»Mein Überleben musste einen Sinn haben« - Josef Lewkowicz - E-Book
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»Mein Überleben musste einen Sinn haben« E-Book

Josef Lewkowicz

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Beschreibung

»Das war meine Bestimmung«, ist Josefs feste Überzeugung: Er überlebte die Zwangsarbeit im Konzentrationslager von Płaszów unter dem später durch »Schindlers Liste« berüchtigt gewordenen »Schlächter von Płaszów«, Amon Göth. Er überstand die Hölle von Auschwitz und Mauthausen, dank aus der Not geborenem Geschick, Glück und einem unerschütterlichen Glauben, der ihm bis heute Kraft gibt. All das, so ist er überzeugt, um nach seiner Befreiung selbst die Bestrafung seines ehemaligen Peinigers Göth herbeizuführen, indem er ihn im Auftrag der Amerikaner persönlich stellte. Und um zum Retter hunderter jüdischer Waisenkinder zu werden, die er unter großem Einsatz aufspürte und aus oft furchtbaren Lebensumständen befreite. »Mein Überleben musste einen Sinn haben« sagt Josef Lewkowicz heute – und er tat alles, um das wahr zu machen.

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Von der Macht des Glaubens und der menschlichen Stärke

»Das war meine Bestimmung«, ist Josefs feste Überzeugung: Er überlebte die Zwangsarbeit im Konzentrationslager von Płaszów unter dem später durch »Schindlers Liste« berüchtigt gewordenen »Schlächter von Płaszów«, Amon Göth. Er überstand die Hölle von Auschwitz und Mauthausen, dank aus der Not geborenem Geschick, Glück und einem unerschütterlichen Glauben, der ihm bis heute Kraft gibt. All das, so ist er überzeugt, um nach seiner Befreiung selbst die Bestrafung seines ehemaligen Peinigers Göth herbeizuführen, indem er ihn im Auftrag der Amerikaner persönlich stellte. Und um zum Retter jüdischer Waisenkinder zu werden, die er unter großem Einsatz aufspürte und aus oft furchtbaren Lebensumständen befreite.

»Mein Überleben musste einen Sinn haben« sagt Josef Lewkowicz heute – und er tat alles, um das wahr zu machen

Manchmal fühlte ich mich verpflichtet, mein Überleben zu rechtfertigen, indem ich etwas tat, um anderen zu helfen. Zum Beispiel den Waisenkindern, die von ihren verzweifelten Eltern in Ställen, Bauernhäusern, Kirchen und Klöstern zurückgelassen wurden – von Eltern, die wussten, dass sie bei der Liquidation des Ghettos umkommen würden. Man erwartet wohl auch von mir, dass ich zornig bin, weil man uns – und ihnen – so viel genommen hat. Doch Zorn ist wie ein Schaukelstuhl. Man bewegt sich, aber man kommt keinen Zentimeter voran. Wir haben nicht die Aufgabe, Rache zu nehmen, sondern wir sollen unsere Gemeinschaften wiederherstellen.«

Josef Lewkowicz

JOSEF LEWKOWICZ, MICHAEL CALVIN

»Mein Überleben musste einen Sinn haben«

Der Holocaust-Überlebende, der zum Nazijäger wurde – Von der Macht des Glaubens und der menschlichen Stärke

Aus dem Englischen von Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Survivor: How I survived six concentration camps and became a Nazi Hunter bei HarperCollins Publishers.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 2023

© by Josef Lewkowicz 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Jan W. Haas, Berlin

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung eines Fotos von: Blake Ezra Photography

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-30131-6V001

www.heyne.de

PROLOG GEISTER

Aber… wenn ich schon redete, so würde mich mein Schmerz nicht verschonen; hörte ich auf zu reden, so bliebe er dennoch bei mir (Hiob 16,6).

Ich bin kein Held. Ich fürchte, dass ich gleich zusammenbrechen werde. Ich seufze tief und sacke nach vorn, als hätte man mir einen Schlag in die Magengrube versetzt. Ich weine, obwohl ich dachte, ich hätte keine Tränen mehr. Mir bricht das Herz. Fast 80 Jahre habe ich gebraucht, bis ich den Mut aufbrachte, an diesen verfluchten Ort zurückzukehren, wo ein Feld von zerbrochenen Felsblöcken und kleinen Steinen – schwarz, grau und vom Tode befleckt – als Grabmal dient.

Eichen säumen den Abhang. Sie wurden verschont, als man die Tannen, die die Nazis pflanzten, um den Massenmord zu tarnen, aus Abscheu fällte. Ein eiskalter Wind weht von Osten her, während sanfter Regen fällt. Das Gelände, nicht größer als drei Fußballfelder, enthält menschliche Asche und pulverisierte Knochen, vermischt mit Sand. Sechshunderttausend Juden fanden hier von März bis Dezember 1942 den Tod.

Das Vernichtungslager Belzec.

Schon der Name erschreckte mich als Erwachsenen, so wie Hitlers Name mich als Kind in Angst versetzte. Meine Mutter Sheindel und meine drei jüngeren Brüder Meir Wolf, Hershl Zvi und Dovid Leib wurden durch die willkürliche Bewegung eines SS-Offiziers mit seiner Reitpeitsche dorthin geschickt. So wie etwa 15 000 weitere Menschen aus unserem Schtetl, unserem Heimatort Działoszyce im Südosten Polens, die dorthin deportiert wurden, kamen sie nicht zurück.

Ich habe mir geschworen, dass ich diesen Ort niemals besuchen würde, doch ihre Seelen haben mich gerufen. Sie gehören zu den Millionen, die keinen Friedhof, keinen Grabstein, keine Aufzeichnungen über ihre Existenz besitzen, nur die persönliche Erinnerung der Hinterbliebenen. Sie träumten und liebten, hatten ein Leben, das zu leben man ihnen verwehrte. Sie erzählen uns, was unserem Volk, unserer Nation widerfahren ist. Sie starben wegen eines einzigen Verbrechens: weil sie als Juden geboren waren. Können wir verstehen, wie so etwas in unserer Welt geschehen kann?

Wir müssen es.

An diesem trüben Tag im Spätwinter, als der Regen den letzten Schnee zum Schmelzen brachte, bezog ich meine Kraft aus einer heiligen Pflicht. Die Kinder der Verstorbenen haben die Verpflichtung, das Kaddish zu sprechen, das Totengebet, das zu den Eckpfeilern des Judentums gehört. Es ist ein Akt der Hoffnung, der es den Trauernden ermöglicht, Gott zu loben, ihre Trauer auszudrücken und ihren Glauben zu stärken, dass sie ihre Lieben eines Tages wiedersehen werden.

Ich zündete Kerzen an zum Gedenken an eine schöne, freundliche Frau und drei liebenswerte Jungen, und ich barg die Kerzen in meiner Hand, um die Flammen zu beschützen, bevor ich sie in Gläser stellte. Ich erwies meiner erweiterten Familie die Ehre, 150 Menschen, die im Holocaust vernichtet wurden. Als einziger Überlebender war es meine Pflicht, Zeugnis abzulegen, meine Stimme denen zu leihen, die nicht mehr sprechen können, denen, die niemand mehr nennt oder kennt.

Ich spürte ihren Geist, ihre neshama. Ich schloss meine Augen fest, senkte den Kopf und sprach: »Gottes großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht und gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei Er, hoch über jedem Lob und Gesang, jeder Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprecht: Amen!«

Ich bin 96 Jahre alt und bereit, meinem Gott jederzeit gegenüberzutreten, wann immer Er mich ruft. Ich dachte, all die Dinge, die ich durchgemacht habe, hätten mich hart gemacht. Ich habe schreckliche Dinge gesehen: ritualisierte Erhängungen, willkürliche Erschießungen, unaussprechliche Grausamkeit und die Verderbtheit des Kannibalismus. In sechs Lagern habe ich Hunger, Schläge und Folter ertragen und habe obsiegt, damit ich ein Ungeheuer der Gerechtigkeit überantworten konnte: Amon Göth, den Schlächter von Płaszów (dt. Plaszow).

Er verfolgt mich in einem wiederkehrenden Albtraum, schreit, dass er mich töten wird, weil ich in sein Zimmer stolperte, als er gerade beim Essen saß. Ich verstecke mich im Schatten unter einer Brücke oder kauere unter einer Baracke, um mich zu retten. Manchmal materialisiert sich Göth, den man heutzutage vor allem als den sadistischen Lagerkommandanten in dem Film Schindlers Liste kennt, als eines von vielen verzerrten Nazi-Gesichtern, die sich auf mich stürzen wie Raubvögel. An manchen Morgen erwache ich keuchend und schweißgebadet, nachdem ich im Traum mit einem SS-Mann im langen Mantel und mit Helm auf dem Kopf gerungen habe. Er versucht mich zu erschießen, ich versuche, ihm die Waffe zu entreißen.

Ich bin auf Gewalt konditioniert, sei es in der Realität oder in meiner Fantasie. Ich habe in ständiger Furcht gelebt, habe mich an Gefahr und Erniedrigung gewöhnt. Ich bin ein stolzer Jude, der nach dem Krieg geholfen hat, jüdische Waisenkinder zu retten. Doch in Belzec bin ich zusammengebrochen, als ich die Namen derer aussprach, die ich in meinem Lieblingstraum sehe. In diesem Traum sitze ich mit meiner Familie am Esstisch, und wir reden und singen.

Mein Vater Symcha hat den Vorsitz am Tisch, Großeltern, Tanten und Onkel sind bei uns. Ich kenne ihre Namen, auch wenn ich mich nicht mehr an alle ihre Geschichten erinnere. Ich habe meine Brüder auf meinem geliebten Dreirad fahren lassen. Ich sehe, wie unsere Mutter mit dampfenden Platten voller Essen hereinkommt, mit Hühnersuppe, gefilte fish und Käsepasteten. Ich falle in erwartungsvolles Schweigen. Wir dürfen uns selbst nehmen, und das Essen ist köstlich. Ich hätte gern mehr, obwohl ich normalerweise ein schlechter Esser bin, aber ich halte mich zurück.

Als ich mich umschaue, erkenne ich, dass keiner der Menschen am Tisch ein Gesicht hat. Es sind nur Silhouetten, Geister bei einem Festmahl.

Für mich ist das ein glücklicher Traum, doch vielleicht liegt darin der Grund, warum ich auf dem Weg zu dem Ort, an dem sie hingerichtet wurden, so verstört war. Ich erinnere mich an die Wärme und Eleganz meiner Mutter, kann mich aber bis heute nicht an ihre Gesichtszüge erinnern. Und obwohl ich die Aufzeichnungen in Yad Vashem, der Internationalen Holocaust Gedenkstätte in Jerusalem, durchforscht habe, weiß ich bis heute nicht genau, wie sie und meine Brüder starben.

Es gibt dort Listen von deportierten Dorfbewohnern und liquidierten Städten, doch der größte Teil der Dokumentation wurde absichtlich von den Nazis zerstört. Die Aufzeichnungen der Eisenbahn aus dieser Zeit sind notorisch unzuverlässig. Nur zwei Häftlinge haben überlebt. Der eine, Chaim Hirszman, wurde von antikommunistischen Widerstandskämpfern im März 1946 ermordet, bevor er aus erster Hand Zeugnis ablegen konnte.

Der andere, Rudolf Reder, entkam, weil er Deutsch sprechen konnte. Er tarnte sich als Mechaniker und flüchtete im Schutze der Dunkelheit im November 1942. Seinen Namen änderte er in Roman Robak und verbrachte ab 1950 drei Jahre in Israel. 1977 starb er in Toronto, 96 Jahre alt. Er schrieb von erstickenden Frauen und Kindern, deren Schreie »zu einem langen, entsetzlichen Schrei wurden«.

Wir wissen, dass die zum Tode Verurteilten in Viehwaggons gezwängt wurden. Es heißt, aus einigen der Waggons sei Musik gedrungen, um die Deportierten in der Hoffnung zu wiegen, sie würden in ein Transitlager gebracht. Andere wurden gleich bei der Ankunft an den Auspuff von Dieselmotoren angekoppelt, sodass man die Opfer ohne großen Aufwand vergasen konnte. Historiker betrachten Belzec als Musterbeispiel für die Endlösung. Das Lager wurde von nur 23 SS-Leuten betrieben, unterstützt von bösartigen ukrainischen Wachen.

Das Gelände misst 270 Meter im Quadrat. Ein überwuchertes Nebengleis der Eisenbahn führt 500 Meter weit vom Hauptbahnhof ins Lager, das in zwei Bereiche geteilt war. Der eine Bereich diente zur Aufbewahrung der Kleidung, die die Opfer mitbrachten, und von Wertgegenständen wie Diamanten, US-Dollar und Gold, nicht zuletzt Zahngold, das man den Leichen aus dem Mund brach. Der andere Bereich, versteckt hinter Tannenzweigen, die in den Stacheldraht geflochten waren, umfasste die Gaskammern und Massengräber.

Die beiden Bereiche waren durch einen engen, abgezäunten Weg verbunden, den sogenannten »Schlauch«. Die Opfer aus 20 Güterwaggons wurden beim Aussteigen über Lautsprecher aufgefordert, sich auszuziehen, und mussten dann durch diesen Weg laufen, begleitet vom Gebrüll der Wachen, die sie mit Gewehrkolben und Bajonetten antrieben. Das Ziel bestand darin, ihnen keine Zeit zum Nachdenken zu geben. Sie sollten gar nicht begreifen, wo sie sich befanden und was ihnen bevorstand.

Bei ihrer Ankunft hatte man ihnen gesagt, sie würden zum Duschen gebracht, das sei Teil der Aufnahmeprozedur. Man riet ihnen, ihre Schuhe mit den Schnürsenkeln zusammenzubinden, damit nichts verloren ging. Und man forderte sie auf, ihre Kleidung ordentlich zusammenzulegen, damit sie sie leicht wiederfanden. Was für eine groteske, mörderische Lüge!

Der Schlauch führte direkt in die Gaskammern. Sobald die Türen verschlossen waren, hinter denen 200 Menschen eingesperrt waren, starteten Hilfspolizisten einen großen Dieselmotor, der Kohlenmonoxid in das aus Ziegeln errichtete Gebäude pumpte. Nach 30 Minuten waren alle Menschen tot. Von ihrer Ankunft bis zum Tod war kaum mehr als eine Stunde vergangen.

Sonderkommandos – Gruppen von jüdischen Häftlingen, die ausgewählt worden waren, eine Zeit lang als Zwangsarbeiter am Leben zu bleiben – zogen die Leichen aus der Gaskammer und zerrten sie mithilfe von Ledergurten zu den Massengräbern. Dort wurden die Toten schnell mit einer dünnen Erdschicht bedeckt. Und die ganze Zeit spielte ein Orchester.

In den ersten drei Monaten, die Belzec in Betrieb war, wurden dort etwa 80 000 Juden ermordet. Als meine Familienmitglieder im September ankamen, gab es bereits sechs Gaskammern, doppelt so viele wie zu Beginn. Es war ein Fließband des Todes für die Menschen, von denen Heinrich Himmler, der Erfinder dieses Völkermords, erklärt hatte, sie müssten vom Angesicht der Erde verschwinden.

Ab Oktober wurden die Leichen exhumiert, auf große Scheiterhaufen aus Eisenbahnschwellen gestapelt, mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Knochen wurden eingesammelt, zerstoßen und in Gräben geworfen, die einst als Panzersperren gedient hatten. Die Gruppen von Zwangsarbeitern wurden in regelmäßigen Abständen ermordet; die letzten 300 wurden Ende Juni 1943 im Vernichtungslager Sobibor vergast, nachdem man ihnen vorgegaukelt hatte, man würde sie nach Deutschland evakuieren.

Vom Lager Belzec sind keine Gebäude erhalten, doch die bedrohliche Atmosphäre ist unverkennbar. Auch mehrere Generationen danach begreift man immer noch nicht wirklich, was hier geschehen ist. Ich bin eine symbolische Straße des Todes entlanggegangen, einen unterirdischen Gang, der die Hoffnungslosigkeit des letzten panischen Stolperns durch den Schlauch symbolisieren soll. Die hohen, rauen Wände umschlossen mich, und es fühlte sich an, als sei ich ganz allein im Tal des Todes.

Es war ein mächtiges, ein sehr mächtiges Erlebnis.

Ich kann die wunderbaren Menschen nicht vergessen, die einst um mich waren. Meine Cousins und Cousinen, so viele! Die kleine Bluma Kroner, ein rothaariges Mädchen. Als Junge war ich sehr verliebt in sie. Sie war so nett, so weiblich. Ich sehnte mich danach, dass sie uns besuchen kam. Ich wusste nicht, was für einen Beruf ihr Vater hatte, aber er war reich, er war der erste Mann im Schtetl, der ein Auto mit offenem Verdeck fuhr. Als er uns mitfahren ließ, fühlte ich mich wie ein antiker Kaiser.

Nachdem die Nazis uns zusammengetrieben hatten, sah ich sie nie wieder. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich sie mir immer noch vorstellen, aber es tut so weh. Ich denke nicht gern über den Verlust nach, aber der Gedanke überfällt mich, vor allem wenn ich allein bin. Er zieht mich in die Vergangenheit und fragt mich, was wir hätten tun können. Wir hätten weglaufen sollen, aber warum? Wir lebten seit tausend Jahren dort, wir waren dort verwurzelt.

Wir führten ein glückliches Leben, umgeben von Freunden, Verwandten, Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Alle besuchten sich gegenseitig. Manchmal brachten sie Süßigkeiten mit; eine Tante schenkte uns selbst gemachtes Sauerkraut. Was ist aus ihnen geworden? Ich hätte so viel von ihnen lernen können und habe alles verpasst. Sie haben nicht lange genug gelebt, dass ich sie gut hätte kennenlernen können.

Sie haben nicht lange genug gelebt, dass ich mich selbst hätte kennenlernen können.

Manchmal, wenn ich zum Arzt gehe, werde ich nach Krankheiten in der Familie gefragt. Diabetes, Bluthochdruck … Ich kann darauf keine Antwort geben, weil ich so etwas nie erfahren habe. Ich erinnere mich nicht einmal an die Stimme meiner Mutter oder ihren Geruch. Mir bleibt nur das vage Schuldgefühl, weil ich sie beleidigt haben könnte, indem ich meine Pausenbrote an ärmere Klassenkameraden weitergab.

Wie schon gesagt, ich bin kein Held. Eine Narbe auf der Innenseite meines linken Arms, wo ich mir meine Häftlingsnummer aus Auschwitz chirurgisch entfernen ließ, beweist es. 85314. Heute bereue ich das, aber damals, als ich mir nach dem Krieg ein neues Leben in Südamerika aufbauen wollte, wo die Menschen nur wenig über den Holocaust wussten, war mir die Nummer peinlich. Ständig wurde ich danach gefragt, fast als hielte man mich für einen Verbrecher.

Heute werde ich manchmal nach der Mentalität der Überlebenden gefragt, aber das kann man nicht so einfach oder glatt beantworten. Nur diejenigen von uns, die durch die Lager gegangen sind und so lange verschont blieben, dass sie irgendwann wieder die saubere, frische Luft der Freiheit atmen konnten, verstehen die Erfahrung wirklich. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden, doch es ist immer noch schwer zu erklären.

Wie kann ich von Ihnen erwarten, dass Sie Geschichten verstehen wie die von den russischen Häftlingen, die am Feuer den Rumpf eines jungen Mannes in den Zwanzigern brieten, der gerade gestorben war? Ich habe sie gesehen, nur wenige Tage vor der Befreiung meines letzten Lagers, Ebensee im Norden Österreichs. Ich ertrug den Anblick nicht und schaute weg. Er überstieg alles menschliche Vorstellungsvermögen.

Ich habe versucht, meine Kinder Tuvia, Sheila und Ziggy vor derartigen Schrecken zu bewahren, doch als sie ihre eigenen Familien gründeten, drängten sie mich, meine Erfahrungen aufzuschreiben. Und ich gehorchte den Worten aus Joel 1,3: »Sagt euren Kindern davon, und lasst’s eure Kinder ihren Kindern sagen und diese wiederum ihren Nachkommen.« Ich hatte versucht, die Vergangenheit hinter mir zu lassen, doch die Vergangenheit wollte mich nicht loslassen.

Heute weiß ich, dass ich in den ersten Jahren nach der Befreiung unter Schock stand, doch ich erinnere mich lebhaft an General Dwight D. Eisenhower, den Befehlshaber der Alliierten, der Kongressabgeordnete, Journalisten und Fotografen zum Besuch der Lager aufforderte, damit sie die »überwältigenden Beweise für Bestialität und Grausamkeit« mit der Welt teilen konnten.

Er kannte die schreckliche Wahrheit, er hatte die Leichenberge gesehen, die im KZ Ohrdruf in Deutschland lagen. Und er ahnte bereits, dass der Tag kommen würde, an dem der Holocaust geleugnet würde. So lud er nicht nur Politiker und Medienvertreter ein, sondern befahl auch den Menschen vor Ort und den US-Soldaten, die gerade frei hatten, die Schrecken selbst anzusehen.

Gerade weil die Vernichtung so gut dokumentiert ist, begeht derjenige, der den Holocaust leugnet, ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich habe nie jemanden getroffen, der das tat, aber wenn, dann würde ich ihm eine quälende Frage stellen: »Wo ist dann aber meine Familie? Wo sind meine Eltern, meine Brüder, meine Verwandten?« In diesem Sinne habe ich beschlossen, dieses Buch zu schreiben. Ich hoffe, das klingt nicht anmaßend, aber ich tue es für künftige Generationen. Wir müssen uns der Wahrheit stellen.

Meine Erinnerungen sind nach wie vor schmerzhaft, aber in den letzten etwa zehn Jahren sind die Stimmen meiner Generation leiser geworden, und die Haltung gegenüber den Überlebenden verändert sich. Immer mehr Menschen sind bereit, uns zuzuhören, wenn wir von der Heiligkeit des Lebens, von spiritueller Nahrung und Identität sprechen. Ich habe mir die Weisheit von Rabbi Israel ben Eliezer zu Herzen genommen, dem Gründer des chassidischen Judentums im 18. Jahrhundert: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«

Das ist eine schöne Vorstellung, die auch erklärt, warum ich in Belzec nicht wirklich allein war, als ich mich in mich selbst zurückzog. Ich wurde von einer Gruppe jüdischer Schülerinnen und Schüler begleitet, die ich genau beobachtete, während ich von meinen Gefühlen und Erfahrungen sprach. Einige wischten sich verlegen stille Tränen aus den Augen. Besonders beeindruckte mich ein Junge, der dort saß und gedankenverloren ins Leere starrte, während er seine Stirn mit den Fingerknöcheln knetete.

Es steht zu hoffen, dass die jungen Menschen die Fackel weitertragen werden. Trotz aller Komplikationen, die durch die Pandemie hervorgerufen wurden, habe ich mithilfe von Organisationen wie JRoots etwa ein Dutzend solche Unterrichtsbesuche in den Lagern machen können. In Israel halte ich Vorträge in Schulen und Universitäten, in Unternehmen und vor Gemeindegruppen. Und ich verlange nichts dafür, nur die Gelegenheit, gehört zu werden.

Wir leben in einer Zeit der Epidemien. In Europa herrscht Krieg, Belzec liegt nur 17 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Es gibt so viele zerstörerische Kräfte. Wie so viele andere frage ich mich, was eigentlich los ist. Sind es nur die Umstände? Gott hat eine schöne Welt erschaffen, und wir Menschen sind dabei, sie zu verderben. In meinen Augen ist es so, dass Er uns Botschaften schickt. Wir müssen den Code entschlüsseln, das Rätsel lösen. Was will Er von uns?

Ich glaube, wir sind nicht gut genug. Er ist nicht zufrieden mit uns, er will, dass wir uns bessern. Und wie können wir uns bessern? Ein hebräisches Sprichwort, Tikkun olam, was auf Deutsch so viel heißt wie »Reparatur der Welt«, bezieht sich darauf, dass wir die Welt besser machen, indem wir nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft streben. Was können wir tun? Jede und jeder Einzelne, jede und jeder von uns, sollte ins eigene Herz blicken. Wo liegen meine Unzulänglichkeiten? Wo versage ich? Wo tue ich nicht das, was ich tun sollte?

Wenn wir danach streben würden, uns selbst zu besseren Menschen zu machen, würde auch die Welt um uns herum eine bessere. Aber ich bin Realist. Wir haben ein Problem: Wir sind nie zufrieden. Wir reden uns ein, dass wir nie genug haben. Hilfe kann nur aus unserem Inneren kommen. Wir verderben die Welt und müssen den Schaden wiedergutmachen. Es gibt Grenzen für das, was Einzelne tun können, aber wir müssen aufrichtig, mit offenem Herzen und offenem Geist miteinander reden.

Erziehung ist sehr, sehr wichtig, weil das Böse sich erhebt.

Wenn ich mich umsehe, scheint es mir, als wären wir auf dem Weg zurück in die Dreißigerjahre. Ich sehe Antisemitismus auf der ganzen Welt, Gedenkstätten werden mit Hakenkreuzen beschmiert. Menschen werden verfolgt, bedroht, angespuckt. Mir gefriert das Blut in den Adern, wenn ich sehe, wie polnische Nationalisten »Tod den Juden« brüllen und ein Buch verbrennen, das einen historischen Pakt zum Schutz der Rechte jüdischer Gemeinden im Land enthält.

Ein Freund, der in New York lebt, hat mir vor Kurzem ein Video geschickt, das vom Balkon eines Wohnhauses aus aufgenommen wurde. Ein jüdisch aussehender Mann mit Bart, ein Kurierfahrer, holte Waren aus seinem Lieferwagen. Die beiden Hintertüren waren geöffnet. Ein Passant schlug sie zu, und als der Fahrer sie schweigend wieder öffnete, um seine Arbeit fortzusetzen, wurde er plötzlich angegriffen.

Der Passant trat und schlug ihn zuerst, dann schubste er ihn vom Gehweg in den laufenden Verkehr. Ich war sicher, der Mann würde überfahren, aber ein Auto hielt an, und der Angreifer lief weg. Ich denke, viele können sich mit dem Kurierfahrer identifizieren, der langsam aufstand, sich streckte und mit seiner Arbeit weitermachte. Was haben wir, das jüdische Volk, getan, dass die Welt uns immer noch hasst?

Ich dachte, wir wären auf dem Weg der Heilung, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher.

Nelson Mandela war ein großartiger Mann. Es hieß, er habe sein Volk, seine Nation und diese Welt aus dem Hintergrund geführt. Das heißt, er gab ein Beispiel und erlaubte anderen, ihm zu folgen, aus eigener Kraft und auf die eigene Weise. Auf meine eigene kleine Weise kann ich Menschen erzählen, was war und was wieder sein könnte. Mein Thema ist die Menschlichkeit, die wir gemeinsam haben. Wir dürfen Menschen nicht nach Rasse oder Religion, Glaube oder Hautfarbe einteilen.

Ich habe wirklich furchtbare Menschen erlebt, aber ich glaube nach wie vor an die Menschheit. In meinem Leben habe ich vielen Menschen vertraut. Und ich tue das immer noch. Wenn sie mit mir reden, höre ich zu. Wenn sie mir etwas erzählen, glaube ich ihnen. Ich bin oft enttäuscht worden, weil ich nicht in die Herzen der Menschen blicken kann und nicht weiß, ob sie die Wahrheit sagen.

Wenn jemand in Jerusalem an die Tür meiner Wohnung im dritten Stock klopft und mich um eine Gabe bittet, weiß ich nicht, ob er oder sie diese Gabe wirklich braucht, aber ich gebe den Menschen etwas Geld von dem Stapel Münzen, der in einem Regal nahe der Tür liegt. So bin ich nun mal. Ich danke Gott, dass ich helfen kann. Man muss geben, um nehmen zu können. Wohltätigkeit ist das Heilmittel der Gesellschaft. Ich bin in dem Glauben erzogen, dass wir die Welt retten, wenn wir einen einzigen Menschen retten.

Wenn ich Menschen sehe, die vom Bösen besessen sind, frage ich mich, woher das kommt. Gibt es einen Punkt, an dem das Böse zur Normalität wird? Setzt ein SS-Offizier sich einfach zum Abendessen hin, nachdem er den ganzen Tag Juden ermordet hat? Es gelingt mir nicht, mir das vorzustellen. Und wenn er seiner Frau stolz von seiner Arbeit erzählt, sagt sie dann: »Gut gemacht, Liebling, bravo!«? Ich glaube nicht, dass ich das jemals verstehen werde, aber ja, das hat sie wohl gesagt.

Es gibt so viel Unfassbares. Wie konnte es Hitler, diesen Niemand, gelingen, gebildete Geister in einer der kultiviertesten Nationen auf Erden zu vergiften? Er war weder Abgeordneter noch Minister oder Landespräsident. Er war nicht mal ein Dorfbürgermeister gewesen. Und doch wurde dieser einsame Junggeselle, ein Anstreicher, der es im Ersten Weltkrieg gerade mal zum Gefreiten brachte, zu einem Todesengel, der das europäische Judentum vernichtete und einen Krieg anzettelte, der 55 Millionen Menschen das Leben kostete.

Was verleitet einen Mann zum Töten? Ich war dazu nie fähig, nicht einmal, als ich den berüchtigten SS-Kommandanten Amon Göth als einfachen Wehrmachtssoldaten verkleidet in einem Kriegsgefangenenlager fand. Man hat mich gefragt, warum ich ihn nicht sofort erschossen habe – schließlich waren seine Verbrechen ungeheuerlich. Doch das wäre so gewesen, als hätte ich ihm für seine Taten eine Goldmedaille verliehen. Er hatte Tausende getötet, und ich wollte, dass er litt.

Darauf bin ich nicht stolz, und ich bereue, dass ich es im Prozess gegen ihn gesagt habe, weil es ein bisschen kindisch war – aber es hätte mir gefallen, ihm mit einem Schlachtermesser Wunden zuzufügen und Salz hineinzustreuen. Und dann wäre ich am nächsten Tag wiedergekommen und am übernächsten auch und hätte es immer wieder getan, bis dieses Ungeheuer seinen Lebenswillen verloren hätte.

Wir sind keine Herren über Leben und Tod. Beides liegt in Gottes Hand. Er ist verantwortlich für seine Schöpfung.

Ein Neffe von mir ist ein sehr berühmter Arzt. Er war nicht religiös, aber eines Tages kam er zu mir, weil er wusste, wie fromm ich bin, und sagte: »Onkel Joe, ich glaube zu 100 Prozent, dass es einen Gott gibt.«

Ich lächelte zweifelnd und fragte: »Vielen Dank. Wie kommt es, dass du deine Meinung geändert hast?«

Seine Antwort faszinierte mich. »Ich kenne den menschlichen Körper. Er funktioniert so perfekt, dass es unser Vorstellungsvermögen übersteigt. So etwas kann nur ein Gott erschaffen haben, und deshalb glaube ich an ihn.«

Oft werde ich gefragt, warum ich überlebt habe, wo doch Millionen gestorben sind. Darauf habe ich keine richtige Antwort, obwohl eine ganze Reihe von Wundern dabei eine Rolle gespielt haben. Ich kann nur sagen, dass ich ein Mensch des Glaubens war und bin. Das heißt, ich hatte selbst in den schlimmsten Zeiten etwas, woran ich mich festhalten konnte. Wenn man kein Glaubenssystem hat, woran soll man sich klammern? An einen Laternenmast? Ein neues Auto? Eine teure Armbanduhr?

Ich glaube, alles passiert, weil es Gottes Wille ist. Ich glaube an den Unterschied zwischen richtig und falsch. Ich glaube, wenn ich das Richtige tue, dann erfülle ich Gottes Willen. In meinen dunkelsten Momenten, so glaube ich, war Er an meiner Seite. Wir besitzen einen freien Willen und können entscheiden, wie wir unser Leben gestalten. Einige lassen sich von modernen Haltungen blenden.

Manchmal fühlte ich mich verpflichtet, mein Überleben zu rechtfertigen, indem ich etwas tat, um anderen zu helfen. Zum Beispiel den Waisenkindern, die von ihren verzweifelten Eltern in Ställen, Bauernhäusern, Kirchen und Klöstern zurückgelassen wurden – von Eltern, die wussten, dass sie bei der Liquidation des Ghettos umkommen würden. Man erwartet wohl auch von mir, dass ich zornig bin, weil man uns – und ihnen – so viel genommen hat. Doch Zorn ist wie ein Schaukelstuhl. Man bewegt sich, aber man kommt keinen Zentimeter voran. Wir haben nicht die Aufgabe, Rache zu nehmen, sondern wir sollen unsere Gemeinschaften wiederherstellen.

Ich bin kein besonders kluger Mann, aber kürzlich besuchte mich ein General der israelischen Streitkräfte, der einen Vortrag vor hohen Offizieren halten sollte. Wir hatten etwa zwei Stunden lang miteinander gesprochen, als ich ihn bat, mir zu erklären, warum er mein Zeugnis für so wichtig hielt. »Wir wollen sie motivieren, auf alles vorbereitet zu sein, wo auch immer in der Welt. Auf alles, was das Leben jüdischer Menschen gefährden könnte«, erwiderte er. »Wir müssen die Vergangenheit nutzen, um zu lernen, wie wir in Zukunft reagieren und uns verhalten sollen.«

Ich habe schon einmal über neshama gesprochen, unseren Geist. Sie bezeichnet den göttlichen Funken in uns, der uns verliehen wird und für den wir Gott danken müssen. Er gehört nämlich Ihm, und Er kann ihn uns nehmen, wann immer Er will. Wir können darum beten, dass Er ihn uns bis ins hohe Alter lässt, aber wenn dieser Funke zu Ihm zurückkehrt, sind wir nur noch ein Stück Materie ohne Leben.

Ich rate den Menschen immer, sich für das Leben und die Güte zu entscheiden. Es mag sein, dass sich Finsternis über uns senkt, aber das Licht des Lebens wird sie immer durchdringen.

KAPITEL 1 BLUTLINIEN

Die Bürgermeisterin war höflich, aber bestimmt. Es gebe keinen jüdischen Friedhof in Działoszyce, meinem Geburtsort, erklärte sie mir. Sie war voller Mitgefühl für meine Not, da ich doch nach dem Grab meines Urgroßvaters suchte, aber sie konnte mir da nicht weiterhelfen. Doch wie so oft in Polen, wo dunkle Geheimnisse durch Halbwahrheiten und Rätsel geschützt werden, waren die Dinge anders, als sie zu sein schienen.

Ich wusste, dass mein Gedächtnis mir keinen Streich spielte. Kinder in meinem Alter – damals war ich acht – durften normalerweise nicht an Beerdigungen teilnehmen, aber ich hatte meinem Urgroßvater so nahegestanden, dass man mir eine Sondererlaubnis gewährte. Deshalb war ich dabei, als man ihn am Spätnachmittag jenes Tages, an dem er im Schlaf gestorben war, zur Ruhe bettete. Es war kurz vor Pessach. Niemand wusste mehr genau, ob er 105 oder 106 Jahre alt geworden war.

Dovid Leib – mein jüngster Bruder war nach ihm benannt worden – war ein hochgewachsener Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem langen weißen Bart, der mich faszinierte, weil er im Wind tanzte. Mein Urgroßvater trug immer einen langen schwarzen Mantel und einen jiddischen hittel, den Hut mit breiter Krempe. Ich höre immer noch, wie er sagte: »Nie in meinem Leben hat mir auch nur ein Fingernagel wehgetan.« Als er starb, besaß er noch alle seine Zähne, hörte hervorragend und brauchte weder eine Brille noch einen Gehstock.

Und er war ein lebendes Geschichtsbuch.

Er erzählte mir Geschichten von polnischen Königen wie Bolesław II., genannt der Großzügige, Kasimir III., genannt der Große, und Władysław II. Jagiełło, der Działoszyce 1409 das Stadtrecht verliehen hatte. Und er konnte wie sein Vater, der ebenfalls sehr alt geworden war, Geschichten von antisemitischen Pogromen erzählen, angefangen beim Chmelnyzkyj-Aufstand 1648 bis 1657, bei dem Zehntausende Juden abgeschlachtet wurden.

Mein Urgroßvater selbst überlebte ein derartiges Pogrom während des russischen Bürgerkrieges, bei dem mindestens 35 000 Juden durch Kriegsfürsten, Weißrussen und ukrainische Nationalisten ermordet wurden. Er hatte Józef Piłsudski kennengelernt, den Staatsmann, der als Vater der multiethnischen zweiten polnischen Republik gilt, die 1918 wiedererrichtet worden war, 123 Jahre nach der Teilung. Die Spannungen dieser Zeiten sind heute noch spürbar.

Mein Urgroßvater war ein alter Mann mit dem Herzen eines kleinen Jungen. Wir verbrachten lange Tage auf seinem Bauernhof, kümmerten uns um seine beiden Pferde, schauten nach den Tomaten und aßen frisch gepflückte Bohnen. Manchmal schickte er mich auf den Dachboden, um noch warme Eier zu holen, die seine Hennen gelegt hatten. Und er zeigte mir, wie man zwei Löcher in die Eierschale sticht, um das Eiweiß herauszusaugen, das ich mir dann in die Augen rieb. Wahrscheinlich war das eine bobbemeise, ein Ammenmärchen, aber er war überzeugt, dass es mir guttun würde.

Das jiddische, aus dem Hebräischen stammende Wort Yichus bedeutet Abstammung oder Blutlinie. Es betont die Bedeutung unseres Wissens, woher wir kommen, wer wir sind und wofür wir stehen. Deshalb war es mir so wichtig, meinem Urgroßvater die Ehre zu erweisen. Die Tatsache, dass meinen Eltern und Geschwistern ein jüdisches Begräbnis verwehrt worden war, verlieh meinem Bedürfnis noch mehr Dringlichkeit.

Als ich am 21. Juli 1926 geboren wurde, bestand die Bevölkerung von Działoszyce zu 80 Prozent aus Juden. Sie handelten mit Getreide, Früchten, Schuhen, Möbeln, Leder und Kleidung. Drei Gerbereien, zwei Ölmühlen, eine Ziegelei und mehrere Fliesenfabriken gaben den Menschen Arbeit. Die Märkte am Dienstag und Freitag zogen Tausende Menschen aus den Dörfern und Städten der Umgebung an.

Als ich 2019 zum letzten Mal dort war, fühlte es sich an, als wäre ich in ein schwarzes Loch gefallen. Die Ruine der neoklassizistischen Adass-Jisroel-Synagoge, die in der Zeit von 1852 bis 1876 erbaut worden war, stand noch, aber das Dach war eingefallen und der Außenputz abgeblättert, sodass die bröckelnden Ziegel sichtbar wurden. Tauben wohnten darin und flogen mit lautem Flügelschlag durch die Bögen, die einst majestätische Buntglasfenster eingefasst hatten.

In besseren Zeiten war dies ein schönes Haus mit aufgemalten goldenen Sternen auf hellblauem Hintergrund. Darstellungen der zwölf Stämme Israels waren auf Metall gemalt und mit Blumen geschmückt. In den vier Ecken am Rand der Hallendecke waren Darstellungen von Hirsch, Löwe, Tiger und Adler zu sehen. Nichts davon ist erhalten. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Synagoge in einem Akt beiläufiger Entweihung zur Lagerung von Kohle, Zement und Baumaterial genutzt.

Ich warf einen Blick durch das Gitterwerk der verschlossenen Eisentüren und versuchte, mich in die Zeit zurückzuversetzen, als ich dort auf den Bänken saß und betete, zusammen mit meinem Vater und seinem Vater Jankel, einem tiefreligiösen Mann, dem dritten von Dovids vier Söhnen. Seine Frau Esther, meine Großmutter, war ebenfalls eine fromme Frau. Sie studierte die Tsena Urena, die Frauenbibel, und machte Butter und Käse aus der Milch von Dovids Kühen.

So viel hatte sich verändert. Das Gestrüpp rundum verstärkte noch den Eindruck von Verfall und trug zu meiner Verwirrung bei. Schließlich bin ich ein alter Mann und sehe manches in einem anderen Licht. Furchtsame Kindheitserinnerungen an einen breiten Fluss in der Nähe, der den einzigen Brunnen des Schtetls speiste und Stromschnellen hatte, standen gegen die Erkenntnis, dass daraus ein flacher, langsam fließender kleiner Fluss geworden war – die Sancygniówka.

Ich musste dorthin zurückkehren, um für mein Leben zu danken, denn als Junge bin ich einmal in diesen Fluss gefallen, als ich über die zwei losen Bretter ging, die als provisorische Brücke dienten. Ich konnte nicht schwimmen, schlug um mich und schluckte jede Menge Wasser. Und niemand war da, der mir helfen konnte. Bis heute weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe, wieder herauszukommen.

Die Gegend wurde häufig überschwemmt. Im Jahr 1936 war Działoszyce acht Tage lang von der Außenwelt abgeschnitten, nachdem die Sancygniówka und die Jakubówka, ein anderer Fluss, nach einem Wolkenbruch über die Dämme getreten waren. Achtundzwanzig Häuser wurden weggespült, weitere 130 wurden schwer beschädigt, und sechs Stadtbewohner ertranken. Unser Haus hatte schon ein paar Jahre zuvor zwei Meter tief unter Wasser gestanden – meine Eltern hatten mich damals auf einen Schrank gesetzt, um mich in Sicherheit zu bringen. Aus irgendeinem Grund habe ich noch das Bild einer Zimmerdecke mitsamt Lampenanschluss vor Augen, die vorbeitrieb.

Die Lösung des Rätsels, was den Friedhof anging, lag in der Verdrängung sämtlicher Hinweise auf die jüdische Gemeinde während des und unmittelbar nach dem Holocaust. Nach meiner ersten Rückkehr im Jahr 2011 stellte ich fest, dass der Friedhof von den polnischen Stadtbewohnern in einer Mischung aus Schuldgefühl und Abneigung mutwillig vernachlässigt worden war. Grabsteine, die bis ins 18. Jahrhundert zurückgingen, waren zerstört worden.

Der Friedhof war so überwuchert, dass man ihn gar nicht mehr betreten konnte. Das wäre wohl, wenn man es wohlwollend betrachten will, eine Begründung für die Ahnungslosigkeit der Bürgermeisterin. Allerdings habe ich inzwischen erfahren, dass es einer freundlichen Seele zumindest gelungen ist, das Dickicht zu durchdringen und Erinnerungstafeln an einigen Baumstämmen anzubringen. Die Menschen, die auf diese Weise geehrt werden, mögen im Nebel der Vergangenheit verschwunden sein, doch sie haben es verdient, dass man sich ihrer erinnert. Möge es ein segensreiches Erinnern sein.

Meine Großeltern sprachen Jiddisch, Polnisch, Russisch und Deutsch. Sie waren nicht reich, aber freigebig. Mein Großvater beispielsweise verteilte Milch, die er vom poretz gekauft hatte (einem adeligen Landbesitzer), an die Armen, die ihm nur einen Bruchteil des tatsächlichen Preises bezahlen konnten. Sein Bruder Aaron, der als Gutsverwalter arbeitete, verdiente dabei so gut, dass er sich eine vierspännige Kutsche leisten konnte – ein Rolls-Royce nach heutigen Maßstäben. Er schenkte mir Schokolade und unterstützte die Verwandtschaft, wo immer es nötig war.

Für einen Menschen, dem man einmal eine Nummer gegeben hat, besaß ich viele Namen. Ursprünglich hieß ich Joseph oder Josef, aber auf Polnisch wurde ich Juzek oder Josek genannt, auf Jiddisch Jossel oder Yossaleh. In meinem späteren Leben in Südamerika und dann Kanada kannte man mich als José oder Joe. Es kam immer darauf an, wo ich lebte. Mein ursprünglicher Familienname war Lewkow, das »icz« wurde viel später angehängt, es bedeutet »Sohn von«. »Lew« bedeutet »Herz«, weist aber auch auf den jüdischen Stamm Levi hin.

Es ist schon seltsam, wie die Dinge manchmal laufen. Viele Jahre später, bei einem Besuch in Israel, traf ich zu meiner großen Überraschung einen Fremden, der mir erzählte, er sei bei meiner Beschneidungszeremonie dabei gewesen, acht Tage nach meiner Geburt. Offenbar bin ich nach einem gelehrten Thora-Forscher benannt worden, Rabbe Yoskele. Ich hätte gern mehr darüber erfahren, aber als ich zwei Jahre später wieder nach Israel kam, musste ich feststellen, dass der Mann verstorben war. Seine Erinnerungen waren nie aufgezeichnet worden – wieder war ein kleines, aber bedeutendes Stück unseres Erbes verloren gegangen.

Mein Vater Symcha wurde 1899 geboren. Er war das älteste Kind und der einzige Sohn seiner Eltern. Hannah, die jüngste seiner drei Schwestern (die anderen beiden hießen Sheindel und Pearl), starb früh an Tuberkulose. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs versuchte er – vergeblich –, der Einberufung zur polnischen Armee zu entgehen, indem er sich absichtlich am Bein verletzte.

Der Widerstand gegen den Militärdienst liegt in der Familie. Ich habe mich noch in den Fünfzigerjahren mithilfe von Bestechung der Wehrpflicht in Argentinien entzogen, wohin mich das Schicksal geführt hatte: Mein Großonkel Israel, ein lebenslustiger Mann, war fast 40 Jahre zuvor nach Südamerika gegangen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Und das nur, weil er nicht zur polnischen Armee eingezogen werden wollte.

Mein Vater sprach nur selten über seine Kriegserfahrungen in Russland, der Ukraine, Belarus und Deutschland, aber er war klug genug gewesen, sich mit meiner Mutter Sheindel zu verloben, bevor er an die Front geschickt wurde. Ihre feinen Züge erinnerten an ihre französischen Vorfahren, aber sie war 1902 in Działoszyce geboren und galt als beste Partie in der gesamten Gemeinde.

Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich eine kurze Skizze ihrer Eigenschaften hier einfüge. Es bedeutet mir als pflichtbewusstem Sohn sehr viel, sie mit Worten und Taten ein Stück weit ins Leben zurückzuholen. Sie war nicht nur von großer natürlicher Schönheit, sondern machte auch das Beste aus einer guten Bildung und war eine eifrige Leserin, sowohl in polnischer als auch in hebräischer Sprache. Außerdem konnte sie sehr schnell kopfrechnen, ohne sich irgendetwas aufzuschreiben.

Sie kleidete sich gut und achtete auch auf Kleinigkeiten wie beispielsweise die Art, den Hut aufzusetzen. Und sie hatte eine Leidenschaft für gute Schuhe, in der Regel die, die ihre Brüder Leibish und Yossel herstellten, ultraorthodoxe Juden, die ein erfolgreiches Exportunternehmen führten. In ihrer Fabrik, wo es immer nach frischem Leder duftete, spielte ich mit meinen Freunden Verstecken.

Meine Mutter konnte sehr stur sein, ein Segen und Fluch zugleich, den sie mir vererbte. Aber sie sprach ruhig und war immer warmherzig und freundlich. Bis heute versuche ich, ihrer Anweisung zu folgen: »Wenn du nett zu anderen Menschen bist, kannst du nur gewinnen.« Ihre fürsorgliche Seite stammte wohl von ihrer Mutter Pearl, die in unserer Gegend eine bekannte shidduchim war, eine Heiratsvermittlerin.

Ich vermisse meine Mutter jeden Tag und trauere bis heute um eine Stickerei von Adam und Eva im Paradies, die sie mit verblüffender Detailgenauigkeit und Kreativität anfertigte und die ihr Stolz und ihre Freude war. Diese Stickerei wurde uns gestohlen. Meine Mutter hatte viele nächtliche Stunden sorgfältiger, liebevoller Arbeit hineingesteckt, und die Stickerei schmückte die große Wand in unserem Haus, das uns, wie Sie noch lesen werden, weggenommen wurde.

Sheindels Vater Yitzhak Isaac verdiente gut. Er fertigte Steppdecken und Kopfkissen aus feinen Gänsefedern, die von einem Netzwerk aus Rupfern in großen Säcken in den Städten und Dörfern der Umgebung gesammelt wurden. Er verwendete auch Entendaunen für eine Reihe von Produkten, die in der Fabrik meines anderen Großvaters hergestellt wurden. So lief das bei uns: Die Familie stand an erster Stelle, vor allem, wenn die Verbindung noch durch Heirat gestärkt wurde.

Die Ehe meiner Eltern wurde durch eine formelle Zeremonie in der shul, der Synagoge, geschlossen. Ich weiß nicht genau, wo das Festessen stattfand, denn die Gäste gehören zu unserer verlorenen Generation, und die Erinnerung ist mit ihnen gestorben, aber es muss entweder im Feuerwehrhaus oder in einem feinen Gebäude der Stadt gewesen sein. Das Essen war sicher einfach, aber reichlich.

Als Kind liebte ich die Freude und Üppigkeit bei solchen Gelegenheiten. Eine chassidische Kapelle spielte Klezmer-Musik, und die Männer tanzten bis zum frühen Morgen im Kreis. Der Hochzeitszug war ein Gemeinschaftsereignis: Überall wurden die Türen als Ausdruck der Wertschätzung aufgerissen, wenn die Karawane bunter Pferdekutschen vorbeizog. Die Gäste sangen hebräische und jiddische Lieder, uralte Melodien und Lieder für die Ewigkeit.

Ich singe sehr gern, obwohl ich vermute, dass meine Freunde nur aus übertriebener Freundlichkeit behaupten, ich hätte eine gute Stimme. Ich liebe die Geschichten, die in den Liedern erzählt werden, und die Kultur, die sie feiern. Ich liebe die Erinnerungen, die sie wachrufen, und die unschuldige Freude, die sie uns schenken. Bis heute kann ich ohne besondere Aufforderung die Walzer summen, die mich als Kind faszinierten.

Eins der wenigen Erbstücke in meiner Familie ist ein Foto mit etwa 100 Verwandten meines Vaters, das anlässlich einer Hochzeit aufgenommen wurde, vor einem Gebäude, das ich nicht erkenne. Einige der Männer tragen schicke Anzüge, andere eher traditionelle Kleidung. Das Bild umfasst mehrere Generationen, Babys und Kleinkinder ebenso wie Ältere, darunter meinen Urgroßvater, der aufrecht dasteht und einen langen dunklen Mantel trägt.

Sie konnten ja nicht ahnen, welches schreckliche Schicksal ihnen bevorstand.

Damals hatte ich kein richtiges Verhältnis dazu, aber heute kann ich wirklich wertschätzen, dass meine Eltern uns in der richtigen Weise erziehen wollten. So wie meine Eema, meine Mutter, Rücksicht auf andere predigte, so lehrte mich mein Abba, mein Vater, den Wert von Sorgfalt, Bescheidenheit und Ehrlichkeit. Und er lebte diese Werte, nachdem er sich von einem einfachen Mühlenarbeiter zum Getreidehändler hochgearbeitet hatte. Seine Mühle hatte er mit seinen Ersparnissen und einem Zuschuss seiner Schwiegereltern gekauft.

Das Getreide kaufte er beim poretz und transportierte es in Doppelzentnersäcken mit Pferd und Wagen bis zu seiner Wassermühle, die sich im Nachbardorf befand. Dort wurde es gemahlen, und das Mehl wurde dann an die Bäckereien und Läden in der Gegend verkauft. Er war nicht sehr reich, weil seine Kunden nicht immer den vollen Preis bezahlen konnten, aber er wurde sehr respektiert.

Meine Mutter trug zum Familieneinkommen bei, indem sie einen Lebensmittelladen in der Hauptstraße führte, wo Dinge wie Tee, Kaffee, Marmelade, Gewürze, Zigaretten, Brot, Gemüse, Obst, Süßigkeiten, Seife und Putzmittel verkauft wurden. Für einige Waren, beispielsweise Salz und Zucker, gab es staatlich festgesetzte Preise. Den Einkauf leitete mein Vater, der sehr gründlich verhandelte. Wenn meine Mutter Besorgungen machen musste, stand ich im Laden – eine Erfahrung, die mir im späteren Leben gut zupass kam.

Da ich die Preise nicht kannte, fragte ich die Kunden, wie viel die Waren kosteten. Natürlich veränderten sie den Preis zu ihren Gunsten. Ich wusste, was sie im Schilde führten, aber das machte mir nichts aus, weil ich es genoss, mit ihnen zu plaudern. Ich hatte gern mit verschiedenen Menschen zu tun, wollte gern verstehen, wie sie dachten, was sie sich wünschten und was sie akzeptieren würden.

Auch das Treiben auf der Straße gefiel mir. Ein Mädchen sang für ein paar Złoty italienische Opernarien. Ein paar Jungen peinigten schamlos einen anderen Bewohner, einen Exzentriker namens Abele Shuver. Gruppen von vier oder fünf Männern, alle mit Bart und Kippa, standen vor den Läden, redeten über Politik und tauschten den neuesten Tratsch aus. Manchmal hielten sie inne, um Passanten in ihre Läden zu locken. Überall lag eine geschäftige Atmosphäre in der Luft.

Damals begriff ich das noch nicht, aber so wurde ich in Handelsdingen geschult. Und bald war ich geradezu süchtig danach, Münzen oder Briefmarken zu kaufen und zu verkaufen und mit anderen Jungen in meinem Alter Handel zu treiben. Dieselben Instinkte nutzte ich auch nach dem Krieg, als ich mit Diamanten handelte und andere Möglichkeiten sondierte. Dabei zahlte ich reichlich Lehrgeld, aber ich denke, letztlich neigt sich die Waage zu meinen Gunsten.

Eine meiner wichtigsten Lektionen fürs Leben kam von meinem Vater. Von frühester Jugend an ermunterte er mich, neben ihm zu sitzen, zuzuschauen und zu lernen. Er machte gern Späße und ließ mich zum Beispiel auf dem Motor der Mühle reiten, aber er hatte auch eine ernste Seite.

Eines Nachmittags überraschte er mich, als ich im Laden aushalf. Es war ruhig, ich hatte mir gerade ein paar Bonbons genommen. Das betrachtete ich nicht als Stehlen, doch er spürte sofort mein schlechtes Gewissen. »Was machst du da?«, fragte er. »Was hast du da in der Hand?«

Ich blickte zu Boden, murmelte »nichts« und versuchte ungeschickt, die Bonbons in meiner Hosentasche zu verstecken. Wobei ich nicht davon ausging, jemanden zum Narren halten zu können, am wenigsten meinen aufmerksamen Vater.

»Lass mich mal sehen«, sagte er, und seine Stimme wurde lauter, sodass ich einsehen musste, dass mir keine andere Chance blieb. »Du hast sie ohne Erlaubnis genommen, nicht wahr? Das darfst du nicht, du musst erst um Erlaubnis fragen. Warum hast du die Bonbons genommen? Was hattest du damit vor?« Ich erklärte ihm, ich wollte sie meinen Freunden schenken, die sich so etwas nicht leisten konnten.

Er spürte wohl, dass mir selbst unwohl dabei war, und sagte, er verstehe meine Motive. Gleichzeitig nahm er mir das Versprechen ab, so etwas nie wieder zu tun, ohne vorher zu fragen. Dann hielt er mir einen Vortrag übers Lügen und darüber, dass so etwas immer ans Licht kommt. Er befahl mir, niemals zu betrügen. Und wenn ich jemals in Versuchung käme, nicht die Wahrheit zu sagen, solle ich mich an seine Worte erinnern und den Mund halten.

Sein Tadel hatte eine viel größere Wirkung, als wenn er mir eine Ohrfeige verpasst hätte. Ich schämte mich so sehr, dass ich ihm eine ganze Weile nicht in die Augen sehen konnte. Das war eine großartige Art von Erziehung, denn er ließ die Lehre wirken, indem er mir Zeit gab, darüber nachzudenken. Er lehrte mich Toleranz und wie wichtig es sei, jedermann Respekt entgegenzubringen, unabhängig vom Status. Und wenn ein Jude oder eine Jüdin mich um Hilfe bat, sollte ich großzügig geben.

Meine moralische Erziehung wurde durch meinen Glauben ergänzt. Die ersten Lebensjahre verbrachte ich zu Hause bei meiner Mutter, bis ich im Alter von vier oder fünf Jahren auf die cheder, die Dorfschule, geschickt wurde. Ein belfer, eine Art Lehrgehilfe, begleitete mich auf dem Schulweg – er war so etwas wie ein menschlicher Hirtenhund, der seine Herde hütete. Ich trug zumeist kurze Hosen, die meine Mutter genäht hatte. Sie achtete darauf, dass mein Kopf immer bedeckt war. Pajes, die traditionellen Schläfenlocken, trug ich erst später.

Der Unterricht fand im Privathaus unseres Lehrers statt, genauer gesagt in dessen Küche. Rab Koppell saß mit der Peitsche vor uns und schlug damit nach jedem, der einnickte oder nicht aufpasste. Das klingt brutaler, als es war, denn die Schläge taten eigentlich nicht weh, sie waren nur peinlich. Ein paar Mal erwischte er mich auch, wenn ich schwätzte, ihn unterbrach oder unter dem Tisch mit einem Spielzeug hantierte.

Wir saßen an einem großen Holztisch, lernten Hebräisch und lasen aus dem Siddur, einem Gebetbuch, und dem Chumash, das Auszüge aus den fünf Büchern Mose enthält. Man lehrte uns, unsere heiligen Bücher in Ehren zu halten, sie nicht auf den Boden zu legen, darauf zu sitzen oder – das schlimmste Vergehen – hineinzuschreiben. Rab Koppell war ein mächtiger Mann in unserer Gemeinde. Ein stetiger Strom von Menschen, die unter Problemen wie dem ayin harah litten, dem bösen Blick, kam in sein Haus.

Als ich sieben Jahre alt war, ernannte mich Rab Koppell zum chazzan der Klasse, also zum Kantor, der das Gebet in der Synagoge leitet. Das war eine große Ehre, aber mit der ganzen Unwissenheit und Kühnheit meiner Jugend erklärte ich ihm, ich wolle das nicht machen. Den Schmerz von dem Schlag auf die Wange, den er mir versetzte, habe ich mein Leben lang nicht vergessen. Noch heute nehme ich diese Verantwortung sehr ernst und habe diese Rolle überall auf der Welt ausgefüllt.

Ich bin das, was man einen ba’al tefilla nennt, einen Meister des Gebets. Damit ist nicht gemeint, dass ich ein besonders guter Mensch bin, sondern es bezieht sich eher auf den Eindruck anderer, ich hätte eine angenehme Stimme. Im Gegensatz zu einem chazzan, der diese Tätigkeit als Beruf ausübt, habe ich nie einen Pfennig damit verdient. Ich fülle einfach nur ein Ehrenamt aus, indem ich das Gebet der Gemeindeglieder anführe.

Wir waren etwa ein Dutzend Jungen in meiner Klasse. Wir wurden gute Freunde und gingen oft zu mir nach Hause, wo meine Eltern uns, bevor sie zur Arbeit gegangen waren, Kekse, Häppchen und Süßigkeiten hingestellt hatten, beispielsweise hausgemachte Blaubeerpastetchen. Wir machten dann unsere Hausaufgaben und fragten uns gegenseitig ab, um sicherzugehen, dass wir am nächsten Tag auf die Fragen des Lehrers antworten konnten.

Wir bastelten uns kleine Spielzeuge und Wägelchen aus Holzstücken, die wir mit Steinchen und Muscheln verzierten. Außerdem machten wir jede Menge Krach, was Zisale auf den Plan rief, unsere Haushälterin, die uns nur zu gern herumkommandierte. Sie war als Waisenkind zu uns gekommen und gehörte so sehr zur Familie, dass meine Eltern irgendwann als Heiratsvermittler fungierten und einen Mann für sie fanden, einen Zimmermann aus dem Ort.

Insgesamt lebten wir glücklich hinter dem Mond. Als wir zum ersten Mal ein Auto sahen, liefen wir staunend hinterher. Ich erinnere mich, dass ich einmal jemanden über Flugzeuge sprechen hörte. Ein eiserner Vogel, der fliegen konnte? Wie war das möglich? Wir hatten kein Fernsehen, und nur die Reichen besaßen ein Telefon, aber wir hatten nie das Gefühl, dass uns etwas fehlte. Selige Unwissenheit.

Im Sommer spielten wir draußen vor dem großen Haus unseres Onkels, der Kohlenhändler war. Und wir gingen auch auf den Sportplatz namens Stawiska, wo wir Wettläufe abhielten und Fangen spielten. Ich war nie ein großer Sportler, aber ich habe nie die Ehrfurcht vergessen, die mich überkam, als mein Vater mich zum ersten Mal zu einem Fußballspiel mitnahm.

Ich nehme an, das ist typisch, aber ich habe überhaupt keine Erinnerungen an das Spiel. Ich entsinne mich nur des kindlichen Staunens darüber, dass die Männer so schnell über das große Spielfeld rennen konnten. Der Lärm und die Farben der Menge faszinierten mich, aber nichts konnte den Zauber überbieten, den die Limonade und das Eis ausübten, die mein Vater mir kaufte. Ein perfekter Tag!

Rab Koppell war ein großer Befürworter körperlicher Ertüchtigung und erlaubte uns in den kurzen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden, frei herumzulaufen. Überhaupt unterbrach er unsere Rezitationen oft, um uns zu erklären, wovon da die Rede war. Er war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, der uns mit Erzählungen über die parsha erfreute, die Wochenlesung aus den heiligen Schriften. Beim Abendessen erzählte ich diese Geschichten dann meinen Eltern.