Mein Versprechen - Roy Gerber - E-Book

Mein Versprechen E-Book

Roy Gerber

0,0
18,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieses Buch ist die Geschichte einer wunderbaren Begegnung. Einer Begegnung, die das Leben für immer verändert. Es zeichnet die packende Story eines Mannes nach, der nach Amerika ging, um reich und berühmt zu werden. In den USA macht Roy als Unternehmer Karriere, lebt den amerikanischen Traum. Doch sein Leben erfährt einen Wandel: Er findet zum christlichen Glauben. Bei Freiwilligen-Einsätzen seiner Kirchengemeinde trifft er auf Obdachlose, Drogensüchtige, Missbrauchsopfer. Auf einem Ferienlager für sexuell missbrauchte Kinder begegnet er zusammen mit seinem Therapiehund "Ziba" der kleinen Faith. Das Mädchen nimmt ihm ein Versprechen ab. Von da an wird im Leben des erfolgreichen Unternehmers nichts mehr so sein, wie es einmal war. "Mein Versprechen" schaut da hin, wo viele lieber wegsehen. Es nimmt ernst, was viele nicht wahrhaben wollen. Und es zeigt Wege der Hilfe. Dieses Buch erschüttert und rüttelt auf. Es rührt zu Tränen und macht dennoch Mut. Es tröstet, weil es von Menschen handelt, die aufstehen, um etwas zu verändern. Es ist nicht nur Biografie, sondern auch Zeugnis: Auch in der größten Finsternis gibt es Grund zur Hoffnung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Roy Gerber Mein Versprechen

WIDMUNG

Für Faith und für alle Kinder, denen in ihrem Leben Entsetzliches widerfahren ist.

Es gibt Trost, es gibt Hoffnung, und es gibt wahre Liebe.

Faith, ich habe mein Versprechen nicht vergessen. Vor vielen Jahren, als Du ein kleines Mädchen warst, hast Du mir eine rote Feder geschenkt und darum gebeten, dass ich mich für sexuell missbrauchte Kinder einsetze. Deine rote Feder erinnert mich täglich daran.

Ich weiß nicht, ob Du dieses Buch jemals in Händen halten wirst. Es würde mich glücklich machen.

Roy Gerber

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Bibelstellen wurden folgender Übersetzung entnommen:

«Hoffnung für alle» © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica Inc., herausgegeben vom Fontis-Verlag Basel

© 2019 by Fontis-Verlag, Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Umschlag (U1): Michael Dechev/Shutterstock.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-526-1

Inhalt

Vorwort von William Paul Young

Eine Ermutigung

1. Zwei Helium-Flaschen und Hunde mit Taucherbrillen

2. Ist der Chef jetzt durchgeknallt?

3. Die rote Feder

4. «Aus dir wird nie etwas»

5. Sätze, die sich in die Seele brennen

6. Wahnsinn, so riecht also Erfolg

7. Meine Schmerzmittel: Erfolg, Alkohol und Sex

8. Mit Highspeed im Hamsterrad

9. Endlich in den USA: Erst der Schock, dann eine neue Welt

10. Todesnachricht am Messestand

11. Meine Kulissen stürzen ein

12. Folgenschwerer Rechenfehler

13. Der Sound des Himmels

14. Mit Vollgas auf der Erfolgsspur

15. Risse in der Hochglanz-Welt

16. Am Tiefpunkt: Tränen, Trauer, Beziehungstrümmer

17. Ganz unten

18. Alarm im Cockpit: Sturzflug in ein neues Leben

19. Das Elend hinter den Fassaden

20. Wunder geschehen, ich hab’s gesehen

21. Zurück in die Zukunft

22. Zürich kann sehr kalt sein

23. Über Wasser gehen

24. Warum wir eine neue Kummer-Kultur brauchen

25. Täter und Opfer, Hilfe und Rat

26. Missbrauchs-Mythen und Täter-Strategien

27. Der Papi macht so was nicht …

28. Das Schweigen brechen

29. Wo das wahre Glück zu finden ist

30. Nach-Gedanken: Wer sich einsetzt, setzt sich aus

Danksagung

Anhang

Literatur- und Web-Hinweise

Bildteil

Vorwort von William Paul Young

Ich bin in einer typisch modernen evangelikalen Familie aufgewachsen, in der Sexualität nicht zu den Gesprächsthemen zählte – und wenn, dann nur mit viel Zurückhaltung, die spüren ließ, dass allein schon das Thema anzuschneiden ein Verstoß gegen Verhaltens- und religiöse Anstandsregeln war.

Vielen von uns erschien es, als ob Gott einen Fehlgriff getan hätte. Allein die Vorstellung, dass wir an der Erschaffung eines ewig lebenden Wesens teilhaben und – schlimmer noch – dabei auch noch Vergnügen haben durften, war schlicht undenkbar.

Die menschliche Sexualität ist eines der schönsten Geschenke Gottes an die Menschheit. Sie birgt eine unglaubliche Kraft, die menschliche Kreativität schafft und fördert. Es ist ein gutes Geschenk von einem guten Gott. Aber gerade weil Sexualität so intim, so verbindend, so kraftvoll und so menschlich ist, liegt ihr auch die Gefahr inne, großen Schaden anzurichten.

Was als Kostbarkeit gedacht war, hat über die Zeit einerseits einen beiläufigen, ja gar bedeutungslosen Status erhalten und wurde andererseits – eben weil es so bedeutungsvoll ist – als Waffe missbraucht, um Macht auszuspielen. Was als Ausdruck größten Respekts gedacht war, wurde benutzt, um das Grundgewebe der menschlichen Seele zu zerreißen. Es gibt kaum etwas, das die Identität, den Wert, die Bedeutung und Bedeutsamkeit eines Menschen so sehr zerstückeln und mit einer Schicht aus Scham und einem Geflecht aus Lügen und Angst überdecken kann wie sexueller Missbrauch. Es braucht Jahre, dieses Angst- und Lügengeflecht aufzudecken und zu entwirren.

Wir haben die Seelen unserer Kinder durch den Dreck unserer Lust gezogen und sie daran zerbrechen lassen; wir haben Herzen zertrampelt und Menschen in ihrem Geist zugrunde gehen lassen, um persönliche Befriedigung und Macht zu erlangen. Das muss sich ändern!

Es gibt Hoffnung, nicht zuletzt dank einer wachsenden Bereitschaft zu einem offenen, ehrlichen Dialog darüber, was es heißt, ein sexuelles Wesen zu sein, und über die Würde der menschlichen Sexualität, die wiederhergestellt und bewahrt werden muss.

Als einer, der den langen, beschwerlichen und schmerzhaften Weg hin zur kompletten Wiederherstellung nach der Zerstörung durch sexuellen Missbrauch aus eigener Erfahrung kennt, flehe ich euch an, den Mut aufzubringen und am Dialog teilzunehmen. Bücher wie das von Roy Gerber sind eine liebevolle Einladung dazu und öffnen ungeahnte Türen.

Mögen alle, die in Gott einen sicheren Hafen gefunden haben, selbst zu einem sicheren Ort für andere werden und so an der Heilung der Menschheit teilhaben.

William Paul Young Autor von «Die Hütte» («The Shack»), «Eva», «Der Weg» und «Lügen, die wir uns über Gott erzählen»

Eine Ermutigung

«Das Leben kann nur vorwärts gelebt werden – aber nur rückwärts verstanden werden», heißt es. Das stimmt tatsächlich. Ich habe das immer wieder konkret erfahren. Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich Zusammenhänge, wo ich damals nur ratlos dastand und dachte: «Warum nur?», «Wie kann das sein?»

Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich alles verloren hatte, in denen ich vor einem einzigen Trümmerhaufen stand und überzeugt war: «So, das war es jetzt!» Ich erinnere mich an Begegnungen, die mich emotional komplett überfordert haben, in denen ich aber auf dicke Hose gemacht habe, um mir nur ja nicht in die Karten schauen zu lassen. Bis eines Tages mein mühsam errichtetes Kartenhaus einstürzte. Und dann gingen in solchen Momenten – völlig unerwartet – neue Türen auf.

Ich will nichts schönreden. Dazu gibt es keinen Grund. Ich habe Fehler gemacht, schwere Fehler. Ich bin Irrwege gegangen und in Sackgassen gesteckt. Mein Leben ist alles andere als geradlinig verlaufen. Womit soll ich es vergleichen?

Vielleicht am ehesten mit einer Achterbahnfahrt. Beruflich habe ich einen rasanten Aufstieg erlebt, aber auch Schussfahrten nach unten, bei denen es einem nur übel werden kann. Ich bin dankbar, dass es mich bei all den Kurven und Schräglagen nicht komplett aus der Bahn geworfen hat.

In den USA habe ich drei Unternehmen gegründet und den Amerikanischen Traum in vollen Zügen gelebt. Dollar-Millionen, Luxus, Frauen: Ich habe wenig ausgelassen, wovon Mann gemeinhin so träumt. Eigene Yacht, schnelle Autos, Pilotenschein, Pferderennen. Zugegeben, das war schon toll damals.

Heute bin ich Pfarrer. Das ist bei all dem, was ich erlebt habe, vielleicht das Verrückteste überhaupt. Hätte mir das einer vor dreißig Jahren gesagt, hätte ich mich kaputt gelacht und ihn gefragt, was er denn für ein übles Kraut geraucht hat, dass er auf derart absurde Gedanken kommt.

Wer mich aus meiner früheren Schweizer Zeit kennt und dieses Buch liest, wird sagen: «Wie bitte, der Roy? Aber das ist doch völlig unmöglich!» Ich kann das gut verstehen. Wahrscheinlich würde ich genauso reagieren. Die Sache ist nur die: Für Gott ist nichts unmöglich.

Ich habe in meinem Leben mit vielem gerechnet. Wenn man Karriere in den USA machen will, muss man strategisch klug und vorausschauend sein. Das ist mir gelungen. Nur Gott hatte ich nicht auf dem Zettel. Aber dann war er plötzlich da, mitten in meinem Leben. Genau wie Faith, das kleine Mädchen, das mir auf dem Ferienlager für sexuell missbrauchte Kinder ihre rote Feder geschenkt hat. Und plötzlich stand mein Leben kopf. Und nach und nach begann sich alles zu verändern. Heute bin ich unendlich dankbar dafür.

Mein Buch will keine Biografie im eigentlichen Sinn sein. Es geht nicht um mich, sondern um etwas anderes:

Dieses Buch soll eine Ermutigung sein, weil es zeigt, dass es für Gott keinen hoffnungslosen Fall gibt. Wenn Gott einen wie Roy Gerber brauchen kann, dann zeigt das nicht nur seinen Humor. Dann zeigt das vielmehr, dass Gott völlig andere Maßstäbe hat. Er blickt hinter die Fassaden, die wir errichten. Er kennt unser Herz. Er weiß um all den Mist, den wir in unserem Leben bauen. Bei mir war das nicht gerade wenig. Aber das hält ihn nicht davon ab, uns in die Arme zu nehmen, unsere Wunden zu verbinden und uns zu verzeihen.

Gott sieht auf unsere Möglichkeiten, auf das, was er in jeden von uns gelegt hat, und auf den Plan, den er mit uns hat. Wie kein anderer kennt er die Verletzungen, die Schmerzen und die Wunden, die einem das Leben zufügt. Er weiß um alle die Leiden, die verhindern, dass wir zu uns selbst und zu unserem Lebensglück finden. All das will er verwandeln, damit wir wirklich in Fülle und in unserer wahren Identität leben können.

Ganz gleich, wie schwer die eigene Kindheit war, was auch immer einem an Schlimmem widerfahren ist, egal wo wir herkommen oder wo wir gerade stehen, ob wir gläubig sind oder nicht: Gott will in Beziehung zu uns treten. Nicht abstrakt oder theologisch, sondern ganz persönlich. Nicht in irgendeiner Kirchenbank, sondern mitten im täglichen Leben.

Mit diesem Buch möchte ich dazu ermutigen, Gott herauszufordern und sich auf die Begegnung mit ihm einzulassen. Es ist unfassbar, was sich dadurch verändern kann. Ich habe es selbst erlebt.

Um genau dies zu zeigen, schreibe ich über mein Leben. Je weiter ich zurückblicke, desto mehr erkenne ich heute die Zusammenhänge. Und umso mehr staune ich darüber, wohin Gott mein Leben gelenkt hat. Dass man bei meinem Lebenswandel einen solchen Weg einschlagen würde, das war absolut nicht zu erwarten. Ganz ehrlich: Am wenigsten hätte ich selbst damit gerechnet.

«Mein Versprechen» handelt von den dramatischen Abgründen menschlichen Lebens. Es ist ein Blick hinter die schillernden Fassaden der Großstädte. Dorthin, wo seelische und materielle Not herrschen, die wir aus unserem Alltag nur zu gerne verdrängen, weil sie unsere scheinbar «heile Welt» bedrohen.

Meine Arbeit als Notfallseelsorger mit Obdachlosen, Prostituierten, Drogensüchtigen und Missbrauchsopfern hat mich gelehrt, worauf es im Leben wirklich ankommt. Mein Buch ist aber auch die Geschichte einer wunderbaren Begegnung. Einer Begegnung, die mein Leben für immer verändert hat.

Es geht um den Kampf gegen eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit: den sexuellen Missbrauch von Kindern. Und es geht darum, Wege der Hilfe aufzuzeigen, die zurück ins Leben führen. Nicht nur für Opfer sexuellen Missbrauchs, sondern für alle, die sich danach sehnen, ihre wahre Identität zu entdecken und den Sinn ihres Lebens zu finden.

«Mein Versprechen» will ein Zeugnis der Ermutigung und des Trostes sein. Durch meine jahrelange Arbeit mit Betroffenen weiß ich von den unfassbaren Leiden, die sexueller Missbrauch anrichtet. Im Angesicht der Hölle, die viele erleben, bleibt oft nur Sprachlosigkeit. Worte können da nur schwer trösten. Und doch gibt es auch in der größten Finsternis Grund zur Hoffnung. Diese Erfahrung möchte ich weitergeben.

1. Zwei Helium-Flaschen und Hunde mit Taucherbrillen

Ziba wehte der Wind durchs Fell. Sie saß hinten am offenen Fenster und reckte die Schnauze nach draußen. Der Fahrtwind sorgte für angenehme Erfrischung. Die Sonne meint es gut mit dem Süden Kaliforniens. An diesem Sonntag strahlte sie besonders hell und tauchte die Skyline von Los Angeles in ein glänzendes Licht. Die Glasfassaden der Wolkenkratzer funkelten. Touristen geraten bei dem Anblick ins Schwärmen.

Ich hatte kein Auge dafür. Weder für LA noch für Huntington Beach, wo ich seit Jahren lebte. Und auch nicht für Newport Beach. Da fuhren wir gerade durch. Trübsinnig saß ich am Steuer meines 7er-BMWs und hing meinen Gedanken nach. Ich konnte nicht ahnen, dass dieser Tag mein Leben für immer verändern würde.

Die Trennung von meiner Freundin Jenny hatte tiefe Wunden hinterlassen. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals darüber hinwegkommen würde. Kaum dachte ich, jetzt wird es besser, brauchte es nur eine Kleinigkeit und die Wunde riss erneut auf und schmerzte fast schlimmer als zuvor.

Mit Roger Tirabassi hatte ich einen Mentor und Coach gefunden, der mir half, mein Leben zu ordnen und mich selbst besser kennenzulernen. Ich versuchte, meine Gefühle und meine Verhaltensmuster zu verstehen. Seit einem Jahr arbeitete ich mit ihm. Vieles schien mir noch ganz am Anfang.

Als die Beziehung mit Jenny zerbrach, stand ich vor einem Scherbenhaufen. Gemeinsam mit Roger hob ich die Scherben auf und betrachtete sie. Ich wollte lernen, mit den Brüchen meines Lebens umzugehen …

1994 war ich im Alter von 29 Jahren von der Schweiz nach Amerika gegangen, um reich und berühmt zu werden. Gegen viele Widerstände hatte ich mich behauptet und schließlich durchgesetzt. Ich lebte den Amerikanischen Traum, gründete drei Firmen und genoss lustvoll mein Winner-Leben. In meiner Nachbarschaft wohnten Hollywoodgrößen, Spitzensportler und Selfmade-Millionäre.

Ich war einer von ihnen.

Damals sprach man noch nicht von Start-ups. Es gab auch keine Gründershows im Fernsehen, bei denen Unternehmensbeteiligungen vertickt werden. Ich hatte bei Null angefangen und ohne Fremdkapital drei Firmen aus dem Boden gestampft. Amerika war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich ergriff meine Chance, wann immer sich eine auftat.

Mit «Air Cleaning Solutions» war ich der Branche treu geblieben, in der ich in den Staaten von Anfang an gearbeitet hatte. Luftfiltration war ein Riesengeschäft.

«Private Driver», einen Chauffeur-Dienst, hatte ich ziemlich spontan gegründet. Ich merkte, da gibt es einen Markt, und legte los.

US-Generalimporteur für eine Bettenfirma war ich geworden, weil meine Freundin im Urlaub auf einer Matratze besonders gut geschlafen hatte. In den USA wollte ich so eine kaufen. Es gab sie nicht. Bis ich die Sache in die Hand nahm.

«Erfolg, dein Name ist Roy», das wäre mein Wahlspruch gewesen, hätte ich einen gehabt. Ich hatte keinen. Für solche Kinkerlitzchen hatte ich keine Zeit. Mit Vollgas bretterte ich die Überholspur des Lebens entlang. Das Gaspedal durchgedrückt, das Lederlenkrad fest in der Hand.

Meine Highspeed-Karriere ließ mich Warnsignale im Privatleben übersehen. So fuhr ich unsere Beziehung an die Wand. Nach Jahren sexueller Abenteuerlust hatte ich gedacht, mit Jenny die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Dieser Traum war geplatzt. Damit musste ich jetzt zurechtkommen.

Allmählich begann ich zu begreifen, dass Äußerlichkeiten keine innere Leere füllen. Geld, Karriere, Ansehen, schöne Frauen, dicke Autos und tolle Yachten: All das hatte ich, aber glücklich war ich nicht. Gespürt habe ich das zunächst nicht, weil ich mich mit Sex, Alkohol und Geld betäubt hatte. Beruflich war ich derart hochtourig unterwegs, dass ohnehin keine Zeit zum Nachdenken blieb. Jetzt hatte mich mein Privatleben aus der Bahn geworfen und ich musste an mir arbeiten, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen.

Meine Verlobte war weg. Das ließ sich nicht mehr ändern. Immerhin hatte ich Ziba. Mein Golden Retriever war mir eine treue Gefährtin. Ziba war immer dabei – im Büro, im Auto und daheim sowieso. Wer jemals einen Hund hatte, weiß, wie tröstlich seine Anwesenheit sein kann, wenn man sich alleine und elend fühlt.

Ziba saß hinten im Fonds auf ihrem Stammplatz. Wir fuhren gerade durch Newport Beach. Später wollte ich am Strand joggen gehen. Ziba liebte es, neben mir her zu springen und in Wasser und Sand zu toben.

Wir kamen am riesigen Parkplatz der «Mariners Church» vorbei. An Wochenenden war der Parkplatz hier brechend voll, schon wegen der fünf verschiedenen Gottesdienste. Jetzt war gerade keine Gottesdienstzeit, der Parkplatz war wie leergefegt. Da sah ich eine Dame – sie mag zwischen 60 und 70 Jahre alt gewesen sein – hinter ihrem kleinen roten Auto stehen. Sie hantierte am Kofferraum. Neben ihr standen zwei Gasflaschen.

«Was macht die denn da?», dachte ich. Im Vorbeifahren konnte ich nicht erkennen, ob es sich nicht vielleicht um Propan-Flaschen handelte. Das konnte gefährlich sein. «Steig aus und hilf ihr», durchfuhr es mich. Musste das sein? «Was schleppt die auch für Zeug rum», seufzte ich und hielt an.

«Sorry, aber ich habe einen Termin»

«Kann ich Ihnen helfen?», fragte ich.

«Oh, das wäre sehr nett, junger Mann», antwortete sie freundlich. «Vielleicht können Sie mir die Helium-Flaschen ins Auto laden und sie befestigen?»

Wenigstens kein Propan, dachte ich und packte an. Als die Flaschen verstaut waren, fragte ich sie: «Was haben Sie denn damit vor?»

«Ich fahre zu einer Geburtstagsparty für sexuell missbrauchte Kinder», erwiderte die Dame, als sei das eine Selbstverständlichkeit.

Mir verschlug es die Sprache. Bei jemandem, der als Verkäufer Karriere gemacht hat, kam das ausgesprochen selten vor.

Eine Party für sexuell missbrauchte Kinder?, wiederholte ich in Gedanken. Konnte das sein? Mit sexuellem Missbrauch von Kindern hatte ich mich nie befasst. Das Thema war von meiner Lebenswelt so weit weg wie Zermatt und das Matterhorn von den San Gabriel Mountains bei Los Angeles. Gab es das wirklich? Aber es konnten doch unmöglich so viele Kinder sein, dass man deshalb ein großes Fest organisieren musste. Ehe ich etwas sagen konnte, hörte ich die Dame fragen:

«Möchten Sie mitkommen? Dann können Sie selbst sehen, was das für eine Feier ist.»

Alles, nur das nicht!, dachte ich und zuckte innerlich zusammen. Ich hatte mich so auf einen ruhigen Sonntagnachmittag am Strand gefreut. Also sagte ich, was erfolgreiche Geschäftsleute in solchen Situationen immer sagen: «Ich würde gerne, aber ich habe leider einen Termin.»

In Wirklichkeit hatte ich keinen Termin.

Ungefragt meldete sich mein Gewissen.

«Nun, ich könnte Sie allenfalls begleiten und beim Ausladen helfen. Dann muss ich aber wirklich weiter. Ich habe ja auch meinen Hund dabei», korrigierte ich mich vorsichtig.

Das sei großartig, sie liebe Hunde. Ich könne meine Ziba gerne mitnehmen, freute sich die Frau mit den Helium-Flaschen. Zu der Feier kämen ohnehin noch einige Therapiehunde.

Therapiehunde? Was ist das denn?, dachte ich. Von Therapiehunden hatte ich nie gehört. Eine Party für sexuell missbrauchte Kinder, und dann kommen auch noch Hunde dazu. Das ist ja ein merkwürdiger Verein, sinnierte ich.

Die Feier sei in Costa Mesa im Hinterhof eines Motels, erklärte mir die Dame.

Mich beschlich ein Gefühl des Unbehagens. Costa Mesa hatte nicht gerade den besten Ruf. Von Newport Beach nach Costa Mesa fuhr man mit dem Auto etwa fünfzehn Minuten.

«Na gut, das ist keine große Sache. Wir fahren gleich wieder zurück», flüsterte ich Ziba zu. Sie wedelte mit dem Schwanz.

Mit wachsender Skepsis fuhr ich dem kleinen roten Wagen hinterher. Je mehr wir uns dem Motel in Costa Mesa näherten, desto mehr sah ich mich bestätigt: «Durch diese Gegend sollte man nicht fahren, wenn man nicht muss», nörgelte ich vor mich hin. Ich musste nicht, aber ich fuhr dennoch hier herum. Hatte ich den Verstand verloren?

«Hoffentlich klaut keiner meinen BMW», dachte ich, als ich meinen Wagen im Seitenhof eines schäbigen Motels abstellte. Ich half, die Helium-Flaschen auszuladen. Mit einer Hand schob ich einen Wagen mit den Flaschen, in der anderen Hand hielt ich Zibas Leine.

Die Helium-Lady, die Hunde liebte, ging mir eiligen Schrittes voraus. Aus der Ferne hörte ich Stimmen und Kinderlachen. Je näher wir dem Hinterhof kamen, desto lauter wurde es. Als wir um die Ecke bogen, standen wir vor einer großen Grünanlage. Ich sah Kinder und Erwachsene gemeinsam miteinander spielen. Es waren verschiedene Spielstationen aufgebaut. Wurfspiele, Kinderschminken, Mädchen ließen sich als Prinzessin verkleidet fotografieren, Jungs hatten selbst gemachtes Popcorn in der Hand. Da drehte einer Zuckerwatte, dort gab es einen Grillstand. An einem Computer wurden Fotos ausgedruckt, die die Kinder mitnehmen durften …

Ich kann die Stimmung und die Atmosphäre nicht beschreiben. Da war eine Herzlichkeit und Freude, wie ich es so nie zuvor erlebt hatte. Da spielten nicht Opfer und Helfer miteinander. Das war eine große Einheit, eine liebevolle Gemeinschaft von Großen und Kleinen, heiter und fröhlich. Die Kinder hier fühlten sich offensichtlich geliebt und angenommen – unabhängig davon, was noch vor einer Stunde gewesen sein mochte.

«Sind das missbrauchte Kinder? Wie ist dann diese Fröhlichkeit möglich?» Meine Gedanken überschlugen sich.

Ich stand da und staunte. Einerseits fühlte mich völlig fehl am Platz, andererseits auch eigenartig dazugehörig.

Schwer zu sagen, wie lange ich hier herumstand und die Atmosphäre in mich aufsog. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Schließlich gab ich die Helium-Flaschen ab, mit denen Luftballons aufgeblasen werden sollten, und wollte gehen. Da kamen Kinder herangestürmt und stürzten sich auf Ziba. Sie fielen ihr um den Hals, umarmten sie, streichelten sie und küssten sie.

Auf einmal stand ich im Mittelpunkt – wegen meines Hundes. Zwei Leiterinnen kamen auf mich zu und baten die Kinder, ein wenig Platz zu machen. Es würden jeden Moment noch mehr Hunde kommen.

Das mussten die Therapiehunde sein.

Ich war gespannt.

Die Wut kocht: Hunde-Heini provoziert Gewinner-Typ

In diesem Moment bogen sieben Hunde mit ihren Begleitern um die Ecke. Ich trat einen Schritt zurück und traute meinen Augen nicht. «Was ist das denn?», dachte ich. Da wackelten sieben Hunde an mir vorbei. Große, kleine, dunkle, helle. Alle hatten Westen an, die sie als Therapiehunde auswiesen. Einer trug eine Sonnenbrille, ein anderer hatte eine Schleife im Haar, ein besonders Großer trug ein T-Shirt, ein Kleinerer hatte eine Taucherbrille auf, wieder einer kam mit Hut.

Die Kinder sahen die lustige Hunde-Truppe, und es gab kein Halten mehr. Von einer Sekunde auf die andere waren die Hunde umringt, sie waren das Highlight der Party. Eben noch hatten Spaß und Spiel, Freude und Unterhaltung die Stimmung bestimmt. Das war alles nicht weg, aber mit den Hunden bekam das Ganze eine emotionale Tiefe, die ich so nie für möglich gehalten hätte. Die Tiere ermöglichten Berührungen und Umarmungen in einer Direktheit und Herzlichkeit, dass einem das Herz aufging.

Jeder der Hunde hatte seine eigen «Visitenkarte». Vorne war sein Foto abgebildet, dabei standen einige Charaktereigenschaften des Hundes. Auf der Rückseite konnte man lesen, was der Hund besonders gerne mochte. Diese «Visitenkarten» gehörten zu den Highlights für viele der Kinder. Jedes Kind wollte ein Foto mit Hund haben, am liebsten mit allen Hunden zusammen.

Einer der Hundeführer, die dabei waren, sprach mich auf Ziba an. Ziba war ihm aufgefallen. «Sie haben einen sehr speziellen Hund», sagte er zu mir. «Darf ich ihn mal kurz mitnehmen und ein paar Tests mit ihm machen?»

Ich stimmte zu.

Er ging mit Ziba ein paar Schritte beiseite und gab ihr einige Aufgaben. Es war offensichtlich, dass er wirklich Ahnung im Umgang mit Hunden hatte. Ziba ging sofort auf ihn ein und machte gerne mit.

Als sie zurückkamen, meinte der Hundetrainer zu mir: «Ziba wäre ein sensationeller Therapiehund.» «Was genau ist ein Therapiehund?», wollte ich wissen. Das würde er mir gleich erklären, aber erst würde er mir gerne ein paar Test-Fragen stellen. «Klar», entgegnete ich, «machen Sie ruhig.»

Er befragte mich zu meinem Umgang mit Ziba, schilderte mir verschiedene Situationen und wollte wissen, wie ich mit dem Hund reagieren würde. «Sorry, Ihren Hund könnten wir sofort brauchen, Sie nicht», sagte er mir auf den Kopf zu. «Sie müssen noch viel lernen. Therapiehunde können nur gemeinsam mit ihrem Begleiter zertifiziert werden. Insofern wird das erst mal nichts mit euch beiden.»

Ich kochte vor Wut! «Weißt du eigentlich, mit wem du sprichst?», dachte ich. «Ich bin der Boss von drei Unternehmen, ich habe aus dem Nichts ein Vermögen gemacht, und du Hunde-Wurst meinst, mir erzählen zu können, ich hätte noch viel zu lernen. Mein Hund kommt durch deinen blöden Test und ich falle durch. Was ist das denn für ein Schwachsinn hier!»

Eben noch hatte mich die Atmosphäre tief berührt. Mit einem Mal war alles anders. Ich fühlte mich angegriffen. Nicht gut genug zu sein, war ein Gefühl, das ich von klein auf kannte. Mit Leistung hatte ich dagegen aufbegehrt. Ich wollte allen zeigen, dass ich gut genug war. Bis zum Exzess hatte ich versucht, durch Leistung zu überzeugen, um mir jene Anerkennung zu holen, die mir als Kind verwehrt geblieben war. Mein Bedürfnis nach Zuneigung und Liebe hat das nicht gestillt, aber es hat mich ungemein erfolgreich gemacht.

Jetzt kam der Hunde-Heini daher und bohrte in meiner alten Wunde. «Nicht gut genug»: Das tat brutal weh. Dabei hatte er das mit keinem Wort gesagt. Er hatte lediglich davon gesprochen, dass es für mich noch viel zu lernen gäbe. Damit hatte er im Nachhinein betrachtet zweifellos recht. Aber ich hatte seine Bemerkung als fundamentale Kritik an meiner Person verstanden.

Solche Kritik konnte ich schwer verkraften. Das war, als würde mir die Daseinsberechtigung entzogen. Auf solche «Vernichtungsschläge» reagierte ich extrem allergisch.

Er merkte, wie angefressen ich war, und bemühte sich, die Situation zu entkrampfen. Freundlich lud er mich ein, einen Therapiehunde-Kurs zu besuchen. Damit sei keinerlei Erwartung und Verpflichtung verbunden, aber man könne viel über Hunde lernen. «Du kannst mich mal», dachte ich und zog ab. Ziba trottete hinter mir her.

Nicht mit mir – jetzt erst recht

Eigentlich hätte ich den Helium-Flaschen-Trip und die anschließende Begegnung gerne abgehakt und vergessen, aber das Gespräch mit dem Hundetrainer ließ mir keine Ruhe. Wenn mir einer so kam, weckte das meinen Ehrgeiz. Und wenn der erst zu glühen begann, war es besser, sich mir nicht in den Weg zu stellen. «Dem zeig’ ich es»: So reagierte ich immer, wenn ich mich angegriffen fühlte. Und als schlimmsten Angriff empfand ich: «Du bist nicht gut genug!»

«Ich bin gut genug, diese blöde Prüfung zu bestehen», schaltete ich innerlich auf Gegenangriff und machte mich auf zum Training für Therapiehunde.

Ziba war tatsächlich ein ausgesprochen lernbegieriger Hund. Sie kapierte schnell und reagierte perfekt. Viele Dinge musste man ihr nur ein einziges Mal zeigen, dann wusste sie, was sie zu tun hatte. In kürzester Zeit war sie reif für die Prüfung. Zur Prüfung traten dreißig Hunde an. Verschiedenste Rassen gaben sich beim Therapiehunde-Test ein Stelldichein: Pudel, Chihuahuas, Windhunde, Mischlinge, viele Retriever und Labradors.

Ziba meisterte die Prüfung wie ein Champion.

Dann war ich an der Reihe. Genauer gesagt, Herr und Hund wurden als Team getestet. Dazu wurden wir mit bestimmten Situationen konfrontiert. Ein Kind umarmte Ziba viel zu grob, zog sie am Schwanz, an den Ohren – und wollte damit nicht aufhören. Ein älterer Herr spielte einen Alzheimer-Patienten, der den Hund nicht mehr loslassen wollte. Ziba hielt still, aber ich merkte, dass sie sich unwohl fühlte.

In mir stieg Wut auf. Was sollte der Quatsch? Ich wusste nicht, wie man solche Situationen vernünftig auflöst. Am Ende stand ein frustrierendes Ergebnis: Ziba hatte mit Bravour bestanden, ich war durchgefallen.

Man bot mir an, das Geschehen gemeinsam zu reflektieren. Widerwillig nahm ich an. In weiteren Trainingseinheiten lernte ich, in solchen Situationen mich selbst zu reflektieren und auf meine Gefühle zu achten. Bin ich angespannt? Werde ich nervös? Was verunsichert mich? Werde ich wütend? All diese Gefühle galt es wahrzunehmen. Wie fühle ich mich gerade? Woran liegt das? Wie reagiere ich körperlich? Ich begann zu verstehen, wie wichtig im Zusammenspiel mit dem Hund der Prozess der Selbstreflexion ist.

Therapeutische Teamarbeit mit Hund kann nur funktionieren, wenn der Begleiter sich selbst in jeder Situation konsequent reflektiert und dabei auch kleinste Veränderungen und Regungen bewusst wahrnimmt. Je mehr ich das mit meinem Hund übte, umso deutlicher merkte ich, wie wichtig das für mein tägliches Leben wurde.

Sich selbst zu beobachten, Gefühle und Empfindungen zu überdenken und zu hinterfragen, das war Neuland für mich. Aber ich begriff, wie hilfreich es für mich war, dieses Neuland zu betreten. Im zweiten Anlauf bestand ich die Prüfung. Ziba und ich waren nun ein zertifiziertes Team. Sie war der «Therapeut», ich der Begleiter.

Erst viel später wurde mir klar, dass meine Aufgabe im Grunde nur darin bestand, die Leine zu halten und den Hund machen zu lassen. Um das zu verinnerlichen, bedurfte es viel Erfahrung. Die fehlte mir noch, aber sie sollte bald kommen.

2. Ist der Chef jetzt durchgeknallt?

Ich erinnerte mich an die Party mit den Kindern und dachte daran, wie sie auf die Hunde reagiert hatten, welche Liebe und Ermutigung von dieser Begegnung zwischen Mensch und Tier ausgegangen war. Das wollte ich mit Ziba nun auch vermitteln.

Während der Woche hetzte ich beruflich von Termin zu Termin, aber Samstag oder Sonntag ging ich mit Ziba in Altenheime und Krankenhäuser. Was soll ich sagen? Ich habe dort immer viel mehr zurückbekommen, als ich gegeben habe. Die Freude, die der Hund bei den alten und kranken Menschen auslöste, kam zu uns zurück. Doppelt und dreifach. Nach den Besuchen fühlte ich mich jeweils wie der eigentlich Beschenkte.

Die Besuche im Altenheim oder im Spital bei kranken Kindern vermittelten mir eine völlig neue Dimension von Glück. Früher meinte ich, ich sei glücklich, wenn ich guten Sex hatte, eine Menge Geld verdiente oder einem Konkurrenten einen lukrativen Auftrag wegschnappte. Jetzt machte ich eine komplett neue Erfahrung: Je mehr ich gab und Liebe schenkte, desto mehr empfing ich selbst.

Es blieb nicht bei meinen Therapiehund-Einsätzen in Krankenhäusern und Altenheimen. Eines Tages wurde ich gefragt, ob ich Dienstagnachmittag mit Ziba nach Santa Ana kommen könnte. Dort gab es ein Projekt für Kinder mexikanischer Einwanderer. Die Kinder, meist aus sozial schwachen Latino-Familien, sollten die Möglichkeit bekommen, Englisch zu lernen. Dabei kamen Therapiehunde zum Einsatz. Die Kinder lasen den Hunden aus Büchern vor, um so die Sprache zu lernen.

Die Veranstaltung fand immer dienstags von 16.00 bis 18.00 Uhr statt. Das war für mich die denkbar ungünstigste Zeit. Nachmittags kamen in meiner Firma die Service-Crews zurück, und es gab jede Menge zu besprechen und für den folgenden Tag abzustimmen. Als Chef war es völlig unmöglich, ausgerechnet am Nachmittag nicht anwesend zu sein.

Ich entschied mich dennoch, nach Santa Ana zu fahren, sagte im Büro aber niemandem, wo ich war. Mein Handy ließ ich im Auto.

Als ich mit Ziba vom Vorlesen zurückkam, lief meine Mailbox über. Das konnte nicht gut gehen, einfach nachmittags aus der Firma zu verschwinden und nicht erreichbar zu sein. Aber Ziba war den Latino-Kindern ans Herz gewachsen. Und ich fühlte mich beschenkt durch die Arbeit mit ihnen.

Regelmäßig fuhr ich nach Santa Ana. Meine Abwesenheit an den Dienstagnachmittagen sorgte im Büro für massive Irritationen und Unruhe.

Eines Tages klopfte meine Buchhalterin Yetta an meine Tür. Sie machte sich Sorgen um die Firma.

«Roy, ich muss dich mal sprechen. Was machst du immer am Dienstagnachmittag? Da kannst du nicht weg sein. Die Kollegen brauchen dich hier. Ohne dich läuft es nicht. Es entstehen massive Probleme, wenn du einfach weg bist.»

Ich hatte nicht den Mut gehabt, jemandem zu erzählen, dass ich zu Kindern gehe, die meinem Hund vorlesen. Wenn ich das sage, halten sie mich für verrückt, dachte ich. In meiner Welt gab es nichts Wichtigeres, als Geschäftsführer zu sein. Das hatte absolute Priorität. Die Vorstellung, dass es Aufgaben geben könnte, die genauso wertvoll sein könnten, aber rein gar nichts mit Unternehmertum, Umsatz und Gewinnmaximierung zu tun hatten, war mir wesensfremd.

Klammheimlich hatte ich gegen meinen eigenen Kodex verstoßen. Meinen Mitarbeitern die Wahrheit zu sagen, wäre mir fürchterlich unangenehm gewesen. Ich wusste ja, dass ich in der Firma dringend gebraucht wurde, aber ich fuhr nach Santa Ana, schaltete mein Handy aus und ließ Latino-Kinder meinem Hund aus Büchern vorlesen.

Das war mehr als peinlich. Das war ein grober Verstoß gegen mein eigenes Weltbild. So etwas konnten Leute tun, die Zeit dafür hatten. Aber ich hatte drei Unternehmen zu managen. Aus meiner eigenen Sicht waren die Touren nach Santa Ana völlig unverantwortlich. Ich hatte wichtigere Dinge zu tun, aber ich fuhr dennoch.

Die pure Angst im Blick

«Roy, du kannst am Dienstagnachmittag machen, was du willst. Das geht mich nichts an. Aber ich spüre in der Firma eine Spannung. Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas wird verschwiegen. Das ist keine Basis, um gut zusammenzuarbeiten», kritisierte Yetta. Sie begann zu weinen.

Jetzt half nichts mehr, ich musste mit der Wahrheit heraus.

«Ziba und ich sind ein Therapiehunde-Team geworden. Am Wochenende besuchen wir Alte und Kranke. Am Dienstag fahre ich mit Ziba nach Santa Ana und lasse ihr von Kindern aus Büchern vorlesen», lüftete ich mein Geheimnis und sah Yetta betreten an.

Jetzt ist es raus, dachte ich, jetzt gibt es gleich schwere Vorwürfe, dass ich als Chef das auf keinen Fall machen könne.

Yetta wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Roy, das ist ja wunderschön. Warum hast du das nie gesagt?»

«Ich habe mich nicht getraut, weil ich dachte, als Geschäftsführer hätte ich wichtigere Aufgaben zu erledigen.»

Yetta fragte, wer im Unternehmen davon wisse.

«Niemand», antwortete ich.

«Komm, wir holen Roberta und David und erzählen es ihnen», meinte sie.

Roberta war meine Assistentin und rechte Hand, David Service- und Installationschef meiner Firma «Air Cleaning Solutions».

«Auch die wissen nicht, was los ist. Sie machen sich ernste Sorgen, dass irgendetwas nicht stimmt. Die Situation ist für sie kaum auszuhalten», erklärte Yetta.

Ich hatte geahnt, dass meine Abwesenheit am Dienstagnachmittag eine Belastungsprobe für das Unternehmen sein würde. Dass meine Mitarbeiter derart darunter leiden würden, hatte ich nicht überlegt.

Roberta und David kamen in mein Büro. In ihren Blicken sah ich pure Angst. Sie hatten Angst um die Firma und rechneten offensichtlich mit dem Schlimmsten. Ausführlich entschuldigte ich mich für mein Verhalten und meine Verschwiegenheit und bat um Verzeihung.

Da fiel mir David ins Wort: «Ja, Chef, wir vergeben dir. Aber sag’ uns jetzt endlich, was los ist!»

Ich erzählte ihnen alles.

Als ich fertig war, weinten wir alle vier.

David wohnte in Santa Ana. Er war selbst Latino und kannte das Vorlese-Projekt.

Aber es ging gar nicht nur um die Therapiehund-Geschichte, sondern darum, ehrlich zu sein. Zu sich selbst und anderen. Es ging darum, dass im Leben nicht nur Leistung zählt. Dass man gut genug ist, wenn man einfach man selbst ist – ohne etwas Besonderes zu leisten. Der eigene Wert hängt nicht davon ab, was ich tue. Ich bin nicht besser, wenn ich kranken Kindern in Not helfe, aber auch nicht schlechter, wenn ich nicht der Geschäftsmann bin, der 24 Stunden am Tag für die Firma rotiert.

Wenn man sich selbst immer über Leistung definiert hat, ist das eine bahnbrechende Erkenntnis. Egal ob man CEO einer Großbank ist oder kranken Kindern hilft, das ist keine Frage von besser oder schlechter. Beides kann Berufung sein. Es geht nicht um persönliche Leistungsbilanzen, sondern darum, etwas aus ganzem Herzen zu tun.

Als wir da zu viert im Büro saßen und Tränen vergossen, begann ich das zu begreifen.

Gemeinsam erarbeiteten wir einen Plan, der es mir ermöglichte, weiter nach Santa Ana zu fahren, ohne die Abläufe in der Firma zu gefährden. Es war also möglich. Aber die Voraussetzungen dafür waren Ehrlichkeit und Transparenz. Und eine veränderte Einstellung zu meinem Leistungsdenken.

Mit meiner «Hunde-Vorlese-Beichte» in der Firma veränderte sich etwas. Ich entwickelte ein neues Verhältnis zu meiner Tätigkeit als Unternehmer. Wir fanden neue Lösungen, überdachten Arbeitsabläufe und Strukturen. In einem neuen Bewusstsein besuchte ich mit Ziba immer häufiger Altenheime und Krankenhäuser. Wir fuhren auch weiter zu unseren Latino-Kindern nach Santa Ana. Das Handy ließ ich nach wie vor im Auto. Ich bekam noch immer eine Menge Anrufe während meiner Abwesenheit, aber mein Kopf war jetzt freier – und mein Herz auch.

3. Die rote Feder

Je mehr Ziba und ich in Pflegeheimen und Spitälern unterwegs waren, desto mehr Anfragen bekamen wir. Bei einem Ferienlager für schwer traumatisierte Kinder wurde unbedingt noch ein Therapiehund gebraucht. Die Verantwortlichen der Mariners Church, die das Lager organisierten, klopften bei uns an. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich seit drei Jahren keinen Urlaub gemacht. Jetzt ausgerechnet ein Ferienlager?

Ein Fünf-Sterne-Resort auf den Malediven hätte nach Erholung geklungen, aber ein Ferienlager? Eine Woche komplett raus aus der Firma, das war ohnehin kaum vorstellbar. Einen Nachmittag, ja, das funktionierte inzwischen einigermaßen reibungslos, aber eine Woche war etwas völlig anderes.

Jeff Kishi, der Leiter des Camps, hatte mir gesagt, dass es dort weder Telefonnetz noch Internetzugang geben werde. Unerreichbarkeit war für mich ein fürchterlicher Gedanke. Aber Yetta, Roberta und David ermutigten mich, teilzunehmen. «Wir kriegen das hin», versicherten sie mir. Ich vertraute ihnen und fuhr. Allerdings konnte ich mich nur dazu durchringen, vier Tage dort zu verbringen. Also kam ich nach und stieß mit Ziba erst später dazu.

Dieses Ferienlager bedeutete eine unglaubliche Erfahrung. Zu erleben, wie Ärzte, Psychiater, Psychotherapeuten, Pfleger, Betreuer, Frauen und Männer in Teamarbeit liebevoll für die Kinder da waren, beeindruckte mich. Jeff, der Chef dieses Ferienlagers, war früher Undercover-Polizist gewesen, jetzt war er Pfarrer und leitete die Freizeiten der Mariners Church für Kinder, denen in ihren jungen Jahren bereits Schreckliches widerfahren war. Von körperlicher Gewalt über sexuellen Missbrauch bis hin zu Abartigkeiten, die die Fantasie normaler Menschen sprengen, hatten diese Kinder so ziemlich alles erlebt.

Ich sah, wie die Kinder in dieser Ferienwoche aufblühten – trotz ihrer Traumata und ihres Leids, das allenthalben zu spüren war. Ich freute mich über ihr Lachen, ihre Fröhlichkeit, die große Gemeinschaft und darüber, wie sie auf Ziba reagierten. Aber ich spürte auch, es wäre besser gewesen, von Anfang an dabei zu sein und nicht erst später dazuzustoßen. «Beim nächsten Mal mache ich das anders», nahm ich mir vor.

Die nächste Gelegenheit sollte bald kommen. Ziba und ich sammelten weiter Erfahrung bei unseren Einsätzen in Krankenhäusern. Wir nahmen an Wochenenden für Kinder teil und besuchten eine Osterfreizeit. Jedes Mal ging ich beschenkt nach Hause. Und Ziba und die anderen Therapie-Dogs waren die Stars der Veranstaltungen. So manche Hollywood-Schönheit wäre angesichts des Rummels um die Hunde vor Neid erblasst. Das Gute war freilich: Hunden steigt so etwas nicht zu Kopf.

Die Hölle hinter der Sommeridylle

Ein Jahr nach unserem ersten Ferienlager fragte Jeff erneut bei mir an. Er hatte die Leitung bei allen Kinder- und Jugend-Camps der Mariners Church. Wieder ging es um eine Woche. Ich erinnerte mich, dass es gut wäre, von Anfang an dabei zu sein. Also sagte ich Jeff zu, die volle Woche zu bleiben. Zum ersten Mal seit drei Jahren würde ich eine ganze Woche lang nicht in der Firma arbeiten und mobil für niemanden erreichbar sein. Ich konnte es kaum fassen.

Mit Ziba im Wohnmobil machte ich mich auf in die Wälder des San Bernardino National Forrest. Unser Lagerplatz befand sich in der Nähe des Lake Arrowhead, in 1600 Metern Höhe. Idyllischer konnte ein Platz kaum liegen als dieser hier. Blockhütten standen umgeben von uralten, hochgewachsenen Bäumen. Die Hütten waren einfach eingerichtet, aber schön. Bäche schlängelten sich am Platz entlang und speisten kleine Seen ganz in der Nähe. Es gab einen Swimmingpool, eine große Wiese und einen Spielplatz. Auch ein Basketball-Feld war angelegt. Sogar eine kleine Kapelle war vorhanden.

Die Sonne strahlte, Vögel tanzten am wolkenlosen blauen Himmel. Der Wind strich sacht durch die Wipfel der Bäume und sorgte für ein sanftes Rauschen. Nur ein paar Adler, die über den Baumkronen ihre Kreise zogen, störten für einen Moment die Stille. Man ahnt gar nicht, was man draußen im Wald plötzlich alles wahrnimmt, wenn man jahrelang vor allem sein Büro, seinen Dienstwagen, Flughäfen, Hotels und irgendwelche Meeting-Räume gesehen hat.

Die ungewohnte Ruhe dröhnte mir in den Ohren. Kein Anruf, keine E-Mail, kein Termin, der noch schnell vorzubereiten gewesen wäre. Stattdessen zwitscherten Vögel, und kristallklares Wasser plätscherte munter über dicke Kieselsteine im Bachbett.

Allmählich kam Betriebsamkeit in die Blockhütten-Idylle. Es gab noch viel vorzubereiten, ehe die Kinder kamen. Man musste auf vieles vorbereitet sein. Es war kein gewöhnliches Ferienlager, das hier stattfinden sollte.

Die vierzig Kinder, die wir erwarteten, kamen aus schwierigsten Situationen. Sie hatten Scheußliches erleben müssen. Die meisten von ihnen waren Opfer sexuellen Missbrauchs geworden. Manche waren obdachlos, andere psychiatrisch erkrankt, oder sie kamen aus verwahrlosten Verhältnissen. Körperliche Gewalt und seelischer Missbrauch gehörten zu ihrem Alltag wie bei anderen das Pausenbrot oder die Gute-Nacht-Geschichte.

Ich lebte auf der Sonnenseite Kaliforniens. Hier wurde ich mit der Schattenseite des Lebens konfrontiert – in ihrer düstersten Form.

Jeff hatte das Lager hervorragend organisiert. Wieder stand ein Team von Ärzten, Therapeuten, Pädagogen und Pflegekräften bereit. Die professionellen Kräfte wurden ergänzt durch jede Menge freiwilliger Helfer. Alle, von den Psychiatern bis zur Küchen-Crew, arbeiteten ehrenamtlich.

Der Umgang mit traumatisierten Kindern erfordert besondere Sensibilität. Um möglichst individuell auf die Kinder und ihre Bedürfnisse eingehen zu können, betreute ein Erwachsener maximal zwei Kinder. Mädchen hatten eine Betreuerin, Jungs einen Betreuer. Zusätzlich zu den Betreuerinnen und Betreuern gab es weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir sprachen vom «Staff». Das waren Leute wie ich, aber auch sogenannte Lager-Omas und -Opas, Lager-Tanten und -Onkel; Ehrenamtliche, die für Schwimmen, Musik und Unterhaltung verantwortlich waren und den Betreuern zur Seite standen.

Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass nie ein Betreuer oder eine Betreuerin mit einem Kind alleine war. Nirgends! Es mussten immer zwei Erwachsene präsent sein. Damit schnell reagiert werden konnte, war das gesamte Staff-Team über Funk verbunden. Wir alle trugen einen Knopf im Ohr, um jederzeit dorthin gerufen werden zu können, wo gerade jemand gebraucht wurde.

Ziba und ich waren das einzige Hunde-Team bei diesem Lager.

Verbrannte Briefe, Asche im Wald

Alles war vorbereitet. Die Zimmer in den Blockhütten waren hübsch dekoriert. Jeder Betreuer wusste, um welche Kinder er sich zu kümmern hatte. Vorfreude und gespannte Erwartung lagen in der Luft.

Die Busse mit den Kindern rollten an. Die Türen öffneten sich, und eine bunte, wuselige Schar drängte nach draußen. Ein paar hatten schöne Koffer und neue Rucksäcke dabei, andere trugen ihre wenigen Habseligkeiten in Müllsäcken mit sich. Viele hatten gar nichts dabei. Nur die Kleidungsstücke, die sie am Leib trugen.

Kleider und Schlafsäcke wurden verteilt, jedes Kind mit Namen begrüßt und von seinem Betreuer willkommen geheißen. Ich hielt mich mit Ziba im Hintergrund, um mit dem Hund bei der Willkommens-Zeremonie nicht im Weg zu stehen.

Aus der Entfernung sah ich ein kleines Mädchen aus dem Bus steigen. Sie hatte lange braune Haare und trug eine rote Feder im Haar. Sie mochte neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Mit ihrer roten Feder war sie mir gleich aufgefallen.

Es dauerte nicht lange, da hatten die ersten Kinder Ziba erblickt und stürmten auf sie los. Eines der ersten Kinder, das Ziba streichelte und zur Begrüßung umarmte, war das Mädchen mit der roten Feder. Sie hieß Faith.

Der «Zufall» wollte es, dass ihre Betreuerin ebenfalls Faith hieß. Die kleine und die große Faith gehörten in diesem Lager zusammen. Die kleine Faith benahm sich vom ersten Augenblick an wie eine alte Freundin von Ziba. Wo Ziba war, da war auch Faith. Die beiden waren unzertrennlich.

Die Kinder bezogen ihre Zimmer. Aber wohin ich auch unterwegs war, immer waren fünf oder sechs Kinder um Ziba herum, streichelten sie und stellten Fragen. Nicht nur Faith, auch viele andere Kinder hatten Ziba schnell ins Herz geschlossen.

Mein Funkgerät stand in den nächsten Tagen nicht mehr still. «Roy, kommt doch bitte rüber zum Spielplatz. Da ist ein Junge gestürzt. Der will unbedingt, dass Ziba zu ihm kommt. Wir brauchen euch beide hier, um ihn zu beruhigen.» Das waren die harmlosen Einsätze. «Hey, Roy, komm bitte schnell zu Blockhaus 4. Wir haben einen ernsten psychiatrischen Notfall. Der Arzt ist schon da, aber wir brauchen Ziba ganz dringend, um die Kinder zu beruhigen.»

Wo immer wir auftauchten: Von Ziba ging eine große Ruhe aus. Das übertrug sich auf die Kinder. Bei allen Unternehmungen hatte Ziba immer eine Schar Kinder um sich herum. Und ein Mädchen war immer dabei: Faith. Sie ließ Ziba nicht aus den Augen. Ihre rote Feder trug sie immer im Haar.

Die Kinder durften Ziba Briefe schreiben. «Wenn der Brief in einem zugeklebten Kuvert steckt, liest ihn nur Ziba. Nicht verschlossene Briefe darf Roy Ziba vorlesen», lautete die Abmachung. Ziba bekam jeden Tag sehr viel Post. Ich habe nie einen Brief geöffnet, der zugeklebt war. Von den Briefen, die offen waren, hat mich jeder einzelne zutiefst berührt und traurig gemacht. Was hatte man diesen Kindern nicht alles angetan …

Abends zog ich mich auf eine Lichtung am Waldrand zurück. Im Schutze der Nacht setzte ich mich auf einen Baumstamm und weinte bitterlich. Die zugeklebten Briefe verbrannte ich im Wald. Anschließend verbuddelte ich die Asche.

Ich war dankbar, dass die Briefe alle an Ziba adressiert waren. So musste ich keinen beantworten. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Ziba antwortete auf ihre Weise, und die Kinder verstanden sie.

Ziba war der Therapiehund. Ich musste nur mit Empathie präsent sein. Doch selbst damit war ich komplett überfordert. Nie zuvor hatte ich in meinem Leben derart viele Medikamente gesehen wie in diesem Lager. Die wenigsten waren gegen Kopfschmerzen oder Mückenstiche. Die meisten waren Psychopharmaka, auf die viele Kinder dringend angewiesen waren. Von Antidepressiva bis hin zu Tabletten zur völligen Ruhigstellung war in der Lagerapotheke so ziemlich alles dabei. «Wie können Erwachsene Kinderseelen so brutal verletzen, dass man solche Medikamente braucht, um weiterleben zu können?»

Diese Frage sollte mich nie wieder loslassen.

Panikattacken, Trigger-Ereignisse, multiple Persönlichkeiten, die von einem Moment auf den anderen ein völlig anderer Mensch waren, Trauma-Reaktionen, Kinder mit Suizidgefährdung: Nie zuvor war ich mit solchen Dingen konfrontiert gewesen. All das war spürbar da. Man konnte nicht darüber hinwegsehen. Und doch wurde gespielt, gelacht, musiziert und viel unternommen während dieser Ferientage.

Immer wieder wurde per Funk nach Ziba gerufen. Und wo Ziba war, tauchte nach kürzester Zeit auch Faith auf. Wann immer sie Ziba sah, lächelte sie. Ziba spazierte schwanzwedelnd bei Wanderungen mit, ließ sich beim Toben auf dem Spielplatz nicht aus der Ruhe bringen und sprang beim Schwimmen im See oder im Pool liebend gerne mit ins Wasser. Im Wasser sind Retriever voll in ihrem Element!

Jeden Tag erreichen Ziba neue Briefe. Jeden Tag heulte ich Rotz und Wasser angesichts dessen, was ich da las. Abends saß ich auf meinem Baumstamm am Waldrand. Die erwachsene Faith saß oft neben mir. Wir tauschen uns aus und weinten gemeinsam. «Why?», «Why?», «Warum?», «Warum nur?», rief ich mit erstickter Stimme in die Dunkelheit. In den vergangenen Jahren hatte ich zum Glauben gefunden. Davon wird noch zu reden sein. Aber mein Glaube oder das, was ich dafür hielt, steckte in vielerlei Hinsicht noch in den Kinderschuhen. Jetzt schrie ich meine Verzweiflung in den Nachthimmel.

Hörte mich Gott? Wo war er bei all dem Leid, das diesen Kindern angetan worden war?

Das Piepsen meines Funkgerätes riss mich aus meinen Gedanken. Für einen kurzen Moment hatte ich den Knopf aus dem Ohr genommen. Ich schaltete wieder auf Empfang. Ziba wurde gerufen. Ich musste los. Täglich waren wir beide bis zu zwanzig Stunden im Einsatz.

Der letzte Tag

Der Abschied nahte. Die Woche war wie im Flug vergangen. Freundschaften entstanden zwischen den Kindern und zwischen Betreuern. Aus Unbekannten war eine verschworene Gemeinschaft geworden, die für einige Tage wie eine große Familie zusammengehalten hatte. Gemeinsam waren wir durch dick und dünn gegangen. Wir hatten Lachen und Weinen geteilt und einander in der Erfahrung bestärkt, dass es Licht in der Finsternis gibt.

Die Vorbereitungen für den letzten Abend gestalteten sich schwierig. Wehmut und Abschied hingen wie dunkle Wolken über unserem Lagerplatz und drückten auf die Stimmung. Dagegen kam selbst die Sonne Kaliforniens nicht an.

Für jedes Kind wurde ein Fotoalbum gestaltet. Hundefotos waren der Renner unter den Urlaubserinnerungen. Solche Alben sind sehr wichtig. Oft habe ich später obdachlose Kinder in Heimen und Kliniken besucht. Das Erste, was ich meist gesehen habe, waren diese Fotoalben, die auf einem Tisch oder Bett lagen. Fast immer war eine Seite aufgeschlagen, die ein Bild des jeweiligen Kindes zeigte. Es lachte stolz in die Kamera, an seiner Seite saß oder stand ein Hund.

Der letzte Tag brach an. Es wurde aufgeräumt und eingepackt. Die Kinder wollten nicht gehen. Ziba war gefragter denn je. Faith wich ihr nicht mehr von der Seite. Wie jeden Tag hatte sie auch heute ihre rote Feder im Haar.

Zum Abschluss bekamen alle ein Lager-T-Shirt geschenkt, die Kinder und die Betreuer. Wasserfeste Stifte wurden verteilt, und man schrieb sich gegenseitig Abschiedsgrüße auf das Shirt.

Auch Ziba hatte ein T-Shirt bekommen. Ich zog es ihr über. In Windeseile hatte sich eine Traube von Kindern um sie gebildet. Alle wollten sich auf Zibas Shirt verewigen. Am Ende war kein Platz mehr auf ihrem Shirt. Ziba war im wahrsten Sinne des Wortes ein bunter Hund, ihr T-Shirt war von oben bis unten vollgeschrieben.

Die Busse fuhren vor. Niemand wollte gehen. Ich setzte mich auf den Boden, Ziba saß neben mir. Jeder wollte sie zum Abschied noch mal streicheln. Kein Kind stieg in die Busse, die sie wieder in ihren Alltag zurückbringen sollten. Noch eine Umarmung, noch ein «High Five», ein letztes Winken, Ziba schnell noch etwas ins Ohr flüstern. Der Abschied nahm kein Ende.

Allmählich wurden die Busfahrer nervös. Sie wussten um die Strecken, die sie noch fahren mussten. Es half nichts, jetzt hieß es unwiderruflich Lebewohl sagen. Faith, die die ganze Zeit neben Ziba gekauert hatte, stand auf. Ich erhob mich ebenfalls. Faith weinte. Mir liefen Tränen über die Wangen. Ziba stand neben uns in ihrem bunten T-Shirt, blickte uns treuherzig an und wedelte vorsichtig mit dem Schwanz.

Da nahm Faith ihre rote Feder aus dem Haar, bückte sich zu Ziba, streichelte ihr über den Kopf und steckte die Feder zwischen Zibas Halsband und ihr T-Shirt. Sie umarmte Ziba von vorne und schaute mir zum ersten Mal in dieser Woche klar in die Augen:

«Roy, versprichst du mir etwas?»

«Was, Faith, was soll ich dir versprechen?», antwortete ich. Fast hätte ich kein Wort herausgebracht. So gut es ging, riss ich mich zusammen.

«Versprich mir, dass du dich zusammen mit Ziba um Kinder wie mich kümmerst. Wir brauchen Leute wie dich, die sich für uns einsetzen», sagte Faith.

Dann stand sie auf.

«Versprichst du mir das?», wiederholte sie noch einmal.

«Faith, das verspreche ich dir», schluchzte ich.

Sie lächelte mich an, drehte sich um und stieg in den Bus.

An ihrem Sitzplatz angekommen, schaut sie aus dem Fenster und drückt ihre Hände an die Fensterscheibe. Ich sehe ihre Tränen.

«Ich verspreche es dir», rufe ich in ihre Richtung.