Mein Vater, der Krieg, der Tod – und ich ... - Till Bastian - E-Book

Mein Vater, der Krieg, der Tod – und ich ... E-Book

Till Bastian

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Beschreibung

1923 wurde Gert Bastian in München geboren. Der spätere General der Bundeswehr, der sich ab 1980 in der Friedensbewegung engagierte, wurde 1992 tot in seiner Wohnung aufgefunden, wo er erst seine Lebensgefährtin Petra Kelly und dann sich selber erschossen hatte. Sein Sohn Till, Jahrgang 1949, setzt die Erinnerung an seinen Vater und an dessen trauriges Schicksal in Bezug zur Entwicklung der GRÜNEN, bei denen einst eine pazifistische Überzeugung überwog, während sie seit 1999 (Außenminister Joschka Fischer) eine deutsche Beteiligung an Kriegen in aller Welt keineswegs ablehnen.

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Till Bastian

Mein Vater, der Krieg, der Tod – und ich …

Totentanz und Requiem

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2023

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über https://dnb.de

abrufbar.

Copyright (2023)

Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Meinen beiden Söhnen gewidmet

Eine Geschichte kann unwahr sein. Aber die

Geschichte und der Erzähler zusammen sind

immer wahr.

Peter Hoeg: Hommage à Bournonville

Man kann bestenfalls zeigen, was die Menschen

fühlen; nicht, dass es echter wäre, jetzt

anders zu fühlen. Dafür gibt es keine Bilder.

Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Erster Akt: Der alte Mann – mir fremd und nahe

1. Oktober 1992: Stufen

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Die letzte Stufe

Stufen!

Ostfront

An der schönen grünen ISAR

Lebenskünstler

Der Totentanz von Bern

Zwischenhalt

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Westfront

Der Leiermann

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Noch eine Stufe

Die letzte Stufe

Zweiter Akt: „Deutschland, für dich …“

1895

1896

1897

1898

1899

1900

1901

1902

1903

1904

1905

1906

1907

1908

1909

1910

1911

1912

1913

1914

1915

1916

1917

1918

1919

1920

1921

1922

1923

1924

1925

1926

1927

1928

1929

1930

1931

1932

1933

1934

1935

1936

1937

1938

1939

1940

1941

1942

1943

1944

1945

Ein Rückblick kurz vor dem Tod

Dritter Akt: Ich schlaflos, Deutschland wieder in Zeiten des Krieges

Dienstag, 6. November 2001

Mittwoch, 7. November:

Donnerstag, 8. November

Freitag, 9. November

Samstag, 10. November

Sonntag, 11. November

Montag, 12. November

Dienstag, 13. November

Mittwoch, 14. November

Donnerstag, 15. November

Freitag, 16. November

Ein etwas verspäteter Epilog:

Donnerstag, 10. April 2003

Freitag, 11. April 2003

Nachwort

VORWORT

Wenn ich jetzt – im Herbst 2022, dreißig Jahre nach dem Tod von Petra Kelly und Gert Bastian am 1.10.1992 und kurz vor Gerts 100sten Geburtstag am 26.03.2023 – diese Zeilen, die zum großen Teil schon vor etwa 20 Jahren niedergeschrieben worden sind, in eine für die Veröffentlichung geeignete Form zu bringen suche, dann geschieht das vor allem deshalb, weil mich die eine Frage quält:

Ist mit dem gewaltsamen Tod von Petra und Gert auch der Pazifismus in Deutschland, zumal bei den GRÜNEN, zu Grabe getragen worden?

Hätten die beiden, unter anderen Umständen, der tragischen Hinwendung ihrer Partei zum staatstragenden Gehabe, die Kriegseinsätze der Bundeswehr miteinbegriffen, vorbeugen können?

Fragen zu stellen, ist – meine ich – immer legitim, und die fruchtbarsten Fragen sind vermutlich die, auf die es eine eindeutige Antwort niemals geben wird. Am 24. März 1999 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Fernsehansprache seinen „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ mitgeteilt, dass die NATO, mit deutscher Beteiligung, mit Luftschlägen gegen Ziele im einstigen Jugoslawien begonnen habe. Wir – die Deutschen – seien aufgerufen, so Kanzler Schröder, „eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen“. Diesem ersten europäischen Kriegseinsatz deutscher Soldaten folgte schon zwei Jahre später der nächste, am Hindukusch, wo wir angeblich unsere eigene Freiheit hätten verteidigen müssen (hätte das gestimmt, wäre es mit dieser Freiheit jetzt vorbei, denn der Krieg ging bekanntlich 2021 krachend verloren!) – eine radikale politische Wende, von der in diesem Text immer wieder die Rede sein wird. Schröder zur Seite standen der Außenminister der GRÜNEN, Joseph Fischer, und SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping.

Die Frage, die den vorliegenden Text als roter Faden durchzieht, ist somit die nach dem Verhältnis zwischen der persönlichen und der politischen Tragödie.

Diese Frage erscheint mir aktuell mindestens ebenso wichtig wie 1992 oder 2001. Denn der Krieg in der Ukraine ab Februar 2022 hat bekanntlich dazu geführt, dass in der durch ihn eingeläuteten „Zeitenwende“ sich gerade viele Politiker der GRÜNEN (z. B. Anton Hofreiter oder Ralf Fücks) derart kriegsbegeistert zeigten, dass das Gründungsmitglied der GRÜNEN, der später zur SPD gewechselte und 1998 bis 2005 auch als Bundesinnenminister amtierende Otto Schily in einem Interview zu seinem 90-sten Geburtstag am 20. Juli 2022 zu bedenken gab, in Deutschland habe sich „ein Bellizismus ausgebreitet, der riskant ist … Ausgerechnet bei den Grünen gibt es hier eine zu große Einseitigkeit“ (Schwäbische Zeitung, 20.07.2022).

Eine schlimme Entwicklung! Und desto nötiger scheint es mir, ihren Ursprüngen nachzuforschen …

Die vorliegenden Seiten versuchen dies allerdings bewusst nicht in Form einer wissenschaftlichen Analyse, sondern durch Erinnerungen, Assoziationen, Anregungen zum Weiter-Sinnieren.

ERSTER AKT:

DER ALTE MANN – MIR FREMD UND NAHE

1. Oktober 1992:

STUFEN

Er hatte sich heute, an diesem seinen allerletzten Tag (wovon er aber jetzt rein gar nichts wusste) … hatte sich also schon sehr früh am Morgen, noch vor sechs, an seinen Schreibtisch gesetzt, das war eigentlich ganz normal bei ihm, das tat er öfters, und manchmal lächelte er höhnisch dabei, weil er ja wusste, dass die Ärzte das „senile Bettflucht“ nennen. Nun gut, mit neunundsechzig … Wie auch immer, er erledigte derart früh und ungestört dann je und je schon einen möglichst umfänglichen Teil seiner privaten Korrespondenz, mit Vorliebe jene Briefe, in denen er bissig-bösartig zu werden pflegte (und wenige waren das nicht) – ein Schriftwechsel, an dem er sich immer wieder, wider besser Wissen, klammheimlich herzhaft freute; Briefe, die ihn selbst, der sich wenig Illusionen über die eigene Lage gestattete, immer öfter an das Kläffen eines alten, rheumatischen Hundes erinnerten, der böse hinter dem Ofen lauert und mit der Schnauze grimmig gegen jeden losfährt, der ihm zu nahe kommt, bei allem Gebelfer freilich unfähig zu jedem wirklichem Biss … Briefe waren das allermeist, von denen SIE besser gar nichts oder jedenfalls nur möglichst wenig wissen wollte, und ganz gewiss nichts en detail.

Heute also, an diesem trüben Oktobertag, der eben erst herandämmerte, heute morgen machte er es ebenso, hatte sich also heute morgen wieder einmal sehr früh, noch vor sechs, an seinen Schreibtisch gesetzt, trotz der späten Rückkehr gestern (eigentlich heute, denn es war ja lange nach Mitternacht gewesen) – freilich fiel es ihm, warum auch immer, etwas schwerer als sonst, noch etwas schwerer, wie ja so vieles arg beschwerlich geworden war in letzter Zeit, belastend, beklemmend sogar – aber das durfte man sich nicht anmerken lassen, bloß nicht, nur nichts anmerken lassen, auch wenn es eben – wie bereits betont – immer schwerer fiel. Alles. Aber keinesfalls etwas spüren lassen davon … SIE durfte es nicht merken, sie vor allem. Da es IHR immer schlechter ging, rapide schlechter, sollte sie wenigstens nicht spüren, wie miserabel es jetzt (und schon lange) um ihn selber stand. Anders durfte es gar nicht sein – ganz selbstverständlich nicht. Das wäre sonst… was wäre es sonst? Nein, es kam gar nicht in Frage. Keine Schwachheiten! Keineswegs, keinesfalls!

So setzte er sich also auch heute wieder an seine uralte elektrische Schreibmaschine, in diesem kleinen, lächerlich kleinen Arbeitszimmer – mit Ausblick auf die Wendeplatte am Ende der kurzen Sackgasse in diesem spießigen Neubauviertel, wo in den Vorgärten, zwischen den übersichtlich zurechtgestutzten Buschgruppen, die Amseln schrien, wie gerne hätte er da manchmal mit einer Ladung Schrot …

Aber nichts da! Keinerlei Schwachheiten! Und im gut eingeübten Zwei-Finger-Such-System hämmerte er seinen Mitteilungsdrang in die Maschine hinein: erst einen Brief an die Frau in München, das musste ja sein und war auch irgendwo gut und richtig so – wenngleich mühsam – und notwendig zudem, denn der Feiertag stand vor der Tür, das verzögerte die Postzustellung, der Brief musste noch somit heute noch raus, am besten per Eilboten, er würde noch heute Vormittag zu dem kleinen Postamt gehen und sich dort wieder einmal über das Schneckentempo der Beamten ärgern, die hinter dem Schalter in Katalogen blätterten und nicht einmal aufblickten, wenn man an die Glasscheibe trat.

Aber wie er nun jeden einzelnen Buchstaben kräftig in die Maschine hackte (er tat dies immer in einer Manier, als ob die Tastatur ihm ganz persönlich feindlich gesonnen sei und als ob er sie für diesen Widerstand abzustrafen habe) … da wurde es ihm plötzlich klamm dabei, so eng, es war, als trüge er eine bleischwere Weste, die plötzlich schrumpft und immer schwerer wird und – und – und was war das? War das sein Infekt, er schrieb ja gerade darüber, über diese lästige Erkältung; schon gestern hatte er sich hundeelend gefühlt auf der langen Rückfahrt von Oranienburg, aber es war ja völlig unmöglich gewesen, das zu zeigen, natürlich, denn SIE hatte wieder unter den heftigsten Kopfschmerzen gelitten, das war ja schon fast der Normalzustand, mittlerweile. Und diese Ängste – mittlerweile … fast … ja, fast!

Heute war es fast noch schlimmer als gestern. Noch schlimmer. Aber er riss sich zusammen, wie so oft, eigentlich immer, obwohl ihn gerade das – wie immer – irgendwo schmerzte wie eine Art Seitenstechen; er litt arg darunter, dass seine Fürsorglichkeit (Ritterlichkeit, so nannte er es wohl auch des Öfteren, meist um sich selber Mut zuzusprechen) immer so sprachlos sein musste, aber anders konnte er es eben nicht, allenfalls in Briefen, da konnte er sich bisweilen lange dahinverströmen und wunderte sich dann manchmal selber hinterher, dass sie ihm so kindlich geraten waren, jedenfalls die Briefe an SIE. Die vor allem. Manchmal war es ihm, als ob sich da etwas an ihm, in ihm offenbarte, was er nie so recht gekannt hatte an sich, was er nie hatte kennenlernen dürfen, und was dann sonderbare Schleichwege nach draußen fand. Seltsam. Aber sei’s drum.

Nun denn: Er fühlte sich jetzt, fühlte sich heute Morgen schlicht beschissen, wie ärgerlich, das brachte den ganzen Tagesablauf durcheinander, was tun? Die Tür zum Garten hatte er bereits geöffnet, natürlich nicht ohne die Alarmanlage vorher auszuschalten – Gott, war das ein Leben. Er stand also in der Tür, pumpte die feuchte Morgenluft in sich hinein, stützte sich mit der Hand an den Rahmen, lehnte den Kopf gegen das kühlende Glas, ohne große Erleichterung zu spüren. War das ein Leben. Eigentlich kein Leben mehr, aber es musste ja sein, es würden auch wieder bessere Tage kommen, das war ganz gewiss. Oder zumindest wahrscheinlich. Jedenfalls durfte noch gehofft werden … dass es zu Ende wäre mit all der Antichambriererei, diesem an alle Türen-Klopfen, Bittsteller-Sein --- Lästig. Nein, widerlich. Müssen wir das denn? Ja, wir müssen. Es ist nun einmal so, es haben uns so viele im Stich gelassen. Fast alle. Schweinebande … Er atmete noch einmal tief durch, kehrte dann, ein paar Stufen hinauf, an seinen Schreibtisch zurück. Keine Schwachheiten! Doch der Aufstieg fiel ihm nicht leicht, nicht bloß des gebrochenen, schlecht verheilten Beines wegen, nein, es war anders, der Atem ging ihm heute so schwer. Alles war irgendwie schwieriger heute – so wie bei seinem Fahrradergometer, wenn man mit einer Drehung an der Schraube den Widerstand verstellt und dann heftiger strampeln muss. Da hat also einer an meiner Lebensschraube gedreht, sagte er sich und versuchte zu grinsen, was ihm nur halb gelang, so was, Unverschämtheit. Das kann ich mir doch nicht bieten lassen …

Wieder ins Bett? Kommt nicht in Frage. Also wieder an den Schreibtisch zurück … Es kotzte ihn zwar an, alles, all dieser Kram, all diese Lappalien, aber was sein muss, muss sein. MUSS SEIN! Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Er steckte den Brief an die Frau, die immer noch seine Frau war, in einen Umschlag, legte ihn neben sich auf den kleinen Schreibtisch – nochmals überschlug er vorweg den Tagesablauf, all die Briefe, die er jetzt noch schreiben wollte und dass er heute, am 1.10.1992, dann auch noch zur Post musste, damit wenigstens dieser eine Brief, der nach München, morgen noch zugestellt werden kann, der 3. Oktober ist ja ein Feiertag. Neuerdings. Blödsinn. Aber es ist eben so … Auf dem Rückweg Brötchen holen. Faxpapier muss noch bestellt werden. Dann in die Apotheke, die Medikamente … Irgendwo lag der Zettel, den sie ihm gestern Abend noch geschrieben hatte, darauf all die kleinen Aufträge, die sie ihm immer wieder erteilte und die auszuführen sie selber schon längst nicht mehr in der Lage war. Noch einmal nachlesen, ob ich nichts übersehen habe …

Mitten in das Planen hinein drängte sich, wie Unkraut – kurz, aber eher oberflächlich – noch die Erinnerung an die gestrige Fahrt. Wieder so eine Nacht-und-Nebel-Aktion, ob das wohl je ein Ende finden mochte … In einer Raststätte hatten sie gegessen, zunächst schweigend, jeder ein Steak, frostige Stimmung, mit ihren großen Kinderaugen hat sie ihn angestarrt: Ich habe wieder solche Angst, dass Du mich verlassen … – hatte den Satz nicht mehr beendet mit bereits tränenüberfluteter Stimme, um Gottes willen, hatte er sich gedacht, bloß jetzt nicht DIESE Szene, NICHT SCHON WIEDER, und zum xxxyyysten Mal hatte er etwas gemurmelt, was ohnedies keiner von ihnen beiden mehr glaubte, was aber dennoch beruhigend klang. Was kann der Mensch alles glauben, wenn er muss. SIE brauchte diese Angst, es war für sie wie ein Kitt, ein Bindemittel, aber eines, das für ihn jede Bewegung lähmte, dabei wollte er ja gar nicht weg, hatte es doch oft genug versprochen und dabei sogar ernst gemeint, das war nicht bei all seinen Versprechen so, keineswegs, aber manchmal war es ihm ernst, tödlich ernst, und jetzt war das so ein Fall. Warum bloß, zum Teufel, warum nur glaubte sie, immer wieder neue Beteuerungen von ihm erzwingen zu müssen, dessen war er so verdammt überdrüssig. Es hatte genug davon, übergenug. Quälerei all das, so sinnlos, so fehl am Platze. Überhaupt …

Jetzt schlief sie dort oben, schlief erstaunlich fest wie immer, das konnte noch lange dauern. Um zehn Uhr wecken, das war das Übliche. Er selber, der Frühaufsteher, atmete schwer. Noch einmal hinunter in den Garten, Luft schnappen? Plötzlich war da ein Schmerz in der Brust, der fühlte sich an wie ein platzender Knoten, der schwoll an und pulsierte, sägte an den Rippen und zerbiss den Brustkorb von innen, ein gemeiner Schmerz, hinterhältig wie ein Partisanenüberfall. Es ist nicht wahr, dass man in solchen Situationen das Leben an sich vorüber ziehen sieht, alles Unsinn, das ist eine kitschige Postkartenlüge, das war schon damals nicht so gewesen, als ihn die MG-Garbe erwischt hatte, an der Ostfront (wie war das damals gewesen … aber nein, nein; bloß nicht sich an Details verzetteln, jetzt nicht!), NEIN, verdammt! das war auch jetzt nicht so, nichts „zieht vorüber“, auch jetzt nicht – auch jetzt nicht, wo es ihm sofort klar wurde, dass alles auf Messers Schneide stand, aber nein, auch wieder nicht, das Messer hatte schon geschnitten, tief hineingeschnitten, mitten hinein, dass es nur so klaffte und er dachte mit plötzlicher Heiterkeit (seltsam!) an jenen lächerlichen Zettel, den er so sorgsam in seiner Brieftasche verwahrt hatte, „Was tun bei Herzinfarkt?“, und er wusste genau, was es jetzt zu tun galt, nämlich NICHTS von alledem, denn für all das, was da stand, war es ja längst zu spät und es war wieder so wie im Krieg, damals, dass nämlich dann, wenn der Tod nahe ist, sich das Leben plötzlich zusammenzieht wie in einen einzigen Brennpunkt hinein und der sagt Dir dann, was Du zu tun hast wenn Du noch kannst, weil es einfach getan werden muss, und das einzige, was Du Dir noch erhoffst, ist, dass die Kraft noch reicht dazu. Alles verdichtet sich. Er hatte das immer wieder bei Kameraden gesehen, die, mit zerfetzter Haut und gesplitterten Knochen, all ihre letzten Kräfte einzig noch darin versammelten, im letzten Moment eine Haftmine an den Feindpanzer zu kleben, fertig, den Zündmechanismus betätigt, ratsch! – RATSCH!, und das war es dann, und plötzlich wurde alles hell und zerstob in Atome, der Panzer ebenso wie der sterbende Mann daneben, bravo!, und er hatte damals, als junger Pionier, oft darüber nachgedacht, was das für ein Gefühl sein müsse, in einer solchen letzten Anspannung, in einem solchen letzten Triumph die ganze Welt in Funken zerspringen zu lassen. Grandios … Natürlich, AM ENDE war die Tat! Am Ende …

Der Schreibtisch schwankte, als er sich ungelenk erhob, Einiges polterte zu Boden, es kümmerte ihn nicht mehr, was das sein mochte, warum auch. Er tastete sich zu dem Regal in der Ecke hinüber. Dort! Er nahm den Derringer aus der kleinen Schachtel, die er hier im Arbeitszimmer verwahrt hatte, im Regal, hinter den Büchern. Eine kuriose Waffe. Doppelläufig. Großkalibrig. Zwei Schuss. Wie alle seine Waffen hatte er auch diese immer scharf geladen, immer, immer, SIE hatte das stets gewusst, aber nie darüber gesprochen, es war eine seiner wenigen Eigenheiten, die sie stets fraglos akzeptiert hatte… jaja, das waren gewiss nicht eben viele gewesen. Also, dieser Derringer, Kaliber .38 – in Garmisch-Partenkirchen hatte er ihn gekauft, muss wohl 1962 gewesen sein, im Schlafzimmer der Parterrewohnung hatte er damals eine ganze Waffensammlung verstaut, von der Winchester bis zur Kalaschnikow, und wenigstens diese handlichen Restbestände hatte er sich nie abschwatzen lassen, niemals, zum Glück, vor allem seine Walther PPK-Pistole nicht, die trug er oft im Lederfutteral, hatte sie auch stets im Auto dabei – und eben diesen Derringer. Die meisten Menschen wissen ja gar nicht, was das Geheimnis einer Waffe ist, und es ist ein großer Vorteil, dass sie es nicht wissen. Niemals dienen Waffen dazu, Menschen zu bekämpfen. Soll heißen: das tun sie natürlich auch, aber nicht eigentlich. Sie bekämpfen den TOD. Er hatte das immer gewusst, ist doch klar, und eben deshalb hat er sich nie entwaffnen lassen, allen pazifistischen Reden zum Trotz. Die betrafen ja nur die Außenseite der Dinge. Nicht, dass er irgendwie gelogen hätte. Das tat er nicht. Aber es gab eben einfach noch eine Innenseite, auch bei ihm, und über die hatte er immer geschwiegen. SIE hatte diese Dimension freilich stets geahnt, hatte sie gewittert wie ein Jagdhund. Sie hatte sie sogar gemocht, es hatte sie richtig scharf gemacht, dieser geistige Blutgeruch. Da war er sich ganz sicher. Todsicher. Und über den gemeinsamen Tod hatten sie ja oft genug gesprochen, und dass, wenn irgend möglich, keiner den anderen überleben wolle und überleben solle. Natürlich nicht … Und oft genug hatte er ihr, bereitwillig genug, versprochen, dass er es auch ernst meine damit. Todernst!

Und das tat er wirklich. In der unendlichen Langsamkeit, die der Lauf der Zeit annimmt, wenn der Tod kommt, schritt er sorgsam, fast gemächlich die Stufen zum Schlafzimmer empor.

Er wusste: nichts durfte jetzt den Fluss dieser letzten Bewegungen stören – aus dem Tritt geraten, hieß scheitern, endgültig, unwiderruflich. Ich doch nicht. Er nicht! Du schaffst das schon, hatte seine Mutter immer gesagt, Du schaffst das schon, wenn er sich mit stärkeren Schuljungen zu prügeln hatte und als man ihn zuerst nicht aufnehmen wollte in die Reiter-SA, weil er zu schwächlich schien, Du schaffst das schon. Schaffe ich es noch? Ich muss es schaffen! Versprochen ist versprochen. Allerdings …

NOCH EINE STUFE

Er hörte ihr Schnarchen aus dem Zimmer am Ende der Treppe, hinter dem Bad, links neben ihrem Kopf liegt, auf dem Nachtisch, der Stapel all seiner Briefe, immer wieder hatte er gefragt: muss das sein – ja, es muss, hatte sie geantwortet. Jetzt werden sie dort gefunden werden, all seine Briefe, schön ist das nicht, vielleicht wird man ihn, durchaus möglich, hämisch der Lächerlichkeit preisgeben – aber was tut’s, was soll’s

NOCH EINE STUFE

Der Tod geht uns nichts an, wenn der Tod ist, sind wir nicht mehr – wer hat das nur geschrieben? Er hatte es ja selber mal zitiert und seinen Sohn danach gefragt, der wusste ja immer alles besser, aber jetzt konnte er sich der Antwort nicht mehr entsinnen, sonderbar, wie sich der Rest des Denkens auf solche Details konzentriert, egal also, es kommt darauf an, seine Versprechen zu halten, MEIN Versprechen, aber was heißt da Versprechen, ich

NOCH EINE STUFE

Plötzlich steht er neben sich, sieht sich selber die Treppe hinaufkeuchen, geschwächt, gebeugt, aber irgendwo immer noch kraftvoll, entschlossen. Der Tod geht uns überhaupt nichts an – und wieso sagt man eigentlich „Siegen oder Untergehen!“, wo es im Ende doch aufs selbe herauskommt? Wenn man Glück hat. Wohl dem, der das Gesetz des Handelns in Händen behält. Ich habe immer Glück gehabt im Leben, dies ist mein letztes, großes Glück, dass ich das noch schaffe … Und für einen Moment sieht er alle seine möglichen Tode vor sich, alle die, die er nicht hatte sterben dürfen und auch die, die er zutiefst verachtet und denen er jetzt zuvorkommt mit diesem hier, der nicht der schlechteste ist gewiss nicht …

Hat nicht irgend einer einmal vom Möglichkeitssinn geschrieben, ein Sinn, der dem Empfinden der Wirklichkeit zur Seite treten soll? Ein Österreicher war das, ja zu denen passt das, die sind immer gut für eine Absonderlichkeit … Möglichkeitssinn! Vielleicht ist dieser Sinn ja kurz vor dem Sterben besonders wach, besonders angespannt, gerade jetzt, wo alle Möglichkeiten enden. Ein Spürsinn für alle vom Leben geheckten Todesarten, das wäre es, für alle Todesformen, für alle ungelebten Tode, für alle ungestorbenen Leben, hierfür dafür und überhaupt

ÜBERHAUPT!

DIE LETZTE STUFE

Am Bad vorbei. Old soldiers never die, hat General Mac Arthur gesagt in seiner Abschiedsrede, West Point 1951, they just fade away … So ein Quatsch – ich nicht, ich bestimmt nicht, ich werde nicht einfach verschwinden. Schon steht er im Zimmer. Weil seine Hand jetzt zittert, ausgerechnet jetzt, hält er ihr die Waffe direkt an den Kopf, Himmel, dass sie bloß nicht aufwacht davon, und dann – kann ich es noch? Soll ich es noch? Aber sie schläft ganz fest und er ist befriedigt darüber, und da ist rein gar nichts mehr mit Abschied nehmen oder so, Kitschpostkarte auch das, da ist nur noch ENTSCHLUSS, und dann drückt er ab und die Wände wackeln und da ist bloß noch Knall und Rauch und Qualm und er sieht all das Blut überall, eine richtig dicke Suppe, im Bett, auf dem Kissen, an der Wand auch, und er will gar nicht mehr hinsehen.

Sich abwendend, ruckartig abwendend, bloß weg! taumelt er zurück taumelt er auf den kleinen Flur da draußen, muss sich dabei kurz an den Wänden abstützen, sich irgendwo festhalten, ein Regal kippt um, um ein Haar auch er selber. Es ist nicht der Mut, der ihm fehlt, aber er ist so plötzlich all seines Willens entleert, fühlt sich wie ein Ballon, den jäh die Luft verlassen hat, er bittet nur noch um KRAFT, mein Gott – GOTT???? wieso plötzlich Gott, aber meinethalben, Gott – GOTT oder wer auch sonst und wer oder was auch immer: dass mir bloß der Arm nicht erlahmt, nicht jetzt, es muss alles noch ein Ende haben … es ist ja erst Halbzeit, und was auch immer …

STUFEN!

Stufen, war doch auch ein Gedicht, fällt ihm plötzlich ein, aber egal, diese Stufen waren steil, fürchterlich steil, der Weg hinauf war so lang, der längste Weg meines Leben und so lang wie das Leben selbst und eigentlich eine Treppe nach unten. Er atmet tief ein, und sonderbarerweise ist der Schmerz in der Brust, der ihn zuvor noch schier in Hälften zerrissen hätte, jetzt wie weggeblasen, aber auch das ist egal, egal, egal, jetzt gilt es nur noch den letzten, den äußersten Moment, ultima ratio, und das ist ein Gefühl der Leere und Kälte und Einsamkeit als sei nichts und niemand mehr irgendwo, der ihm je nahe kommen könnte und es ist ja auch wirklich so und zugleich, Tod, wie ist Dein Stachel, ein äußerster Moment des Triumphes, just so, wie er sich jenen Griff nach der Haftmine immer vorgestellt hat, und er faßt den Derringer, in dessen zweitem Lauf ja noch eine Patrone Kaliber .38 steckt, mit beiden Händen, er wundert sich fast über die plötzliche Kraft seiner Arme, er hebt die Waffe – draußen hört er ein Auto halten, Bremsen quietschen, dann gibt der Fahrer wieder Gas – was kümmert’s mich … – hebt die Waffe hoch über den Kopf, fühlt sogar noch die metallische Kälte des Laufes auf dem Schädel, das tut gut, ja, genau hier – richtig so – und jetzt – dann – dann – dann …

Er hörte den Knall nicht mehr, und das war es dann für immer und ewig und für ewig und immer und da war dann zum Glück nichts, nichts und gar nichts mehr.

OSTFRONT

Er hatte sich den Krieg so anders vorgestellt. Ganz anders – völlig anders …

Und was hatte er nicht alles an Büchern verschlungen. An Büchern über die herrliche, schreckliche Zeit von 1914 bis 1918. Über jenen großen Krieg, in dem sein Vater, obschon damals ja noch brasilianischer Staatsbürger, sich begeistert als Freiwilliger zum Deutschen Heer gemeldet hatte. Dessen spätere Niederlage hatte er später niemals verwinden können. Aber was hieß Niederlage, es war die Heimat, die nicht standgehalten hatte. Wie würde es diesmal kommen? Was hatte er nicht alles gelesen über Langemarck, über Verdun und Ypern. Über die Stahlgewitter auf dem Schlachtfeld, über das Große Gericht des Stellungskrieges, über Schützengräben und Panzerwagen, Flammenwerfer und Parisgeschütze. Aber jetzt war alles so anders, so ganz anders – das wusste er mittlerweile. Völlig anders. Blasser. Schmutziger. Und vor allem viel langweiliger.