11,99 €
Der Jakobsweg - Traum vieler Menschen aus aller Welt. Die schönen, lustigen, komischen, traurigen Begegnungen und Gedanken des Autors auf einer über 800 Kilometer langen Reise bis nach Santiago de Compostela - und noch weiter an den Atlantik und das damalige "Ende der Welt". Einfühlsam und witzig beschreibt der Schweizer seine eindrückliche Wanderschaft durch Nordspanien.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für meine Mutter, Marie-Louise Styger (1945-2018)
Vorwort
Kapitel 1 – Venedig
Kapitel 2 – Marco’s way
Kapitel 3 Vorbereitung in Oesterreich
Kapitel 4 „Transfer“ nach Saint-Jean-Pied-de-Port
Kapitel 5 Der Weg beginnt
Über die Pyrenäen
Tapas in Pamplona
Wunderschönes Zirauki
Fuente de Vino
Happy Birthday!
Hangover day
Vierzig Kilometer bis Belorado
Kalter Wind Richtung Burgos
An Burgos vorbei
Marlis und Erich
Walti, 82 Jahre alt
Hace un calor
Im Donativo
Regen in Leon und der grosse Prinz
Zur schönsten Herberge
In die Berge
Ein Wunsch am Cruz de Ferro
Im Sturm
Feuchtfröhlicher Empfang in Galicien
Who stops the rain?
Drei Musketiere in Portos
Adieu mon vieux soldat!
Santiago!
Galicische Tobel
Am Meer
Am Ende der Welt
Adios Tadasan!
Fin de Camino
Addio a mio amico Fabio, mit dem Fahrrad am Strand & Jenny
Rückkehr nach Finisterre
Volver a Santiago
Botafumeiro
Abendmahl
Epilog
Schon seit über zwanzig Jahren hatte ich es mir vorgenommen, hat es mich beschäftigt, getrieben: den Jakobsweg zu erwandern und erleben – genauer gesagt den letzten Abschnitt, den Camino frances, von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela und - wie in meinem Fall - noch weiter bis an die Atlantikküste, aber dazu später mehr.
Warum? Ich weiss es nicht! Die Faszination dafür kam auf jeden Fall bevor Hape Kerkeling sein Buch „Ich bin dann mal weg“, Paulo Coelho seinen „Der Jakobsweg“ oder Cees Nooteboom seinen „Umweg nach Santiago“ publizierten. Vielleicht getrieben durch ein Fernweh, das mich seit meiner Kindheit prägte, vielleicht durch ein inneres Religionsbewusstsein eines Papierkatholiken, vielleicht durch den Umstand, dass ich die beiden anderen wichtigen Wallfahrtsorte der Katholiken – Rom und Jerusalem – schon besucht hatte. Aber wahrscheinlich eher durch den Umstand, dass ich ein grosser Menschenfreund bin. Einer, der gerne Menschen trifft, mit ihnen diskutiert und debattiert, mich gerne auch mal streitet, aber auch mit ihnen feiert, isst und trinkt.
Dazu kommt, dass ich Spanien liebe. Als junger Mann Anfang zwanzig hatte ich die Gelegenheit in Spanien zu leben und zu arbeiten. Ich kenne das Land, spreche die Sprache und bewundere als Schweizer sicher auch das Selbstverständnis der Spanier, noch immer eine (ehemalige) Weltmacht zu sein. Spanien hat mich geprägt: die Stierkämpfe, das unprätentiöse Essen und Trinken, der sprichwörtliche Stolz, das Archaische, Pure, Machoide. Ich räume ein, dass deshalb das Leben an meiner Seite – sei es als Ehefrau, Tochter, Familie oder Mitarbeiter – nicht immer ganz einfach sein mag.
Ich hatte auf jeden Fall die grösste Unterstützung aller bei meinem Vorhaben, als es dann im April 2018 auf die lange Reise ging.
In den vielen Jahren zuvor hatte ich immer einen Grund, den Weg nicht zu machen. Beruf, Familienplanung, ein Ex-Schwager, der nicht konnte und/oder wollte, dann Trennung, Scheidung, Heirat. Aber für den April 2018 hatte ich keine Entschuldigung mehr, ich wollte und konnte los.
Zwei Wochen vor meiner Abreise wurde meine Mutter mit der schlimmen Diagnose Lungenkrebs konfrontiert. „Selbstverständlich werde ich meine Reise absagen und Dir hier beistehen“, verkündete ich ihr. Nachdem mein Vater vor zwölf Jahren an der tödlichen Krankheit im Alter von vierundsechzig verstarb war ich ihr das schuldig. Ich solle gehen, bat sie mich, ich hätte das seit ewig geplant, sie würde warten und noch am Leben sein bis ich zurück sei. Ich wusste nicht, wie recht sie behalten sollte: nach meiner Rückkehr kämpfte sie noch vier Wochen und verstarb nur drei Monate nach Ausbruch der Krankheit.
Ihr Schicksal hing wie ein Damoklesschwert über meinem Weg, deshalb widme ich ihr dieses Buch.
Venedig, im Frühling 2019.
Warum Venedig? Ich besuche die Lagunenstadt seit über dreissig Jahren als Tourist. Sie fasziniert mich bis heute. Ein einmaliger, inspirierender Platz auf dieser Erde, auf der ich schon so manches gesehen und bereist habe. Meine Frau und ich haben in den letzten Jahren häufig Venedig und Verona als Reiseziele gewählt und kombiniert, auch der einmaligen Opernatmosphäre in der römischen Arena di Verona wegen. Die Idee, ein Buch über „meinen“ Jakobsweg zu schreiben kam eigentlich von meinen Töchtern, die mich dazu ermutigten. Doch wo wollte, wo sollte ich dieses Buch schreiben? In einer Stadt, die für ihre Schönen Künste seit Jahrhunderten berühmt ist, in der es Ecken gibt, in die sich kaum je ein Tourist verirrt, genau dort soll es entstehen, dieses kleine für die Welt unwichtige, für mich umso wichtigere Werk über den Camino.
Die Planung des Aufenthalts in Italien begann schon ein paar Monate vorher, genauer gesagt im Dezember 2018 als es um das Finden einer Behausung in Venedig ging die einigen Anforderungen gerecht werden sollte. Gästezimmer, mehrere Nasszellen, eine sonnige Terrasse und die Erlaubnis unseren Hund mitbringen zu dürfen, nebst einer ruhigen und inspirierenden Lage inmitten der Stadt, in der man alles zu Fuss erledigen darf, mussten einfach sein.
Wir wurden im Einheimischen- und Universitätsviertel Dorsoduro fündig, nachdem wir in der Nähe der Piazza San Marco zwei Nächte in einem Loch gehaust hatten. Der Besitzer, ein englischer Künstler, Autor und Schöngeist, überliess uns sein liebevoll eingerichtetes Townhouse für zwei Monate und hier sitze ich jetzt und warte darauf, von der Muse geküsst zu werden und hoffentlich keine Schreibblockade zu erleiden. Simi stört sich zwar bereits an meiner Schreibwütigkeit – ich haue in die Tasten, als ob ich auf einer Hermes Baby schreibe und als ob es kein Morgen gäbe, aber ich denke, sie gewöhnt sich daran.
Unser Hund fühlt sich sichtlich wohl in seinem neuen Zuhause und schnupperte auf dem ersten Gassigang durch unser Quartier schon überall nach einheimischen Hunden, von denen es in Venedig zahlreiche gibt.
Die Ruhe tut mir wohl. Das hat mit dem Aufwachsen an einer stark befahrenen Strasse in der Stadt Zürich zu tun, aber auch an den ebenfalls an unserem Wohnblock vorbeidonnernden Zügen. Aber wenn man als Kind nichts anderes kennt, vermisst man es auch nicht, bis dir dann ein Sozialarbeiter sagt, dass es dir hier eigentlich schlecht gehen müsste. Diese Aussage ist nicht von mir, sondern von Sean Connery, der seine Kindheit in einer ärmlichen Gegend von Edinburgh verbrachte und genau wie ich ein glückliches Kind war. Als ich dann mit siebzehn Jahren von zuhause auszog, habe ich mir geschworen, nie mehr an einem lauten Ort zu wohnen; ich habe es bis zum heutigen Tag so gehalten und schätze deshalb auch die aktuelle Ruhe an unserem Schreibdomizil in Italien.
Ausgerüstet mit einem alten Laptop meiner Frau, die mich gerade auf meine gekrümmte Haltung hinweist, sitze ich am Esstisch und geniesse das Schreiben, wie damals in der Schule. Aufsätze zu verfassen war meine grosse Leidenschaft, auch am Gymnasium wurden meine Aufsätze oft vorgelesen. Viel – oder sogar eine leicht übertriebene - Phantasie wurde mir von meinen Lehrern immer attestiert, gespickt mit einem Hang zum Drama was meine Deutschlehrerin sogar zu Tränen rührte nachdem ich offenbar eine sehr traurige Geschichte niederschrieb.
Zwischendurch muss Simi mir beim Abspeichern des Textes helfen da ich ein Technologie-Banause bin - ehrlich gesagt würde ich am liebsten von Hand schreiben. Ich bin ein Purist der schon öfters bei Assessments während meiner Banklaufbahn den Computer wegstellte und die Coaches bat, von Hand weiterschreiben zu dürfen. Das Lob der psychologisch geschulten Aufsichtspersonen war mir spannenderweise immer sicher – dies würde einiges über meine Persönlichkeitsstruktur aussagen.
Die Reise nach Venedig haben wir zum ersten Mal im Zug gemacht. Mit dem Auto oder per Flugzeug wollten wir in Anbetracht des Gepäcks meiner Frau und unserem Hund die Fahrt nicht antreten. Und so haben wir den direkten Zug von Zürich nach Venedig genommen, der abgesehen von einem Aufenthalt von 30 Minuten in Mailand, in sechs Stunden am Sackbahnhof in Venedig Santa Lucia ankommt. Gemütlich die norditalienischen Städte und Landschaften am Fenster vorbeiziehen lassend, sehne ich mich jetzt gerade danach, demnächst über einen ganz anderen Weg zu schreiben. Eine stille Vorfreude auf das, was da kommen mag. Später mit einem Portier waren es dann zu fuss nur noch zehn Minuten an die Calle de La Madona gewesen, genauer gesagt über 5 Brücken, was den Preis der Dienstleistung des schwitzenden Mannes definierte.
Zürich, Seerose im April 2018. Nicht schlecht staunte ich, als Simi meine Familie und mich zum Abschied in die Seerose einlud und alle kamen: meine Mutter und ihr Partner, mein Bruder mit Frau und den beiden Söhnen und meine drei Töchter mit ihren Partnern. Sie brachten mir Geschenke mit: geliebten Wein (den ich leider nicht mit auf den Camino nehmen konnte, man bringt ja auch kein Bier nach München...), einen Kompass, damit ich mich nicht verlaufe (ich habe ihn übrigens nicht mitgenommen, man braucht ihn auf dem Jakobsweg schlichtweg nicht) und: ein persönliches Moleskine Notizbuch. Meine Töchter haben es mit einem Foto von ihnen in schwarzweiss und sehr persönlichen Worten ihrem Papi gewidmet und mich angeregt, alle Erlebnisse auf dem Weg in dieses „berühmte“ Büchlein zu schreiben – sie wussten wie meine Frau um die technischen Unzulänglichkeiten ihres Vaters.
Als ich dieses Geschenk in meinen Händen hielt, überlegte ich mir kurz, ob ich mir das wirklich antun wollte, Tagebuch zu führen. Im Nachhinein bin ich jedoch sehr froh darüber, dass ich während dieser schönen Zeit täglich etwas reingeschrieben habe, man hat mit achtundvierzig Jahren schon die Tendenz, das eine oder andere zu vergessen, was für den jetzt laufenden Prozess des Schreibens unglücklich gewesen wäre, beziehungsweise zu Lücken im erzählen geführt hätte.
Unsere Speisekarte in der Seerose war in der schönen Handschrift mit „Marco’s Way“ betitelt und Simi hielt eine wunderbare Rede zu meinem Abschied, die leider auch das traurige Schicksal meiner Mutter streifte. Mami war sich an diesem Abend am Zürichsee sicher darüber im Klaren dass es das letzte Mal sein würde, wo die ganze Familie zusammenkam. Sie war sehr gerührt und auch mein Schatz kämpfte mit den Tränen, sicher eine Kombination von zwei nun anstehenden Abschieden. Der eine mit einem Wiedersehen in ein paar Wochen, der andere ein finaler und demnächst anstehender. Ich wusste damals noch nicht, wie lange und ob meine Mutter die Krankheit überstehen würde, in ihren Augen jedoch bemerkte ich eine tiefe Traurigkeit und das Bewusstsein über das nahende Ende. Wir feierten trotzdem oder vielleicht genau deswegen, assen und tranken reichlich und verabschiedeten uns voneinander. Die Familie kam erst wieder an der Beerdigung meiner Mutter – knapp drei Monate später - im Juli so zusammen. Der wunderschöne Abend war gleichzeitig Abschied und Aufbruch in ein neues Abenteuer, das demnächst beginnen sollte.
Mir liegt viel an Effizienz und es reist sich einfacher mit leichtem Gepäck. Dies wissend machte ich mich während unseres jährlichen Fastenaufenthaltes in Oesterreich an die Planung meiner Reise und die Auslegeordnung meines Materials. Ich las viel über das Gepäck und die Ausrüstung für den Camino, zeitweise hatte ich das Gefühl, hier mache man sich auf, an einer Expedition teilzunehmen, habe dann aber in einigen vernünftigen Blogs gelesen, das beste sei, alles was man mitnehmen möchte auf den Boden zu legen, die Hälfte davon auszusortieren und dann hätte man immer noch zu viel vor sich liegen, also: reduce to the max! Um mir die Mitnahme von zu viel Unnötigem zu erleichtern, kaufte ich mir in der Nähe von Innsbruck einen nur dreissig Liter fassenden Rucksack mit einer eingebauten wasserabweisenden Hülle. Es stellte sich auf der Reise heraus, dass diese Grösse vollständig genügt, die meisten Pilger sich jedoch viel grössere, voluminösere aufschwatzen lassen. Nebst dem Schuhwerk ist der Rucksack das wichtigste Utensil, man sollte hier keine Kompromisse machen.
Ich habe mich also während unserer Fastenzeit in Innsbruck von einigen persönlichen Kilos verabschiedet und mit Simi, Vreni und Regula zwei lustige Wochen mit Tee, Suppen und Kautraining und diversen Behandlungen verbracht. Der ganzen Belegschaft der Klinik erzählte ich von meinem Vorhaben, den Jakobsweg – diese berühmten 799 Kilometer – unter die Füsse zu nehmen. Alle waren begeistert und ermutigten mich, auch in Anbetracht der doch anstehenden körperlichen Herausforderung. Meine medizinischen Werte waren hervorragend, noch besser als im Jahr zuvor und deshalb machte ich mir auch keine Sorgen über die körperlichen Herausforderungen die mir ein solcher Weg abverlangen wird.
Kurz vor meiner Abreise nach Frankreich erhielt ich eine Postkarte aus Oesterreich von meinem Schatz. Ich muss dazu kurz erläutern, dass wir altmodisch immer wieder Ansichtskarten aus unseren Ferien versenden, hauptsächlich an unsere Familie. Dieses auf unsere Kindheit zurückgehende Ritual behalten wir bei und stellen fest, dass sich alle über handbeschriebenes Papier im Briefkasten mehr freuen als über eine SMS. Diese Karte von meiner Frau mit der Anregung, sie auf den Weg mitzunehmen, zeigte eine wunderschöne Schneelandschaft mit der Ueberschrift: „an einige Orte im Leben muss man alleine reisen“. Wie wahr!
Zudem machte sich Simi einen Spass daraus, mir ein paar weitere Karten in meinen Rucksack zu schmuggeln, was ich natürlich erst nach meiner Abreise merkte; eine dieser Karten fand ich erst ein paar Tage später, als ich mein Gepäck zum ersten Mal ganz auspackte, weil ich in den Pyrenäen vom Regen überrascht und komplett durchnässt wurde.
Ich buchte meinen Flug nach Bordeaux und die SNCF Weiterreise nach Saint-Jean bei American Express, was sich später als finanzieller Glücksfall herausstellen sollte. Ein letztes Mal genoss ich in Zürich die Swiss Lounge: letzter Luxus, letzte gemixte Drinks und Häppchen wie schon so oft auf meinen vielen Reisen. Die Anzugträger in der Lounge schauten mich in Wanderbekleidung und mit einem Rucksack eher etwas verwundert an. Einige Habitués kannten mich eben auch als Anzugsträger, abfliegend nach den klassischen Geschäftsreisedestinationen. Mit den alkoholischen Getränken kam die Emotionalität, ein Telefonat mit meiner weinenden Mutter, die sich nichts mehr wünschte, als dass ich gesund (!) nach Hause kommen würde, brachte das schlechte Gewissen zurück, dass ich seit ihrer Diagnose mit mir rumschleppte.
Dass mir meine Töchter alle herzige SMS schrieben und sich artig für das „Marco’s Way“ Abschiedsfest bedankten hellte meine Stimmung nicht auf. Die Sinnfrage, warum ich mich nach erst einem Jahr Ehe schon midlife crisis-like aus dem Staub machte, erzeugte in dieser Swiss Lounge keine Hochstimmung. Im Flugzeug betrank ich mich noch ein wenig mehr, landete in Bordeaux, bezog mein Zimmer im Hotel – auch das sollte für eine ganze Weile das letzte Mal in einer luxuriösen Unterkunft sein – machte eine kleine Tour in dieser Ende April doch recht tristen Hauptstadt des Weins und trank ein paar Bier!
Da ich bereits in der Schweiz mein Reisebüro angefragt hatte, ob die angedrohten Streiks der SNCF-Belegschaft meinen geplanten Abreisetag beträfen und mir dies sogar schriftlich verneint wurde, machte ich mir keine grossen Gedanken und schlief tief und fest ein.
Am nächsten Morgen frühstückte ich, checkte aus und begab mich zum Bahnhof Bordeaux, um meinen Zug in Richtung der französischen Pyrenäen zu nehmen. Mein Wahlspruch auf den Lippen: „Jetzt kann mich nichts mehr aufhalten!“
Weit gefehlt! Mit meinem Ticket in der Hand treffe ich in der vereinsamten Schalterhalle auf einen Angestellten mit einer Infotafel, der den Reisenden den Streik erklärt und sie auf andere Verkehrsmittel oder den nächsten streikfreien Tag vertröstet. Ich rufe sofort American Express an: Busse ausgebucht, Mietwagen nicht erhältlich. Was ich kurz an den entsprechenden Stellen in und um den Bahnhof überprüfe, nichts zu machen! Also lasse ich mir von meinem Reiseberater am Telefon versprechen, dass sie für den Schaden aufkommen und mir ein Taxi an meinen Bestimmungsort bezahlen werden, da ich „dringend“ nach SJPDP zu einem wichtigen Termin, nämlich dem Start meiner Reise, kommen muss. Und zwar am vierundzwanzigsten April und keinen Tag später! Es muss ja niemand wissen, dass ich mehr als genug Zeit mitgebracht habe und erst anfangs Juni meine geliebte Frau in Ibiza für das Kontrastprogramm treffen werde...
Simi wird ihre fünf Wochen nutzen, um Spanisch zu lernen und hoffentlich auf mich warten und nicht mit einem schneidigen Spanier durchbrennen!
Also gehe ich zurück zum Taxistand der sich ausserhalb der Bahnhofshalle befindet und verhandle den Preis für die doch recht lange Taxifahrt mit einem marokkanischstämmigen Fahrer. Dieser traut seinen Ohren und Augen nicht und hat wahrscheinlich seinen Wochenumsatz mit einer Fahrt gemacht.
Plötzlich sehe ich eine Szene wie aus einem Film: eine ältere Dame um die siebzig, mit einem riesigen Rucksack und der unverkennbaren Jakobsmuschel angeheftet, versucht Informationen zu den Zügen zu bekommen. Und das alles in bestem Englisch, was der SNCF Vertreter nicht im Geringsten versteht oder verstehen will. Und weil mich meine Mutter gut erzogen hat, stehe ich der Frau bei und übersetze, dass ihr Ticket seine Gültigkeit verloren habe und sie ohnehin erst wieder übermorgen in die Richtung der Pyrenäen fahren könne. Die Dame ist komplett aufgelöst und beginnt fast zu weinen. Ich offeriere ihr, mit mir und „meinem“ Taxi mitzukommen, sie sei eingeladen von meinem Reisebüro und brauche nur noch einzusteigen. Ungläubig schaut sie mich an, überlegt sich sicher kurz, ob ich irgendein Unhold sei und entscheidet dann, diesen Schritt zu tun, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie mich als Gegenleistung in SJPDP zum Mittagessen einladen dürfe.
Wir verbringen eine lustige Fahrt und führen angeregte Diskussionen über den möglichen Verlauf unseres Caminos. Victoria – so heisst die Australierin - rundet ihre Reise durch Europa mit dem Höhepunkt des Jakobswegs ab. Fit scheint die mehrfache Grossmutter zu sein, die ihren Mann vor einiger Zeit verloren hat und nun als rüstige Rentnerin durch die Welt reist. Ueberglücklich, dass ich sie „on the house of American Express“ (die rund zweistündige Fahrt kostet ohne Trinkgeld vierhundert Euro!) mitgenommen habe, erzählt sie mir ihre ganze Lebensgeschichte, mir - einem wildfremden Menschen! Ich werde das in den nächsten Wochen noch etliche Male erleben und mit meiner offenen Art auch sehr viel von mir preisgeben. Das ist sicher ein wichtiger Teil des Jakobswegs, der für die, die es wollen, zu einer grossen Kommunikationsreise werden kann.
Wir kommen früher als mit dem Zug in dem uralten Pilgerdörfchen an. Ich bezahle den Taxifahrer und bringe Victoria in das beste Hotel am Platz, welches sie lange im voraus gebucht hatte. Wir haben uns während unserer Fahrt so gut unterhalten, dass sie mich spontan einlädt, ein Zimmer in ihrem Hotel zu beziehen, auf ihre Kosten als Entschädigung für die von Amex – nicht von mir! – bezahlten Transferspesen. Ich lehne höflich ab; ich habe einen anderen Plan für die nächsten Wochen. Bereits auf der Fahrt erklärte ich Victoria, dass ich keine einzige Unterkunft für die ganze Reise gebucht habe, ich lasse einfach alles auf mich zukommen und wandere jeden Tag soweit ich komme. Wenn ich nicht mehr kann oder mag, mich ein Ort fasziniert oder mich ein Städtchen anspricht, dann bleibe ich durchaus auch länger als eine Nacht. Dies im Gegensatz zu vielen anderen Pilgern, die ihren Camino durchgetaktet und organisiert haben bis ins letzte Detail, sich überall ein Einzelzimmer Monate im voraus reserviert haben und dann plötzlich feststellen, dass sie das angestrebte Tagessoll doch nicht erreichen können und somit ihren ganzen Plan beerdigen müssen. Nein, ich will für mich ein „go with the flow“ Erlebnis haben und deshalb auch nur in Herbergen, Klöstern, einfachen Donativos (das sind subventionierte Herbergen, in denen man für die Uebernachtung nur so viel Geld bezahlt wie man möchte). Ich esse und trinke mit Victoria in einem kleinen Lokal und bin das erste, jedoch nicht das letzte Mal von den für mich als Schweizer extrem günstigen Preisen für Speis und Trank überrascht. Ich lasse mir von Victoria mit meinem üblichen schlechten Gewissen, wann immer ich mich von einer Frau einladen lasse, das gemeinsame Mittagessen bezahlen.
Vom Wein beschwingt begebe ich mich in Richtung des oberen Teils des Städtchens zum „Refuge municipal“, das noch geschlossen ist. Ich nutze die Zeit, um meinen bereits in der Schweiz bestellten „Credencial del Peregrino“ ein erstes Mal von einer offiziellen Stelle abstempeln zu lassen. Der Pilgerpass soll in den nächsten Wochen an allen möglichen und unmöglichen Orten abgestempelt werden, um ihn dann feierlich in Santiago de Compostela zu präsentieren und die persönliche Urkunde zu erhalten, aber das liegt im Moment noch in weiter Ferne. Ich schlendere die uralte Pflastersteinstrasse wieder in Richtung der Unterkunft und beginne das Gespräch mit einem, wie mir scheint, sehr erfahrenen Pilger aus Deutschland. Grossgewachsen, mit langen Haaren, Bart und einem hölzernen Pilgerstab, den man zwar hier im Dorf an jeder Ecke erwerben kann, seiner jedoch scheint lange Reisen hinter sich und seinen Besitzer auf so manchem beschwerlichen Wegen gestützt zu haben. Ich habe mich nicht getäuscht: der Deutsche hat den Camino schon sieben Mal absolviert – anders kann man das wohl nicht nennen! Durch ganz Frankreich sei er jetzt gegangen und hier in SJPDP kommt sein Weg nun zu einem Ende. So Gott und die SNCF wollen, wie er witzelnd bemerkt, wird er Morgen die Heimreise nach Deutschland antreten und freut sich auf seine Familie, seine Frau, Kinder und Enkel, die er jetzt doch einige Zeit nicht gesehen hat. Ich werde dieses Gefühl erst noch kennenlernen, meint er weise und auch ein wenig nachdenklich.
Eine lustige Truppe Japaner stellt sich ebenfalls in die Reihe vor dem Municipal und wird gleich von einem Landsmann, der gerade die Gasse hochkommt, in ihrer Sprache begrüsst. Der gutaussehende, gross gewachsene Japaner stellt sich allen anderen vor: „Tada, wie Tadaaaaa!“ Alle lachen und ich finde ihn gleich sympathisch. Er checkt mit mir ein und bezahlt die zehn Euro für die Uebernachtung inklusive Frühstück. Er liegt im Kajütenbett oberhalb von mir, neben uns der grosse Deutsche. Die Unterkunft ist einfach, aber sehr sauber.
Durch den Umstand, dass man morgens spätestens um acht Uhr aufbrechen muss und die Herbergen erst gegen vierzehn oder fünfzehn Uhr öffnen, bleibt den Betreibern genügend Zeit, um die Unterkunft wieder in Schuss zu bringen. Nun geht es runter ins Städtchen um noch einige Einkäufe für den nächsten Tag zu erledigen. Auch diese Einkäufe werden sich in den nächsten Wochen noch zur Routine entwickeln. Hier hat der lokale Ableger einer grossen Supermarktkette alles Erdenkliche für mich im Angebot: Bananen, Schokoladenriegel, Wasser, Duschgel und Niveacreme, die ich auch noch gleich als Haargel verwenden werde, damit mein angestrebtes Gepäckgewicht die fünf Kilo nicht übersteigt, alles andere wäre unnötiger Luxus. Mit dem Aufstieg zur Herberge an diesem sehr heissen Apriltag kommt die Lust auf ein Bier. Ich schnappe mir in der Auberge den Japaner „Tadasan“ und trinke mit ihm ein paar Bier in der Nähe der Unterkunft. Wir stellen uns näher vor und vom Nebentisch meldet sich eine Dolores aus Irland, stark tätowiert und mit Piercings verunstaltet, die in ihrer Heimat gescheitert ist und nun ihre Bestimmung auf dem Camino sucht. Wir laden sie auf ein Bier ein und sie erzählt uns aus ihrem verkorksten Leben, die Details habe ich mir nicht merken können.