Mein Weg durch die Wälder - Long Litt Woon - E-Book

Mein Weg durch die Wälder E-Book

Long Litt Woon

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Beschreibung

Mit 19 zog Long Litt Woon als Austauschstudentin von Malaysia nach Norwegen. Kurz nach ihrer Ankunft begegnet sie dort der Liebe ihres Lebens, Eiolf Olsen. Als sie nach 32 gemeinsamen Jahren ihren Ehemann und Seelenverwandten völlig unerwartet durch plötzliches Herzversagen verliert, bricht ihre Welt zusammen. Nur mühsam findet sie aus ihrer Erstarrung. Als sie sich zu einem Pilzkurs für Anfänger anmeldet, ahnt sie noch nicht, dass dies einen Wendepunkt für sie bedeutet: ihre Reise in die wundersame Welt der Pilze ist nicht nur eine Reise in ihre eigene Seelenlandschaft, es ist auch der Beginn eines neuen Lebens voller Erfüllung, zu dem ihr die Pilze den Weg gewiesen haben.

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Zum Buch

Mit 19 zog Long Litt Woon als Austauschstudentin von Malaysia nach Norwegen. Kurz nach ihrer Ankunft begegnet sie dort der Liebe ihres Lebens, Eiolf Olsen. Als sie nach 32 gemeinsamen Jahren ihren Ehemann und Seelenverwandten völlig unerwartet durch plötzliches Herzversagen verliert, bricht ihre Welt zusammen. Nur mühsam findet sie aus ihrer Erstarrung. Als sie sich zu einem Pilzkurs für Anfänger anmeldet, ahnt sie noch nicht, dass dies einen Wendepunkt für sie bedeutet: ihre Reise in die wundersame Welt der Pilze ist nicht nur eine Reise in ihre eigene Seelenlandschaft, es ist auch der Beginn eines neuen Lebens voller Erfüllung, zu dem ihr die Pilze den Weg gewiesen haben.

Zur Autorin

LONG LITT WOON, geboren 1958 in Malaysia, ist Anthropologin und zertifizierte Pilzexpertin. Sie arbeitete für das norwegische Ministerium für Entwicklungshilfe und für die Europäische Kommission, von 2003 bis 2005 leitete sie Norwegens Zentrum für Gleichstellung. Wenn sie nicht unterwegs ist, um auf der ganzen Welt nach Pilzen zu suchen, berät

sie Unternehmen und Behörden in Sachen Gleichstellung und Diversity. Long Litt Woon lebt in Oslo.

Long Litt Woon

Was mich Pilze über das Leben lehrten

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Stien tilbake til livet. Om sopp og sorg« bei Forlaget Vigmostad & Bjørke AS, Norwegen. Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2017 by Forlaget Vigmostad & Bjørke A/S, Norwegen

vermittelt durch Winje Agency A/S,

Skiensgate 12, 3912 Porsgrunn, Norwegen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Anders Timré/Islington design unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/Lisla

Illustrationen: © 2019 by Oona Viskari, Foto der Autorin: © Johs. Bøe

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23213-9 V003 www.btb-verlag.de

Still ums Boot, stillwie Sterne, wenn die Erde ausgeschaltet ist und menschliche Worte,tastende Gedanken und Träume vergessen sind.Ich lege die Jahre auf die Rudergabel,hebe und senke sie. Lausche.Das leise Platschen von Tropfen im Meerzementiert die Stille. Langsam, zu einer anderen Sonne,wende ich das Boot im Nebel: Das dichte Nichtsdes Lebens. Und rudere,rudere.

Kolbein Falkeid, aus dem Gedicht »Eine andere Sonne«

Inhalt

Vorwort

Ein Pilz, Freude. Zwei Pilze, doppelte Freude

Pilze für Anfänger

Adrenalinrausch

Der zweitbeste Tod

Geheime Orte

Auf Pilzsuche im Central Park

»Wo hast du den Pilz gefunden?«

Der Traum

Der innere Kreis

Pilzfreundschaft

Der Initiationsritus der Pilzleute: Die Prüfung zum Pilzsachverständigen

Die unbarmherzige Trauerarbeit

Witwe mit kleinem W

Pilzskepsis

Welche Pilze sind essbar?

Im Limbus

Wütend auf das Gras

Aprilscherz

Fifty shades of poison

Nicht schwarz-weiß

Im Fluss

Die Spuren des Lebens

Spitzmorcheln: Die Diamanten unter den Pilzen

Auf Spitzmorcheljagd in New York

Hipstermorcheln

Sandmorcheln: Die schwarzen Schafe der Pilzwelt

Die Sinne in Bereitschaft

Alle Sinne geschärft

Aprikosenduft und andere (angelernte?) Aromen

Von der Kunst, eine Maus zu fangen

Geruchsseminar

Insidersprache

Sensorische Expertengruppe

Alte und neue Gewohnheiten

Die Besinnung verlieren und wiederfinden?

Das Unaussprechliche

Der Pilz, der nicht erwähnt werden darf

Professor Høiland nimmt eine sachliche Einordnung vor

Sachliche Information vs. Pilzrauschepidemie

Psilorausch

Von der Vorspeise zum Dessert

Die Mathematik des Verlusts

Suppe

Pilze als Bacon

Ofenpilze mit Sesamöl und Sojasauce

Pastete

Eingelegte Pilze

Pilzbraten

Pilzsaucen

Candy Cap

Pfifferling-Aprikosen-Eis mit karamellisierten Pfifferlingssplittern

»Dogsup«

Die Badezimmerwaage

Scheidung vs. Tod

Das gute Latein

Pilzlatein für Dummies

Farbe und Form

Geruch, Aroma und Größe

Das immerwährende Geschenk

Der Himmelskuss

Der Himmelskuss

Pilzverhaltensregeln

Pilzregister

Halluzinogene Pilzarten laut der »Drogenliste« der norwegischen KRIPOS

Literaturverzeichnis

Unveröffentlichte Quellen

Weitere Informationen

Vorwort

Dieses Buch trug einmal den Arbeitstitel »Sporensuche«. Es sollte von der Reise einer Anthropologin ins Reich der Pilze handeln und von meinem Staunen über die Pilze und ihre Anhänger, denen ich unterwegs begegnete. Mein neues Interesse an der Mykologie, der Lehre von den Pilzen, half mir dabei, in einer Zeit, in der alles dunkel schien, wieder Freude und einen Sinn im Leben zu finden. Ich bin mir sicher, dass es diese Faszination war, die mich nach dem plötzlichen Tod meines Mannes aus dem Tal der Trauer herausführte. Nachdem ich schon ein wenig mit meinem Manuskript vorangekommen war, überlegte ich, wo und wie ich einige Sätze über ihn einfügen könnte. Sollte ich ihn im Vorwort erwähnen? Ich machte mich ans Werk und fing an, den Text zu schreiben, aus dem schließlich das zweite Kapitel entstand, »Der zweitbeste Tod«. Von da an änderte das ganze Buchprojekt seinen Charakter; plötzlich war es die Verbindung zwischen meiner Entdeckung der Pilzwelt und meiner Wanderung durch die Wüste der Trauer, die am interessantesten schien. Deshalb handelt dieses Buch in seiner endgültigen Fassung von zwei parallelen Reisen: einer äußeren, ins Reich der Pilze, und einer inneren, durch die Landschaft der Trauer.

Während des Schreibens gibt es zwangsläufig einsame Phasen, in denen ich hauptsächlich allein arbeite, und andere, in denen ich vom Urteil der Helfer abhängig bin, denen ich vertraue. Dazu gehören Bente Helenesdatter Pettersen, Berit Berge, Gudleiv Forr, Hadia Tajik, Hanne Myrstad, Hanne Sogn, Klaus Høiland, Johs. Bøe, Jon Lidén, Jon Martinsen Strand, Jon Trygve Monsen, Lars Myrstad Kringen, Mari Finness, Nina Z. Jørstad und die Schreibgruppe in der Tidemannsstuen, Ole Jan Borgund, Oliver Smith, Ottar Brox, Runar Kristiansen und Åsta Øvregaard. Herzlichen Dank für euren inspirierenden Beistand und für spannende Gespräche! Ein großer Dank gilt auch meinen Informanten in der Pilzszene, meinen guten Beratern bei der Norsk Etnologisk Granskning (NEG), dem Norwegischen Volksmuseum, und der Ethnografischen Bibliothek der Universität Oslo für ihre bereitwillige und wertvolle Hilfe. Vom Faglitterære Fond wurde ich von Anfang an mit einem Stipendium gefördert, ohne das dieses Projekt gar nicht zustande gekommen wäre. Und nicht zuletzt bin ich Professor Leif Ryvarden und Professorin Gro Gulden für ihren fachlichen Rat zum Thema Mykologie zu tiefstem Dank verpflichtet.

In Dankbarkeit für ein erfülltes Leben mit meinem Mann ist dieses Buch seinem Andenken gewidmet.

Memoria In Aeterna,

Eiolf Olsen (1955–2010)

Kleingartenkolonie Rodeløkken, Mai 2017

Long Litt Woon

Ein Pilz, Freude. Zwei Pilze, doppelte Freude

Dies ist die Geschichte einer Reise, die ihren Anfang nahm, als mein Leben aus den Fugen geriet: Eines Tages fuhr Eiolf zur Arbeit und kam nicht mehr zurück. Er kam nie wieder zurück. In diesem Moment verschwand das Leben, das ich gekannt hatte. Meine Welt war für immer verändert.

Ich war am Boden zerstört. Das Einzige, was mir von Eiolf blieb, war der Schmerz über seinen Verlust. Dieser Schmerz zerriss mich innerlich, aber ich wollte ihn nicht mit Medikamenten dämpfen. Ich wollte ihn ungefiltert spüren, roh. Er war die Bestätigung dafür, dass Eiolf gelebt hatte, dass er mein Mann gewesen war. Und deshalb wollte ich nicht, dass auch der Schmerz verschwand.

Ich befand mich im freien Fall. Ich, die immer alles unter Kontrolle gehabt hatte und mein Leben im Griff. Plötzlich fehlte eine Himmelsrichtung. Ich war in unbekanntes Terrain versetzt worden; auf unfreiwilliger Wanderschaft in einem fremden Land. Die Sicht war schlecht, und ich hatte weder Karte noch Kompass. Was war oben, was unten? Aus welcher Ecke sollte ich losgehen? Wohin meine Füße setzen?

Alles war einfach nur schwer.

Durch einen Zufall fand ich ausgerechnet dort Antworten, wo ich sie am wenigsten vermutet hatte.

Es nieselte, und die alten Blätter, die im Botanischen Garten in Oslo von den großen, ehrwürdigen Bäumen auf den Boden gesunken waren, zerfielen bereits. Die Sommerwärme war eindeutig vorbei, und die kalte Jahreszeit hielt wieder Einzug in unser Leben. Jemand hatte mich auf einen Kurs aufmerksam gemacht, und ich hatte mich angemeldet, ohne viel darüber nachzudenken. Eiolf und ich hatten so etwas schon immer einmal machen wollen, waren aber irgendwie doch nie dazu gekommen. Deshalb begab ich mich an diesem dunklen Herbstabend ohne große Erwartungen auf den Weg in den Keller des Naturhistorischen Museums.

Ich musste vorsichtig gehen; nach Eiolfs Beerdigung hatte ich es geschafft, mir auch noch den Knöchel zu brechen, und eine ganze Weile wurde ich die Angst vor einem neuerlichen Sturz nicht mehr los. Man hatte mir erzählt, es würde lange dauern, bis ein gebrochener Knöchel zusammenwächst, aber niemand konnte mir sagen, ob ein gebrochenes Herz je wieder heilt.

Die Trauer mahlt langsam und nimmt die Zeit in Anspruch, die sie braucht.

Sie verläuft unregelmäßig, bewegt sich ruckartig und in unvorhersehbare Richtungen.

Hätte mir jemand gesagt, dass die Pilze mein Rettungsanker sein, dass sie mich wieder auf die Beine bringen und auf den Weg des Lebens zurückführen würden, ich hätte die Augen verdreht. Was haben Pilze und Trauer miteinander zu tun?

Doch dort draußen, in den weiten Wäldern auf den moosbewachsenen Böden, stolperte ich schließlich über das, was ich suchte. Meine Entdeckungsreise durch die Pilzlandschaft wurde gleichzeitig zu einer Wanderung durch meine innere Landschaft, via interna. Und während die äußere Reise viel Zeit brauchte, war die innere noch dazu turbulent und herausfordernd. Für mich bestand kein Zweifel, dass mich die Entdeckung des Pilzreiches immer weiter aus dem Tunnel der Trauer führte. Sie linderte meinen Schmerz und wurde mein Weg aus der Dunkelheit. Sie verhalf mir zu ungewöhnlichen Perspektiven und brachte mich Stück für Stück zu einem neuen Standpunkt. Erst im Nachhinein erkannte ich, dass die Pilze für mich zu einer Rettung in der Not wurden und scheinbar so entfernte Themen wie Pilze und Trauer zusammenhingen. Davon handelt dieses Buch.

Deshalb muss ich mit einem Anfängerkurs zum Thema Pilze anfangen.

Pilze für Anfänger

Für den Kurs hatten sich zahlreiche Teilnehmer angemeldet. Einige erlebten ihre erste Jugend, andere ihren zweiten Frühling. Sie kamen aus unterschiedlichen Gegenden der Stadt. Oslo West und Oslo Ost teilten offenbar dasselbe Interesse. Als Sozialanthropologin finde ich das spannend. Normalerweise kann man bestimmte Gesellschaftsschichten mit bestimmten Sportarten oder Hobbys in Verbindung bringen. Man braucht keine Anthropologin zu sein, um festzustellen, das dies auch in Norwegen der Fall ist, obwohl die Norweger so stolz auf ihre angeblich egalitäre Gesellschaft sind. Wenn die Norweger ein Profilbild von ihrer Nation erstellen müssten, würden sie ein Foto von ihrem König wählen, auf dem er gerade am Automaten ein Ticket für die Holmenkollenbahn kauft. Und obwohl vermutlich tatsächlich nur wenige andere Regenten den öffentlichen Nahverkehr nutzen, sollte man sich auch vor Augen führen, dass die Bahn trotzdem nicht das bevorzugte Fortbewegungsmittel des norwegischen Königshauses ist.

Die Szene der Pilzfreunde hatte dagegen etwas Klassenloses an sich, das mir sofort gefiel. Obwohl ich ihr inzwischen schon eine ganze Weile angehöre, weiß ich immer noch nicht, was die Leute, denen ich dort begegne, im normalen Leben machen. Die Gespräche über Pilze nehmen sämtlichen Raum ein, für Nebensächlichkeiten wie Politik oder Religion bleibt da kein Platz. Das heißt aber nicht, dass es in der Pilzgemeinschaft keine Hierarchien gäbe. Und noch dazu gibt es auch in diesem Milieu Helden und Schurken, ungeschriebene Gesetze und Konflikte und nicht zuletzt große Gefühle. Wie alle anderen Gruppen sind auch die Pilzfreunde ein Mikrokosmos der Gesellschaft, was mir anfangs allerdings gar nicht auffiel.

Pilze sind faszinierend und zugleich furchteinflößend: Sie locken mit lukullischen Genüssen, doch im Hintergrund schwelt stets auch die Gefahr des tödlichen Gifts. Noch dazu wachsen manche Arten in sogenannten Hexenringen, und einige haben sogar halluzinogene Eigenschaften. Wenn man in historischen Quellen nachforscht, wird deutlich, dass sich der Mensch schon immer über Pilze gewundert hat – die weder Wurzeln noch sichtbare Samen haben, sondern plötzlich einfach so auftauchen, häufig nach heftigen Regenfällen oder Gewittern, wie eine Personifizierung unbändiger Naturgewalten. Namen wie »Hexenei« oder »Satans-Röhrling« deuten ebenfalls darauf hin, dass man die Pilze für etwas Furchterregendes, Heidnisches und Magisches hielt.

Manche Menschen beschäftigen sich mit Pilzen, weil sie von deren Aufgabe als Müllabfuhr des Ökosystems fasziniert sind. Andere interessieren sich für ihre heilenden Wirkstoffe; so setzt man etwa in der Krebsforschung große Hoffnungen in Pilze. Der norwegische Beitrag zur Medizin ist der Hardangervidda-Pilz, Tolypocladium inflatum, der inzwischen unentbehrliche Dienste bei der Organtransplantation leistet. Wer ein natürliches Aphrodisiakum sucht, kann sich die Gemeine Stinkmorchel, Phallus impudicus, einverleiben, oder die Himbeerrote Hundsrute, Mutinus ravenélii, im Norwegischen auch »Pfaffenschwanz« genannt. Kunsthandwerker finden in Pilzen eine spannende Alternative zur Färbung von Wolle, Leinen und Seide. Und für Naturfotografen sind sie ein wildes Spektakel, denn es gibt sie nicht nur in braun oder weiß, sondern in allen denkbaren und undenkbaren Farben und Formen, mollig oder schlank, lieblich und grazil, durchscheinend und empfindlich oder so spektakulär und bizarr, als stammten sie von einem fremden Planeten. Manche Pilze leuchten sogar phosphoreszierend und erhellen den Wald, wenn die Dunkelheit hereinbricht.

Die meisten Menschen aber möchten mehr über die Suche von wildwachsenden Pilzen im Wald erfahren, weil sie diese gern essen. Trotz unermüdlicher Versuche ist es nach wie vor nicht gelungen, die begehrtesten Speisepilze zu züchten. Sie zeigen, dass der Mensch nicht alles beherrschen kann in unserer durchorganisierten Welt. Pilze haben etwas Willkürliches, Unbezähmbares an sich. »Kann man den essen?«, lautet die häufigste Frage derer, die sich mit Pilzen nicht auskennen.

Der altmodische Name des Kursveranstalters, »Pilz- und Nutzpflanzenverein Oslo und Umgebung«, weckte meine Neugier. Er klang wie ein Pendant zum »Sanitätsverein Norwegischer Frauen«. Was waren das für Leute, die sich mit Pilzen und Nutzpflanzen beschäftigten? Um ehrlich zu sein, war ich mir auch nicht ganz sicher, was man unter dem zweiten Begriff verstehen sollte. Und, wenn man dem Gedanken weiter nachging: Was waren dann unnütze Pflanzen? Nennt man sie Nutzlospflanzen? Ich wagte es nicht, diese Frage vor der versammelten Mannschaft zu stellen.

Der Kursleiter trug ein Messer in einer Lederscheide, die an seinem Gürtel befestigt war, und eine kleine Handlupe an einer Schnur um den Hals: die Grundausstattung eines seriösen Pilzsammlers, aber das wusste ich damals noch nicht. Stil rangiert nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste. Wenn man in den Wald auf die Suche geht, muss die Kleidung praktisch und funktionell sein. Darum sehen Pilzesammler auf den ersten Blick bisweilen aus wie von einem anderen Stern, von Kopf bis Fuß in wasserfeste Montur gehüllt und dick eingeschmiert mit Lotionen gegen Mücken, Zecken und Bremsen.

»Was sind eigentlich Pilze?«, fragte der Lehrer uns. Viele schwiegen beschämt und versuchten, seinem Blick auszuweichen. Ich auch. Lag es denn nicht auf der Hand, was ein Pilz ist? Doch er war auf eine wissenschaftliche Antwort aus, und ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte, danach zu suchen.

Eine Auswahl norwegischer Pilzarten

Was viele, so auch ich, mit Pilzen verbinden, nennt man in der Mykologie »Großpilze«. Die meisten Pilzarten sind viel kleiner, oft mikroskopisch klein. Häufig werde ich gefragt, wie viele Pilzarten es eigentlich gibt, aber das Pilzuniversum ist so groß, dass man diese Frage nicht mit Sicherheit beantworten kann. Wie viele von ihnen bisher tatsächlich entdeckt und wissenschaftlich beschrieben wurden, ist unter Forschern umstritten. In Norwegen hat das Naturhistorische Museum an der Universität Oslo versucht, einen Überblick über die Artenvielfalt im Land zu erlangen. Von den annähernd 44 000 in Norwegen dokumentierten Arten machen die Pilze rund 20 Prozent aus, die Säugetiere im Vergleich dazu nur 0,2 Prozent. Und gerade in den großen, artenreichen Gruppen gibt es viele unentdeckte.

Der Pilz, den man im Wald an der Oberfläche sieht, ist nur ein Bruchteil seines gesamten Organismus. Der größte Teil ist ein lebendiges, dynamisches Netzwerk aus langen, dünnen Zellen, dem so genannten Myzel, das unter der Erde oder in Bäumen und anderen Pflanzen wächst. Was wir zu Gesicht bekommen, ist der Fruchtkörper des Pilzes, den man mit einem Apfel im Verhältnis zum Baum vergleichen könnte, nur dass der »Baum« in diesem Fall komplett unter der Erde wächst. Der größte Organismus der Welt ist der Dunkle Hallimasch, Armillaria ostoyae. Er wurde in den USA gefunden, in Oregon, wo er ein Waldgebiet von fast zehn Quadratkilometern bedeckt. Man hat Hunderte Stichproben genommen, und DNA-Analysen des Myzels lassen darauf schließen, dass er sich von einem einzigen individuellen Pilz verbreitet, dessen Alter zwischen zweitausend und achttausend Jahren geschätzt wird. Oberhalb der Erdoberfläche dagegen ist der afrikanische Termitomyces titanicus der wohl größte Pilz der Erde. Sein Hut kann bis zu einem Meter breit werden. Wenn man Fotos von Menschen betrachtet, die den Pilz wie einen Sonnenschirm tragen, könnte man leicht glauben, die Bilder wären manipuliert.

Wir sehen die Pilze nur in einer sehr kurzen Phase ihres Lebens, ansonsten leben sie im Verborgenen. Unter den richtigen Bedingungen brechen die Großpilze so kraftvoll aus dem Myzel durch die Erde, dass sie Steine heben und Asphalt zum Bersten bringen können.

Pilze wachsen nicht nur im Wald, sondern auch in öffentlichen Parks, am Straßenrand und sogar auf Friedhöfen und in privaten Gärten. Pilze sind überall, wenn man jenen Pilzfreunden Glauben schenkt, die meinen, dass nicht allein dort, wo Leben ist, Pilze sind, sondern dass Pilze überhaupt erst die Voraussetzung für Leben bilden: ohne Pilze kein Leben. Ein YouTube-Video, das in Pilzkreisen kursiert, handelt sogar davon, wie Pilze unseren Planeten retten können. Pilzanhänger scheinen in ihrem Glauben gefestigt.

Jeder gute Lehrer bringt zunächst den Wissensstand seiner Schüler in Erfahrung. Deshalb begann unser Kurs mit einem kleinen Quiz über die bekanntesten Pilze. Das Ziel eines Anfängerkurses besteht darin, ungefähr 15 Arten kennenzulernen. Frische Exemplare, die noch vor wenigen Stunden ein friedliches Dasein in stillen Wäldern gefristet hatten, waren aus ihrem Moosbett gerissen worden, um als Unterrichtsmaterial zu dienen und herumgereicht zu werden. Ich spürte, wie sofort die Angst in mir aufkam, die Dümmste der Klasse zu sein. Und von den Pilzen, die durch meine Hände wanderten, erkannte ich nur den Pfifferling, das Gold des Waldes. Bei mir bestand offensichtlich großer Nachholbedarf.

Die Pilze bereiteten der Wissenschaft schon früh Kopfzerbrechen. Selbst Carl von Linné (1707–1778), bekannt als der Vater der modernen Taxonomie, weil er sein bis heute gebräuchliches System zur Klassifizierung aller Tier- und Pflanzenarten entwickelt hat, kämpfte seinerzeit mit den Pilzen. Bei ihm landeten sie in der Unterkategorie »Chaos« im Tierreich. Fast schien es so, als stünden die Pilze außerhalb der normalen Naturgesetze. Später wurde jedoch beschlossen, dass Pilze weder dem Tier- noch dem Pflanzenreich angehören, sondern ein eigenes Reich bilden. Das Pilzreich.

Das hatte ich noch nie gehört. Ich war schlicht davon ausgegangen, Pilze wären irgendeine Art sonderbare Pflanze. In unserem Anfängerkurs erfuhren wir auch, das Pilzreich liege näher am Tierreich und damit auch am Homo sapiens als am Pflanzenreich! Aus diesem Grund dienen Pilze auch als Quelle für wichtige Arzneimittel wie Penizillin oder Medikamente gegen Krebs. Das hatte ich im Biologieunterricht in Malaysia nicht gelernt. Als ich dort die Mädchenschule besuchte, hatten wir große alte Schautafeln mit Gemälden von Pflanzen, deren einzelne Bestandteile mit verschnörkelten Buchstaben beschriftet waren. Jetzt hatte ich etwas, worüber ich nachdenken konnte, wenn ich das nächste Mal im Gemüseladen stand und meinen entfernten Verwandten, den Champignon, zwischen den Fingern hielt.

Auch eine gute Sammeltechnik stand früh auf unserem Lehrplan: Wir sollten den Pilz direkt über der Erde am Stiel packen und ihn vorsichtig herausdrehen. Außerdem sollte man ein Messer mitnehmen, weil sich die Pilze manchmal tief unten im Moosteppich verbergen oder sehr standhaft sind. Auch eine Bürste, ein Backpinsel oder eine alte Zahnbürste sind nützlich, wenn man seine Ausbeute bereits im Wald grob reinigen möchte, was sehr zu empfehlen ist. Dann hat man die Pilze zu Hause schneller gesäubert, obwohl manche Leute es durchaus meditativ finden, Pilze zu putzen.

Wenn man einen Pilz gefunden hat, sollte man als Allererstes einen Blick unter seinen Hut werfen. Alles, was darunterliegt, sind relevante Informationen für die Bestimmung – ob es sich um einen Röhren- oder Stoppelpilz, einen Lamellenpilz oder einen Porling handelt, die relevanten Ordnungen im Anfängerpensum. Hat man die Antwort gefunden, kann man mit der Frage fortfahren, welche Familie, Gattung und schließlich Art man in der Hand hält.

In unserem Kurs durften wir als Erstes einen echten Röhrling anfassen – eine Birken-Rotkappe, Leccinum versipelle. Ein wichtiges Merkmal der Röhrenpilze ist, dass sie auf der Unterseite des Huts aussehen wie ein Schwamm und sich auch so anfühlen. Wir lernten, dass kein norwegischer Röhrling in erhitztem Zustand giftig ist, was alle Schüler fleißig notierten. Der Pilz ist weich und hat eine ulkige Konsistenz. Bei manchen Röhrlingen ändert sich die Farbe durch einen Fingerdruck, sie verfärben sich. Der Pilz bekommt schlichtweg einen blauen Fleck, ein typisches Erkennungsmerkmal einzelner Arten. Obwohl ich eine Birken-Rotkappe inzwischen schon aus der Ferne erkennen kann, ohne auf die Röhrenschicht zu drücken, fühle ich mich jedes Mal dazu verführt. Ich kann mich wie ein Kind daran erfreuen, wenn sich der Pilz blau färbt.

In meiner Kindheit in Malaysia konnten wir stundenlang mit einer Pflanze spielen, die ihre Blätter einrollte und sich verschloss, wenn man sie berührte. Dann mussten wir geduldig warten, bis sie sich wieder öffnete – ehe wir sie erneut anfassen konnten. Nie wurde uns das langweilig, obwohl doch jedes Mal dasselbe passierte. Ganz im Gegenteil, wir fanden es lustig. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass die Pflanze Mimosa pudica heißt und das lateinische pudica übersetzt »schamhaft« bedeutet. Meistens findet man sie in waldreichen Gebieten unter Bäumen oder Büschen. Die Eigenschaften der norwegischen Birken-Rotkappe erinnerten mich ein wenig an diese malaysische Pflanze. Dieses Gefühl, als würde die Natur mit uns kommunizieren und spielen; ein einfacher Dialog ohne Worte.

In unserem Anfängerkurs lernten wir auch die Stoppelpilze kennen, die eine Art Stacheln unter dem Hut haben. Der Semmelstoppelpilz, Hydnum repandum, heißt auf Englisch hedgehog, Igel. Manche Leute schaben die Stacheln ab, wenn sie den Pilz braten, weil die abgebrochenen Stacheln aussehen wie kleine weiße Larven.

Birken-Rotkappe, Leccinum versipelle

Der Semmelstoppelpilz ist einer der »fünf sicheren Pilze«, das heißt, einer jener Speisepilze, die keinen bösen Doppelgänger haben. Den Begriff »sichere Pilze« hörte ich zum ersten Mal. Die musste ich mir unbedingt merken.

Unser Pensum umfasste auch die Porlinge. Der Schaf-Porling, Albatrellus ovinus, gehört ebenfalls zu den »Fünf Sicheren«. Er sieht ein bisschen klobig und unförmig aus. Wenn man ihn umdreht, erinnert er an ein Nadelkissen, in das zu viele Löcher hineingestochen wurden. Beim Braten verändert er seine Farbe von Weiß zu Zitronengelb. Die Verfärbung bei Wärme ist eine wichtige Eigenschaft, weil sie die Identität des Pilzes zusätzlich bestätigt. Später erfuhren wir, dass die Birken-Rotkappe, mit der wir schon früher Bekanntschaft gemacht hatten, unter Wärmeeinfluss ebenfalls ihre Farbe verändert, von Weiß zu Dunkelblau. Die Welt der Pilze ist zweifelsohne noch skurriler, als ich gedacht hatte, bevor ich den Kurs besuchte.

Unter den Lamellenpilzen gibt es viele Gattungen, von den Köstlichsten bis hin zu den Gefährlichsten. Als Anfänger ist es deshalb wichtig, die gängigsten Arten identifizieren zu können, darunter die farbenfrohen Täublinge. Man könnte sie fast als die Blumen des Pilzreichs bezeichnen, es gibt sie in allen bunten Farben, Rot, Lila, Gelb, Blau und Grün. Außerdem sind sie eine Delikatesse, und schon beim Namen Täubling kann einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Da die meisten Täublinge nicht giftig sind und keine betäubende Wirkung haben, steht deren Name wohl in keiner direkten Verbindung mit »taub«. Es handelt sich vermutlich um eine Ableitung von »Taube« im Hinblick auf den zweifarbigen, taubengrauen oder violettgrünen Hut des wohlschmeckenden Frauentäublings.

Reizker haben ebenfalls Lamellen, und wenn man in den Pilz hineinschneidet, tritt Milch aus. Bei manchen Reizkern ist sie sogar farbig.

Semmelstoppelpilz, Hydnum repandum

Der Edel-Reizker, Lactarius deliciosus, und der Fichten-Reizker, Lactarius deterrimus, deren Milch gelb-rötlich ist, gehören ebenfalls zu den »Fünf Sicheren«. Mir wurde klar, dass die Welt der Pilze viel bunter war, als ich angenommen hatte. Obwohl viele Theorien darüber im Umlauf sind, weiß bisher niemand wirklich, weshalb die Pilze so viele Farben haben. Fest steht jedenfalls, dass es eine größere Artenvielfalt gibt als nur die langweiligen weißen oder schmutzig braunen »Supermarkt-Champignons«, Agaricus bisporus.

Mich reizten die wilden Champignons, die auch zu den Lamellenpilzen gehören. Wir erfuhren, dass sie viel besser schmecken als gewöhnliche Zuchtchampignons, ihre Familie für Anfänger jedoch mit großer Vorsicht zu genießen ist, denn der essbare Champignon wird manchmal mit dem giftigen Knollenblätterpilz verwechselt. Ich war sehr neugierig auf den Geschmack der wilden Champignons. Und darauf, ob es mir je gelingen würde, all diese Arten voneinander zu unterscheiden. Im Pilzkurs schrieb ich mit, so schnell ich konnte, und hatte bald mehrere Seiten mit meinen Notizen gefüllt.

Ergänzend zu den Speisepilzen gehörten auch die wichtigsten giftigen Sorten zu unserem Pensum. Dieses Thema weckte natürlich großes Interesse in der Klasse – aus naheliegenden Gründen, aber auch wegen der vielen Mythen und Geschichten, die sich um tödliche Pilze ranken. So soll etwa Kaiser Claudius im Jahr 54 von seiner Ehefrau mit Pilzen vergiftet worden sein.

Der bekannte Fliegenpilz, Amanita muscaria, ein klassischer Bestandteil der norwegischen Weihnachtsdekoration, ist ein giftiger Pilz, aber längst nicht der giftigste in Norwegen. Der Kegelhütige Knollenblätterpilz, Amanita virosa, im Volksmund auch Weißer Knollenblätterpilz genannt, der im Gegensatz zum Fliegenpilz tödlich ist, hat eine schneeweiße Farbe und einen schlanken Stiel mit einem sogenannten »Ring«. Einige asiatische Einwanderer mussten in Norwegen aus schmerzlicher Erfahrung lernen, wie trügerisch die Schönheit des Knollenblätterpilzes ist. Leider ähnelt er zum Verwechseln einem delikaten Speisepilz, den die Menschen aus diesem Teil der Welt von zu Hause kennen.

Der Grüne Knollenblätterpilz, Amanita phalloides, ist ein weiterer giftiger Pilz, auf den wir in unserem Kurs aufmerksam gemacht wurden. Berichten zufolge schmeckt er mild und gar nicht mal übel. Ihn zu verspeisen kann jedoch ebenfalls fatale Folgen haben. Nur – woher weiß man eigentlich, dass er einen milden Geschmack hat, wenn er tödlich ist? Diese Frage stellte niemand, stattdessen verstummten alle andächtig.

Uns Pilznovizen wurde die einfache Merkregel mitgegeben, alle wilden Pilze zu meiden, die durchgehend weiß oder braun sind, das heißt, auf und unter dem Hut und am Stängel. Dennoch wurde uns schnell klar, dass es keinen einfachen Weg gab, um herauszufinden, ob ein Pilz giftig ist oder nicht. Pilze muss man lernen, einen nach dem anderen. Punkt. Daran ließen die Lehrer keinen Zweifel.

Zu den Lieblingspilzen der Kursleiter zählten das Gemeine Stockschwämmchen, die Totentrompete, der Steinpilz, der Edel-Reizker, der Milchbrätling, der Riesenchampignon und die Spitzmorchel. Ich war verblüfft, dass der so beliebte Pfifferling nicht darunter war. Die weniger bekannten Verwandten des Pfifferlings hatten märchenhafte Namen, sie wirkten vertraut und doch fremd. Hintereinander aufgezählt, hätten sie ein modernes, ungereimtes Gedicht bilden können, bei dem man für eine Nanosekunde das Gefühl hatte, etwas zu begreifen. Der Echte Pfifferling, Cantharellus cibarius, ist ein Pilz mit einem trichterförmigen Hut, worauf auch die Bezeichnung Cantharellus, »kleiner Becher«,verweist. Im Gegensatz zu den meisten anderen begehrten Arten schreit der Pfifferling mit seiner goldenen Farbe geradezu danach, gefunden zu werden. Für den Pilzsammler, der eine herausfordernde Suche bevorzugt, ist er fast zu leicht aufzuspüren. Später habe ich sogar Pilzleute kennengelernt, die an den »simplen« Pfifferlingen im Wald vorbeigehen. Wenn die Profis den Pfifferling erwähnen, tun sie es beinahe entschuldigend. (»Ja, ab und zu kann so was auch mal ganz gut schmecken.«) Verglichen mit anderen Pilzen hat der Pfifferling auch eine lange Saison. In Norwegen wächst er bereits im Juni, ein Geheimnis, das die Pilzfreunde gern für sich behalten.

Was wussten sie wohl noch alles, das ich als Anfängerin hoffentlich noch entdecken würde?

Adrenalinrausch

Nach einem Abend mit Theorie stand bei unserem nächsten Kurstreffen eine Exkursion auf dem Programm. Weil ich nicht wie die Norweger mit dem obligatorischen Sonntagsspaziergang aufgewachsen bin, stellt so etwas für mich eine Herausforderung dar. Der Wald verwandelt sich für mich schnell in einen furchteinflößenden Ort. Es ist ein unheimliches Gefühl, wenn man zum zweiten Mal auf dieselbe Gruppe von Pilzen stößt und feststellt, dass man im Kreis gelaufen ist. Mich befällt augenblicklich die Angst, ich könnte immer tiefer und tiefer in den dunklen Wald gelockt werden und plötzlich mutterseelenallein zwischen riesigen Bäumen stehen, ohne zurückzufinden. Und schon im nächsten Moment bilde ich mir ein, die Bäume würden einander im Flüsterton dazu auffordern, ihre langen Arme nach der kleinen Pilzsammlerin auszustrecken und sie einzufangen. Ein bedrohliches Szenario, wenn man nicht mit Wanderstiefeln auf die Welt gekommen ist und gelernt hat, dass ein Ausflug in den Wald die beste Medizin gegen schlechte Laune ist. Der tropische Regenwald in Malaysia lädt nicht zu Sonntagsspaziergängen ein, der Begriff »Sonntagsspaziergang« existiert dort nicht einmal. Und wer trotzdem auf diese absurde Idee kommt, sollte sich mit Anti-Mückenspray und einer Machete bewaffnen. In der Regel wagt aber niemand dieses lebensgefährliche Unterfangen. Aus all den genannten Gründen waren die norwegischen Ausflugsgepflogenheiten ein Kulturschock für mich. Als ich ein Austauschjahr in Norwegen verbrachte, hatte niemand uns Jugendliche aus aller Welt darauf vorbereitet. Ich musste die Erfahrung allein machen und meine Komfortzone verlassen.

Deshalb war es für mich beruhigend, gemeinsam mit unseren zwei Kursleitern loszuziehen, die beide mit den norwegischen Wäldern vertraut waren. Und noch dazu Pilz-Sachverständige – als ich den Begriff zum ersten Mal hörte, musste ich kichern, weil ich Sachverständige nur aus juristischen Zusammenhängen kannte und nicht unbedingt mit Pilzen in Verbindung gebracht hätte.

Auf diesen offiziellen Waldspaziergängen erfährt man auch, wie die Pilze ihr Aussehen verändern, während sie wachsen. Manche Pilzbücher bilden leider nur die komplett ausgewachsenen Exemplare ab, nicht den gesamten Lebenszyklus. Dabei sind Pilze wie Menschen, auch an ihnen nagt der Zahn der Zeit.

Wie kam es, dass mich die Leidenschaft für die Pilze packte? Im Grunde hatte es schon auf meiner ersten Pilzlehrwanderung mit dem Anfängerkurs begonnen. Kaum waren wir im Wald, entdeckte ich acht oder neun Knollenblätterpilze, die in einem Grüppchen zusammenstanden. Sie sahen so unschuldig und rein aus, und trotzdem wurde mir beim Anblick der tödlichen Pilze innerlich ganz kalt. Doch mit meinem neu erworbenen Wissen, was ich aus der Natur auf keinen Fall essen durfte, fühlte ich mich diesem schwierigen Thema schon etwas gewachsener. Anschließend wurde ich davon erwärmt, etwas bewältigt zu haben. Obendrein fand ich eine Totentrompete, Craterellus cornucopioides, die gut zwischen alten Blättern und Zweigen versteckt war. Der Kursleiter identifizierte sie als Delikatesse, was mich ein wenig überraschte, weil dieser Pilz grau-schwarz war und für mich nicht unbedingt genießbar aussah. So kann man sich täuschen, wenn die eigenen Vorstellungen auf Annahmen basieren und nicht auf Fachwissen. Ich hatte noch nie einen Kurs besucht, bei dem ich die erworbenen Kenntnisse sofort anwenden konnte, und war zutiefst beeindruckt von meinen Lehrern. Mit einem Korb voller Speisepilze kehrte ich von unserem Ausflug zurück, zufrieden mit meiner Ausbeute und mit mir selbst.

Kurz darauf lernte ich die wichtigsten Pilzgattungen kennen und konnte etwas mehr Struktur in dieses komplexe Gebiet bringen. Ob es mir eines Tages gelänge, die 15 Arten unseres Kurslehrstoffs zweifelsfrei zu identifizieren? Die sogenannte Prüfung für Pilzsachverständige setzt sogar ein Pensum von 150 Arten voraus, wie sollte das gehen? Diese Prüfung zu bestehen erschien mir vollkommen unmöglich.

Die Ausflüge in den Wald werden zu einem ganz anderen Erlebnis, wenn man sich mit neuem Wissen darin bewegt, und sei es noch so begrenzt. Plötzlich sah ich überall Pilze, an denen ich früher einfach vorbeigelaufen wäre, weil sie sich so perfekt der Landschaft anpassten.

Totentrompete, Craterellus cornucopioides

Jetzt »ploppten« die Pilze in 3D aus dem Boden, weil ich sie durch eine neue Brille sah. Zusätzlich lernte ich auch noch Einiges über die norwegische Flora, wie etwa, dass das Leberblümchen nur auf kalkhaltigen Böden wächst. Und wenn man Leberblümchen sieht, stehen die Chancen gut, in der Nähe auch Pilze zu entdecken, weil sie dieselben Vorlieben haben.

Als ich in der freien Wildbahn meine ersten Pilze wiedererkannte, fand ich einen neuen Sinn im exotischen norwegischen Wald. Nach einer Weile sehnte ich mich sogar danach, in die dunkelgrünen Wälder zu gehen. Mittlerweile schweift mein Blick wie ein Radar über den Boden, damit ich mir beim Gehen einen schnellen Überblick über die Landschaft verschaffen kann. Ob es hier wohl interessante Pilze gibt? Will man sie finden, muss man das Handy ausschalten und in den »Pilzmodus« gehen und gegenwärtig sein – im Wald. Inzwischen habe ich gelesen, dass ein Ausflug in den Wald nicht nur Körper und Seele guttut, wie die Freiluftenthusiasten predigen, sondern auch dem Gehirn.

Als Kinder haben wir alle erlebt, wie es ist, vollkommen von etwas gebannt zu sein: Wenn man zum Beispiel den emsigen Ameisen bei der Arbeit so fasziniert zusieht, dass man nicht hört, wie man zum Essen gerufen wird. Genauso aufregend ist das Pilzabenteuer. Man blendet die Trivialitäten des Alltags aus, wenn man auf die Suche geht. Die Jagd- und Sammelinstinkte werden geweckt und locken einen sofort in eine eigene Welt. Konzentration und Spannung steigen: Werde ich den Schatz finden? Und wenn sich dann endlich ein hübscher Pfifferling offenbart, können sich manche Sammler nicht halten und sagen zu dem Pilz: »Unglaublich, wie schön du bist!« oder sogar: »Komm zu Mutti, mein Kleiner!« Oft werde ich aber auch nur von einem gelben Birkenblatt in die Irre geführt, das mein Herz höher schlagen lässt, weil ich hoffe, das Gold des Waldes gefunden zu haben. Vieles erweist sich am Ende weder als Gold noch als Pilz, aber einmal stieß mein Radar mitten auf dem Waldboden sogar auf ein paar herrenlose Geldscheine. Es ist kaum zu glauben, was man in einem norwegischen Wald alles finden kann, wenn man die Augen offen hält.

Nicht nur Sportler sprechen gern vom »Flow«, der entsteht, wenn man seine Disziplin so beherrscht, dass Fähigkeiten und Herausforderungen im Einklang sind. Wenn sie sich ganz dem Augenblick verschreiben und der Körper und die Aufgabe miteinander harmonieren, werden positive Gefühle freigesetzt. Konzentration und ungeteilte Aufmerksamkeit führen zu Freude und Begeisterung. Man ist im Fluss. Aus der fernöstlichen Tradition kennt man auch den »Zen-Moment«, bei dem man sich, nach langer Übung, dem Erlebnis einer existentiellen Befreiung von Zeit und Ort hingeben kann. In vielerlei Hinsicht sind Flow und Zen verwandte Erfahrungen. Man befindet sich in einer glücklichen Blase. Die Welt kann einem nichts anhaben.

Im Gegensatz zum Erlebnis der Sportler und Zen-Mönche konnte ich das Glück des Pilzsammelns auch als Neuling sofort erfahren, ohne die obligatorischen Trainingsstunden oder die regelmäßige Meditation. Ich kann mir vorstellen, dass man beim Skifahren, Segeln oder anderen Hobbys mehr Übungsstunden absolvieren muss, um ähnliche Höhenflüge zu erleben. Was die Pilze betrifft, muss man nicht unbedingt etwas können, ehe man einen Adrenalinrausch erlebt. Es reicht vollkommen, mit einem Experten spazieren zu gehen. Das Pilzglück ist leicht zu haben, eine Art »Flow light«.

Ich bin den Pilzen verfallen und habe dadurch ein Paralleluniversum entdeckt, eine unsichtbare Zauberwelt direkt vor meinen Schuhspitzen, mit einer eigenen Logik und unkontrollierbaren Lebenskraft, an der ich früher vollkommen unwissend vorbeigegangen bin. Wenn ich Pilze finde, habe ich mitunter das Gefühl, die Zeit würde aufhören zu existieren. Ich erlebe Zen und Flow auf einmal. Das Wohlbehagen und das Erlebnis, eins mit dem Universum zu sein, führen zu innerer Zufriedenheit und Glück. In diesem Moment zählt nur, genau dort zu sein, wo ich bin, und zu tun, was ich tue. In diesem Moment denke ich nicht darüber nach, was ich abends kochen könnte oder was die Leute von meiner Frisur halten.

Pilzesammeln ist eine konkrete und sinnliche Tätigkeit. Zunächst spürt man den Grad des »Widerstands« im Pilz. Manche Pilze klammern sich besonders hartnäckig im Boden fest, andere sind gleich bereit, den Wald zu verlassen und folgen uns brav nach Hause, wenn wir sie nur freundlich anlächeln. Ich liebe den Moment, wenn ich nach etwas vorsichtigem Scharren und Drehen endlich meinen wertvollen Fang in der Hand halte. Für mich ist es fast so, als hätte ich das Gewinnerlos ausgegraben, einen kostenlosen Glücksrausch in mehreren Dimensionen.