Meine Aussagen - Anatolij Martschenko - E-Book

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Anatolij Martschenko

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Beschreibung

Es wäre mein Wunsch, daß mein Zeugnis über die sowjetischen Lager und Gefängnisse für politische Gefangene den Humanisten und progressiven Menschen anderer Länder bekannt würde, – denen, die sich für die politischen Gefangenen Griechenlands, Portugals, der Südafrikanischen Republik und Spaniens einsetzen; sie sollen ihre sowjetischen Kollegen im Kampf gegen die Unmenschlichkeit fragen: »Was habt ihr dagegen getan, daß man in eurem Land die politischen Gefangenen sogar durch Hunger ›erzieht‹?« Anatolij Martschenko

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Anatolij Martschenko

Meine Aussagen

Bericht eines sowjetischen Häftlings 1960–1966

Aus dem Russischen von Elisabeth Mahler

FISCHER Digital

Inhalt

Vorbemerkung des AutorsWäre es nicht möglich, [...]Erstes Kapitel Der AnfangZweites Kapitel Der TransportDrittes Kapitel BurowViertes Kapitel Ritschardas’ ErzählungFünftes Kapitel Der unterirdische GangSechstes Kapitel Schiso (Karzer)Siebentes Kapitel Der letzte VersuchAchtes Kapitel Im SpezNeuntes Kapitel Die WladimirkaZehntes Kapitel Die Zelle • GefängnisordnungElftes Kapitel HungerZwölftes Kapitel Iwan MordwinDreizehntes Kapitel HungerstreikVierzehntes Kapitel Die »Selbstverstümmler«Fünfzehntes Kapitel »Der Terrorist«Sechzehntes Kapitel Es ist schwer, Mensch zu bleibenSiebzehntes Kapitel Unser Nachbar PowersAchtzehntes Kapitel Die Zelle der Berija-LeuteNeunzehntes Kapitel Der SpaziergangZwanzigstes Kapitel TkatschEinundzwanzigstes Kapitel Pjotr GlynjaZweiundzwanzigstes Kapitel Vitja KedrowDreiundzwanzigstes Kapitel Das BadVierundzwanzigstes Kapitel GleichberechtigungFünfundzwanzigstes Kapitel HausdienstSechsundzwanzigstes Kapitel »Die Gläubigen«Siebenundzwanzigstes Kapitel Die GeisteskrankenAchtundzwanzigstes Kapitel Der ErdrosselteNeunundzwanzigstes Kapitel Die Zelle Nummer 79Dreißigstes Kapitel Der RückwegEinunddreißigstes Kapitel Von neuem – LagerZweiunddreißigstes Kapitel Neue OrdnungenDreiunddreißigstes Kapitel Die ArbeitVierunddreißigstes Kapitel Häftlingsökonomie – doppelte BuchführungFünfunddreißigstes Kapitel Bei uns ist alles so wie draußen in der FreiheitSechsunddreißigstes Kapitel Mordwinische IdylleSiebenunddreißigstes Kapitel PWTsche Lieder, Tänze und SportAchtunddreißigstes Kapitel PWTsche – PolitunterrichtNeununddreißigstes Kapitel Die großen und die kleinen VorgesetztenVierzigstes Kapitel Der Sturz des MaikäfersEinundvierzigstes Kapitel Das WiedersehenZweiundvierzigstes Kapitel Der SelbstmörderDreiundvierzigstes Kapitel Über meine Freunde und KameradenVierundvierzigstes Kapitel Über die JugendFünfundvierzigstes Kapitel Der BlumenstraußSechsundvierzigstes Kapitel Blumen in der SperrzoneSiebenundvierzigstes Kapitel Das Krankenhaus (3. Lagerabteilung)Achtundvierzigstes Kapitel LiebeNeunundvierzigstes Kapitel Das IrrenhausFünfzigstes Kapitel Der Streit mit dem SchinderEinundfünfzigstes Kapitel Zurück ins LagerZweiundfünfzigstes Kapitel Mischka Konuchow

Vorbemerkung des Autors

Als ich im Gefängnis von Wladimir saß, überkam mich oftmals die Verzweiflung. Hunger, Krankheit und vor allem Schwäche, das Unvermögen, gegen das Böse zu kämpfen, führten dazu, daß ich bereit war, mich auf meine Gefängniswärter zu stürzen, mit dem einzigen Ziel, zu sterben; oder ich dachte daran, mein Leben auf andere Weise zu beenden. Auch kam mir der Gedanke, mich selbst zu verstümmeln, so, wie es andere vor meinen Augen getan hatten.

Nur eines hielt mich zurück und gab mir die Kraft, in diesem Alptraum zu leben: die Hoffnung, herauszukommen und allen zu erzählen, was ich gesehen und erlebt habe. Ich schwor mir, dafür alles auszuhalten und zu ertragen. Ich versprach es meinen Genossen, die noch jahrelang hinter Gittern und Stacheldraht bleiben müssen.

Ich dachte darüber nach, wie ich mein Ziel erreichen könnte. Mir schien, es sei in unserem Land unter den strengen Zensurbedingungen und der Kontrolle jedes gesprochenen Wortes durch das KGB[1] nicht nur unmöglich, sondern auch zwecklos, da alle von Furcht niedergehalten, von der drückenden Last des Alltags versklavt seien und keiner die Wahrheit wissen wolle. Deshalb meinte ich, es wäre notwendig, ins Ausland zu fliehen, um einen Augenzeugenbericht abzugeben, als Dokument, als Material für die Geschichte.

Vor einem Jahr war meine Frist um. Ich wurde entlassen. Ich begriff, daß mein ursprünglicher Plan unrecht sei, daß mein Volk meine Aussagen braucht. Die Menschen wollen die Wahrheit wissen.

Das Ziel meiner Niederschrift ist, die Wahrheit über die heutigen Lager und Gefängnisse für politische Gefangene zu erzählen, sie denen zu erzählen, die sie hören wollen. Ich bin davon überzeugt, daß mein Wissen von den Lagern und dem Leben in ihnen das einzig wirkungsvolle Mittel im Kampf mit dem heute sich entfaltenden Bösen und der Gesetzlosigkeit ist.

Während der letzten Jahre sind einige literarische und dokumentarische Werke über die Lager erschienen. Außerdem wird in vielen Veröffentlichungen nebenbei oder in Andeutungen über sie gesprochen. Auch die in Selbstverlagen erschienenen Werke beleuchten ausführlich und mit Leidenschaft dieses Thema. Stalins Lager sind entlarvt. Obwohl diese Enthüllungen heute auch noch nicht bis zu allen Lesern vorgedrungen sind, so werden sie mit der Zeit sicherlich allen Menschen bekannt werden.

Das ist sehr gut. Es ist aber auch schlecht und gefährlich: unwillkürlich gewinnt man den Eindruck, alles Beschriebene bezöge sich nur auf die Vergangenheit, heute gäbe es dergleichen nicht und könne es auch nicht geben.

Hie und da schreibt man schon in den Zeitungen darüber, daß bei uns jetzt wohl alles so sei, wie es sein müsse, und die an den grausamen Verbrechen Beteiligten bestraft und die Opfer entschädigt seien.

Das stimmt nicht! Wie viele Opfer sind erst nach dem Tode ›rehabilitiert‹ worden, wie viele Vergessene sind auch heute noch in den Lagern, wie viele Neue kommen hinein; und wie viele gibt es, die dasaßen, verhörten, folterten und jetzt gute Posten innehaben oder friedlich die ›verdiente‹ Pension beziehen und keinerlei, nicht einmal eine moralische Verantwortung für ihre Taten tragen! Wenn ich in Moskaus Umgebung in der Eisenbahn fahre, so sind die Wagen von gütigen, zufriedenen alten Pensionären besetzt. Der eine liest Zeitung, der andere hält einen Korb Erdbeeren, der dritte hütet den Enkelsohn … Vielleicht ist es ein Arzt, ein Arbeiter, ein Ingenieur, der nach vielen Jahren schwerer Arbeit eine Pension erhält; vielleicht verlor dieser Alte mit der Gebißprothese seine Zähne beim Verhör ›unter Anwendung physischer Methoden‹ oder in den Bergwerken von Kolyma. Doch in jedem friedlichen Pensionär vermute ich gleichzeitig einen Untersuchungsrichter, der selbst anderen Leuten Zähne ausschlug.

Weil ich genug von ihnen gesehen habe, von diesen dort, in den heutigen Lagern. Weil die heutigen sowjetischen Lager für politische Gefangene ebenso grauenhaft sind wie Stalins Lager, oder in mancher Beziehung sogar noch schlimmer.

Alle müssen das wissen.

Wer aber die Wahrheit wissen will, erhält statt ihrer verlogene, aufpolierte Zeitungsartikel, die das öffentliche Gewissen einschläfern.

Und wer sie nicht wissen will, verschließt Augen und Ohren, um dann, zu gegebener Zeit, die Möglichkeit zu haben, sich zu rechtfertigen und wieder mit sauberer Weste aus dem Schmutz hervorzukommen und sagen zu können: »Mein Gott, das haben wir ja nicht gewußt.« Wenn sie wenigstens einen Rest von staatsbürgerlichem Gewissen besitzen und wahre Liebe zur Heimat empfinden, so treten sie zu deren Verteidigung an, wie das die echten Söhne Rußlands immer getan haben.

Es wäre mein Wunsch, daß mein Zeugnis über die sowjetischen Lager und Gefängnisse für politische Gefangene den Humanisten und progressiven Menschen anderer Länder bekannt würde – denen, die sich für die politischen Gefangenen Griechenlands, Portugals, der Südafrikanischen Republik und Spaniens einsetzen; sie sollen ihre sowjetischen Kollegen im Kampf gegen die Unmenschlichkeit fragen: »Was habt ihr dagegen getan, daß man in eurem Land die politischen Gefangenen sogar durch Hunger ›erzieht‹?«

Ich halte mich nicht für einen Schriftsteller; diese Aufzeichnungen sind kein Kunstwerk. Die ganzen sechs Jahre über war ich nur bemüht, zu sehen und mir die Dinge einzuprägen. In den hier vorliegenden Aufzeichnungen gibt es keine einzige erdachte Person, keine erfundene Geschichte. Dort, wo Gefahr bestand, anderen Menschen zu schaden, nannte ich keine Namen, verschwieg ich manche Ereignisse. Ich bin aber bereit, für die Wahrheit jeder der hier erzählten Einzelheiten einzustehen. Jeder Vorfall, jeder Tatbestand kann von Dutzenden, manchmal von Hunderten und von Tausenden von Zeugen und ihren Mitgefangenen bestätigt werden. Sie könnten natürlich noch eine Fülle von Einzelheiten und bei weitem ungeheuerlichere Tatsachen hinzufügen, die ich nicht erzählt habe.

Es ist gut möglich, daß man versuchen wird, sich an mir zu rächen und die Wahrheit, die ich auf diesen Seiten erzählt habe, durch unbeweisbare Beschuldigungen als ›Verleumdung‹ abzutun. Hier an dieser Stelle erkläre ich deshalb, daß ich bereit bin, in einem öffentlichen Prozeß, bei dem die nötigen Zeugen hinzugezogen werden, in Anwesenheit der interessierten Vertreter der Öffentlichkeit und Presse, mich zu verantworten. Sollte jedoch noch einmal ein ›öffentlicher Prozeß‹ inszeniert werden, bei dem Vertreter des KGB die Bürger vom Eingang wegstoßen, bei dem man sich statt des Publikums KGB-Angehöriger in Zivil bedient, bei dem die Korrespondenten aller ausländischen Zeitungen (darunter auch kommunistischer Zeitungen) keinerlei Informationen erhalten – so wie es bei den Prozessen der Schriftsteller Sinjawskij und Daniel, Chaustow, Bukowskij und anderen war –, so würde das meine Rechtlichkeit bestätigen.

Einmal sagte der Abteilungsleiter, Kapitän Usow, zu mir:

»Martschenko, Sie sind hier mit allem unzufrieden, nichts paßt Ihnen. Aber was haben Sie getan, daß es besser wird? Sie wollten fliehen, das war alles!«

Wenn ich jetzt, nach meinen Aufzeichnungen, Kapitän Usow wieder in die Hände fallen sollte, so kann ich ihm entgegnen:

»Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand. Und jetzt bin ich wieder hier bei Ihnen.«

Wäre es nicht möglich, daß sich uns alle freiheitlich Gesinnten, alle Menschen mit flammenden Herzen anschlössen?

 

An jene, Frankreich, appelliere ich, ob sie sich nun zusammenschließen, ob sie schreiben, ob sie sprechen! Ob sie mit uns gemeinsam daran arbeiten, die Geister aufzuklären, die kleinen, die Erniedrigten, jene, die man vergiftet und die man in den Wahnsinn treibt! Der Geist des Vaterlandes, seine Kraft, seine Überlegenheit liegen nur in der Gleichheit und der Großzügigkeit.

Meine einzige Sorge ist, daß die Aufklärung nicht vollkommen und nicht sofort erfolgt. Nach einer geheimen Untersuchung würde ein Urteil hinter geschlossenen Türen kein Ende bringen, da würde die Affaire überhaupt erst anfangen, denn man müßte ja reden, denn Schweigen würde bedeuten, sich mitschuldig zu machen. Welcher Wahnsinn zu glauben, man könne verhindern, daß Geschichte geschrieben wird. Sie wird geschrieben werden, diese Geschichte, und keine Verantwortung ist so gering, daß sie nicht ins Gewicht fällt.

 

EMILE ZOLA ›BRIEFE AN FRANKREICH‹

Erstes Kapitel Der Anfang

Ich heiße Anatolij Martschenko. Geboren bin ich in dem kleinen sibirischen Städtchen Barabinsk. Mein Vater, Tichon Akimowitsch Martschenko, arbeitete sein ganzes Leben über bei der Eisenbahn als Hilfsmaschinist. Meine Mutter, Jelena Wassiljewna, war Putzfrau am Bahnhof. Beide konnten weder schreiben noch lesen, und die Briefe der Mutter waren immer von anderen geschrieben.

Nachdem ich acht Jahre die Schule besucht hatte, fuhr ich einem Aufruf des Konsomol folgend zum Aufbau des Wasserkraftwerkes nach Nowosibirsk. Damit begann mein selbständiges Leben. Ich wurde Meister für Schichtbohrungen und fuhr durch ganz Sibirien, von einer Wasserkraftwerk-Baustelle zur anderen, arbeitete in Bergwerken und bei geologischen Geländeerforschungen. Zuletzt wurde ich zum Wasserkraftwerk nach Karaganda abkommandiert.

Hier kam ich vor Gericht. Wir jungen Arbeiter waren in einem Wohnheim untergebracht und gingen in den Klub zum Tanzen. In derselben Siedlung wohnten aus dem Kaukasus ausgesiedelte Tschetschenen. Sie waren sehr verbittert: hatte man sie doch aus ihrer Heimat vertrieben und in das ferne Sibirien geschickt, zu andersgearteten und ihnen fremden Menschen. Zwischen den jungen Tschetschenen und uns gab es häufig Schlägereien, Raufereien, und manchmal kam es sogar zu Messerstechereien. An einem Tag fand in unserem Wohnheim eine große Schlägerei statt. Als sie von sich aus schon ein Ende gefunden hatte, erschien die Miliz; alle, die sich im Wohnheim befanden (den meisten Beteiligten war es gelungen, zu entkommen und sich zu verbergen), wurden festgenommen, inhaftiert und vor Gericht gestellt. Ich befand mich auch unter den Gefangenen. Man entfernte uns aus der Siedlung, wo alle wußten, wie die Sache vor sich gegangen war. Alle wurden wir an einem Tag verurteilt, ohne daß Nachforschungen darüber angestellt wurden, wer recht hatte und wer schuldig war. So geriet ich in die furchtbaren Lager von Karaganda (Karlag).

Mein Leben dort brachte mich zu den Entschluß, über die Grenze zu fliehen. Ich sah für mich einfach keinen anderen Ausweg mehr. Mit mir zusammen floh ein junger Mann, Anatolij Budrowskij. Wir versuchten, über die Grenze in den Iran zu gelangen. Aber man spürte uns auf, und wir wurden vierzig Meter vor der Grenze festgenommen.

Das war am 29. Oktober 1960.

Fünf Monate hielt mich das KGB von Aschchabad in Untersuchungshaft, die ganze Zeit in einer Einzelzelle, ohne Pakete und Briefe, ohne eine einzige Nachricht von den Verwandten. Jeden Tag fragte mich der Untersuchungsrichter Safarjan (und später Schtschukin): warum ich fliehen wollte? Das KGB beschuldigte mich des Vaterlandsverrats, und dem Untersuchungsrichter paßten meine Antworten nicht. Er wollte von mir das geforderte Geständnis hören, indem er mich bei den Verhören zermürbte und mir drohte, die Untersuchungshaft werde so lange dauern, bis ich das von ihm Geforderte sagen werde; gleichzeitig versprach er mir für ›gute‹ Aussagen und Reueerklärung die zweifache Gefängnisration. Obwohl er sein Ziel nicht erreichte und weder von mir noch von den vierzig Zeugen irgendein Belastungsmaterial erhielt, wurde ich trotzdem wegen Verrats abgeurteilt.

Am zweiten und dritten März 1961 überprüfte der Oberste Gerichtshof der Turkmenischen SSR unser Urteil. Die Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt: in einem riesigen Saal war außer den Angehörigen des Gerichtshofes, zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Wachsoldaten in unserem Rücken und ihrem Kommandanten, der an der Türe stand, niemand anwesend. Zwei Tage lang stellte man mir dieselben Fragen wie bei der Untersuchung; ich gab dieselben Antworten und wies die Beschuldigung zurück. Mein Fluchtgenosse, Anatolij Budrowskij, hatte offensichtlich Untersuchung und Einzelzelle nicht ausgehalten und dem Druck des Untersuchungsrichters nachgegeben. Er belastete mich mit seiner Aussage, um ein milderes Urteil zu bekommen. Alle vierzig Zeugen sagten zu meinen Gunsten aus. Ich fragte, warum das Gericht ihren Aussagen keinerlei Beachtung schenke, und erhielt darauf die Antwort: »Das Gericht entscheidet selbst, welchen Aussagen zu glauben ist.«

Obwohl ich einen Verteidiger abgelehnt hatte, war ein Anwalt bei der Verhandlung dabei und hielt ein Plädoyer. Er sagte, das Gericht habe keinen Grund, mich wegen Vaterlandsverrats zu verurteilen. Der Aussage Budrowskijs könne man keinen Glauben schenken, da er selbst befangen und des gleichen Vergehens angeklagt sei. Das Gericht müsse die Aussagen der übrigen Zeugen beachten; Martschenko könne wegen des Versuches, unerlaubterweise die Grenze zu übertreten, verurteilt werden, aber nicht wegen Verrates.

Das letzte Wort lehnte ich ab. Ich erkannte mich nicht des Verrates schuldig, und meinen Aussagen hatte ich nichts hinzuzufügen.

Am dritten März fällte das Gericht sein Urteil: Budrowskij bekam für den Versuch, illegal die Grenze zu überschreiten, zwei Jahre Lager (das war weit weniger als die Höchststrafe für dieses Vergehen, die drei Jahre betrug). Ich bekam sechs Jahre für Landesverrat – auch viel weniger als das vorgesehene höchste Strafmaß: Tod durch Erschießen.

Damals war ich dreiundzwanzig Jahre alt.

Wieder wurde ich in das Gefängnis geführt, zurück in meine Zelle.

Offen gestanden beeindruckte mich das Strafmaß nicht. Später erkannte ich, daß das Wort ›Vaterlandsverräter‹ nicht nur die sechs Jahre, sondern mein ganzes Leben zunichte gemacht hat. Ich hatte nur eine einzige Empfindung: daß die Ungerechtigkeit, die zum Gesetz erhobene Willkür sich durchgesetzt hatten; ich war machtlos, ich konnte nur die Kränkung, die Verzweiflung in mir ansammeln und anhäufen, bis ich wie ein überhitzter Kessel bersten würde.

Ich erinnerte mich an die leeren Stuhlreihen im Saal, an den gleichgültigen Ton des Richters und des Staatsanwaltes, des Gerichtssekretärs, der die ganze Zeit irgend etwas kaute, an die schweigenden Götzen von Begleitsoldaten. Warum hatte man niemanden zur Verhandlung zugelassen, nicht einmal die Mutter? Warum hatte man keine Zeugen bestellt? Warum hatte man mir keinen Durchschlag des Urteils gegeben? Was bedeutete das: »Das Urteil händigt man Ihnen nicht aus, es ist geheim«?

Einige Minuten darauf steckte man mir durch die Speisenklappe in meine Zelle ein kleines blaues Papier: »Unterschreiben Sie, daß Ihnen das Urteil verkündet worden ist.«

Ich unterschrieb. Alles.

Das Urteil war endgültig, eine Berufung konnte nicht eingelegt werden.

Ich trat in Hungerstreik. Ich unterschrieb eine Erklärung, einen Protest gegen das Gericht und das Urteil, legte sie in die Speisenklappe und verweigerte die Nahrung. Mehrere Tage nahm ich nichts außer kaltem Wasser zu mir. Niemand achtete darauf. Die Aufseher, die meine Weigerung entgegengenommen hatten, trugen jeden Tag ruhig meine Ration und den Napf mit Suppe wieder hinaus und brachten sie zum Mittagessen erneut. Ich verweigerte wieder die Nahrungsaufnahme. Nach ungefähr drei Tagen kamen Aufseher und ein Arzt zu mir in die Zelle. Sie nahmen an mir die sogenannte ›zwangsweise künstliche Ernährung‹ vor. Sie banden mich fest, legten Handschellen an, führten in den Mund einen Dilatator ein, steckten einen Schlauch in die Speiseröhre und begannen, durch einen Trichter, etwas Fettiges, Süßliches – die Nährflüssigkeit – einzugießen. Die Aufseher sagten: »Hör auf mit dem Hungerstreik, du erreichst sowieso nichts damit, und wir lassen dich nicht einmal abnehmen.« Diese Prozedur wiederholten sie auch am nächsten Tage.

Ich beendete den Hungerstreik. Eine Antwort auf meine Erklärung hatte ich nicht erhalten.

Nach einigen Tagen kam ein Aufseher zu mir. Er führte mich über Treppen und Korridore in den ersten Stock und klopfte an eine mit schwarzem Wachstuch bezogene Tür. Auf einem Täfelchen stand: ›Gefängnisvorstand‹. In dem Büro saß der Gefängnisvorsteher hinter seinem Schreibtisch, über ihm hing ein großes Porträt Dserschinskijs. Auf dem Sofa sah ich zwei mir von der Untersuchung her schon bekannte Personen: den Aufseher des Untersuchungsgefängnisses und den Leiter der Untersuchungsabteilung. Als vierter war ein mir Unbekannter anwesend, dessen Anblick mich erschaudern ließ, so unwahrscheinlich und widerwärtig war sein Äußeres. Ein kleiner kugelförmiger Körper, kurze Beinchen, die kaum bis zum Boden reichten, ein dünnes-dünnes Hälschen. Auf diesem saß eine riesige plattgedrückte Kugel – der Kopf. Geschlitzte Augen, eine kaum wahrnehmbare kleine Nase, ein schmaler lächelnder Mund gingen gleichsam in einer gelbglänzenden Teigmasse unter. Wie war es nur möglich, daß dieses Hälschen unter solcher Last nicht zusammenbrach?

Man sagte mir, dies sei der Stellvertreter des Staatsanwaltes der Turkmenischen SSR. Man forderte mich auf, Platz zu nehmen. Das Gespräch fand in einem freundlich-familiären Ton statt. Man fragte mich, wie ich mich fühle, ob ich den Hungerstreik aufgegeben habe. Ich bedankte mich für das rührende Feingefühl und die mir geschenkte Aufmerksamkeit.

»Sagen Sie mir bitte, wann wird man mich abtransportieren und wohin?« fragte ich dann.

»Du kommst auf eine Komsomol-Baustelle. Du wirst ›Komsomolze‹«, antwortete das Scheusal, es wurde noch breiter vom Lachen über den eigenen Scherz.

Es wurde mir unerträglich zuwider. Mir, den sie für Vaterlandsverrat verurteilt hatten, war es irgendwie peinlich, von ihnen hier in diesem Arbeitszimmer solche Worte zu hören und dabei ihr zynisches Grinsen zu sehen. Sie wußten ausgezeichnet Bescheid! Ich auch.

Nachdem ich in meine Zelle zurückgeführt worden war, erinnerte ich mich an die Baustellen, auf denen ich gearbeitet hatte. In der Nähe einer jeden war ein mit Stacheldraht umzäuntes Lager, Wachttürme, Wachen, ›Komsomolzen in Steppjacken‹ Ich dachte daran, wie man mich als neunzehnjährigen jungen Mann für zwei Monate zum Bau des Wasserkraftwerks von Buchtarma geschickt hatte. Die Unterkunft für uns freie Arbeiter befand sich ziemlich weit von der Baustelle entfernt – wie auch das Arbeitslager. Im Serebrjank war auch ein Lager. ›Freie‹ und ›Gefangene‹ wurden mit dem Zug zu jeder Schicht und wieder zurücktransportiert. Der Zug der ›Freien‹ bestand aus fünf bis sechs alten zweiachsigen Wagen. Fünfzig Meter vor den Wachtposten hielt er an, wir zeigten den Wachsoldaten unseren Durchlaßschein und benützten den Durchgang. Dann öffneten sich die Tore, und ein langer, langer Zug mit Gefangenen wälzte sich direkt auf das Baugelände. Er bestand nicht aus diesen unglückseligen zweiachsigen Wagen, sondern aus festen, vierachsigen Pullmanwagen, in denen die Gefangenen wie Heringe im Faß eingepfercht waren. Auf jeder Bremsplattform standen zwei Posten mit Maschinenpistolen und am Ende des Zuges, auf einem Flachwagen, Soldaten. Die Soldaten öffneten die Türen, trieben die Gefangenen heraus, weg von den Wagen und stellten sie in Fünferreihen auf. Dann begannen sie mit dem Zählen, immer fünf: die ersten fünf, die zweiten, die dritten, die fünfzehnten, die zweiundfünfzigsten, die hundertfünften … zählen, nachzählen, sie irrten sich, sie zählten von neuem. Schreie, ein Fluch, sie zählten wieder. Nach der Überprüfung gingen die Gefangenen zu ihren Arbeitsplätzen. Nach der Schicht spielte sich dasselbe ab, diesmal in umgekehrter Reihenfolge. Ich arbeitete mit ihnen zusammen, mit den ›Komsomolzen in den Steppjacken‹. Ich erhielt meinen Lohn, ging am Feierabend zum Tanzen und machte mir über alles weitere keine besonderen Gedanken. Nur ein Zwischenfall grub sich mir in das Gedächtnis ein.

Anfang August hörten wir plötzlich, wie vom Wachtturm aus hinüber auf das andere Ufer des Irtysch geschossen wurde. Alle warfen die Arbeit hin und liefen zum Ufer und drängten sich dicht an den Zaun. Gefangene und Freie durcheinander. Man trieb uns fort, aber wir gingen natürlich nicht, wir gafften. In der Mitte des Flusses, schon in der Nähe des anderen Ufers, schwamm ein Mensch. Wir konnten klar erkennen, daß er mit großer Mühe schwamm und alle Kräfte aufwandte, um so schnell als möglich vorwärts zu kommen. Es war ein Gefangener; er hatte den Augenblick abgepaßt, als der Schlammbagger stillstand, war durch die Röhre gekrochen und im Irtysch aufgetaucht, weit vom Ufer entfernt. Er wurde nicht sogleich bemerkt. Aber als man ihn erblickte und auf ihn schoß, war er schon ziemlich weit. Man jagte ihm ein Wacht-Motorboot nach, das schnell in seine Nähe kam; es war nur noch einige zehn Meter von ihm entfernt, aber der Offizier, mit einer Pistole in der Hand, schoß aus irgendeinem Grund nicht. »Nun, wenn er schießt, so trifft er ihn, und der Gefangene wird untergehen, beweise du dann, daß er nicht entkommen ist!« erklärte einer der Gefangenen in der Menge. »Er muß ihn vorweisen, lebendig oder tot.«

Unterdessen hatte der Flüchtling das andere Ufer erreicht, er richtete sich auf, taumelte und machte einige Schritte. Schon aber steckte das Motorboot seinen Bug in die Ufersteine, der Offizier sprang heraus, tauchte plötzlich zwei Schritte vor dem Gefangenen auf. Ich sah, wie er die Pistole hob und in die Beine des Gefangenen schoß. Der Häftling fiel. Die MP-Schützen eilten herbei, und der Offizier feuerte vor den Augen der Menge auf dem anderen Ufer mehrmals auf den liegenden Menschen. Die Menge stöhnte auf. Jemand fluchte.

Wie ein Sack schleiften sie den Körper über die Steine und warfen ihn in das Motorboot. Das Boot fuhr in Richtung Lager ab.

Unwillkürlich dachte ich auch an Buchtarma, an diesen Vorfall und an andere Baustellen. Wohin sie mich auch bringen sollten, überall würde ich einer von diesen ›Komsomolzen‹ sein, würde bei den Zählappellen dem Regen und dem Frost ausgesetzt sein, hinter Stacheldraht leben, von bewaffneten Posten mit Schäferhunden bewacht werden, und wenn ich das nicht aushielte, einen Fluchtversuch unternähme, so würde man mich ebenso erschießen wie diesen Jungen am Irtysch.

Zweites Kapitel Der Transport

Am nächsten Tag wurde ich abtransportiert. Man gab mir meine Kleider, die mir bei der Gefangennahme abgenommen worden waren, mit Ausnahme der Stiefel zurück – man hatte sie in kleine Stückchen zerschnitten, um ›den Plan einer sowjetischen Fabrik‹ zu suchen. Man befahl mir, mich anzuziehen, und führte mich aus dem Gefängnis. Der ›schwarze Rabe‹[2] stand ganz dicht an der Türe. Ich wurde in eine Box hineingestoßen, man schloß ab. Das Auto setzte sich in Bewegung. Mein kleiner Käfig war ohne Fenster, ich konnte nichts sehen, nur die Bewegung spüren. Das Fahrzeug verringerte die Geschwindigkeit, fuhr seitwärts und dann im Rückwärtsgang, wurde hinten geöffnet. Das bedeutete, daß wir an einen Waggon heranfuhren. Schnell, schnell, zwischen zwei dichten Reihen von Soldaten, gelangte ich geradewegs in den Waggon. Diese Art von Wagen (man nennt sie ›Stolypin-Waggons‹) sind ebenso wie die gewöhnlichen in Coupés eingeteilte Wagen konstruiert. An der Wand entlang führt auf der einen Seite ein schmaler Gang, auf der anderen sind die einzelnen Zellen-Abteile. Nur daß die Türen der Abteile vergittert sind. Es gibt keinerlei Fenster, die eine Seite der Wagen ist fensterlos; die Fenster auf dem Gang sind geschlossen und verhängt. Wenn man diese Wagen von außen betrachtet, so fällt nichts auf, und niemand ahnt, daß in ihnen Gefangene transportiert werden. Freilich, es lehnt niemand in den Fenstern, niemand winkt aus ihnen zum Abschied. Allem Anschein nach sind in diesen Wagen griesgrämige Reisende, die sich für nichts interessieren. In den Abteilen sind an jeder Seite drei Bretter übereinander angebracht. Über die mittleren kann eine größere Tafel geklappt werden, so daß eine zusammenhängende Fläche entsteht. Normalerweise ist hier für sieben Menschen Platz zum Liegen, wenn man sich drängt, für acht, gewöhnlich sind aber in jedem Zellenabteil zwölf bis fünfzehn Menschen untergebracht. Hinzu kommt noch die Habe der Gefangenen. Und das Ganze ist fest verschlossen, keine frische Luft dringt herein, es sei denn, auf einer Station wird die Türe geöffnet, jemand wird hereingelassen oder hinausgeführt.

Auf dem Gang patrouillieren bewaffnete Soldaten. Kommt ein anständiger Junge, so öffnet er im Vorübergehen ein Fenster, und für kurze Zeit dringt durch die vergitterte Türe eine gewisse Frische. Aber es gibt auch Begleitsoldaten, die, du magst sie darum bitten oder nicht, nicht lüften. Dann schnappen die Gefangenen in ihren Käfigen wie Fische auf dem Sand nach Luft.

Von Aschchabad bis Taschkent wurde ich wie ein Prinz transportiert – allein in einem Käfig! In den anderen Zellen waren sie dichtgedrängt; ich fragte meine Nachbarn durch die Wand hindurch, wie viele sie drüben seien, und man antwortete mir »siebzehn«. Den mir zur Verfügung gestellten Komfort betrachtet man nicht als eine besondere Vergünstigung den politischen Gefangenen gegenüber; vielmehr befürchtet man, daß er die anderen Gefangenen unterwegs politisch beeinflussen könnte. So litt ich nicht wie die anderen unter Enge. Sonst war es für mich ebenso schrecklich wie für alle.

Im Gefängnis von Aschchabad gab man mir meine Ration für den Weg: ein Laib schwarzen Brotes, fünfzig Gramm Zucker und einen Hering. Wie weit du auch fahren mußt, bis zur nächsten Umschlagestelle bekommst du nichts: in den Wagen wird kein Essen ausgegeben. Mehr als unter Hunger leiden die Gefangenen aber unter Durst. Morgens und abends wird eine Tasse Tee ausgegeben; was das Wasser anbetrifft, so hängt es ganz davon ab, welcher Soldat dafür verantwortlich ist. Bestenfalls gibt er ein- bis zweimal am Tag Wasser aus, wird es ihm aber zu beschwerlich, mit der Kanne herumzulaufen, so kannst du einfach verdursten.

Gegen Abend entschloß ich mich, zu essen. Ich wickelte meine Ration von Aschchabad aus, riß mit den Händen einen halben Hering ab und aß ihn mit Brot. Ich bat den Soldaten, mir Wasser oder Tee zu bringen – er gab mir nichts: »Wenn alle bekommen – bekommst du auch.« Ich wartete. Nach zwanzig Minuten begannen sie, Tee auszugeben. Ein Soldat ging mit der Kanne den Gang entlang, goß Tee in die Henkeltassen, die ihm durch das Gitter hindurch entgegengestreckt wurden. Er kam zu meinem Käfig:

»Gib deine Tasse her!«

Aber ich hatte keine Tasse; als ich in Untersuchungshaft saß, hatte man mir keine gegeben.

Ich bat:

»Vielleicht haben Sie etwas, aus dem Sie selbst trinken …«

»Sieh mal einer an! Dir einen Becher geben! Willst du auch noch meinen Schwanz?«

Und er ging davon. Ich begann, das Brot in den Zucker zu tauchen und trocken zu essen. Der Durst stieg ins Unerträgliche. Lange hatte ich nichts getrunken, der Mund war völlig ausgetrocknet. Dazu hatte ich noch Hering gegessen. Warum nur gibt man den Gefangenen auf allen Transporten ausgerechnet Hering – ob das Absicht ist? Auch später, soviel man mich herumtransportierte – immer gab es Hering. Die alten Gefangenen sagen: sie füttern uns mit Hering, aber zu trinken geben sie uns nichts.

Als die Nachbarn hinter der dünnen Wand vernahmen, daß ich nichts hatte, woraus ich trinken konnte, baten sie, man möge mir ihre Henkeltasse mit Tee geben. Es wurde geflucht, aber trotzdem bekam ich sie. Ich trank den Tee mit Zucker.

»Behalt die Tasse nur, sie wird dir nützlich sein!«

Ich habe sie die ganzen sechs Jahre über mit mir herumgeschleppt: nach Mordwinien und nach Wladimir und wieder zurück nach Mordwinien.

Dann kam eine neue Quälerei. Ich bat den Soldaten, mich auf die Toilette zu führen. Er antwortete:

»Du mußt warten!«

Natürlich mußte ich warten, was sollte ich sonst?

In dem Eisenbahnwagen befand sich eine einzige Toilette: ein Klosettbecken, ein Waschbecken. Wir wurden einzeln dorthin geführt: sie schlossen die vergitterte Türe auf, du standest, dein Gesicht zur Wand gekehrt, im Durchgang, die Hände auf dem Rücken; hinter dir wurde die Türe zugeschlossen, sie führten dich im Laufschritt durch den Gang. Solange du dein Geschäft erledigtest, blieb die Türe der Toilette sperrangelweit geöffnet, der Soldat stand und glotzte. Er trieb dich: schnell – schnell! Wenn du fertig warst, so hattest du nicht einmal Zeit, deine Hose zuzuknöpfen, es ging im Laufschritt zurück, immer die Hände auf dem Rücken, zurück in deine Zelle. Das Volk stand dichtgedrängt im Wagen, bis alle hingeführt waren, konnte von neuem begonnen werden. Aber die Soldaten waren faul, sie hatten keine Lust; was soll es, den ganzen Tag diese Parasiten durch den Gang hin- und herjagen? Und sie schrien: »Warte!« Und sie führten einen nicht hinaus, du mochtest soviel bitten und jammern, wie du wolltest. »Warte, bis man damit beginnt, alle herauszuführen, dann wird die Reihe auch an dich kommen!«

Mit dem Trinken und mit der Toilette hatten wir die gleiche Qual. Man sagt, auch die zweite Pein hätte man sich schon vor langer Zeit ausgedacht. Diese Erfindung hält sich bis heute und wird sich wahrscheinlich halten, solange man in Rußland Gefangene transportiert.

Den ganzen Weg nach Taschkent schlief ich wie ein Gott; der Durst quälte mich aber, und ich hatte Hunger. Ein Vergnügen war es für mich, durch die dünne Wand menschliche Stimmen zu hören: dort wurde ununterbrochen geflucht, auf die Begleitmannschaft, aufeinander und auf die Nachbarn auf der anderen Seite. Aber selbst der scheußlichste Fluch war für mich Musik – fünf Monate hatte ich keine menschliche Stimme gehört, außer die der KGB-Untersuchungsrichter und der Richter.

Am nächsten Tag erreichte der Zug Taschkent. Man führte uns einzeln aus dem Wagen, trieb uns durch einen schmalen Gang, der von zwei Reihen Soldaten gesäumt war, und stieß uns in ein Auto hinein.

Als ich die Stufen hinaufkletterte, schrien die Gefangenen bereits aus dem Fahrzeug heraus, es sei kein Platz mehr. Der Begleitsoldat schimpfte grob auf sie ein, ergriff mich und stieß mich in das Innere, genau auf die Menschen. Danach kamen noch mehrere. ›Der schwarze Rabe‹, ›der Rabe‹, ist ein geschlossenes, kleineres Lastauto, dessen Wagenkasten durch eine Gittertüre zweigeteilt wird. Auf der einen Seite ist der Käfig für die Gefangenen, auf der anderen Platz für zwei Begleitsoldaten. Auf der Seite der Begleitmannschaft sind noch zwei Boxen eingebaut, eiserne Käfige für Einzelhäftlinge. In ihnen kann man nur zusammengekauert sitzen, so daß man krumm und lahm wird. Aber im allgemeinen Abteil ist es noch schlimmer. An den Wänden sind Bänke, die Mitte ist leer. Platz ist hier für höchstens zehn Menschen (Sitz- und Stehplätze). Bei uns hatte man aber dreißig und mehr hereingestoßen. Die ersten setzten sich auf die Bank, ganz dicht, einer neben den anderen. Die folgenden setzten sich auf ihre Knie. Die übrigen standen. Es war aber kein Platz mehr zum Stehen! Die Decke war so niedrig, daß man nur stark gekrümmt stehen konnte. Kopf und Schultern stießen gegen das eiserne Dach. So viele wurden hineingepfercht, daß man sich nicht mehr rühren oder die Lage verändern konnte. So wie sie dich hineingestoßen hatten, mußtest du den ganzen Weg über stehen. Der Rücken, die Schultern, der Hals, alles wurde steif. Der ganze Körper begann, in dieser unnatürlichen Stellung zu schmerzen. Selbst wenn du ein Bein einknicktest, so fielst du doch nicht hin – es gab nichts, wo du hättest hinfallen können, du wurdest durch die Körper deiner Kameraden gehalten.

Für den letzten war überhaupt kein Platz mehr, und so stemmten zwei Soldaten ihre Fäuste gegen seinen Körper, zwängten und preßten ihn in die Menschenmasse, und dann drückten sie mit der Tür nach. Irgendwie gelang es ihnen, sie zu schließen, ein Schloß wurde vorgehängt. Unser Fahrzeug war startbereit. Aber andere waren noch nicht untergekommen, deshalb warteten wir. Die Soldaten schlossen die Außentür, setzten sich, begannen zu rauchen. Von außen war es unmöglich, zu erkennen, was für ein Fahrzeug das war, was in ihm vor sich ging. Es war ein fensterloser geschlossener Lastwagen, das einzige kleine Fensterchen über der Tür bei der Begleitmannschaft hatte einen grünen Vorhang.

Die Menschen begannen zu keuchen. Einer schrie aus Leibeskräften:

»… wie ihr eure eigenen Landsleute abtransportiert!«

»Sitz du erst einmal deine Frist ab, dann kannst du in einem ›Wolga‹ herumfahren«, hörte man die spöttische Stimme eines Soldaten. »Und das hier ist kein ›Wolga‹, sondern ein ›Schwarzer Rabe‹.«

Der Gefangene konnte nicht sprechen, er konnte nur noch röcheln:

»Du Verbrecher … was kümmert dich ein ›Wolga‹, du hast ja einen ›Moskwitsch‹ auch erst aus der Ferne gesehen. Dein ganzes Leben hast du ohne Salz gegessen, und jetzt hat man dir eine Maschinenpistole in die Hand gedrückt, und du machst dich über uns lustig.«

»Sprich nur so, sprich nur! Wenn wir an Ort und Stelle sind, werden wir sehen, wie gesprächig du in Handschellen bist.«

»Nur dadurch haltet ihr euch, nur durch Handschellen!«

»Ihr hättet in die Hände der Faschisten fallen sollen! Die haben die Menschen in Vergasungswagen hineingetrieben!«

»Und ihr herrscht mit der Maschinenpistole! Aber ohne sie ist nichts los mit euch, ihr könnt nichts!«

Man konnte hören, wie ein Offizier das Fahrzeug bestieg. Die Gefangenen verstummten. Sie horchten. Unsere Soldaten redeten ihn mit ›Genosse Oberleutnant‹ an; das Gespräch selbst aber konnten wir nicht verstehen, wir hörten nur: »Es wird gewartet.« Wieder begannen die Gefangenen zu schreien:

»Natschalnik! Ab jetzt!«

»Sie machen sich über uns lustig!«

»Faschisten in Rot!«

Die Leute hatten hier nichts zu verlieren, durch ihre Qualen wurden sie zur Verzweiflung getrieben und schrien alles heraus, was ihnen in den Sinn kam. Allerdings konnte ein nichtpolitischer Gefangener sich noch einen politischen Artikel einhandeln, einen neuen Urteilsspruch und eine zusätzliche Frist von sieben Jahren für antisowjetische Propaganda. Unter solchen Umständen aber bedenkt man nicht, überlegt man nicht. Wer sie wohl erdacht hat, diese Vergasungswagen – diese ›Schwarzen Raben‹, diese Heringsfässer und alles übrige? Er hätte hier sein sollen, dieser Erfinder!

Das Auto zitterte, man hatte den Motor angelassen. Wir fuhren los. Auf dem Wege wurden wir durcheinandergerüttelt, zum Umfallen war aber kein Platz. Auch ein Toter hätte hier aufrecht gestanden, gestützt von allen Seiten.

Wie lange wir fuhren, wußten wir nicht. Jeglicher Zeitbegriff war verwischt, und die Minuten erschienen uns als Ewigkeit.

Als das Auto die Fahrt verringerte und mehrere Kurven fuhr, begriffen wir, daß wir angekommen waren. Nur schnell! Nur hinaus, hinausgetrieben werden! Atmen! Jetzt hielt das Auto, aber man dachte nicht daran, uns herauszulassen. Wir hatten schon keine Kraft mehr, darum zu bitten, keine Kraft mehr, zu schimpfen. Endlich machte sich ein Soldat daran, die Türe zu öffnen. Zuerst führten sie die Einzelhäftlinge aus ihren Boxen, sie gingen heraus, gekrümmt, offensichtlich konnten sie sich nicht sofort aufrichten. Dann öffnete man unsere Gittertüre:

»Raus mit euch!«

Das erwies sich als gar nicht so einfach. Die Menschen verknäulten sich unterwegs derart, daß sich niemand aus der Masse herauswinden konnte. Als es dem ersten gelang, hinauszukommen, war er buchstäblich ausgezogen, seine Steppjacke blieb im Auto zurück. Als dann nahezu alle das Fahrzeug verlassen hatten, brachte man dem ersten die Jacke.

Wie alle anderen, so konnte auch ich mich nicht aufrichten, keinen Schritt tun, so schmerzte der ganze Körper.

Wir kamen in das Verschickungsgefängnis von Taschkent. Über dem Eingang hing ein großes Spruchband, weiß auf rotem Kattun: »Unter den Bedingungen des Sozialismus kann jeder, der aus dem Produktionsprozeß herausgerissen worden ist, zu einer nützlichen Tätigkeit zurückkehren.«

Als erstes steckte man uns in die Quarantänekammer, einen großen, finsteren Raum mit doppelstöckigen Pritschen an den Wänden und einem kleinen vergitterten Fensterchen. Zu essen bekamen wir das gewöhnliche Gefängnis-Mittagessen, und dann befahl man uns, ins Bad zu gehen.

Neben dem Bad lag der ›Friseursalon‹. Es war erstaunlich, daß es irgendwo auf der Welt noch saubere Räume und weiße Vorhänge an den Fenstern gab. Die Friseure – es waren Häftlinge – hatten weiße Kittel an. An den Wänden hingen Spiegel. Welch ein Wunder! Es stellte sich heraus, daß in diesem Friseursalon das ganze Gefängnispersonal, von den Aufsehern bis zum Gefängnisleiter, sich rasieren und die Haare schneiden ließ. Auch mir schnitt man hier die Haare.

Im allgemeinen wurde allen bereits bei der Festnahme der Kopf kahl geschoren. In den Gefängnissen des KGB jedoch galt diese Regel nicht, dort ließ man den Gefangenen die Haare. Dies jedoch nur bis zur ersten Verschickung. Zum Neid meiner Zellengenossen hatte ich noch meinen Haarschopf. Sie waren darüber erstaunt, und ich erklärte es ihnen folgendermaßen:

»Wir haben verschiedene Taufpaten: ihr das MWD[3] und ich das KGB.«

Als der Aufseher im Bad meine Frisur erblickte, ergriff er mich beim Ärmel und schleifte mich zum Friseur. Im Handumdrehen hatte man mich kahl geschoren, und jetzt unterschied ich mich in keiner Weise mehr von den anderen Häftlingen.

Das Bad im Taschkenter Verschickungsgefängnis war eine wahre Hölle – besonders nach dem fein säuberlichen Friseursalon mit den Spiegeln. Im Umkleideraum standen zwei Bänke, hundert Menschen wurden hineingetrieben. Unter den Füßen gluckste ein feuchter Brei aus abgesprungener, heruntergefallener Stukkatur, Straßenschmutz und Wasser. Man zog sich aus, gab die Wäsche in der Kleiderdesinfektion ab, und so stand man dann nackt und wartete, bis die anderen sich ausgezogen hatten. Der eine wußte nicht wohin, der andere verhedderte sich in seinen Lumpen, den dritten schickte man zum Scheren. Im Umkleideraum war es so kalt, daß die nackten Körper von blauer Gänsehaut überzogen waren. Alle schrien und schimpften aus Leibeskräften sowohl auf die Aufseher als auch auf die Gefangenen, die die anderen aufhielten. Erst als alle fertig waren, öffnete der Aufseher die Türe des Waschraums. Jedem wurde ein kleines Stückchen Seife ausgehändigt. Aber wo sollte man sich waschen? Nicht allen gelang es, ans Wasser zu kommen – »Geh hinaus! Du mußt dich nicht feinmachen, du bist nicht zu Hause!« Irgendwie begoß man sich doch und ging hinaus. Draußen war aber die Wäsche aus der Kleiderdesinfektion noch nicht zurück, nackt und feucht mußte man in der Kälte warten. Dann brachte man endlich die großen Ringe herein, auf die jeder vor dem Bad seine Wäsche gehängt hatte. Sie sollte im Dampf sterilisiert werden, damit die Läuse vernichtet würden. Aber es war nicht einmal gelungen, sie zu erhitzen, sie war nur lauwarm. Es mußte nur die Formalität erfüllt sein, ein Haken gemacht werden können: »Die Gefangenen sind gewaschen, die Sachen bearbeitet.«

Aber wie wäre es auch möglich gewesen, alles so zu machen, wie es sein sollte, wenn so viele jeden Tag schnellstens abgefertigt werden mußten.

Ich erhielt meine Wäsche zurück und begann, mich anzuziehen. Obwohl ich wirklich nicht verwöhnt war, wurde es mir doch übel bei dem Gedanken, daß ich nun meine Hose über die vom Schmutz umspülten Beine ziehen mußte. Trocknete ich sie mit dem Handtuch ab, womit sollte ich dann morgen mein Gesicht abtrocknen? Aus meinen Sachen zog ich das einzige ärmellose Unterhemd heraus, das ich besaß, trocknete damit meine Beine, breitete es auf dem Boden aus und stellte mich darauf. So zog ich mich an. Um mich herum puffte und stieß man sich, die Gefangenen zogen sich an, jeder so gut wie er konnte. Schimpfen, Flüche, Schreie der Aufseher: »Schneller, schneller!«

Man führte uns wieder in die Zellen zurück. Wir suchten uns einen Platz, keiner richtete sich für lange Zeit ein: bald würde man uns sowieso verschicken.

Währenddessen unterhielt sich jeder auf seine Weise. Auf den unteren Pritschen begann man, Karten zu spielen, auf den oberen klebten Meister ihres Fachs ein neues Kartenspiel zusammen. Irgend jemand wurde bereits verprügelt. Ein anderer hatte einen Landsmann getroffen, sie führten ihre eigenen Gespräche.

Nach zwei Stunden erschien der diensthabende Offizier mit zwei Aufsehern, rief nach der Liste fünfundzwanzig Mann auf und geleitete sie hinaus. Dann wurde die nächste Gruppe abgeführt, eine nach der anderen. Ich gehörte zur vierten.

Man brachte uns in die Transportzelle, die genau der Quarantänezelle glich. Der gleiche Schmutz, der gleiche Geruch, durch das Fenster fiel kein Lichtstrahl, den ganzen Tag über brannte eine kleine Lampe. In die Pritschen waren Buchstaben eingeritzt – Monogramme. Die Wände waren vollgekritzelt, vor allem mit Zoten, aber auch kleine Informationen standen dort, briefgleiche Aufschriften: »Iwan und Musa aus Buchara wurden nach 114 abtransportiert. Einen Gruß allen aus Buchara!«

In der Zelle befanden sich achtzehn Leute. Die einen saßen schon ein bis zwei Tage dort, andere eine Woche, die dritten warteten schon einen Monat auf den Abtransport. Diese Zeit über mußte man auf den nackten Pritschen, ohne Betten schlafen. Auch gab es keine Spaziergänge; zweimal täglich wurde man für eine halbe Stunde in den Waschraum geführt. In der Ecke der Zelle stand ein riesiger rostiger Kübel, einer für alle. Von ihm ging ein übler Gestank aus, der sich in der ganzen Zelle verbreitete.

Man brachte das Abendessen. Wir bekamen schlecht abgewaschene klebrige Löffel; es wurde Balanda[4] ausgeteilt. Wer noch nichts hatte, stritt sich mit den anderen, fluchte auf die Austeilenden – wer seine Ration schon empfangen hatte und von der Speisenklappe mit der Schüssel in der Hand wegging, schimpfte auf die Balanda: »Blaues Spülwasser.« Es reichte nicht für alle (für mich auch nicht): die Liste stimmte nicht. Bis alles aufgeklärt war, vergingen vierzig Minuten. Uns gab man dann ein völlig kaltes Gesöff. Nirgendwo konnte man sich zum Essen hinsetzen. Der eine richtete sich auf seiner Pritsche ein, der andere trank seine Balanda stehend. Einer stieß den anderen (bei dieser Enge war das nicht erstaunlich), die Balanda wurde verschüttet, ein zweites Mal bekam man nichts – Streit und Prügelei waren die Folge. Einer war auf die oberen Pritschen geklettert, um dort sein Abendessen einzunehmen, die Suppe ergoß sich durch die Spalten hindurch auf die unten Sitzenden – wieder Schreien, wieder eine Prügelei. So ging es jeden Tag.

In dieser Zelle saß ich zwanzig Tage. Ich lebte mich ein und fand ein kleines Plätzchen auf den oberen Pritschen. Ich machte Bekanntschaften. Die Gesichter wechselten hier sehr schnell: die einen schickte man auf den Transport, an ihrer Stelle kamen neue. Das Auftauchen von neuen Gesichtern in der Zelle war ein Ereignis; andere Geschehnisse gab es nicht. Alle ließen ihre momentanen Beschäftigungen fallen, um den Neuen zu beäugen, Bekannte durch Rufe zu begrüßen. Obwohl ich nicht damit rechnete, hier einen Bekannten zu treffen, beugte auch ich mich erwartungsvoll über meine Pritsche.

Eines Tages wurden wieder Neue hereingebracht, ich schaute nach ihnen und erblickte in ihrer Mitte Budrowskij, Tolja Budrowskij, mein Kumpan, der alles auf mich gehäuft hatte, damit er selber herauskäme! Nachdem ich ihn bemerkt hatte, warf ich mich auf die Pritsche zurück und beobachtete aus der Dunkelheit heraus, ob er mich sehen würde. Als er in die Zelle getreten war, hatte Budrowskij schnell mit einem Blick alle Pritschen gestreift, die Gefangenen um ihn herum flüchtig besehen und ging an mir vorbei. Hinter den Neuankömmlingen wurde die Türe geschlossen und verriegelt. Jetzt erhob ich mich von der Pritsche und kletterte hinab, dabei sah ich immer genau auf Budrowskij. Sein Gesicht war wohlgenährt, voll. Endlich erblickte er mich. Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er verzog sich in die hinterste Ecke der Zelle, behielt mich im Auge, aber kam nicht auf mich zu. Natürlich fürchtete er, ich würde allen erzählen, wie er mich verraten hatte, dann würde man ihn verprügeln, bis er halbtot daläge, vielleicht würde man ihn auch erschlagen. In der Zelle waren nichtpolitische Verbrecher, ihr Gesetz war einfach: verrätst du einen Kameraden, so erhältst du dein Teil!

Die Zeit des Ganges zur Toilette kam. Budrowskij ging nicht, er weigerte sich. Ich beruhigte ihn:

»Geh nur, hab keine Angst. Ich sage niemandem etwas, aber ich möchte mit dir reden.«

Wir gingen hinaus. Und jetzt heulte mein Kumpan los:

»Tolik, verzeih mir. Ich konnte nicht mehr, ich hatte Angst. Der Untersuchungsrichter hatte mir gesagt, du hättest alle nötigen Aussagen gemacht, und wenn ich sie nicht bestätige, so würde das bedeuten, ich sei schuldiger als du. Für uns beide gäbe es dann sowieso die Höchststrafe.«

»Und sie haben dir diese ›meine‹ Aussagen vorgelegt?«

»Nein, Tolik, ich konnte sowieso nicht mehr. Der Untersuchungsrichter forderte, er drohte mit Erschießung – du weißt selbst, Vaterlandsverrat …«

»Ich sollte sagen, du hättest feindselige Absichten gehabt, du wolltest Verrat üben …«

»Dummkopf, was wollte ich verraten?! Das heißt, du selbst wolltest dich retten und hast mich den Gewehrläufen ausgeliefert?«

»Tolik, aber sie haben dich doch nicht erschossen, sie haben dir nur sechs Jahre aufgebrummt. Man hätte dir sowieso mehr gegeben, du bist älter, und wir hatten verabredet, daß du den größeren Teil der Schuld auf dich nehmen würdest. Tolik, verzeih mir!«

»Was soll ich da noch mit dir reden!«

Wir gingen in die Zelle zurück. Als der Tee hereingebracht wurde, holte ich meine Vorräte heraus – einen Rest der Tagesbrotration, eine Prise Zucker. Budrowskij kam zu mir mit dem, was er hatte. Er wickelte ein Paket aus, ich seufzte: Konfekt, Gebäck!

»Woher hast du das?«

»Noch von Aschchabad, vom Gefängnis.«

»Und dort, woher? Von welchem Geld?«

»Der Untersuchungsrichter schrieb mir das aus, er sagte, sie hätten einen Fonds für Untersuchungsgefangene, und stellte mir zweimal im Monat für den Laden einen Gutschein über sieben bis acht Rubel aus. Zigaretten bekam ich umsonst. Das erstemal hatte ich das nicht gewußt und kaufte sie auf den Gutschein.«

»Mir hat keiner, nicht einmal über eine Kopeke, einen Gutschein ausgeschrieben.«

»Ja, Tolik, er sagte, es sei für die, die sich gut führten.«

»Nun, nun, Zigaretten, Ware für sieben Rubel aus dem Laden …«

»Tolik, verzeih mir! Nimm, iß!«

Es war mir richtig zuwider, ihn anzusehen, sein sattes, gelbes, verheultes Gesicht.

Einige Tage später wurde Budrowskij auf den Transport geschickt zum Bau eines Wasserkraftwerks. Ich aber blieb zurück.

Ein Zellengenosse, der mit allen Wassern gewaschene Muschik Wolodja, erklärte mir, daß man mich zu Unrecht zurückhalte, ich sei doch ein Politischer, und man dürfte mich nicht zusammen mit Kriminellen einsperren. Offensichtlich ging alles drunter und drüber. Ich aber hatte geschwiegen, aus Furcht, wieder allein sein zu müssen. Nach fünf Monaten Einzelzelle war es für mich hier mit anderen Menschen zusammen interessant gewesen. Als mich dann diese schmutzige, düstere Zelle doch verdroß, fragte ich beim Zählappell den diensthabenden Offizier, wie lange man mich hier denn noch einmarinieren wolle.

»Solange es nötig ist, bleibst du hier. Warte ab.«

»Ich darf aber nicht hier sein.«

»Und warum nicht? Weswegen sitzt du? Welcher Artikel?«

»Sehen Sie in meinen Akten nach, dann erfahren Sie es.«

Der Offizier eilte aus der Zelle und kam nach einigen Minuten wieder mit einem anderen zurück.

»Martschenko, schnell, mit Ihren Sachen. Wie kamen Sie in diese Zelle?«

»Ich hab mir diese Zelle nicht ausgewählt.«

Man führte mich in eine leere Zelle, und nach zwei Tagen wurde ich nach Alma-Ata abtransportiert.

Das paradiesische Leben war zu Ende, man sperrte mich nicht mehr allein in ein Zellenabteil. Von Taschkent aus wurden so viele Gefangene und Verbannte abtransportiert, daß der Platz nicht ausreichte. Alle Zellenabteile der Gefangenenwagen waren bis obenhin vollgestopft. Acht Menschen saßen unten, vier auf der zweiten Etage, zwei lagen ganz oben, in höllischer Hitze und üblem Gestank; sie waren naß wie Mäuse und trieften vor Schweiß. Auch die unteren waren durchnäßt.

Von Taschkent aus wurden ›Schmarotzer‹ in die Verbannung geschickt.

In dem einen der Gefangenenabteile waren Frauen, sie hatten etwas mehr Platz, sie waren im ganzen dreizehn. Bei ihnen fuhr ein Säugling mit. Der ganze Wagen hörte das Schreien des Kleinen, eine Frau bat den Begleitsoldaten um irgend etwas, er wies sie grob zurück. Die Frau schluchzte, ihre Gefährtinnen schrien und schimpften auf die Begleitsoldaten. In diesem Moment kam der Wagenleiter, ein Hauptmann, hinzu:

»Schluß mit dem Jahrmarkt! Wollt ihr Handschellen?«

Die Frau erklärte schluchzend, daß das Kind in die Windeln gemacht habe und sie nichts mehr zum Wechseln habe; man möge sie auf die Toilette hinausführen, damit sie waschen könne.

»Nichts da, du wartest!«

»Aber ich habe nichts mehr, worein ich das Kindchen wickeln könnte, was soll ich denn machen?«

»Du hast es geboren, ohne mich zu fragen«, antwortete der Hauptmann und ging davon.

Als man die Frauen zum Waschen herausführte, ging die Kindesmutter als erste. Irgendwie wusch sie die Windeln in dem Waschbecken und ließ sie dort. Die nächste wusch weiter, solange sie konnte und ließ sie auch dort. So ging es weiter. Als alle Frauen sich gewaschen hatten, waren auch die Windeln sauber: Die letzte nahm sie mit zurück ins Abteil. Dort wurden sie getrocknet.

Gut, daß Menschen auch hinter Gittern Menschen bleiben.

Den ganzen Weg über wurden immer wieder endlose Kontrollen durchgeführt. Kaum stiegst du in den Wagen, schon findet eine Durchsuchung statt, sogar das Brot, das man dir soeben im Gefängnis ausgehändigt hatte, wurde angeschnitten. Dann erneute Überprüfung – Name, Vorname, Vatername, Geburtsjahr, Artikel, Frist, Ende der Frist … Man verglich dich mit dem Foto der Akte. Gut, du kannst gehen. Der nächste … Du gingst aus dem Eisenbahnwagen – Überprüfung, Fragen über das Vergehen: Name, Vorname, Vatername, Geburtsjahr, Artikel, Frist … Und so ging es jeden Tag mehrere Male.

Wie lange würde ich fahren? Wohin? Wahrscheinlich nach Nowosibirsk über Alma-Ata und Semipalatinsk. Und dann von Nowosibirsk aus wohin – in den Ural? In den Norden? In den Osten? Überall gab es Komsomol-Baustellen …

Nach einer Fahrt im ›Schwarzen Raben‹ stellte man uns in Alma-Ata in Fünferreihen auf und begann, die Familiennamen zu überprüfen, um uns dann in ein Gebäude zu führen. Am Ende des Zuges befanden sich die Frauen aus unserem Wagen. Kaum daß sie nach dem ›Raben‹ ihre Lebensgeister wieder gesammelt hatten, begannen die Kriminellen Bekanntschaften anzuknüpfen. Die Aufseher und Offiziere schimpften auf die Gefangenen ein, trieben sie von den Frauen fort und drohten ihnen. Es war vollkommen unmöglich, sich zu unterhalten, vor allem nicht mit den Frauen. »Ach, hau ab, Natschalnik, mitsamt deinem Karzer. Ich will nur kurz auf die Frauen sehen, und dann magst du mich wieder festsetzen. Fünf Jahre habe ich jetzt, außer auf Bildern und außer euren … Komsomolzinnen keine Frau gesehen«, antwortete der Gefangene.

Als man uns über den Gefängnishof zum Gebäude führte, arbeitete sich ein Gefangener zum Ende der Kolonne durch, näher zu den Frauen hin. Der Aufseher bemerkte das, hielt die Kolonne an und fischte den Störenfried heraus und schleifte ihn in die erste Fünfergruppe. Der Gefangene jammerte:

»Bock! Päderast! Ein Schwanz soll dir auf der Stirn wachsen!«

Der Aufseher stotterte, daß er verpflichtet sei, die Frauen vor solchen Leuten zu schützen. Die Frauen kreischten:

»Es hat sich ein Wohltäter gefunden!«

»Habt ihr keine Stricke bei euch, für die Wohltäter?«

Auf das Geschrei hin kamen mehrere Aufseher herbeigeeilt.

Den aufsässigen Gefangenen banden sie fest und legten ihm Handschellen an. Der schrie:

»Wenn dir diese Frauen zu schade sind, so bring doch deine her! Oder stell dich selbst zur Verfügung; schaut, was für einen fetten Arsch der sich auf Staatskosten angefressen hat!«

Die Aufseher begannen auf den Antreiber einzuschlagen, die Kolonne wurde unruhig, man hörte aufgeregte Schreie. Dann griffen sie aufs Geratewohl einen aus der Kolonne heraus, legten ihm ebenfalls Handschellen an und begannen auch ihn zu schlagen – mit den Stiefeln gegen die Beine. Die beiden schleiften sie dann davon, und die Kolonne wurde in das Gebäude geführt. Das Verschickungsgefängnis von Alma-Ata unterschied sich von dem in Taschkent höchstens durch die unwahrscheinliche Menge von Wanzen. Es gab hier so viele, daß die Wände der Zellen rot waren, genauso wie in Semipalatinsk, obwohl es dort statt der hölzernen Pritschen eiserne doppelstöckige Betten gab. In keinem Verschickungsgefängnis wurden Matratzen oder Kissen ausgegeben; von der Ankunft bis zum Abtransport wälzte man sich auf nackten Brettern oder auf Eisendraht. Außerdem konntest du dich dort weder hinlegen noch aufstehen, bekamst du Hering, wieder nichts zu trinken, wieder wurdest du nicht zur Toilette hinausgeführ.

Im Untersuchungsgefängnis von Nowosibirsk wimmelte es von Ratten, sie huschten über den Boden, zwischen den Beinen hindurch, sie liefen zwischen den Schlafenden auf dem Boden, krabbelten über sie. Hier traf ich im Gang eine Gruppe Gefangener, die nicht wie die anderen aufrecht standen, sondern sich gegen die Mauer lehnten. Es waren acht Mann, sie hatten erschreckend ausgehöhlte Gesichter. Man sperrte uns zusammen in eine Zelle. Ich erfuhr von ihnen, daß sie ›Religiöse‹ seien. Sie hatten sich geweigert, an den Wahlen teilzunehmen, deshalb waren sie verhaftet, unter Ausschluß der Öffentlichkeit gerichtet und zur Verbannung als ›Schmarotzer‹ verurteilt worden. Vom Tag der Festnahme an hatten sie Hungerstreik erklärt und ihn während der ganzen Zeit der Untersuchung und der Verhandlung durchgehalten. Man hatte sie, wie mich in Aschchabad, künstlich ernährt. Sie beendeten auch nach dem Urteilsspruch den Hungerstreik nicht, und man hatte sie hungernd auf den Transport nach Sibirien geschickt. In jedem Verschickungsgefängnis trichterte man ihnen mit Gewalt Nährflüssigkeit ein und schickte sie weiter. »Wir leiden für den Glauben«, sagten sie.

Von Nowosibirsk aus wurde ich nach Tajschet geschickt, dort waren riesige Lager für ›58er‹[5] gewesen. Aber als ich ankam, gab es kein politisches Lager mehr. Drei Tage zuvor war der letzte Spezialtransport nach Mordwinien abgegangen. Geheiligte Plätze pflegen jedoch nicht leer zu bleiben – die Lager von Tajschet begann man sofort wieder mit nichtpolitischen Gefangenen aufzufüllen. Man brachte sie aus der ganzen Union hierher – die Taiga mußte gerodet, der Boden für den zukünftigen Stausee von Bratsk bereitet werden. Wer sollte hier noch, außer Gefangenen, ›das Feuerchen der Komsomolzen unterhalten?

Im Verschickungsgefängnis von Tajschet kam ich das erstemal in eine Zelle mit politischen Gefangenen – einige Leute waren hier hängengeblieben; aus verschiedenen Gründen hatte man sie nicht mit den anderen abtransportieren können. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer nur Vermutungen anstellen können, was das wohl für Leute gewesen sein mochten, weshalb sie sitzen, wie man sie hält, was sie denken.

Wir waren nur wenige in unserer Zelle: Zwei Großväter – beide hatten eine Frist von fünfundzwanzig Jahren; der eine war ein Wolgadeutscher, ein Greis mit mächtigem grauem Bart, seinen Namen habe ich vergessen; der andere war ein rüstiger, strammer Mann, dem man sogleich die militärische Haltung anmerkte. Er war tatsächlich Soldat gewesen – zuerst Hauptmann der Roten Armee und dann Kommandeur bei General Wlassow. Sein Name war Iwanow. Iwanow war um ein Jahr älter als der Deutsche und nannte ihn nie anders als ›Jüngling‹. Dann war noch ein anderer mit einer Frist von fünfundzwanzig Jahren in unserer Zelle, Iwan Tretjakow, ein gutes Onkelchen.

Bei uns saß außerdem Onkel Sascha, ein lauter Muschik, Frontoffizier, der den ganzen Krieg in der Sowjetarmee gekämpft hatte und mehrere Male verwundet worden war. Jugendliche hatten wir drei: einen Leningrader Studenten, mich und einen jungen gemütskranken Mann. Wir lebten freundschaftlich in der Zelle zusammen, ohne Streit zu bekommen, unsere Alten bevormundeten uns und erteilten uns abends einen Einführungskurs für das Leben und die Gewohnheiten in den Lagern. Sie waren erfahrene Zwangsarbeiter, jeder von ihnen hatte schon zehn bis fünfzehn Jahre strengster Lager auf dem Buckel.

Ende April warf man noch einen Afghanen in unsere Zelle. Er sprach kaum Russisch, und wir konnten nur mit Mühe erfahren, was es mit ihm auf sich hatte. Es stellte sich heraus, daß er vor einigen Jahren die Grenze überschritten hatte und in die Sowjetunion kam: er hatte zu Hause in Afghanistan, wo er als Hirte bei irgendeinem Reichen gedient hatte, ein schlechtes Leben gehabt. Natürlich wurde er sofort ins Gefängnis gesteckt. Nach längerer Zeit stellte sich heraus, daß er weder ein Spion noch ein Diversant war, er wurde entlassen, und man erlaubte ihm, in der Sowjetunion zu leben, wie er das ja gewollt hatte. Sie schickten ihn, wieder als Hirten, in eine Kolchose. Aber in der Kolchose gefiel es dem Afghanen nicht. Er bat darum, wieder nach Hause, nach Afghanistan, zurückkehren zu dürfen. Da hatte er sich aber schwer verrechnet. Man ließ ihn nicht ziehen. Er überlegte nicht lange und ging denselben Weg zurück, auf dem er vormals auch gekommen war. Sie fingen und verurteilten ihn, gaben ihm drei Jahre für versuchten unerlaubten Grenzübertritt. Drei Jahre hatte er abgesessen und sollte nun in diesen Tagen freigelassen werden. Der Afghane ging in der Zelle auf und ab, schlug sich gegen den Kopf und sagte immer wieder:

»Dummkopf, ach, Dummkopf!«

»Und wo gehst du jetzt hin? Wieder in die Kolchose zurück?«

»Nein, nein!« Der Afghane schüttelte den Kopf. In die Kolchose wollte er nicht – es zog ihn nach Afghanistan.

»Dort läßt man dich doch nicht hin! Man wird dich fangen – du bekommst zehn Jahre aufgebrummt, diesmal für Vaterlandsverrat.«

»Ich gehe nach Afghanistan«, der Afghane blieb dabei, »nicht in die Kolchose.«

Vor der Entlassung gaben sie ihm eine neue Jacke und schwarze Lagerhosen. Er wurde so böse, daß er Hose und Jacke in den Kübel warf und in denselben Lumpen, in denen er gekommen war, wieder die Freiheit betrat. Wie es ihm weiter erging, weiß ich nicht. »Danach habe ich ihn weder in Gefängnissen noch sonstwo wiedergetroffen«, so heißt es in einem Gefängnislied.

Am vierten Mai verfrachtete man uns alle in Gefangenenwaggons und schickte uns fort. Von neuem Transport. Wieder ging es über Nowosibirsk und von da aus nach Westen: Swerdlowsk, Kasan, Rusajewka.

Unterwegs stießen neue Reisegefährten zu uns. Irgendwo kamen einige ukrainische ›Nationalisten‹ dazu. Sie hatten auch fünfundzwanzig Jahre. Ich erinnere mich besonders an Michail Soroka, einen sehr ruhigen, gutwilligen, charakterfesten Menschen. Dann steckte man noch einen jungen, in Polen geborenen Mann zu uns. Sein Vater war polnischer Offizier gewesen und im Wald von Katyn erschossen worden. Seine Mutter hatten sie auch verhaftet, auch sie war umgekommen. Man brachte ihn in ein Kinderheim, wo er bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr aufwuchs; als er dann einen Paß erhielt, hatten sie ihm als Staatsangehörigkeit russisch eingetragen. Er forderte, daß man ihm erlaube, nach Polen zu fahren; da er aber ›Russe‹ war, ließ man ihn nicht ziehen. Er schrieb an das Innenministerium und an die polnische Gesandtschaft – die Angelegenheit endete im Lager.

In Kasan wurde ›Onkel‹ Iwanow in das Spezialabteil gerufen. Er hatte eben fünfzehn Jahre hinter sich, und man erklärte ihm, er würde bei Ankunft dem Gericht übergeben werden. Jetzt gäbe es ja keine fünfundzwanzig Jahre mehr, und allen früher zu fünfundzwanzig Jahren Verurteilten verringere das Gericht ihre Frist auf das heutige Maximum, auf fünfzehn Jahre.

Ich freute mich sehr für Iwanow und alle anderen, die fünfundzwanzig Jahre hatten:

»Jetzt ist es nicht mehr lange für euch. Gleich haben wir’s, und dann geht’s hinaus in die Freiheit, und ich werde euch bis zum Lagertor begleiten«, sagte ich zu dem alten Deutschen.

»Nein, Tolja, ich werde die Freiheit nicht mehr erleben«, antwortete er. »Ich werde hinter Stacheldraht sterben.«

Lager Nr. 10 (1961)

… Wachen und Begleitmannschaft vergleichen die Zeit

In das Tor hinein zieht das Ende der Kolonne.

Punkt 10 Uhr – das Lagerschlußsignal

tönt über den Stacheldraht der Zonen.

Schiene schlägt an Schiene: Schlußsignal!

Der Häftling eilt in die Baracke: Schlußsignal!

Heiseres, stählernes Schienen-

Abendläuten über Kolyma.

Ihr seid an der Reihe, Igarka und Tajschet!

Hülle Dich in Deine Steppjacke, Karaganda!

Verrostetes Klopfen der Schiene

läutet Wochen und Jahre aus.

Der Schatten kroch schon bis zur Mitte

Der Schatten wälzte sich über den Ural hinweg

Dubrowlag stimmt jetzt ein

in das Lager-Wiegen-Lied.

Schluß den ungesungenen Liedern

Schluß den untergehenden Sternen

In der Moskauer Ruhe werde ich nicht schlafen:

In einer Stunde heißt es ›Aufstehen‹ in Kolyma.

›Das Lied über die Stunden-Zonen‹

Ende Mai kamen wir in Potma an. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft, nach der sogenannten Gerichtsverhandlung, nach Transporten und Verschickungsgefängnissen erreichte ich endlich die berüchtigten mordwinischen Lager.

Die ganze südwestliche Ecke Mordwiniens ist von Stacheldraht, von besonders konstruierten Zäunen durchkreuzt, mit Wachttürmen übersät, nachts vom Scheinwerferlicht überstrahlt. Es sind überall kleine Täfelchen angebracht: »Halt! Sperrzone«, und dann dasselbe noch einmal in mordwinischer Sprache.

Häufiger als Mordwinen triffst du hier auf Begleitsoldaten, Wachen, Offiziere. Auf eine Menschenseele kommen hier mehr Hunde als im Kaukasus auf ein Schaf. Hier ist überhaupt die ganze Statistik durcheinandergeraten: die Bevölkerungsanteile von Männern und Frauen, von Jugendlichen und von verschiedenen Nationalitäten Russen, Ukrainer, Letten, Esten und ›vereinzelte Vertreten‹ anderer Völker leben hier so viele Jahre hinter Stacheldraht, daß sie längst jede Indexziffer der ansässigen Bevölkerung übertroffen haben. Väter und ältere Brüder der heutigen Gefangenen blieben für immer in Mordwinien – als Skelette und verstreute, mit Sand vermischte Knochen. Die Kinder der heutigen Gefangenen kommen zu einem ›Wiedersehen‹ aus allen Ecken des unermeßlich großen, viele Nationalitäten beherbergenden Landes angereist.

Und jetzt war auch ich nach vielen Mühen hierhergekommen, um die in Unordnung geratene mordwinische Statistik noch ein klein, klein wenig mehr zum Kippen zu bringen …

Vom Verschickungsgefängnis Potma aus schickte man mich in das Lager Nummer 10.

Wie jeder Neue, so betrachtete auch ich aufmerksam die Leute und die Verhältnisse um mich herum und richtete mich gleichzeitig am neuen Ort ein. Man denkt, was hat schon ein Gefangener einzurichten, was hat er überhaupt an beweglichem und unbeweglichem Besitz? Aber der Neue hat im Lager alle Hände voll zu tun: er muß einen Platz in der Baracke finden, ein Bett erhalten, eine Matratze, Kissen, Zudecke, Bettzeug, Arbeitskleidung, für alles muß er unterschreiben, alles an seinen bestimmten Platz legen … Man zeigte mir den Verwalter meiner Abteilung (er war auch Gefangener). Er ging mit mir, um einen Bettrahmen zu organisieren; auf dem Wege fragte er mich nach diesem und jenem, nach meinem Geburtsort, warum ich hier wäre, welche Frist ich hätte. Als er erfuhr, daß es sechs Jahre waren, grinste er: »Eine Kinderfrist!« – Viele andere lachten ebenfalls, als sie hörten, daß ich jetzt nur noch etwas mehr als fünf Jahre abzusitzen hatte.