinlich. Clover war es nicht gewohnt, sich so verzweifelt und angreifbar zu fühlen. Sie hatte bis Mitternacht Zeit, ihre Stromrechnung zu bezahlen. Bei Temperaturen unter null in einem unbeheizten Haus zu wohnen, war keine Option. Folglich bettelte sie praktisch: »Eintausendsechshundert?«

Wieder klingelte ihr Handy. Und wie schon beim letzten Mal warf Clover einen Blick aufs Display und ging nicht ran.

»Ich sag Ihnen was …« Gary klopfte mit seinen Daumen gegen das Buch. »Ich mag Sie. Ich gebe Ihnen elfhundert. Aber keinen Penny mehr.«

Clover dachte an den bedrohlich hohen Stapel ungeöffneter Rechnungen, der schon auf ihrem Schreibtisch umzustürzen drohte, und rief sich in Erinnerung, dass Bittsteller nun mal nicht wählerisch sein durften. Ganz abgesehen davon, konnten Hunde nicht ewig von Wackelpudding und Kroketten leben. Sie seufzte. »Ich schätze, dann sind wir uns einig.«

»Großartig!«

Als das vertraute Läuten erneut die Luft erfüllte, sah Clover wieder das Wort »unbekannt« und stopfte das Gerät sofort zurück in ihre Manteltasche.

»Sollten Sie da nicht rangehen?« Gary blinzelte sie misstrauisch an.

»Nein, das ist nichts«, log sie. »Aber ich brauche jetzt einen Keks.« Sie zerrte die Tüte aus ihrer Handtasche. »Und zwar dringend! Stört es Sie, wenn ich hier rumkrümle?«

»Nicht wenn Sie mir auch einen abgeben. Wow, das ist ja eine Riesentüte.«

»Heute ist einfach so ein Tag«, erklärte Clover und neigte die Tüte in seine Richtung. »Bedienen Sie sich.«

Kaum hatte er abgebissen, schloss Gary die Augen und stöhnte leise. »Gütiger Himmel! Haben Sie die gebacken?«

»Schuldig im Sinne der Anklage.« Verlegen holte Clover das letzte Stück aus ihrem Pappkarton: eine weinrote Schmuckschatulle aus Samt, voller kleiner Habseligkeiten.

»Dieser Keks ist unglaublich. Im Ernst! Sie könnten eine eigene Bäckerei eröffnen«, schwärmte Gary.

»Das habe ich schon hinter mir«, gestand sie.

»Wirklich? Sie haben eine Bäckerei?«

»Hatte«, stellte sie klar. »Vergangenheit.«

»Warten Sie mal …«, ein wissender Ausdruck breitete sich auf Garys Gesicht aus, als fügten sich die Teile eines Puzzles endlich zusammen. »Meinen Sie Clover’s?«

Schon seit ihrer Kindheit war es Clovers Traum gewesen, eine nette kleine Bäckerei zu haben, über deren Eingang in weißer Schablonenschrift ihr Name stand. Und es war ein wahrer Albtraum gewesen, als sie schließen musste. »Ja. Genau die.«

»Meine Schwester war ganz verrückt nach diesem Laden! Sie war am Boden zerstört, als er geschlossen wurde. Warum haben Sie denn zugemacht, wenn ich fragen darf?«

Gute Frage. »Ach …«, Clover winkte ab, »das ist eine lange, hässliche Geschichte. Es sind bei Weitem nicht genug Kekse in dieser Tüte, als dass ich sie erzählen könnte. Lassen Sie es mich einfach so ausdrücken: Ich wurde Opfer der schlechten Wirtschaftslage.«

»Verstehe«, meinte Gary. »Ja, es sind harte Zeiten. Leute wie Sie sehe ich jeden Tag hier in meinem Laden. »Regelrecht verrückt war meine Schwester nach diesem einen Kuchen von Ihnen, mit Bananencreme und Pekannüssen und den ganzen Schokoraspeln oben drauf. Den gab es immer, wenn sie Besuch hatte. Wissen Sie, welchen ich meine?«

Clover nickte. »Das war der PIEble, einer meiner Spitzenreiter. Manche Leute behaupteten sogar, dass es einer religiösen Offenbarung gleichkam, ihn zu essen.« Sie machte ihr Portemonnaie auf und zog einen Stift und eine Visitenkarte ihrer nicht mehr bestehenden Bäckerei heraus. Nachdem sie ihre Nummer auf die Rückseite gekritzelt hatte, reichte sie sie Gary. »Geben Sie die Ihrer Schwester und sagen ihr, sie kann mich jederzeit anrufen. Ich würde mich freuen, für sie zu backen, was immer sie will. Im Moment betreibe ich mein Geschäft sozusagen vorübergehend von zu Hause aus und bin natürlich immer auf der Suche nach neuen Aufträgen. Bitte, erzählen Sie das gerne weiter. Das wäre nett.«

»Das mache ich«, Gary steckte die Karte ein. »Ich bin sicher, meine Schwester wird total begeistert sein.«

Clover stopfte sich den restlichen Keks in den Mund. »Wie auch immer«, sie wischte ein paar Krümel von der Ladentheke und rang sich ein Lächeln ab, als sie die Samtschatulle öffnete, »lassen Sie mich Ihnen noch diesen Schmuck zeigen.«

»Wow …« Gary betrachtete die beeindruckende glitzernde Ansammlung von Kostbarkeiten. Es gab ein paar Ringe, eine Kette, mehrere Armbänder, eine reich verzierte Perlenbrosche und vieles mehr.

Nach ein paar quälenden Minuten, in denen er den Schmuck schätzte, tippte er ein paar Zahlen in einen Taschenrechner. »Okay. Ich gebe Ihnen zweitausend.«

»Wie bitte? US-Dollar? Sie meinen pro Stück, oder?«

Er schmunzelte. »Ich fürchte, ich rede von dem ganzen Kram.«

Clover schwieg einen Augenblick, während sich ihr beinahe der Magen umdrehte. Sie war nicht bloß ernüchtert, sondern ganz einfach sprachlos. Sie ging die lange Liste von Kraftausdrücken durch, die sie auf Lager hatte, erfand noch ein paar weitere, fasste sich schließlich und sagte: »Ich … verstehe nicht. Allein diese mit Diamanten besetzte Haarspange ist mehr wert. Ich habe sie schätzen lassen.«

»Die Spange ist sicher das Glanzstück Ihrer Sammlung. Ich gebe Ihnen zweitausend dafür, aber ich kann keinen Cent höhergehen.«

»Das ist doch Wahnsinn«, schnaubte Clover aufgebracht. Sie nahm die elegante Antiquität in die Hand. Der elliptisch geformte Haarschmuck bestand aus Platingold, war mit Diamanten im Altschliff besetzt, die insgesamt an die zwei Karat hatten. Clover hatte das Familienerbstück vor drei Jahren übernommen, als ihre Großmutter verstorben war. Es war mit Abstand ihr kostbarster Besitz, da niemand auf der Welt Clover mehr bedeutet hatte als ihre geliebte Großmutter Dottie. Es verging kein Tag, an dem Clover nicht an sie dachte. Clovers Mutter war infolge tragischer Komplikationen einige Stunden nach der Geburt gestorben. Von diesem Moment an hatte Grammy Dottie – ein Inbegriff von Klasse und Güte – eine bedeutende Rolle in Clovers Leben gespielt. Immer wenn Clovers Vater Darren, der Feuerwehrmann war, Spätschicht hatte, übernachtete Clover bei Grammy Dottie, in ihrem wundervollen großen weißen Haus, in dem es stets nach frisch gebackenem Brot roch und es ein eigenes Zimmer für Clover mit all ihren Lieblingssachen gab. Sie und Grammy blieben oft lange auf und schauten sich gemeinsam Filme an, spielten Gin Rommé und plauderten bis in die frühen Morgenstunden über Gott und die Welt. Clover konnte sich ihrer Großmutter anvertrauen, ohne Angst haben zu müssen, verurteilt oder ausgeschimpft zu werden. Die lebhafte Dottie brachte Clover bei, wie man einen Witz erzählte, Auto fuhr und, was ihr sehr wichtig war, wie man kochte. Denn über viele Jahre verbrachten sie die Sonntagnachmittage zusammen in der gemütlichen Küche und bereiteten das Abendessen für die ganze Familie Gray zu, zu der auch Clovers Onkel und Tante, ihre Cousins und Cousinen und normalerweise auch einige von Dotties Nachbarn zählten. Ihrer Großmutter war es zu verdanken, dass Clover nie das Gefühl hatte, ihr fehle etwas, weil sie keine Mutter hatte. So wie sie das sah, hatte sie etwas viel Besseres: Grammy Dottie, die nicht bloß ihre Großmutter war, sondern auch ihre beste Freundin. Selbst wenn Clover tausend Jahre alt würde, stünde sie noch immer in Grammy Dotties Schuld dafür, dass sie ihr die wahre Bedeutung von bedingungsloser Liebe beigebracht hatte und dafür, dass sie immer an sie geglaubt hatte, selbst wenn Clover selbst der Mut fehlte, an sich zu glauben, was ihr in den vergangenen Monaten besonders schmerzlich bewusst geworden war. Dottie hatte die Diamanthaarspange getragen, als sie Clovers Großvater geheiratet hatte, und Clover hatte immer gehofft, dass sie, wenn sie einmal den Mann ihrer Träume kennengelernt hätte – oder zumindest einen halbwegs anständigen Typen –, die Spange bei ihrer eigenen Hochzeit tragen würde. Doch da sie noch immer so weit von einer Liebesgeschichte entfernt war, dass sie einem von ihr kreierten Kokoseis mit Vollkornbutterkekskruste den Namen Me, Myself & Pie gegeben hatte, stand ihre Hochzeit wohl nicht direkt bevor. Es gab einen Mann namens Jay, mit dem Clover eine eher zwanglose Beziehung hatte. Er war ebenfalls Unternehmer und handelte mit exotischen Teesorten. Sie trafen sich hin und wieder zum Abendessen und hatten für einen Abend Spaß. Aber es bestanden nie irgendwelche Ansprüche. Sie waren sich einig, dass sich jeder Mensch von Zeit zu Zeit nach Pizza und körperlicher Intimität sehnte – wenn auch nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Doch nachdem Jays Unternehmen immer erfolgreicher geworden war und immer mehr ausgedehnte Reisen ins Ausland mit sich brachte, hatte er auch immer seltener Zeit für ihre Treffen. Clover hatte ihn seit über zwölf Monaten nicht gesehen, und die Wahrheit war, dass sie seine Abwesenheit kaum bemerkte. Allerdings war sie in letzter Zeit so sehr mit den Anforderungen des Lebens überlastet, dass sie sowieso kaum noch etwas wahrnahm. Sie betrachtete die kostbare Haarspange und seufzte. Obwohl es ihr beim Gedanken daran, sich von dem Schmuckstück zu trennen, fast das Herz zerriss, wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte.

Sie versuchte noch einmal mit Gary zu handeln. Doch der erfahrene Leihhausbetreiber und Profifeilscher ließ sich nicht darauf ein, also akzeptierte Clover schließlich – gepeinigt von der Vorstellung, wie sie und Bob, eine Tüte Tiefkühlkroketten umklammernd, erfroren in der Dunkelheit lagen – sein »bestes und letztes Angebot« von zweitausendzweihundert Dollar für die gesamte Schmuckkollektion. In Clovers Augen ein Riesenreinfall.

Sie drückte die Haarspange ans Herz, betrachtete sie ein letztes Mal lange, küsste sie und übergab sie Gary. Hastig wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel, die sie nicht hatte zurückhalten können. Manchmal trieb ihr schon der Gedanke an Grammy Dottie Tränen in die Augen.

Gary runzelte sie Stirn. »Alles okay mit Ihnen?« Überraschend viel Mitgefühl für einen kräftigen Mann wie ihn, der aussah, als könnte er der Anführer einer Motorradgang sein und mit dem kleinen Finger einen ganzen Stapel Ziegelsteine zerschlagen.

Clover nickte schniefend. »Alles okay. Ist schon in Ordnung. Es ist bloß … Diese Spange hat meiner Großmutter gehört. Sie bedeutet mir mehr als …« Sie konnte nicht weitersprechen.

Gary beugte sich über die Ladentheke. »Ich wurde von meiner Großmutter aufgezogen«, vertraute er Clover mit sanfter Stimme an.

»Wirklich?«

»Irma Rose.« Er zeigte auf sein Tattoo. »Die beste Frau, die ich je kennengelernt habe. Einzigartig. Wirklich. Ich vermisse sie noch heute schrecklich.«

Obwohl sie selbst über ihre nächste Geste erschrak, legte sie ihre Hand sanft auf die von Gary. »Das hört nie auf, nicht wahr?«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Leider nicht.«

In Gedanken versunken, biss sich Clover auf die Unterlippe. Sie fragte sich, ob sie das hier durchziehen sollte. Sie stellte sich die Spange vor, wie sie am Hochzeitstag ihrer Großmutter in deren Haar funkelte, und die Angst, es sich niemals verzeihen zu können, überkam sie. Sie hatte schon so viel verloren. »Wenn ich es mir recht überlege … Und verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, ich könnte das Geld wirklich gebrauchen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Gary, »aber … ich denke, ich werde die Haarspange doch behalten.«

Gary nahm sich noch einen Keks und lächelte sie beruhigend an. »Ich weiß, Sie treffen die richtige Entscheidung.«

Nachdem sie versprochen hatte, mal wieder vorbeizuschauen, verließ Clover das Leihhaus mit ausreichend Bargeld, um ihre wichtigsten Ausgaben decken zu können. Allerdings würde sie damit auch nicht länger als ein paar Wochen über die Runden kommen, und es reichte schon gar nicht aus, etwas von ihrem stetig wachsenden Schuldenberg abzutragen. Dennoch sagte sie, die wie ihre Großmutter eine ewige Optimistin war, sich, dass etwas besser war als nichts.

Direkt vor dem Laden kam sie an einer Obdachlosen und deren Tochter vorbei. Sie versuchte, den Augenkontakt mit der Frau zu vermeiden, die ungefähr in Clovers Alter zu sein schien und ein verblasstes Schild hochhielt, mit der Aufschrift: »Bitte helfen Sie uns.«

Clover war bereits halb die Straße hinunter, als ihr Gewissen siegte und sie dazu trieb, noch einmal umzukehren und zu dem bedürftigen Mutter-Tochter-Paar zurückzueilen. Sie beugte sich hinunter, um dem zitternden kleinen Mädchen in die Augen sehen zu können, und sagte: »Du hast aber hübsche Zöpfe! Die gefallen mir.« Dann reichte sie der Mutter einen Zehndollarschein. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr geben«, sagte sie zu den beiden, bevor sie sie aufrichtig anlächelte und ihnen zum Abschied zuwinkte.

Als sie zu ihrem Wagen ging, klingelte zum x-ten Mal an diesem Tag ihr Handy. Sie wusste, dass ein Anrufer, der einen Backauftrag für sie hätte, einfach eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen würde. Der ständigen Belästigung müde, wappnete sich Clover für ein weiteres ach so gut gelauntes Gespräch mit einem bohrenden, sachlichen Schuldeneintreiber. »Hallo?«, murmelte sie und wartete ungeduldig darauf, die nervige Ansage zu hören: »Dies ist ein Anruf zu Finanzangelegenheiten und könnte aufgezeichnet werden. Er dient dem Bemühen, Schulden einzutreiben, und alle Informationen, die daraus hervorgehen, können zu diesem Zweck verwendet werden.«

»Hi! Ist da Clover Gray?«, erkundigte sich eine männliche Stimme.

»Ja, das bin ich«, antwortete sie mit ausdrucksloser Stimme. Himmel, wie sie es verabscheute, mit diesen Seelenfressern zu reden. Sie hätte es vorgezogen, Glas zu essen. Oder noch schlimmer, Rosenkohl.

»Ich bin von Trilby Truman’s Ice Cream«, sagte die Stimme.

Clovers braune Augen weiteten sich ungläubig zur Größe von Untertellern. Das war absolut nicht der Anruf, den sie erwartet hatte. Das Geschehen auf der Straße war plötzlich bloß noch ein schwindelerregender Wirbel, und ihr Herz raste so schnell, dass sie das Blut rhythmisch in ihren Ohren wummern hören konnte wie Trommelschlag. Das konnte nicht sein. Es war einfach nicht möglich, dass dies wirklich geschah.

»Mein Name ist Bill Worthington. Ich bin der Leiter der Sortenentwicklung bei Truman’s«, fuhr die Stimme fort. »Ich rufe an, um Sie offiziell darüber zu informieren, dass die Eissorte, die Sie für unseren Wettbewerb Truman’s sucht das Supereis eingereicht haben, es unter die fünf Finalisten geschafft hat.«

Für Clover blieb die Zeit stehen. Sie stand mit offenem Mund wie erstarrt auf dem belebten Gehsteig, zu verblüfft, um auch nur einen Ton herauszubekommen und schon gar keine verständliche Antwort.

Und doch geschah all das wirklich.

DREI TAGE SPÄTER

2

Stirnrunzelnd stand Clover vor ihrem Gefrierschrank und versuchte sich zu konzentrieren. Irgendwas stimmte nicht. Es sah einfach nicht so aus, wie es aussehen musste. Nervös tippte sie mit der Fußspitze auf den Boden, überlegte eine Weile und räumte dann das Hühnchen al Vesuvio vom zweiten ins unterste Fach. Als Nächstes rückte sie den Stapel Tiefkühllasagne zurecht. Sie hielt inne, um zu sehen, ob diese kleinen Veränderungen schon ausreichten, doch dann entschied sie, dass sie noch nicht das gewünschte Ergebnis erzielt hatte. Immerhin dokumentierten nicht jeden Tag Fernsehkameras für das Publikum der lokalen Zehnuhrnachrichten den Inhalt ihres Eisschranks. So ein Anlass erforderte natürlich Tiefkühlschrank-Perfektion! Abgesehen davon bestand heutzutage, wo praktisch alles auch im Internet zu sehen war, durchaus die Chance, dass das Interview von ihren Konkurrenten gesehen würde, weshalb sie sich als organisierte, fokussierte und ernstzunehmende Gegnerin zu präsentieren hatte. Ein eins siebenundsechzig großes Powerpaket, das alles bestens im Griff hatte. Auch wenn das alles … nun ja … bloß Show war.

Dankbar dafür, dass ein Produktionsassistent der CBS Channel 13 Nachrichten sie vorgewarnt hatte, dass auch das Innere ihres Tiefkühlschranks gefilmt würde, schob sie den Behälter mit Banana-Fana-Fo-Fana-Eis einen kleinen Tick nach links, damit das berühmte pink-goldene Truman’s-Label akkurat in der Mitte des obersten Fachs zu sehen war. Sie wollte, dass es prominent platziert war, um ihre tiefe Verbundenheit mit ihrer Lieblingseismarke deutlich zu machen. Tatsächlich war Clover so ein großer Fan, dass sie sich, obwohl sie fast nur noch Lebensmittel kaufen konnte, für die sie zuvor Rabattcoupons ausgeschnitten hatte, bei jedem Einkauf eine Packung Truman’s-Eis gönnte. Nachdem sie ihr Kabelfernsehpaket und ihre Mitgliedschaft im YMCA gekündigt hatte, war dies der einzige ihr verbliebene Luxus. Folglich hatte sie vor einigen Monaten, als sie den Werbespot für den mit einer Million Dollar dotierten landesweiten Wettbewerb Truman’s sucht das Supereis zum ersten Mal sah, auch unmöglich widerstehen können und sich beworben. Nicht in einer Million Jahren hätte Clover auch nur zu hoffen gewagt, dass sie es bis ins Finale schaffen würde, welches, wie es von den Leuten bei Truman’s eher schwammig beschrieben wurde, ein weiteres »Wettbewerbsniveau« eröffnen würde. Doch da sie nichts zu verlieren hatte, hatte sie das Online-Anmeldeformular ausgefüllt, zusammen mit einer detaillierten Beschreibung ihres Eisrezepts. Unter dem Druck ihrer finanziellen Probleme und vor den Hintergrund der Tatsache, dass sie kurz nach ihrer Bewerbung auch noch ihre Bäckerei hatte schließen müssen, hatte sie den Wettbewerb vollkommen vergessen, bis sie nach dem Verlassen des Leihhauses schließlich diesen völlig überraschenden Anruf bekam. Und nun war sie einer von fünf Finalisten! Was hätte sie in diesem Moment für ein paar beherzte, aufmunternde Worte von Grammy Dottie gegeben, gefolgt von einer kräftigen Umarmung, der Ermutigung, dass alles gutgehen würde, und einem Sandwich. Grammy Dottie hatte immer gepredigt, dass man keinesfalls die »heilenden Kräfte eines ordentlichen Sandwiches« unterschätzen dürfe. Über die Jahre war Cornedbeef für Clover der Helfer bei Liebeskummer geworden, nach schlechten Noten gab es Eiersalat, und schwierige Entscheidung bedeuteten Erdnussbutter und Gelee.

Clover langte noch einmal in den Gefrierschrank, schob die Eispackung einen Hauch nach vorne und lächelte schließlich zufrieden. »Bingo!«, verkündete sie Bob, der in der Zimmerecke neben seiner Trinkschüssel lag. »Voilà!«

Bob hob den Kopf von den Vorderpfoten und sah sie an, als wäre sie verrückt.

»Guck nicht so, Freundchen!« Clover drohte ihm mit dem Finger. »Das ist ’ne Riesensache!«

Ihre flachen schwarzen Lacklederschuhe klackerten auf dem rustikalen, abgenutzten Parkettboden, als sie entschlossen durch den Flur eilte, um im Badezimmerspiegel noch einmal ihr Aussehen zu kontrollieren. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – zehn vor zwei –, das Interview stand kurz bevor. Sie atmete tief durch, strich sich über ihre Naturwellen, zupfte ihr marineblaues Wickelkleid zurecht, das zeitlos, aber schick war und den Eindruck vermitteln sollte, dass sie sich nicht zu sehr bemüht hatte, gut auszusehen. Natürlich war das eine glatte Lüge, da sie eine gute Stunde damit verbracht hatte, beinahe jedes Teil aus ihrem Kleiderschrank anzuprobieren und sich mit der Frage herumzuquälen, was um alles auf der Welt wohl auf dem Bildschirm gut rüberkam und dabei hoffentlich auch noch ihre Hüften schmaler erscheinen ließ.

Als ihr Handy klingelte, zuckte Clover zusammen und schnappte nach Luft. Okay, vielleicht war sie doch ein winziges bisschen nervöser, als sie gedacht hatte. Sie ging sofort ran und rief: »Samson! Bin ich froh, dass du anrufst. Das Nachrichtenteam wird jede Minute hier sein. Ich versuche, ruhig zu bleiben.«

»Also, ich fürchte, da musst du dich noch ein bisschen mehr anstrengen«, sagte Clovers bester Freund. Es kostete Sam, einen erfolgreichen Chicagoer Strafverteidiger, nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu spüren, wie nervös Clover wirklich war. Der frühere Privatermittler kannte sie einfach viel zu gut. »Entspann dich. Du wirst das super machen«, beruhigte er sie.

»Das hoffe ich«, ächzte sie. Seit sie in der siebten Klasse zusammen für ein wissenschaftliches Projekt eingeteilt worden waren, war Sam für Clover da, war ihr eine verlässliche Stütze und ganz abgesehen davon auch noch ein fabelhafter Komplize bei allen möglichen Schandtaten. Außer wenn diese Schandtaten etwas mit Bunsenbrennern, Schutzbrillen oder Wissenschaft im weitesten Sinne zu tun hatten, denn dann waren sie verloren und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr. Sams Mutter war während ihres ersten Jahrs auf der Highschool gestorben, was einen bedeutenden Wendepunkt in ihrer Freundschaft dargestellt hatte. Da Clover mit den Schwierigkeiten vertraut war, die es mit sich brachte, wenn man keine Mutter hatte, half sie Sam durch seine dunkelsten Stunden. Als er schließlich Harper kennenlernte, eine Anwaltskollegin aus seiner Firma – hatte Clover Mühe, diese davon zu überzeugen, dass sie keine Gefahr für ihre Beziehung darstellte. Es dauerte einige Jahre, aber schließlich wurden auch sie und Harper enge Freundinnen. Und als sich Sam und Harper verlobten, war es Harper, die Clover bat, ihre Trauzeugin zu sein.

»Hör auf, an deinen Nägeln zu kauen«, ermahnte Sam sie.

Clover nahm sofort die Finger aus dem Mund. »Woher weißt du, dass ich …«

»Hör zu«, unterbrach er sie, »ich werde in fünf Minuten im Gerichtssaal erwartet, also habe ich nicht viel Zeit. Hast du das ganze Zeug aus deinem Wohnzimmer geschafft?«

»Ja. Auftrag ausgeführt! Ich habe jeden Hinweis aufs Backen in den Keller verbannt. Das hat mich die ganze Nacht gekostet. Nenn es ein verspätetes Weihnachtswunder, aber mein Wohnzimmer wirkt doch tatsächlich wieder wie ein Wohnzimmer. Sieht ziemlich gut aus.« Sie legte die Hand an die Brust. »Meine Güte, mein Herz rast vielleicht!«

»Warum bist du denn plötzlich nervös? Gestern hast du dich doch noch so auf das Interview gefreut.«

»Ich freu mich ja auch drauf«, erwiderte Clover. »Es ist der Wahnsinn! Ich bin einfach … Ich weiß auch nicht … Ich hab so was noch nie gemacht. Ich will bloß nicht doof rüberkommen oder etwas Falsches sagen.«

»Was könnte das denn sein?«

»Na ja … Was, wenn mich der Reporter nach meinem beruflichen Werdegang fragt? Was antworte ich da, ohne wie ein Versager zu klingen?«

»Erstens«, begann Sam, »magst du vielleicht gerade eine schwere Zeit durchmachen, aber du bist kein Versager. Sei nicht so streng mit dir. Und zweitens, hast du vergessen, dass du furchtlos bist? Du bist in Mexiko aus einem Flugzeug gesprungen und hast einmal in deinem Keller eigenhändig einen Waschbären eingefangen, zum Teufel noch mal! Wo ist denn dein unzerstörbares Selbstvertrauen?«

»Im Leihhaus, zusammen mit meiner Würde und meiner alten Geige«, schnaubte Clover.

Auf Sams Seite herrschte kurz Stille. »Du hast Veronica versetzt?«

»Ich musste es tun«, seufzte Clover. »Ich sag mir die ganze Zeit, dass Veronica jetzt in besseren Händen ist. Für sie war es Zeit weiterzuziehen.« Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, zurück zum Thema. Was sage ich jetzt also, wenn sie nach meiner Arbeit fragen?«

»Hör zu, so schwöre ich auch meine Mandanten ein, bevor sie in den Zeugenstand treten: Sei einfach ehrlich und fasse dich kurz. Du möchtest nicht über deine Arbeitslosigkeit sprechen? Verständlich. Kein Problem. Sag dem Reporter, dass du deine wichtigste Aufgabe momentan darin siehst, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Ende. Das ist deine einzige Priorität.«

»Oooh, das gefällt mir. Verdammt, du bist gut, Sam. So kann ich der Frage ausweichen, ohne lügen zu müssen.«

»Genau. Denk einfach dran: Du bist cool und Herrin der Lage.«

Während sie prüfte, dass sie keinen Lippenstift an den Zähnen hatte, wiederholte Clover: »Cool und Herrin der Lage.« Langsam glaubte sie sogar, dass Sam recht hatte. »Das wird ein Kinder…«, in diesem Moment klingelte es an der Tür, »… SPIEL! Verflucht!«, kreischte sie ins Telefon, weder cool noch Herrin der Lage. »Ich krieg keine Luft mehr. Sie sind da! Ich muss auflegen!«

Bob verfiel in ohrenbetäubendes Gebell und flitzte an Clover vorbei zur Haustür.

»Viel Glück! Atme tief durch, und sei so, wie du bist: klug, stark und geistreich. Ach!«, Sam war noch ein wichtiger letzter Ratschlag eingefallen. »Und versuch, nicht zu fluchen!«

»Scheiße! Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Verdammt!« Es gab gute Gründe dafür, dass Clover im Jahrbuch der Abschlussklasse die zweifelhafte Auszeichnung »Schülerin mit dem übelsten Mundwerk« erhalten hatte, auch wenn sie die letzten Jahrzehnte hart daran gearbeitet hatte, ihre Neigung zum Fluchen einzudämmen. »Vielen Dank, Sam. Ich habe keine Ahnung, was ich, verfluchte Sch…«

»Achtung, Sprache!«, fuhr Sam dazwischen.

»Was ich, verfluchte Schaumrolle, ohne dich machen würde!«

* * *

Clover machte die Gefrierschranktür zu und strahlte den Channel-13-Reporter David Ryder an, der das Interview mit dem aufrichtigen Interesse und mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit führte, für die der erfahrene Journalist mit dem graumelierten Haar überall in der Region von Wisconsin beliebt war. David Ryder ging alle seine Berichte – ganz gleich wie banal sie auch erscheinen mochten – an, als wolle er damit einen Pulitzerpreis gewinnen, und für Clover war der Gedanke tröstlich, dass sie bei ihrem »ersten Mal« in so guten Händen war. Mittlerweile hatte sie bereits einen Großteil des Interviews erfolgreich hinter sich gebracht und ihre anfängliche Unsicherheit überwunden. »Ohne mein Truman’s kann ich nicht leben«, sagte sie zu David und gab dem Eisschrank einen freundlichen Klaps. »Auch wenn meine Taille mir danken würde, wenn es anders wäre.« Sie verdrehte die Augen mit selbstironischem Charme.

»Und schon bald könnte dort Ihre ganz eigene Eissorte stehen, Clover Gray, in der Kultverpackung von Truman’s. Ihre Sorte könnte möglicherweise sogar in Millionen von Gefrierschränken dieses Landes zu finden sein«, verkündete David ehrfurchtsvoll. »Wenn man jetzt noch an die riesige Geldsumme denkt, die dem Gewinner winkt, dann kann man sich leicht vorstellen, wie aufregend das alles für Sie sein muss.«

»Absolut. Es ist unglaublich«, pflichtete Clover ihm bei. »Manchmal möchte ich mich kneifen.«

»Seit Sie vor ein paar Tagen erfahren haben, dass Sie unter den fünf Truman’s-Finalisten sind, sind Sie praktisch über Nacht zu einer lokalen Berühmtheit geworden. Aber schon bald treten Sie in einem massiv beworbenen Wettstreit an, der landesweit ausgestrahlt werden wird. Wie fühlen Sie sich dabei?«

Clover war klug genug, nicht zuzugeben, dass sie sich vor Aufregung fast übergeben musste. »Es ist eine seltsame Mischung aus unglaublicher Begeisterung und Fassungslosigkeit. Eigentlich bin ich in einer Art Schockzustand«, antwortete sie. »Es ist …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… surreal.«

David Ryder hielt die ganze Zeit über Augenkontakt mit Clover. »Ich nehme an, dass auch die Aussicht auf eine Million Dollar Preisgeld Ihnen ziemlich, wie Sie es ausdrücken, surreal erscheinen dürfte?«

»Genau. Ich krieg das gar nicht in meinen Kopf rein«, gestand sie. »Ich meine, wie kann es sein, dass das überhaupt passiert? Das ist einfach irre.«

»Außerdem passiert das alles ja nicht gerade im falschen Moment«, fuhr David fort, und seine Stimme nahm einen nachdrücklicheren, ernsthafteren Ton an. »Man könnte auch sagen, es ist der ideale Zeitpunkt …«

Clover war sich nicht sicher, worauf er hinauswollte. Trotzdem nahm sie an, sie sollte besser nicken.

»Da Ihnen aktuell die Zwangsvollstreckung Ihres Hauses droht, könnte eine Million Dollar Ihre Zukunft dramatisch beeinflussen, oder etwa nicht?«, hakte David nach.

Clover hörte auf zu nicken.

Einen Moment lang konnte sie nicht atmen.

Obwohl es sie nicht überraschen sollte, dass David Ryder im Vorfeld seine Hausaufgaben gemacht hatte, traf diese Frage sie vollkommen unvorbereitet. Als die Finanzkrise mit voller Wucht zuschlug, hatte Clover in einem Versuch, ihre Bäckerei zu retten, eine Hypothek auf Grammy Dotties Haus aufgenommen. Die Bank hatte ihr nun mitgeteilt, dass sie die Zwangsvollstreckung einleiten werde. Sie hatte keine Ahnung, wie diese brandaktuelle Entwicklung in so kurzer Zeit publik werden konnte. Ganz im Gegenteil hatte sie gehofft, dass sie dieses peinliche Detail möglichst geheim halten könnte. Sie hatte es noch nicht einmal Sam erzählt. Clovers Gesichtsausdruck bekundete deutlich ihre Erschütterung, als sie verlegen in die Kamera blinzelte, und ihre Rehaugen wirkten noch größer als sonst.

David Ryder, der noch immer auf eine Antwort von ihr wartete, füllte die Pause professionell, indem er feststellte: »Mit einer Million Dollar könnten Sie Ihr Haus doch retten?«

ENDE DER LESEPROBE